ZWEITER TEIL - Das letzte Königreich
SIEBEN
Ich ließ mich im Süden Merciens nieder, wo ich einen weiteren Oheim kennen lernte. Aldermann AEthelred. Er war ein Sohn AEthelreds und ein Bruder AEthelwulfs, hatte selbst einen Sohn namens AEthelred und einen weiteren AEthelred zum Bruder, und dieser war der Vater von Alfreds Frau AElswith. Dieser Aldermann AEthelred und seine verwirrende Familie nahmen mich widerwillig als Neffen auf, und erst, als ich ihnen zwei Goldmünzen gab und auf ein Kruzifix schwor, kein weiteres Geld zu haben, zeigten sie sich mir gegenüber ein wenig freundlicher. Brida hielten sie für meine Geliebte, was ja auch der Fall war, sonst aber nahmen sie kaum Notiz von ihr.
Die Reise in den Süden war, wie alle Reisen im Winter, sehr beschwerlich. Für eine Weile suchten wir Unterschlupf auf einem Bauernhof in den Bergen bei Meslach. Es schneite und stürmte, als wir, halb erfroren, eines Abends dort ankamen. Die Bauersleute hielten uns für Ausgestoßene, und wir zahlten für Essen und Unterkunft mit ein paar Gliedern der Kette, an der das silberne Kruzifix von AElswith hing. In der Nacht schlichen sich die beiden ältesten Söhne an, um sich unser restliches Silber zu holen, doch Brida und ich waren auf der Hut. Ich hatte sofort Schlangenhauch, Brida meine Saxe in der Hand, und wir drohten, die beiden damit zu kastrieren. Danach war die Familie freundlich zu uns, vielleicht hatten sie aber auch nur Angst, denn sie glaubten mir aufs Wort, als ich sagte, Brida sei eine Zauberin. Wie viele der im Hochland lebenden Engländer waren auch diese Bauern Heiden. Von den Dänen, die sich in England breit machten, hatten sie keine Ahnung. Sie wohnten fernab jeder Ortschaft, richteten ihre gemurmelten Gebete an Thor und Odin und nahmen uns für sechs Wochen auf. Als Gegenleistung hackten wir Holz, halfen ihren Schafen beim Lammen und wachten vor dem Pferch, um die Wölfe auf Abstand zu halten.
Zu Beginn des Frühlings zogen wir weiter. Wir schlugen einen weiten Bogen um Hreapandune, weil dort Burghred residierte, der den glücklosen Egbert, aus Northumbrien geflohen, bei sich aufgenommen hatte. Außerdem siedelten nahe der Stadt viele Dänen. Von ihnen war zwar nichts zu befürchten, ich sprach ihre Sprache, konnte über ihre Scherze lachen und mochte sie sogar, doch wenn bekannt geworden wäre, dass Uhtred von Bebbanburg noch lebte, hätte Kjartan wahrscheinlich ein Preisgeld auf meinen Kopf ausgesetzt. Ich erkundigte mich überall nach Aldermann AEthelwulf, der bei Readingum im Kampf gegen die Dänen gefallen war, und brachte in Erfahrung, dass er in Deoraby gelebt hatte, einem von Dänen besetzten Gebiet. Sein jüngerer Bruder war nach Cirrenceastre umgesiedelt, das im Süden Merciens nahe der Grenze zu Wessex lag. Also gingen wir nach Cirrenceastre, einer mit festen Mauern umringten Römerstadt, der AEthelwulfs Bruder AEthelred als Aldermann und Herr vorstand.
Er hielt gerade Gericht, als wir dort eintrafen, und so warteten wir unter Bittstellern und Eidleistern in seinem Haus, wo wir mit ansahen, wie zwei Männer ausgepeitscht wurden. Ein dritter musste dafür büßen, dass er Vieh gestohlen hatte, er wurde im Gesicht gebrandmarkt und in die Verbannung geschickt. Schließlich führte uns ein Diener nach vorne. Er glaubte, dass wir eines Unrechts wegen Klage erheben wollten, und verlangte, dass wir uns verbeugten. Ich weigerte mich, worauf er mich zu zwingen versuchte, doch ich schlug ihm ins Gesicht, und nun wurde AEthelred aufmerksam. Er war groß gewachsen, gut über vierzig Jahre alt, hatte einen mächtigen Bart und sonst nur wenige Haare auf dem Kopf. Er musterte mich mit finsterer Miene, die mich an Guthrum erinnerte, und rief seine Wachen, die in allen vier Ecken der Halle standen. «Wer bist du?», knurrte er.
«Ich bin Aldermann Uhtred», antwortete ich, was zur Folge hatte, dass die Wachen verharrten und der Diener ängstlich zurückwich. «Ich bin der Sohn Uhtreds von Bebbanburg und seiner Frau AEthelgifu. Ich bin Euer Neffe.»
Er starrte mich an. Ich muss nach der Reise und mit meinem langen Haar ziemlich verwildert ausgesehen haben, aber ich besaß zwei Schwerter und sehr viel Stolz. «Du bist AEthelgifus Junge?», fragte er.
«Der Sohn Eurer Schwester», sagte ich, wenngleich ich immer noch nicht mit Bestimmtheit wusste, ob dem auch so war. Doch es traf tatsächlich zu, und Aldermann AEthelred bekreuzigte sich zum Andenken an seine jüngere Schwester, an die er sich wahrscheinlich kaum erinnern konnte. Er schickte die Wachen zurück und fragte, was ich von ihm wolle.
«Obdach», antwortete ich und berichtete ihm, dass ich seit dem Tod meines Vaters Gefangener der Dänen gewesen war. Er nickte missmutig und hatte dem Anschein nach Verständnis für mein Anliegen. In Wahrheit aber war ihm meine Ankunft ein Ärgernis, hatte er doch nun aufgrund der familiären Verpflichtung zwei weitere Mäuler zu stopfen. Anfangs tat er das auch, später jedoch trachtete er mir nach dem Leben.
Seine Ländereien erstreckten sich bis an den Fluss Saefern im Westen und wurden oft von welschen Britonen heimgesucht. Die Waliser waren alte Feinde. Vergeblich hatten sie zu verhindern versucht, dass unsere Vorfahren in England Fuß fassten, und deshalb nannten sie England Lloegyr, was Verlorenes Land bedeutet. Allerdings fielen sie immer wieder über dieses Land her und rühmten sich ihrer Raubzüge in Preisliedern. Sie verehrten einen großen Helden namens Arthur, der, obwohl längst gestorben und begraben, angeblich nur schlief und eines Tages wiederauferstehen würde, um die Waliser zum Sieg über die Engländer zu fuhren und das Verlorene Land zurück zugewinnen. Dazu ist es aber bislang nicht gekommen.
Ungefähr einen Monat nach meiner Ankunft kam AEthelred zu Ohren, dass ein welscher Kriegshaufen die Saefern überquert hatte, nahe Fromtun in sein Land eingedrungen war und Rinder raubte. Er wandte sich mit fünfzig Männern nach Süden, gab aber dem Hauptmann seiner Garde, einem Recken namens Tatwine, den Auftrag, zur Römerstadt Gleawecestre zu reiten, um der räuberischen Bande den Rückweg abzuschneiden. Zu den zwanzig Kämpfern um Tatwine sollte auch ich gehören. «Du bist ein großer Kerl», sagte . AEthelred, bevor er aufbrach. «Hast du schon einmal im Schildwall gekämpft?»
Ich zögerte und dachte an Readingum, wo ich, am Boden liegend, mit der Schwertspitze auf die Beine der Gegner gezielt hatte. «Nein, Herr», antwortete ich.
«Dann wird es Zeit, dass du es lernst. Zu irgendwas muss dieses Schwert ja gut sein. Woher hast du es?»
«Es gehörte meinem Vater, Herr», log ich, um ihm nicht erklären zu müssen, dass ich doch kein Gefangener der Dänen gewesen und das Schwert ein Geschenk war, denn dann hätte AEthelred das Schwert wahrscheinlich an sich nehmen wollen. «Mehr hat mir mein Vater nicht vermacht», fügte ich wehleidig hinzu. Er knurrte, schickte mich mit einer flüchtigen Handbewegung fort und sagte Tatwine, dass er mich in den Schildwall stellen sollte, falls es zum Kampf kommen würde.
