VIER
König Edmund von Ostanglien wird heute als Heiliger verehrt, als eine jener gesegneten Seelen, die auf ewig in Gottes Gemeinschaft leben. Das jedenfalls erzählen mir die Priester. Im Himmel, sagen sie, sei den Heiligen ein bevorzugter Platz vorbehalten, nämlich auf der höchsten Ebene in Gottes großem Palas, wo sie ihm zur Ehre Lieder singen. Auf ewig. Immer nur singen. Auch Beocca sagte, dass man sich dort in einem immer währenden Glückszustand befände. Mir aber erscheint ein solches Dasein ziemlich stumpfsinnig. Die Dänen wähnen ihre toten Krieger in Walhalla, der Totenhalle Odins, wo sie tagsüber kämpfen und nachts feiern, und ich wage nicht, den Priestern zu sagen, dass mir diese Vorstellung vom Leben nach dem Tod sehr viel verlockender erscheint als die Aussicht darauf, zu den Klängen goldener Harfen zu singen. Ich fragte einmal einen Bischof, ob es im Himmel auch Frauen gäbe. «Natürlich, mein Herr», hatte er geantwortet, froh darüber, dass ich mich für die kirchliche Lehre interessierte. «Unter den höchsten Heiligen dort befinden sich viele Frauen.»
«Ich meine Frauen, mit denen wir uns vergnügen können, Bischof.»
Da sagte er, dass er für mich beten wolle. Vielleicht hat er es getan.
Die Heiligkeit König Edmunds bleibt fraglich, fest steht jedoch, dass er ein Narr war. Er hatte den Dänen, als sie ins Land gekommen waren, Zuflucht gewährt und sie darüber hinaus mit Geld, Lebensmitteln und Pferden ausgestattet. Und für all dies hatte er ihnen nur zwei Versprechen abgenommen: dass sie im Frühjahr Ostanglien verlassen würden und dass sie keinem Kirchenmann Schaden zufugten. Die Dänen hatten ihr Versprechen gehalten, doch dann, zwei Jahre später, waren sie mit sehr viel größerer Kampfkraft zurückgekehrt. Nun setzte sich König Edmund zur Wehr. Er wusste, was in Mercien und Northumbrien geschehen war, und fürchtete für sein Königreich ein ähnliches Schicksal. Also trommelte er seinen Fyrd zusammen, erflehte Beistand von seinem Gott und zog in den Krieg. Zuerst trat er uns an der Küste entgegen. Als er erfuhr, dass Ivar am Rand der weiten Sumpflandschaft westlich des Gewaescs vorrückte, machte er kehrt, um ihn zu stellen. Ubba führte daraufhin unsere Flotte durch das Gewaesc in die Mündung eines Flusses und weiter flussauf, bis das Wasserbett so eng wurde, dass wir die Ruder nicht länger einsetzen konnten und die Schiffe treideln mussten. Als es auch auf diese Weise nicht mehr weiterging, ließen wir die Schiffe unter Bewachung zurück und folgten sumpfigen Pfaden durch scheinbar endloses Marschland, bis wir endlich trockenen Grund erreichten. Wir wussten nicht, wo wir waren, nur, dass wir uns nach Süden bewegten und auf jene Straße treffen mussten, auf der Edmund gegen Ivar zog. Wenn wir ihm auf dieser Straße in den Rücken fielen, würde er zwischen uns und Ivars Truppen in der Falle sitzen.
Genau so kam es. Ivar und er kämpften, Schildwall gegen Schildwall, und wir ahnten nichts davon, bis uns die ersten Flüchtigen aus Edmunds Heer entgegenkamen, nur um auf den nächsten Schildwall zu treffen. Sie wehrten sich kaum, und von den wenigen Gefangenen, die wir machten, erfuhren wir, dass Ivar sie mit Leichtigkeit geschlagen hatte. Am nächsten Tag kam mit den ersten Reitern Ivars die Bestätigung.
Der König war nach Süden geflohen. Er hätte sich in einer der vielen Festungen seines großen Landes verschanzen oder nach Wessex weiterziehen können, suchte aber stattdessen Zuflucht in einem kleinen Kloster bei Dic und vertraute auf seinen Gott. Das Kloster lag abseits in einer sumpfigen Einöde, und vielleicht hoffte er, dass wir ihn dort nicht finden würden, zumal ihm, wie ich später hörte, einer der Mönche versprach, dass Gott das Kloster in einen dichten, dauerhaften Nebel hüllen und die Heiden in die Irre führen werde. Doch statt des Nebels kamen die Dänen.