Ich weiß dies von Tatwine selbst, der mir, als alles vorbei war, davon berichtete. Tatwine war sehr stämmig, so groß wie ich, aber doppelt so breit. Er hatte die Brust eines Hufschmieds und kräftige Arme, auf die er mit Tinte und Nadel eigentümliche Zeichen stach. Eigentlich sahen sie aus wie Flecke, doch er prahlte, jeder stehe für einen Mann, den er in der Schlacht getötet hatte. Ich versuchte sie einmal zu zählen, gab aber bei achtunddreißig auf, zumal seine Ärmel den Rest verdeckten. Es schmeckte ihm nicht, mich in seiner Truppe zu haben, und dass Brida darauf bestand, mitzuziehen, gefiel ihm noch weniger. Doch ich erklärte ihm, dass sie meinem Vater geschworen habe, niemals von meiner Seite zu weichen, außerdem sei sie, so sagte ich, eine besonders listenreiche Frau, die den Feind mit Hilfe von Zauberformeln verwirren könne. Er glaubte mir und dachte vielleicht, dass seine Männer, wenn ich tot wäre, ihren Spaß an Brida haben würden, während er AEthelred mein Schwert überbringen könne.
Die Waliser hatten die Saefern am Oberlauf überquert und waren dann nach Süden gezogen, wo auf üppigen Weiden fette Rinder grasten. Es war ihre Art, schnell vorzustoßen und sich ebenso schnell wieder zurückzuziehen, sodass die Mercier keine Truppen zusammenstellen konnten. AEthelred hatte aber rechtzeitig von dem geplanten
Überfall erfahren, und während er nach Süden ritt, folgten wir Tatwine nach Norden zu der Brücke über die Saefern, über die man am schnellsten nach Wales kam.
Die Räuber liefen uns geradewegs in die Falle. Wir erreichten die Brücke in der Abenddämmerung, übernachteten auf freiem Feld und sahen am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, die Welschen mit den gestohlenen Rindern auf uns zukommen. Ihre Pferde waren im Unterschied zu unseren erschöpft, und so versuchten sie erst gar nicht, uns auszuweichen. Sie rückten bis zur Brücke vor und bildeten einen Schildwall. Wir stiegen von den Pferden und formierten uns ebenfalls. Uns standen achtundzwanzig Männer gegenüber, verwegen aussehende Kerle mit wüsten Haaren, langen Bärten und zerrissenen Kleidern. Ihre Waffen und Schilde aber waren gut gepflegt.
Tatwine, der ein paar Wörter ihrer Sprache beherrschte, sagte ihnen, dass sie, wenn sie sich sofort ergeben würden, auf Gnade hoffen dürften. Aber sie lachten uns nur aus. Einer von ihnen drehte sich um, zog seine Beinkleider herunter und zeigte uns sein dreckiges Hinterteil, so beleidigten die Welschen gern ihre Gegner.
Danach passierte lange Zeit nichts. Sie standen mit ihrem Schildwall auf dem Weg, während wir mit unserem die Brücke versperrten. Die Gegner verhöhnten uns mit lautem Gebrüll, das wir auf Tatwines ausdrücklichen Befehl hin beantworten durften. Ein- oder zweimal hatte es den Anschein, als versuchten sie, zu ihren Pferden zu eilen und Richtung Norden zu fliehen, doch jedes Mal ließ Tatwine unsere Pferde holen und gab den Welschen damit zu verstehen, dass wir ihnen nachjagen und sie einholen würden. Also kehrten sie immer wieder in ihren Schildwall zurück und versuchten stattdessen, uns mit Schmähungen zu reizen. Doch Tatwine war kein Narr. Der Gegner war uns zahlenmäßig überlegen und hätte uns in die Zange nehmen können. Solange wir aber auf der Brücke blieben, waren wir durch die Brüstung zu beiden Seiten geschützt. Tatwine hatte mich in die Mitte der Reihe rücken lassen und selbst hinter mir Aufstellung genommen, um, falls ich fiele, die Lücke schließen zu können. Der Schild, den mir mein Onkel geliehen hatte, war alt und taugte nicht mehr viel.
Zum wiederholten Mal versuchte Tatwine, die Welschen zum Aufgeben zu überreden. Er versprach, nur die Hälfte von ihnen zu töten, aber da allen anderen eine Hand abgeschlagen und ein Auge ausgestochen werden sollte, war sein Angebot nicht sehr verlockend. Also harrten wir weiter aus, und womöglich hätten wir bis in die Nacht hinein gewartet, wären da nicht Anwohner vorbeigekommen, von denen einer mit Pfeil und Bogen bewaffnet war. Er fing an, die Welschen zu beschießen, die den ganzen Morgen getrunken hatten. Uns hatte Tatwine nur ein kleines bisschen Ale gegeben.
Ich war nervös, nein, mehr noch, voller Angst und Schrecken. Ich hatte keine Rüstung, während alle anderen aus Tatwines Truppe Kettenhemden oder festes Leder trugen. Tatwine hatte einen Helm auf dem Kopf, ich nur Haare. Den Tod vor Augen, erinnerte ich mich an mein Kampftraining, legte mir das Waffengehänge über die Schulter und ließ das Schwert auf dem Rücken herabhängen, weil man es so schneller ziehen konnte. Ich war darauf eingestellt, zuerst mit dem Wespenstachel zu kämpfen. Mein Mund trocknete aus, ein Muskel im rechten Bein fing an zu zittern, und mein Magen rebellierte, doch unter die Angst mischte sich auch Erregung. Mein Weg hatte mich hierher geführt, in einen Schildwall, und falls ich ihn überlebte, würde ich ein Krieger sein.
Pfeile flogen, einer nach dem anderen. Sie trafen alle auf Schilde, bis auf einen, der seinen Weg in die Brust eines Mannes fand. Er ging zu Boden, worauf der welsche Anführer die Geduld verlor und anfing zu brüllen. Und dann griffen sie an.
Es war nur ein kleiner Schildwall, keine große Schlacht, aber ich kämpfte zum ersten Mal richtig mit und stieß meinen Schild an den des Nebenmannes, um mich davon zu überzeugen, dass sie übereinander lagen. Ich senkte meinen Wespenstachel und duckte mich, um den Stoß am unteren Rand des Schildes vorbeizuführen. Die Welschen brüllten wie Wahnsinnige, um uns zu schrecken, doch ich war zu eifrig auf mein Tun bedacht, als dass ich mich von ihnen hätte ablenken lassen.
«Jetzt!», rief Tatwine, und wir alle rückten vor. Wie Ealdwulfs Hammer auf den Amboss, so heftig krachte etwas auf meinen Schild. Ich sah eine Axt von oben auf mich niederfahren, riss den Schild in die Höhe und stieß meinem Gegenüber die Klinge in den Unterleib, gerade so, wie es mir von Toki beigebracht worden war. Ein grausamer, tödlicher Streich. Der Mann schrie wie eine Frau im Kindbett. Das Kurzschwert blieb in seinem Körper stecken, Blut sprudelte über das Heft, und die gegen mich geschleuderte Axt fiel hinter mir zu Boden. Ich richtete mich auf, zog Schlangenhauch über die linke Schulter und hieb damit auf denjenigen ein, der meinen rechten Nachbarn angriff. Der Streich war gut gezielt, und ich zog das Schwert zurück, um die von Ealdwulf geschärfte Schneide ihr Werk verrichten zu lassen. Der, dem mein Wespenstachel im Bauch steckte, lag vor mir am Boden. Ich pflanzte meinen Fuß in sein Gesicht und brüllte, brüllte auf Dänisch, den Gegner verwünschend, und plötzlich erschien mir alles ganz einfach. Ich stieg über mein erstes Opfer weg, um das zweite zu treffen, und rückte aus dem Schildwall, in dem nun Tatwine meinen Platz einnahm. Ich war jetzt auf der welschen Seite mit zwei Toten vor den Füßen und sah mich dem Angriff eines Mannes ausgesetzt, der sein Schwert wie eine Sense führte. Es prallte vom Buckel meines Schildes ab, und ehe er sich in Deckung bringen konnte, stieß ich ihm die Klinge in den Hals, zog sie sogleich zurück und schlug, als ich mit Schwung zu einem weiteren Streich ausholte, gegen einen Schild im Rücken. In wütende Raserei geraten, drehte ich mich um, stellte dem vierten Mann nach und warf ihn mit Wucht zu Boden. Er winselte um Gnade, doch die gewährte ich nicht.
Was für Taumel! Ich tanzte in einem lustvollen Hochgefühl und empfand nun selbst jene überschwängliche Freude am Kampf, von der Ragnar so oft gesprochen hatte. Wer sie nicht erfahren hat, ist kein Mann. Es war zwar keine wirkliche Schlacht, nur eine Bestrafung von Räubern, wohl aber mein erster Kampf, und die Götter waren in mich gefahren, hatten meinem Arm Schnelligkeit und meinem Schild Stärke verliehen, und als der Kampf entschieden war, als ich im Blut der Gefallenen watete, wusste ich, dass ich gut war. Mehr als gut. Ich hätte in diesem Moment die ganze Welt erobern können und bedauerte nur, dass mich Ragnar nicht gesehen hatte. Dann aber stellte ich mir vor, dass er vielleicht von Walhalla auf mich herabblickte, und so hob ich mein Schwert gen Himmel und rief seinen Namen. Ich habe andere junge Männer mit derselben Freude aus ihrem ersten Kampf kommen sehen und nach dem nächsten Gefecht begraben. Junge Männer sind töricht, und ich war jung. Aber ich war gut.
Wir hatten die Viehdiebe geschlagen. Zwölf waren tot oder so schwer verwundet, dass sie im Sterben lagen. Die anderen stellten wir auf der Flucht. Wir töteten alle. Danach kehrte ich zu dem Mann zurück, dem ich, als unsere Schildwälle aufeinander geprallt waren, mein Kurzschwert in den Leib gestoßen hatte. Ich musste meinen Fuß in seinen blutigen Schritt stemmen, um die Klinge herausziehen zu können, und verspürte den heißen Wunsch, noch mehr Feinde zu töten.
«Wo hast du zu kämpfen gelernt?», fragte mich Tatwine.
Ich wandte mich ihm zu wie einem Feind. Stolz glühte in meinem Gesicht, und das Kurzschwert zuckte, als dürstete es nach Blut. «Ich bin ein Aldermann aus Northumbrien», entgegnete ich.
Er hielt inne, musterte mich misstrauisch und nickte dann. «Ja, Herr», sagte er und streckte die Hand aus, um die Muskeln meines rechten Arms zu befühlen. «Wo habt Ihr zu kämpfen gelernt?», wiederholte er seine Frage in respektvollem Ton.
«Ich habe den Dänen zugesehen.»
«Zugesehen», echote er tonlos. Er schaute mir in die Augen, grinste und umarmte mich. «Bei Gott», sagte er, «Ihr seid ein wilder Kämpfer. War das Euer erster Schildwall?»
«Mein erster», gab ich zu.
«Aber nicht Euer letzter, wage ich zu behaupten, nicht Euer letzter.»
Er sollte Recht behalten.
Ich habe, auch wenn dies unbescheiden klingt, die Wahrheit berichtet. Heutzutage beauftrage ich Barden, mich singend zu preisen, weil das von einem Herrn erwartet wird. Ich habe mich allerdings schon häufig gefragt, warum man einen Mann für bloße Worte entlohnt. Diese Versschmiede tun doch nichts, sie pflanzen nicht, töten keine Feinde, fangen weder Fische noch züchten sie Vieh. Sie nehmen lediglich Silber für Worte, die ohnehin kostenlos sind. Ein schlauer Trick, aber in Wahrheit sind sie genauso nützlich wie Priester.
Ich kämpfte gut, so viel steht fest. Doch darauf hatte ich mich seit meinen frühen Jahren mit Ehrgeiz und hoffnungsvollen Träumen vorbereitet, und ich war jung und wie alle meine Altersgenossen waghalsig und unbekümmert. Ich war kräftig und schnell, die Feinde dagegen müde. Wir spießten ihre abgetrennten Köpfe an der Brüstung der Brücke auf, zum Gruß für andere Britonen, die ihr verlorenes Land besuchen wollten. Dann ritten wir gen Süden, um uns mit AEthelred zu treffen, dem es bestimmt nicht gefiel, dass ich noch lebte und hungrig war. Doch er billigte Tatwines Urteil, wonach ich als Kämpfer von Nutzen sein könne.
Nicht, dass viele Kämpfe zu erwarten waren, außer denen gegen Banditen und Viehdiebe. AEthelred hätte sich zwar gern mit den Dänen geschlagen, deren Herrschaft ihm zuwider war, fürchtete aber ihre Rache und hütete sich davor, sie zu reizen. Es fiel auch nicht allzu schwer, ihnen aus dem Weg zu gehen, da sie unseren Teil Merciens weitgehend unbeachtet ließen. Doch alle paar Wochen kamen dänische Verbände nach Cirrenceastre und verlangten Vieh oder Lebensmittel oder Silber, und /Ethelred musste ihren Forderungen nachgeben. An Burghred, seinen
Herrn und machtlosen König im Norden, verschwendete er kaum einen Gedanken. Stattdessen war sein Blick auf das südliche Wessex gerichtet. Hätte ich damals das kleinste bisschen Scharfblick besessen, hätte ich verstanden, dass Alfred seinen Einfluss auf den Süden Merciens ausweitete. Dieser Einfluss war nicht offensichtlich, und keine westsächsischen Soldaten zogen durchs Land, doch Alfreds Gesandte waren immer unterwegs und sprachen mit den wichtigsten Männern. Sie überzeugten sie davon, für den Fall eines neuerlichen dänischen Angriffs, Krieger in den Süden von Wessex zu schicken.
Mir hätten diese Gesandten zu denken geben müssen, doch abgelenkt durch Streitereien in AEthelreds Haus nahm ich keine Notiz von ihnen. Der Aldermann mochte mich nicht, sein Sohn aber, ebenfalls AEthelred genannt, begegnete mir mit unverhohlener Abneigung. Er war ein Jahr jünger als ich, dünkelhaft und voller Hass auf die Dänen. Auch gegen Brida hegte er Groll, seit sie ihm, als er ihr einmal zu nahe gekommen war, ein Knie zwischen die Beine gerammt hatte. Danach musste sie in der Küche arbeiten und hatte mich gleich am ersten Tag davor gewarnt, von dem Essen, das sie zubereiten musste, zu kosten. Ich hielt mich also zurück, doch alle anderen, die mit zu Tisch saßen, litten anschließend zwei Tage lang unter Durchfall, hervorgerufen von Holunderbeeren und Iriswurzeln, die sie unter den Brei gerührt hatte. Der junge AEthelred suchte ständig Streit mit mir und bekam eines Tages meine Fäuste zu spüren, als ich ihn dabei erwischte, wie er Bridas Hund prügelte. Danach hütete er sich vor mir.
Mein Onkel hatte ständig etwas an mir auszusetzen. Ich war ihm zu jung, zu groß, zu laut, zu stolz und zu wild.
Aber ich gehörte nun einmal zur Familie, weshalb er mich ertragen musste, und es kam ihm auch durchaus zupass, dass ich mit Tatwine auf welsche Räuber Jagd machte, die uns allerdings meistens entwischten.
Als ich einmal von einem solchen Ausritt spätabends zurückkehrte und mein Pferd einem Stallknecht überließ, um möglichst schnell etwas zu essen zu bekommen, fand ich niemand anderen als Pater Willibald im Haus. Auf den ersten Blick erkannte ich ihn so wenig wie er mich. Ich war erhitzt, trug einen Lederumhang, hohe Stiefel, einen Schild und beide Schwerter. Ich sah nur eine Gestalt am Kamin. «Gibt es irgendwas zu essen?», fragte ich, weil ich es mir ersparen wollte, eine Talgkerze anzuzünden und in der Küche nachzuschauen, wo die Mägde schliefen.
«Uhtred», sagte er. Ich drehte mich um und spähte ins Dunkel. Erst als er wie eine Schwarzdrossel zu zwitschern anfing, erkannte ich ihn. «Ist das Brida an deiner Seite?», fragte der junge Priester.
Auch sie war in Leder gekleidet und trug ein welsches Schwert am Gürtel. Nihtgenga lief auf Willibald zu, dem er nie zuvor begegnet war, und ließ sich von ihm streicheln. In diesem Augenblick kamen auch Tatwine und die anderen Kämpfer polternd herein, doch Willibald nahm keine Notiz von ihnen. «Ich hoffe, es geht dir gut, Uhtred.»
«Ja, durchaus», erwiderte ich. «Und Euch, Pater?»
«Bestens.»
Er lächelte und schien zu erwarten, dass ich ihn fragte, weswegen er gekommen sei, doch ich gab mich gleichgültig und fragte stattdessen: «Hattet Ihr noch Ärger, weil wir Euch entwischt sind?»
«Zugegeben, Lady AElswith war sehr wütend», antwortete er. «Alfred aber blieb ruhig, jedenfalls mir gegenüber.
Seinen Unmut musste Pater Beocca über sich ergehen lassen.»
«Beocca? Warum?»
«Weil Beocca ihm eingeredet hatte, dass du den Dänen entkommen wolltest, was aber gar nicht der Fall war. Sei's drum.» Er lächelte. «Jetzt hat Alfred mich nach dir losgeschickt.»
Ich ging neben ihm in die Hocke. Obwohl dem Kalender nach noch Sommer herrschte, waren die Nächte schon überraschend kalt, und so warf ich einen Holzscheit in die Glut. Funken sprühten, und eine Rauchwolke stieg zu den hohen Deckensparren auf. «Alfred hat Euch geschickt», sagte ich mit flacher Stimme. «Will er mir immer noch das Lesen beibringen?»