Ivar, Ubba und ihr Bruder Halfdan ritten mit dem halben Heer nach Die, während die andere Hälfte loszog, um Ostanglien zu befrieden, also zu rauben, zu morden und zu brandschatzen, bis sich das Volk unterwarf, was meist schnell genug der Fall war. Kurzum, Ostanglien fiel genauso schnell wie Mercien. Allerdings kamen nun aus Northumbrien schlechte Nachrichten. Es hieß, dass dort Aufruhr herrsche und etliche Dänen getötet worden seien. Ivar wollte den Aufstand niederwerfen, wagte es aber nicht, Ostanglien so kurz nach der Eroberung zu verlassen. Darum schlug er Edmund vor, ebenso wie Burghred in Mercien König zu bleiben und über sein Reich zu herrschen.
Das Treffen zwischen beiden fand in der Klosterkirche von Die statt, einem erstaunlich großen Raum, dessen Holzwände mit bemaltem Leder verkleidet waren. Die Malereien stellten farbenprächtige Szenen dar. Eine Tafel zeigte viel nacktes Volk, das in die Hölle stürzte, wo es von einer riesigen Schlange verschlungen wurde. «Leichenfresser», sagte Ragnar und erschauerte. «Leichenfresser?»
«Die Schlange von Niflheim», erklärte er mir und befingerte sein Hammeramulett. Wie ich wusste, war Niflheim die Hölle der Nordmänner, in der im Unterschied zur christlichen Hölle eisige Kälte herrschte. «Nidhögg - so heißt diese Schlange - ernährt sich von den Toten», fuhr Ragnar fort. «Aber sie nagt auch am Lebensbaum. Sie will die ganze Welt vernichten und das Ende der Zeiten herbeiführen.»
Hinter dem Altar hing eine Tafel, die Christus am Kreuz darstellte. Gleich daneben war ein Bild zu sehen, das Ivar besonders beeindruckte. Ein Mann, an einen Pfahl gefesselt'und nackt bis auf ein Lendentuch, war das Ziel von Bogenschützen. Mindestens zwanzig Pfeile steckten schon in seinem weißen Fleisch. Dennoch hatte er einen verklärten Ausdruck im Gesicht, lächelte und schien trotz der erlittenen Schmerzen frohen Mutes zu sein. «Wer ist das?», wollte Ivar wissen.
«Der heilige Sebastian.» König Edmund saß vor dem Altar, daneben der Übersetzer, der seine Antwort vortrug. Mit seinen Totenkopfaugen starrte Ivar das Gemälde an. Er wollte die ganze Geschichte hören, und so erzählte Edmund, wie sich der Heilige, ein römischer Soldat, geweigert hatte, seinen Glauben zu verleugnen, worauf er vorn Kaiser zum Tode durch Pfeilschüsse verurteilt worden war. «Doch er überlebte!», frohlockte Edmund. «Er lebte, weil Gott ihn schützte. Gott sei gepriesen für seine Gnade.»
«Er überlebte?», fragte Ivar misstrauisch.
«Also musste ihn der Kaiser tot knüppeln lassen», hier endete der Übersetzer die Geschichte.
«Er überlebte also nicht.»
«Er fuhr in den Himmel», sagte König Edmund. «Dort lebt er bis in alle Ewigkeit.»
Ubba schaltete sich ein, er wollte wissen, was es mit diesem Himmel auf sich habe. Eifrig schilderte Edmund seine Freuden, doch Ubba spuckte nur verächtlich aus, als ihm klar wurde, dass der christliche Himmel eine Art Walhalla ohne Feiern und Vergnügungen war. «Und da wollt ihr Christen wirklich hin?», fragte er ungläubig.
«Natürlich», antwortete der Übersetzer.
Ubba verzog das Gesicht. Er und seine Brüder hatten so viele Männer mitgebracht, dass kaum alle in die Kirche passten, während Edmunds Gefolge lediglich aus zwei Priestern und sechs Mönchen bestand. Sie hörten aufmerksam zu, als Ivar seinen Vorschlag zur Beilegung des Konfliktes ausführte. Demnach sollte Edmund verschont bleiben und weiter über Ostanglien herrschen dürfen, vorausgesetzt, alle größeren Festungen würden mit Dänen besetzt. Ferner verlangte Ivar, dass sich seine Leute niederlassen konnten, wo sie wollten, ausgenommen auf königlichem Besitz. Außerdem erwartete er von Edmund, dass er das Dänenheer mit Pferden ausstattete, den Kriegern Geld und Verpflegung zukommen ließ und sein Fyrd, oder das, was davon übrig geblieben war, unter dänischen Oberbefehl stellte. Edmund hatte keine Söhne, und so forderte Ivar die Söhne der ostanglischen Aldermänner als Geiseln zur Gewähr dafür, dass die von ihm vorgeschlagenen Bedingungen eingehalten würden.