«Er will Euch sehen, Herr.»
Argwöhnisch blickte ich zu ihm auf. Ich nannte mich zwar selbst einen Herrn, weil ich von Geburt einer war, hatte mir aber die Vorstellung der Dänen zu Eigen gemacht, dass Stand und Würde eines Herrn nicht erblich waren, sondern erworben werden mussten, und das hatte ich noch nicht. Trotzdem zollte mir Willibald Respekt. «Warum will er mich sehen?», fragte ich.
«Er möchte mit Euch reden», antwortete Willibald. «Anschließend könnt Ihr tun und lassen, was Ihr wollt.»
Brida brachte mir ein Stück hartes Brot und Käse. «Worüber will er mit mir reden?», fragte ich. «Über Gott?»
Der Priester seufzte. «Alfred ist seit zwei Jahren unser König. Sein ganzes Denken kreist zum einen um Gott, zum anderen um die Dänen. Ich glaube, er weiß sehr wohl, dass Ihr ihm, was Gott angeht, nicht helfen könnt.» Ich lächelte, AEthelreds Hunde waren von dem Lärm Tatwines und seiner Männer, die sich auf dem hohen Podest schlafen legten, geweckt worden. Einer der Hunde kam, vom Käse angelockt, auf mich zu. Ich kraulte ihm das raue Fell und dachte an Ragnar, den Hundefreund. Er war jetzt in Walhalla, wo er nach Herzenslust schmausen, trinken, huren und über die Stränge schlagen mochte, und ich wünschte ihm, dass es im Himmel der Nordmänner auch Hunde gab, Eber so groß wie Ochsen und Speere so scharf wie die Messer zum Bartscheren. «An Eure Reise zu ihm wäre nur eine einzige Bedingung geknüpft», fuhr Willibald fort. «Ihr müsstet Brida zurücklassen.»
«Zurücklassen?», vergewisserte ich mich.
«Lady AElswith besteht darauf», sagte Willibald.
«Besteht darauf?»
«Sie hat vor kurzem einen Sohn zur Welt gebracht», berichtete Willibald. «Einen prächtigen Jungen, Gott sei gepriesen. Sein Name ist Edward.»
«Alfred tut gut daran, sie auf andere Gedanken zu bringen», sagte ich.
Willibald lächelte. «Ihr werdet also zu ihm gehen?»
Ich berührte Brida, die sich neben mich gesetzt hatte, und sagte: «Wir gehen.» Willibald schüttelte den Kopf, verzichtete aber darauf, mir einreden zu wollen, dass es besser sei, Brida zurückzulassen.
Warum folgte ich der Einladung Alfreds? Weil ich mich langweilte. Weil mich mein Vetter ablehnte. Weil Willibalds Worte vermuten ließen, dass Alfred keinen Gelehrten, sondern einen Kämpfer aus mir machen wollte. Ich ging, weil das Schicksal unser Leben lenkt.
Wir brachen frühmorgens auf. Es war Spätsommer, ein leichter Regen fiel auf dicht belaubte Bäume. Die Wachteln schlugen, als wir über AEthelreds Felder ritten, auf denen Roggen und Hafer gedieh. Nach wenigen Meilen hatten wir das Niemandsland an der Grenze zwischen Mercien und Wessex erreicht. Auch hier waren früher die Felder bestellt worden, doch die Dänen hatten die Region in dem Sommer nach ihrer Niederlage bei AEscs Hügel verwüstet. Alfred wollte, dass die Bauern zurückkehrten und das Land bebauten, doch die Dänen drohten jedem, der sich hier niederließ, mit dem Tod. Sie wussten so gut wie Alfred, dass sich diese Bauern unter den Schutz von Wessex stellen, dass sie Westsachsen werden und die westsächsische Streitmacht verstärken würden. Für die Dänen aber existierte Wessex nur, weil sie es noch nicht eingenommen hatten.
Und doch war das Land nicht völlig menschenleer. In den Dörfern lebten ein paar Menschen, und die Wälder waren voller Gesetzloser. Zum Glück gerieten wir ihnen nicht in die Quere, denn Brida hatte einen Teil von Ragnars Schatz bei sich. Jede Münze war mit einem Lumpenfetzen umwickelt, um zu verhindern, dass sie in ihrem Lederbeutel aneinander klirrten.
Gegen Abend hatten wir die Grenze nach Wessex überschritten. Wir kamen wieder an belebten Ortschaften vorbei und sahen gut bestellte Felder. Kein Wunder, dass die Dänen dieses Land wollten.
Alfred hielt sich in Wintanceaster auf, der westsächsischen Hauptstadt inmitten fruchtbarer Landschaft. Auch diese Stadt war von den Römern gegründet worden, und Alfreds Palast bestand noch zum großen Teil aus den alten Mauern. Sein Vater hatte ein großes Burghaus aus Fachwerk hinzugefügt, und Alfred ließ eine Kirche erbauen, die dieses Haus sogar überragen sollte, doch noch waren die aus Stein gemauerten Außenwände eingerüstet. Als wir ankamen, wurde vor dem Neubau ein Markt abgehalten, und ich erinnere mich, dass mich der Anblick einer so großen Menge, unter der sich kein einziger Däne befand, seltsam anmutete. Zwar sehen Dänen nicht anders aus als wir, doch sooft sie im Norden Englands über einen Markt gingen, wich die Menge auseinander, die Männer verbeugten sich, und es machte sich eine ängstliche Stimmung breit. Nicht so hier. Frauen feilschten um Apfel, Brot, Käse und Fisch, und es gab nur eine einzige Sprache zu hören: die rauen Laute von Wessex.
Brida und mir wurde ein Quartier im römischen Teil des Palastes eingeräumt. Diesmal versuchte uns niemand auseinander zu bringen. Wir hatten eine kleine, weiß gekalkte Kammer mit einer Strohmatte. Willibald sagte, dass wir dort warten sollten, was wir auch taten, bis uns schließlich langweilig wurde. Wir verließen unsere Kammer und erforschten den Palast. Er war, wie wir feststellten, voller Priester und Mönche, die mit Befremden auf uns reagierten, da wir Reife mit eingravierten Runenzeichen an den Armen trugen. Ich war damals ein Narr, ein tumber Narr, der nicht höflich genug war, die Armreife abzulegen. Gewiss, auch manche Engländer, vor allem Krieger, trugen ähnlichen Schmuck, doch nicht in Alfreds Palast. Hier lebten etliche Kämpfer, viele von ihnen waren große Aldermänner, die zu Alfreds Hofstaat gehörten, seine Gefolgsleute anführten und dafür mit Landbesitz entlohnt wurden. Weit größer aber war die Zahl der Priester, und nur einer Hand voll Männer, nämlich der vertrauten Leibwache des Königs, war es erlaubt, im Palast Waffen zu tragen. In Wahrheit glich der Ort weniger einem Königshaus als einem Kloster. In einem Saal waren zwölf Mönche tagtäglich damit beschäftigt, Bücher zu kopieren, unermüdlich kratzten dort Gänsekiele über Pergament. Es gab drei Kapellen, eine stand am Rande eines blumengeschmückten Hofes, der wunderschön anzusehen war und einen herrlichen Duft verströmte. Nihtgenga hob gerade sein Bein vor einem der blühenden Büsche, als hinter uns eine Stimme ertönte: «Die Römer haben diesen Hof erbaut.»
Ich drehte mich um und sah Alfred. Ich beugte mein Knie, wie es sich vor einem König gehört, doch er hieß mich mit einer Handbewegung aufstehen. Er war ohne Begleitung und trug wollene Strümpfe, Stiefel mit hohen Schäften und ein einfaches Leinenhemd, das am rechten Ärmel einen Tintenfleck hatte. «Sei willkommen, Uhtred», grüßte er.
«Danke, Herr», entgegnete ich und wunderte mich darüber, dass er allein war. Ich hatte ihn nie gesehen, ohne dass ihn eine Schar Priester umringt hätte.
«Du auch, Brida», sagte er. «Ist das dein Hund?»
«Ja, das ist er», antwortete sie trotzig.
«Ein gutes Tier. Kommt.» Er führte uns durch eine Tür in einen Raum, der allem Anschein nach seine Privatkammer war. Mein erster Blick fiel auf ein Stehpult, an dem er offenbar zu lesen und zu schreiben pflegte. Darauf befanden sich vier in Haltern steckende Kerzen, die jedoch, weil es hell war, nicht brannten. Auf einem kleinen Tisch stand eine mit Wasser gefüllte Schale, in der er sich die Tinte von den Händen waschen konnte. Außerdem waren da ein mit Lammfellen bedecktes Bett, ein Stuhl, auf dem sich sechs Bücher und etliche Pergamentbögen stapelten, und ein niedriger Altar mit einem Kruzifix aus Elfenbein und zwei edelsteinbesetzte Reliquienbehälter. Alfred räumte zwei Teller mit Essensresten aus der Fensternische, um selbst darin Platz zu nehmen, und machte sich daran, Gänsekiele zurecht zuschneiden. «Es freut mich, dass du gekommen bist», sagte er milde. «Ich wollte dich nach dem Abendessen aufsuchen, sah dich aber im Garten und dachte, dass wir auch jetzt miteinander sprechen könnten.» Er lächelte, und ich, ungehobelt, wie ich war, blickte finster drein. Brida hockte, Nihtgenga dicht bei sich, neben der Tür.
«Aldermann AEthelred berichtet, dass du ein bemerkenswerter Kämpfer bist, Uhtred.»
«Ich hatte Glück, Herr.»
«Glück zu haben ist gut, das jedenfalls sagen meine Soldaten. Vielleicht wäre es lohnend, eine Theologie des Glücks auszuarbeiten. Kann es so etwas wie Glück geben, wenn davon auszugehen ist, dass Gott lenkt?» Er sah mich mit grüblerisch in Falten gelegter Stirn an und schien über diesen offenkundigen Widerspruch nachdenken zu wollen, sparte sich dieses Vergnügen dann jedoch für eine andere Gelegenheit auf. «Es war vermutlich falsch von mir, dir eine Ausbildung zum Priester anzuempfehlen, nicht wahr?»
«Eine Empfehlung ist nie falsch, Herr», entgegnete ich, «aber ich selbst wollte keinesfalls Priester werden.»
«Also bist du fortgelaufen. Warum?»
Ich glaube, er rechnete mit einer verlegenen Ausrede, doch ich antwortete mit der Wahrheit. «Ich bin gegangen, um mein Schwert zu holen.» Mir wäre es auch in diesem Moment lieber gewesen, Schlangenhauch griffbereit am Gurt zu tragen, doch die Palastwache hatte darauf bestanden, dass ich alle Waffen ablegte, selbst mein kleines Messer, das ich zum Essen gebrauchte.
Er nickte ernst, als sei das eine vernünftige Begründung. «Ist es ein besonderes Schwert?»
«Das beste auf der Welt, Herr.»
Er lächelte über meine jugendliche Begeisterung. «Du bist also zu Graf Ragnar zurückgekehrt.»
Ich sagte darauf nichts und nickte bloß.
«Er hat dich nicht gefangen gehalten, Uhtred», stellte Alfred fest. «Du warst nie seine Geisel, sondern vielmehr eine Art Sohn für ihn, stimmt das?»
«Ich habe ihn geliebt», platzte ich heraus.
Er starrte mich an, und mir wurde ganz unbehaglich. Seine sehr hellen Augen vermittelten mir das Gefühl, vor Gericht zu stehen. «In Eoferwic wird aber davon geredet, dass du ihn getötet hast», fuhr Alfred mit ruhiger Stimme fort.
Jetzt war ich es, der ihn anstarrte. Ich war wütend, verblüfft und so verwirrt, dass mir die Worte fehlten. Aber warum war ich so überrascht? Was sollte Kjartan sonst behaupten? Es sei denn, dachte ich, dass er mich für tot hielt, oder zumindest hoffte ich das.
«Alles Lüge», sagte Brida.
«Wirklich?», fragte mich Alfred mit nach wie vor milder Stimme.
«Alles Lüge», bestätigte ich wütend.
«Ich glaube dir», sagte er. Er legte die Gänsekiele und das Messer beiseite, beugte sich über die Pergamente, die auf den Büchern lagen, und blätterte darin, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er überflog den Text, der auf dem Blatt geschrieben stand. «Kjartan? Spreche ich den Namen richtig aus?»
Ich wies ihn darauf hin, dass das J wie ein I ausgesprochen wurde.
«Inzwischen Graf Kjartan», sagte Alfred. «Er wird als hoher Herr geachtet und besitzt vier Schiffe.»
«Das steht da geschrieben?», fragte ich.
«Ja. Alles, was ich über meine Feinde in Erfahrung bringe, wird schriftlich festgehalten», antwortete Alfred.
«Deshalb habe ich dich hergebeten. Damit du mir noch mehr berichtest. Wusstest du, dass Ivar der Knochenlose tot ist?»
Meine Hand fuhr unwillkürlich an mein Amulett, das ich unter dem Wams trug. «Nein. Tot?» Ich konnte es kaum glauben. Meine Ehrfurcht Ivar gegenüber war so groß, dass ich ihn wohl für unsterblich hielt. Doch Alfred sprach die Wahrheit. Ivar der Knochenlose war tot.
«Er fiel im Kampf gegen die Iren», erklärte Alfred. «Ragnars Sohn ist mit seinen Männern nach Northumbrien zurückgekehrt. Wird er Kjartan angreifen?»
«Wenn er erfährt, dass Kjartan seinen Vater ermordet hat, reißt er ihm die Eingeweide heraus», antwortete ich.
«Graf Kjartan hat geschworen, dass er in dieser Sache unschuldig ist.»
«Er lügt.»
«Er ist Däne», sagte Alfred, «und die halten es mit der Wahrheit nie so genau.» Er strafte mich mit seinem Blick für all die Lügen, die ich ihm aufgetischt hatte. Dann stand er auf und lief in der kleinen Kammer auf und ab. Er hatte mich gebeten, ihm von den Dänen zu berichten, doch nun setzte er mich von den neuen Entwicklungen in Kenntnis. König Burghred von Mercien, sagte er, sei der dänischen Bevormundung überdrüssig und habe beschlossen, nach Rom zu fliehen.
«Nach Rom?»
«Ich war als Kind selbst zweimal dort», antwortete er. «Ich erinnere mich an eine schrecklich heruntergekommene Stadt.» Er sagte dies in strengem Ton. «Immerhin fühlt man sich dort Gott sehr nahe. Ein guter Ort zum Beten. Burghred ist ein schwacher Mann, hat aber sein Bestes getan, um das Leid, das die dänische Herrschaft mit sich bringt, zu lindern. Wenn er fort ist, werden die Dänen jeden Winkel seines Landes bevölkern und nicht zuletzt an unserer Grenze siedeln. Sie werden in Cirrenceastre sein.» Er schaute mich an. «Kjartan weiß, dass du lebst.»
«Wirklich?»
«Sicher. Die Dänen haben Kundschafter wie wir auch.» Und Alfreds Kundschafter, so wurde mir klar, schienen besonders viel herauszufinden, denn er war gut informiert. «Und kümmert es Kjartan, dass du noch lebst?», fuhr er fort. «Wenn du die Wahrheit über Ragnars Tod sagst, Uhtred, dann kümmert es ihn, denn sie widerspricht seinen Lügen. Und wenn Ragnar diese Wahrheit von dir erfährt, muss Kjartan um sein Leben fürchten. Es muss ihm also daran gelegen sein, dich zu töten. Das solltest du wissen, falls du eine Rückkehr nach Cirrenceastre in Erwägung ziehst. Denn dort haben die Dänen», er hielt inne, «Einfluss. In Wessex wärst du in Sicherheit. Aber wie lange wird Wessex standhalten?» Offenbar erwartete er keine Antwort, und er schritt weiter auf und ab. «Ubba hat Krieger nach Mercien geschickt, was darauf hindeutet, dass er folgen wird. Bist du Ubba schon einmal begegnet?»
«Mehr als einmal.»
«Erzähl mir von ihm.»
Ich erzählte, was ich wusste, sagte, dass Ubba ein großer Krieger sei, und erwähnte auch seinen Aberglauben, was Alfred sehr neugierig machte. Er wollte mehr über den Zauberer Storri und die Runenstäbe erfahren. Ich berichtete, dass Ubba nie aus Lust und Laune in den Kampf zog, sondern nur, wenn ihm die Runenstäbe einen günstigen Ausgang verhießen, dann aber würde er mit schrecklichem Jähzorn kämpfen. Alfred schrieb alles, was ich sagte, auf und fragte, ob mir auch Halfdan begegnet sei, was ich bejahte.
«Halfdan will Ivar rächen», sagte Alfred. «Also wird er vermutlich nicht nach Wessex kommen, jedenfalls nicht so bald. Aber selbst, wenn er in Irland bleibt, haben wir hier noch viele Heiden gegen uns.» Alfred hatte, wie er mir sagte, schon in diesem Jahr mit einem Angriff gerechnet, wozu es aber wegen der schlechten Vorbereitung der Dänen nicht gekommen war. «Dieser Zustand wird allerdings nicht andauern», sagte er. «Vermutlich kommen sie im nächsten Jahr, angeführt von Ubba.»
«Oder von Guthrum», bemerkte ich.
«Ich habe ihn nicht vergessen. Er hält sich zurzeit in Ostanglien auf.» In Erinnerung an Bridas Geschichte über Edmund warf er ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie aber blieb ungerührt und betrachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. «Was weißt du über Guthrum?», fragte er mich.
Wieder gab ich ihm Auskunft, und er schrieb mit. Er staunte über den Knochen, der in Guthrums Haaren steckte, und erschauerte, als ich davon sprach, dass sich Guthrum in den Kopf gesetzt hatte, alle Engländer zu töten. «Das wird schwerer sein, als er glaubt», sagte Alfred trocken. Er legte die Schreibfeder nieder und ging wieder in der Kammer auf und ab. «Von den dänischen Anführern sind einige mehr zu fürchten als andere», erklärte er. «Ich habe Ivar den Knochenlosen gefürchtet, denn er war kalt und überlegt. Ubba? Ich weiß nicht, schätze aber, dass er gefährlich ist. Halfdan? Ein tapferer Narr mit hohlem Kopf. Guthrum? Er ist am wenigsten zu furchten.»
«Am wenigsten?», zweifelte ich laut. Auch wenn Guthrum den Beinamen der Unglückliche trug, so war er doch ein bedeutender Befehlshaber, der eine große Streitmacht anführte.
«Er denkt mit dem Herzen, Uhtred», antwortete Alfred, «nicht mit dem Kopf. Das Herz aber lässt sich verändern, nicht so der Kopf.» Ich erinnere mich, Alfred verständnislos angestarrt und dabei gedacht zu haben, dass er Dummheiten heraussprudelte wie ein Pferd die Pisse. Doch er hatte Recht, zumindest halbwegs, denn er versuchte, mich zu verändern. Doch es gelang ihm nicht.
Eine Biene flog zur Tür herein und wieder hinaus, nachdem Nihtgenga vergeblich nach ihr geschnappt hatte. «Was meinst du, Uhtred? Wird Guthrum versuchen, uns anzugreifen?»
«Ja, und zwar auf dem Land, vom Wasser her und mit Hilfe der Britonen aus Wales», antwortete ich. «Er will Euch zwingen, Eure Streitkräfte aufzuteilen.»
Alfred musterte mich mit ernstem Blick. «Woher weißt du das?»
Ich berichtete ihm von Guthrums Besuch bei Ragnar und von deren Unterhaltung, die ich hatte mitverfolgen können. Alfreds Feder kratzte und verspritzte kleine Tintentropfen, wenn sie an einer rauen Stelle des Pergamentes hängen blieb. «Daraus ließe sich schließen», sagte er beim Schreiben, «dass Ubba von Mercien über Land kommt und Guthrum von Ostanglien aus auf dem Seeweg vorstößt.» In diesem Punkt irrte er, aber zu dem damaligen Zeitpunkt war seine Vermutung nahe liegend. «Über wie viele Schiffe verfugt Guthrum?»
Ich hatte keine Ahnung. «Siebzig?», riet ich. «Hundert?»
«Es werden wahrscheinlich sehr viel mehr sein», entgegnete Alfred. «Und ich könnte nicht einmal zwanzig gegen sie aufbringen. Bist du schon einmal zur See gefahren, Uhtred?» «Viele Male.»
«Mit den Dänen?», fragte er haarspalterisch. «Mit den Dänen», bestätigte ich.
«Ich möchte dir folgenden Auftrag geben», hob er an, doch in diesem Moment ertönte eine Glocke, und er unterbrach sich. «Zeit zum Beten», sagte er und legte die Schreibfeder nieder. «Du kommst mit.» Es war keine Frage, sondern ein Befehl.
«Ich habe anderes zu tun», sagte ich, und dann, nach kurzem Zögern, «Herr.»
Er schaute mich überrascht an, war es ihm doch fremd, dass sich andere seinen Wünschen widersetzten, vor allem, wenn es darum ging, mit ihm zu beten. Aber angesichts meiner entschlossenen Miene drängte er nicht weiter. Auf dem gepflasterten Weg vor der Kammer war das Klatschen von Sandalen zu hören. Alfred entließ uns und eilte hinaus, um sich den Mönchen anzuschließen, die zur Kirche gingen. Wenig später ertönte eine dumpfe Litanei, die uns, Brida und mich, aus dem Palast in die Stadt trieb, wo wir ein Wirtshaus entdeckten, in dem gutes Ale ausgeschenkt wurde. Von Alfred war mir keines angeboten worden. Die übrigen Gäste betrachteten uns mit Argwohn, zum einen wegen unserer mit Runenzeichen verzierten Armreife, zum anderen wegen unserer Dialekte. Ich hatte einen northumbrischen Akzent, und Brida war anzuhören, dass sie aus dem Osten stammte. Das Silber aber, mit dem wir zahlten, wurde gewogen und für gut befunden, und die Stimmung hatte sich schon zu unseren Gunsten gewandelt, als Pater Beocca den Gastraum betrat und uns mit tintenfleckiger Hand zuwinkte. «Ich habe überall nach euch gesucht», sagte er und fügte, den Blick auf mich gerichtet, hinzu: «Alfred verlangt nach dir.»
«Er wollte beten», erwiderte ich.
«Er möchte mit dir speisen.»
Ich setzte meinen Krug an und trank. «Und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte ...», fing ich an.
«Ich hoffe, du lebst noch länger», unterbrach mich Beocca, «so lange wie Methusalem.»
Mir war nicht klar, von wem er sprach. «Und wenn ich hundert werden sollte», wiederholte ich, «möchte ich nie mehr mit Alfred an einem Tisch sitzen und essen.»
Er schüttelte betrübt den Kopf, setzte sich aber zu uns und bestellte auch für sich einen Krug Ale. Er streckte die Hand aus, zog an der Lederschnur, die mir um den Hals hing, und brachte den unter meinem Wams versteckten Hammer zum Vorschein. Wieder schüttelte er den Kopf und sagte: «Du hast mich belogen, Uhtred. Nach deiner Flucht vor Pater Willibald haben wir Erkundigungen eingeholt. Du bist nie in Gefangenschaft gewesen. Im Gegenteil, du warst Ragnar wie ein Sohn.»
«Ja», bestätigte ich.
«Warum bist du nicht zu uns gekommen, sondern bei den Dänen geblieben?»
Ich lächelte. «Was hätte ich bei Euch gelernt?», fragte ich, ließ ihn aber gar nicht erst zu Wort kommen. «Ihr wolltet einen Gelehrten aus mir machen», sagte ich. «Bei den Dänen bin ich jedoch ein Krieger geworden, und Krieger werdet Ihr nötig haben, wenn sie zurückkommen.»
Beocca verstand, zeigte sich aber immer noch bekümmert und sagte mit einem Blick auf Brida: «Und du? Ich hoffe, du hast nicht gelogen.»
«Ich sage immer die Wahrheit, Pater», erklärte sie mit dünner Stimme. «Immer.»
«Das ist gut.» Er streckte erneut die Hand aus und versteckte mein Amulett wieder. «Bist du Christ, Uhtred?»
«Ihr habt mich doch selbst getauft, Pater», antwortete ich ausweichend.
«Wir werden die Dänen nur dann schlagen können, wenn wir an unserem Glauben festhalten», sagte er mit ernster Miene. Dann lächelte er und fragte: «Wirst du tun, was Alfred von dir will?»
«Ich weiß nicht, was er will. Bevor er mir das sagen konnte, ist er weggelaufen, um sich die Knie wund zu scheuern.»
«Er will, dass du auf einem seiner Schiffe das Kommando führst», sagte er. Ich war sprachlos. «Wir bauen Schiffe, Uhtred», fuhr Beocca begeistert fort, «Schiffe, um die Dänen zu bekämpfen. Aber unsere Seemänner sind keine Kämpfer. Sie fischen oder sind als Händler unterwegs. Darum brauchen wir Männer, die ihnen das Kriegshandwerk beibringen können. Die Dänen fallen ständig raubend über unsere Küsten her. Mal kommen sie mit zwei Schiffen, mal mit dreien, und manchmal sind es noch mehr. Sie plündern, morden, machen Gefangene und verschwinden wieder. Hätten wir selbst Schiffe, könnten wir uns wehren.» Er schlug mit der Faust seiner verkümmerten linken Hand in die rechte und japste vor Schmerz. «Das ist es, was Alfred will.»
Ich warf Brida einen Blick zu, und ihr Achselzucken war das Zeichen dafür, dass sie Beocca glaubte.
Ich dachte an die AEthelreds, Vater und Sohn, und deren Abneigung gegen mich, erinnerte mich an die Freuden der Seefahrt, an die vom Wind geblähten Segel, an die in der
Sonne glitzernden Wellen, an die Lieder der Ruderer, an das Hochgefühl, das Steuer in der Hand halten zu dürfen, und an die vor dem Bug aufschäumende Gischt über grüner Dünung. «Dazu wäre ich gern bereit», sagte ich.
«Gott sei gelobt», sagte Beocca. Und warum auch nicht?
Bevor ich Wintanceaster verließ, traf ich AEthelflaed, die damals drei oder vier Jahre alt war. Sie hatte helle, goldene Haare, war sehr redselig und spielte mit einer Lumpenpuppe im Garten. Alfred leistete ihr Gesellschaft, und ich weiß noch, dass AElswith Sorge hatte, er könne das Kind zu sehr aufregen. Ich erinnere mich noch an ihr Lachen. Dieses Lachen hat sie nie verloren. Alfred war gut zu ihr, denn er liebte seine Kinder. Er zeigte sich meist ernst und sehr gefasst, konnte aber in Gesellschaft kleiner Kinder geradezu ausgelassen werden. Fast hätte ich ihn gemocht, als ich dabei zusah, wie er die Puppe hinter seinem Rücken versteckte, um AEthelflaed zu necken. Ich erinnere mich auch daran, wie sie auf Nihtgenga zulief und ihn streichelte, bis sie von AElswith zurück gerufen wurde. «Das ist ein dreckiger Köter», schalt sie ihre Tochter, «bei dem holst du dir bloß Flöhe oder Schlimmeres. Komm her!» Sie bedachte Brida mit einem abfälligen Blick und zischte: «Scraette!» Das Wort bedeutet Hure, doch Brida und auch Alfred taten so, als hätten sie es nicht gehört. Mich beachtete AElswith gar nicht, aber das war mir gleich. Auf Alfreds Geheiß waren von einem Palastdiener ein Helm und ein Kettenhemd in den Garten gebracht worden. Beides lag vor mir im Gras. «Für dich, Uhtred», sagte Alfred.
Der Helm, von einem Schwerthieb am Scheitel eingebeult, war mit Sand und Essig poliert worden, sodass das
Eisen hell glänzte. Die zwei Sichtlöcher im Visier starrten wie die Augenhöhlen eines Totenschädels. Das Kettenhemd war an der Stelle, wo das Herz seines vorherigen Trägers geschlagen hatte, von einer Speerspitze durchbohrt, aber von einem tüchtigen Schmied geflickt worden und immer noch viele Silberstücke wert. «Beides stammt von einem Dänen, der an AEscs Hügel gefallen ist», erklärte Alfred. AElswith beobachtete mich missbilligend.
«Herr.» Ich kniete nieder und küsste ihm die Hand.
«Ein Jahr in meinen Diensten», sagte er, «mehr verlange ich nicht von dir.»
«Ihr könnt Euch auf mich verlassen», erwiderte ich und besiegelte mein Versprechen mit einem weiteren Kuss auf seine tintenfleckigen Knöchel.
Ich war ganz benommen angesichts dieser beiden seltenen und kostbaren Rüstungsteile, die er mir großzügig überließ, obwohl ich mich ungehobelt verhalten und ein solches Geschenk durch nichts verdient hatte. Aber Großzügigkeit zeichnet eben einen hohen Herrn aus. Ein Herr ist freigebig, denn derjenige, der andere an seinem Reichtum nicht teilhaben lässt, wird die Loyalität seiner Männer einbüßen. Trotzdem hatte ich diese Geschenke nicht verdient und war umso dankbarer. Sie blendeten mich so sehr, dass ich Alfred in diesem Moment für einen großen, guten und bewundernswerten Mann hielt.
Doch ich hätte eine Weile länger nachdenken sollen. Es stimmte, Alfred war großzügig, im Unterschied zu seiner Frau geizte er nie mit Geschenken. Aber was mochte ihn bewogen haben, einem unreifen Halbwüchsigen wie mir solch eine kostbare Rüstung zu geben? Dass ich ihm nützlich war. Nicht sehr, aber ein wenig. Alfred spielte manchmal Schach, ein Spiel, für das ich keine Geduld aufbrachte.
Es besteht aus Figuren von hohem Wert und solchen, die weniger wichtig sind. Zu letzteren zählte wohl ich. Besonders wertvolle Figuren waren die Herren von Mercien, mit denen er, wenn er sie schließlich auf seine Seite brächte, die Dänen in Wessex bekämpfen könnte. Gleichwohl blickte er schon über Mercien hinaus auf Ostanglien und Northumbrien. Und außer mir hatte er keinen im Exil lebenden Herren aus Northumbrien. Er ahnte wohl schon eine Zeit voraus, in der er jemanden brauchen würde, der das Volk im Norden davon überzeugte, einem König aus dem Süden Gefolgschaft zu leisten. Wäre ich wertvoller für ihn und imstande gewesen, ihm die Gefolgschaft derer zu sichern, die in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Landes lebten, hätte er mir eine westsächsische Frau von hoher Geburt gegeben, denn eine solche Frau ist das größte Geschenk, mit dem ein Herr seine Gunst bezeugt. Doch für seine späteren Pläne mit Northumbrien reichten ein Helm und ein Kettenhemd. Wahrscheinlich traute er mir nicht zu, dass ich in dieser Sache eine entscheidende Rolle würde spielen können, doch sah er den Tag voraus, an dem ich ihm zumindest behilflich sein mochte. Also nahm er mich mit diesem Geschenk für sich ein und machte mir unser Bündnis mit Schmeicheleien schmackhaft. «Von meinen Männern hat noch keiner an Bord eines Schiffes gekämpft», sagte er. «Sie müssen es lernen. Du, Uhtred, obwohl noch jung, hast Erfahrung und verstehst mehr davon als jeder andere. Darum geh und unterrichte sie.»
Ich sollte seinen Männern überlegen sein? Ich hatte zwar die Windviper gesteuert, aber noch nie an Bord eines Schiffes gekämpft. Davon sagte ich Alfred allerdings kein Wort, nahm stattdessen seine Geschenke an und reiste an die Küste im Süden. So hatte Alfred einen Bauern an den
Rand gestellt, den er später einmal gewinnbringend einsetzen konnte. Die wichtigsten Figuren auf Alfreds Spielbrett waren natürlich seine Bischöfe, deren Aufgabe darin bestand, die Dänen mit Gebeten aus dem Land zu vertreiben, wofür sie reich belohnt wurden. Aber auch ich konnte nicht klagen. Ich hatte einen eisernen Helm, ein Kettenhemd, und ich sah aus wie ein echter Kämpfer. Alfred gab uns Pferde für unsere Reise und schickte Pater Willibald zur Begleitung mit, nicht, damit er auf uns aufpasste, sondern weil er meinte, dass seine neuen Schiffsmannschaften geistlichen Zuspruch nötig haben würden. Der arme Willibald. Ihm wurde jedes Mal speiübel, wenn die Wellen ein wenig höher schlugen. An seinen Verpflichtungen aber hielt er stets fest, besonders an denen, die er mir gegenüber zu haben glaubte. Wenn Gebete einen Mann zum Christen machen könnten, wäre ich inzwischen mindestens zehnmal heilig gesprochen.
Dem Schicksal weicht nichts und niemand aus. Im Rückblick erkenne ich die Muster meiner Lebensreise, die in Bebbanburg ihren Ausgang nahm und mich immer weiter nach Süden lenkte, bis zur fernen Küste Englands, der Grenze meiner Muttersprache. Diese Strecke legte ich als Junge zurück. Als Mann sollte ich die gegenläufige Richtung einschlagen, nach Norden ziehen und mir meine Rückkehr an den Ausgangspunkt mit Schwert, Speer und Streitaxt bahnen. Die Spinnerinnen unserer Schicksalsfäden waren mir hold, sie schonten mich und sie ließen mich eine Zeit lang zur See fahren.
Im Jahre 874, als ich mit meinem Kettenhemd und meinem Helm loszog, floh König Burghred nach Rom. Alfred erwartete Guthrums Angriff im kommenden Frühjahr, doch kam es weder im Frühling noch im Sommer dazu.
Im Jahr 875 blieb dem Land Wessex ein Überfall erspart. Guthrum hätte angreifen sollen, doch er war ein vorsichtiger Mann, der stets mit dem Schlimmsten rechnete. Er verwendete volle achtzehn Monate darauf, das größte Dänenheer aufzustellen, das jemals auf englischem Boden gestanden hatte. Dagegen nahm sich die Große Armee, die gegen Readingum marschiert war, geradezu winzig aus. Mit seinem Heer wollte Guthrum seinen Traum wahr machen, Wessex zu erobern und alle Engländer bis auf den letzten Mann zu töten. Als er sich in Bewegung setzte, durchtrennten die drei Spinnerinnen Englands Schicksalsfäden, einen nach dem anderen, bis es nur noch an einem hauchdünnen Fädchen hing. Doch diese Geschichte muss warten. Ich erwähne sie nur, um zu erklären, warum wir die Zeit hatten, uns vorzubereiten.
Mich verschlug es auf die Heahengel, was Erzengel bedeutet und der Name meines Schiffs war. Es gehörte natürlich nicht mir. Sein Meister hieß Werferth. Er hatte ein plumpes Handelsschiff gesteuert, ehe ihm das Kommando über die Heahengel angetragen worden war. Die Kämpfer an Bord wurden von einem bärbeißigen alten Kerl namens Leofric angeführt. Und ich? Ich war nur Dreck in diesem Butterfass.
Man brauchte mich nicht. Alfreds schmeichelnde Worte, mit denen er mir in Aussicht gestellt hatte, seine Seemänner zu Kämpfern auszubilden, waren eben nur Worte gewesen. Ich hatte mich von ihm überreden lassen und zum einjährigen Dienst in seiner Flotte verpflichtet, und so war ich nun in Hamtun, einer schönen Hafenstadt an der Spitze eines tief ins Landesinnere reichenden Meeresarms. Auf Alfreds Befehl wurden zwölf Schiffe gebaut. Die Aufsicht führte ein Schiffsbauer, der als Ruderer auf einem dänischen Schiff gedient hatte, dann ins Frankenland geflohen und schließlich nach England zurückgekehrt war. Es gab nichts, was ich ihm über den Schiffskampf hätte beibringen können, zumal es sich dabei um eine recht einfache Sache handelte. Ein Schiff ist eine winzige schwimmende Insel, und deshalb ist der Kampf an Bord eines Schiffes nichts anderes als eine Landschlacht zur See. Zwei Boote stoßen zusammen, die Mannschaften bilden einen Schildwall und schlagen aufeinander ein. Unser Schiffsbauer aber war ein kluger Mann. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass größere Schiffe kleineren gegenüber im Vorteil waren, weil sie mehr Männer aufnehmen konnten und mit ihren hohen Bordwänden eine Art Schutzwall bildeten. Darum ließ er zwölf große Schiffe bauen, die mir auf den ersten Blick recht seltsam erschienen, da ihnen jeglicher Schmuck an Vorder- und Hintersteven fehlte. Stattdessen trugen sie Kruzifixe an den Masten. Den Oberbefehl über die gesamte Flotte führte Aldermann Hacca, der Bruder des Aldermanns von Hamptonscir. Als ich mich ihm vorstellte, sagte er mir nur, dass ich mein Kettenhemd in einen geölten Sack stecken solle, damit es nicht roste. Dann überließ er mich Leofric.
Der verlangte von mir, dass ich ihm meine Hände zeigte. Er musterte sie, verzog das Gesicht und sagte: «Die sind bald voller Blasen, Earsling.»
Earsling war sein Lieblingswort. Es bedeutet «Arschloch». Dafür hielt er mich. Manchmal nannte er mich auch Endwerc, was «Gesäßschmerz» bedeutet. Er machte mich zu einem der sechzehn Ruderknechte auf baecbord, das ist die, in Fahrtrichtung gesehen, linke Schiffsseite. Die andere heißt steorbord, weil auf dieser Seite das Steuerruder befestigt ist. Wir hatten sechzig Kämpfer an Bord, von denen sich immer zweiunddreißig mit dem Rudern abwechselten, es sei denn, das Segel wurde gehisst. Während Werferth am Steuer stand, ging Leofric zwischen den Ruderbänken auf und ab und sah zu, dass wir uns mit aller Kraft in die Riemen legten.
Den ganzen Herbst und Winter über ruderten wir auf dem weiten Meeresarm hin und her und bis auf den Solent hinaus, wie das Meer südlich der Insel Wiht genannt wurde. Wir kämpften mit Wind und Wetter und trieben die Heahengel durch harte Wellen, bis wir als Mannschaft aufeinander eingespielt waren und das Schiff übers Wasser springen lassen konnten. Zu meiner Überraschung war die Heahengel ein sehr schnelles Schiff. Ich hatte angenommen, dass sie bei ihrer Größe viel langsamer sein müsste als dänische Schiffe. Tatsächlich aber war sie äußerst schnell, und Leofric machte aus ihr eine tödliche Waffe.
Er konnte mich nicht leiden, und dass er mich einen Earsling und Endwerc schimpfte, musste ich mir gefallen lassen, denn hätte ich ihm die Stirn geboten, wäre es um mich geschehen gewesen. Er war gedrungen, stark wie ein Ochse und ebenso leicht reizbar. Sein Gesicht war vernarbt und sein Schwert bis auf die Breite eines Messers abgewetzt, was ihn jedoch nicht weiter störte, weil er ohnehin die Streitaxt als Waffe bevorzugte. Er wusste um meinen Stand als Aldermann, aber auch das kümmerte ihn nicht, ebenso wenig wie der Umstand, dass ich früher auf einem dänischen Schiff gedient hatte. «Das Einzige», sagte er, «was wir von den Dänen lernen können, Earsling, ist, wie man stirbt.»
Nein, er konnte mich nicht leiden. Ich aber mochte ihn. Wenn wir abends eine der Schänken von Hamtun aufsuchten, setzte ich mich immer in seine Nähe, um ihm zuzuhören. Dabei sagte er nicht viel, und das wenige war meist verächtlich. An allem nahm er Anstoß, selbst au Flotte. «Zwölf Schiffe!», knurrte er. «Und wie viel« den Dänen zur Verfügung?» Niemand antwortete.
«Zweihundert?», schätzte er. «Und wir haben zwölf!
Brida brachte ihn einmal dazu, von seinen Kämpfen zu berichten, die alle auf festem Boden stattgefunden hatten. Er erzählte von der Schlacht auf AEscs Hügel und davon, dass dort ein einziger Mann, offenbar er selbst, mit seiner Axt den dänischen Schildwall aufgebrochen hatte. Dieser Mann habe, so sagte er, den Axtschaft meist in der Mitte gehalten, was zwar auf Kosten der Schlagkraft gehe, aber den Vorteil habe, dass die Klinge nach dem Hieb schneller zurückgeholt werden könne. Und er schilderte, wie der besagte Mann den Feind zur Linken mit dem Schild abgewehrt, dann den Mann vor ihm und den zur Rechten getötet und schließlich in wuchtigen Rundumschlägen mit der Axt, diesmal am Schaftende gehalten, die Reihen der Dänen gelichtet habe. Er sah, dass ich aufmerksam zuhörte, und erkundigte sich spöttisch: «Schon mal in einem Schildwall gestanden, Earsling?»
Ich hielt einen ausgestreckten Finger in die Luft.
«Er hat den feindlichen Schildwall durchbrochen», sagte Brida. Wir beide hausten im Stall der Schänke. Leofric mochte Brida, verweigerte ihr aber den Zutritt zur Heahengel, weil er glaubte, dass Frauen einem Schiff Unheil brachten. «Ich hab es mit eigenen Augen gesehen.»
Er stierte mich an und schien unschlüssig, ob er ihr glauben sollte. Ich sagte nichts. «Gegen wen habt ihr gekämpft?» Und nach einer kurzen Pause: «Nonnen?»
«Waliser», antwortete Brida.
«Ah, Welsche! Himmel, die zu töten ist ein Kinderspiel», sagte er, was nicht stimmte, doch auf diese Weise pflegte er seinen Groll gegen mich. Als wir am nächsten Morgen mit Holzknüppeln anstelle echter Waffen zu kämpfen übten, legte er es darauf an, mich zum Gegner zu haben. Er hatte mich im Handumdrehen bezwungen, brachte mir eine Platzwunde am Kopf bei und ließ mich benommen am Boden zurück. «Ich bin kein Welscher, Earsling», sagte er. Ich mochte Leofric sehr.
Der Jahreswechsel kam. Ich wurde achtzehn. Das große dänische Heer rückte nicht an, doch ihre Schiffe kreuzten auf. Die Dänen waren wieder Wikinger. Mit ihren Drachenschiffen, einzeln oder zu zweit, fielen sie über die Küste von Wessex her, raubten, brandschatzten und töteten. Doch in diesem Jahr waren auch Alfreds Schiffe bereit.
Also stachen wir in See.