«Und wenn ich nein sage?», fragte Edmund.
Ivar schmunzelte. «Auch dann nehmen wir uns, was wir wollen.»
Der König beriet sich mit den Priestern und Mönchen.
Edmund war ein großer, hagerer Mann und, obwohl erst dreißig Jahre, kahl wie ein Ei. Er hatte vorstehende Augen, schmale Lippen und die Stirn stets in Falten gelegt. Er trug ein weißes Gewand, das ihn wie einen Priester aussehen ließ. «Und Gottes Kirche?», fragte er. «Was soll damit sein?»
«Eure Männer haben Altäre des Herrn entweiht, seine Diener gemeuchelt, sein Bild befleckt und seine Schätze geraubt.» Der König war sichtlich erzürnt. Eine seiner Hände hielt die Armlehne des Stuhls, auf dem er saß, umklammert, während die andere, zur Faust geballt, den Takt zu seinen Worten schlug.
«Kann Euer Gott nicht auf sich selbst aufpassen?», fragte Ubba.
«Unser Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist allmächtig», erklärte Edmund. «Aber er lässt das Böse in die Welt, um uns zu prüfen.»
«Amen», murmelte einer der Priester, als Ivars Ubersetzer die Worte des Königs übersetzt hatte.
«Er hat euch Heiden aus dem Norden zu uns kommen lassen», zürnte der König weiter, «wie es von Jeremiah prophezeit wurde.»
«Jeremiah?», fragte Ivar verwirrt.
Einer der Mönche hielt ein Buch in den Händen, für mich das erste, das mir seit vielen Jahren zu Gesicht kam. Er schlug den ledernen Einband auf, blätterte durch die steifen Seiten und legte es dem König vor, der in seine Tasche griff und einen kleinen Zeigestock aus Elfenbein hervorzog, mit dem er an dem Schriftsatz entlangfuhr, den er nun mit donnernder Stimme vortrug: «Quia malum ego adduco ab aquilone et contritionem magnam!»
Damit endete er, starrte Ivar wütend an, und einige Dänen, obwohl sie kein einziges Wort verstanden, waren von der kraftvollen Stimme des Königs so beeindruckt, dass sie unwillkürlich nach ihrer Glücks bringenden Hammerkette griffen. Die Priester musterten uns vorwurfsvoll. Ein Spatz flatterte durch eines der Fenster und setzte sich auf den rechten Arm des hohen Holzkreuzes, das den Altar überragte.
Ivars Furcht erregendes Gesicht zeigte keinerlei Reaktion auf die Worte Jeremiahs. Der ostanglische Übersetzer - einer der Priester - ahnte wohl, dass wir mit diesem Bibelzitat nichts anfangen konnten, und so übersetzte er. «Ich aber werde das Böse aus dem Norden und große Zerstörung über euch kommen lassen.»
«In diesem Buch steht es geschrieben», ereiferte sich Edmund und gab den Band an den Mönch zurück.
«Ihr könnt Eure Kirche behalten», sagte Ivar sorglos.
«Das reicht nicht», entgegnete Edmund. Er stand auf, um dem, was er nun äußerte, größeren Nachdruck zu verleihen: «Wenn es denn sein muss, bin ich bereit, Eure Anwesenheit in diesem Land zu ertragen. Ich werde Euch Pferde, Nahrung, Geld und Geiseln geben, aber nur unter einer Bedingung: dass Ihr Euch mit all Euren Männern zu Gott bekennt. Ihr müsst Euch taufen lassen.»
Unser Übersetzer war ratlos, denn es gab kein dänisches Wort für «taufen». Von Ubba dazu aufgefordert, erklärte ich in Erinnerung an meine eigene Taufe durch Beocca: «Ihr müsst in ein Fass steigen und Euch mit Wasser übergießen lassen.»
«Sie wollen uns waschen?», fragte Ubba erstaunt.
Ich zuckte mit den Achseln. «So machen sie es hier, Herr.»
«Ihr werdet Christen!», sagte Edmund. Er warf mir einen irritierten Blick zu und bemerkte: «Bei uns findet die Taufe im Fluss statt, Junge. Fässer sind nicht nötig.»
«Sie wollen Euch im Fluss waschen», berichtete ich Ivar und Ubba, und die Dänen lachten.
Ivar dachte darüber nach. Ein paar Minuten im Fluss zu stehen war nicht so schlimm, wenn er anschließend in Northumbrien für Ordnung sorgen konnte. «Kann ich auch weiter Odin verehren, nachdem ich gewaschen bin?», fragte er.
«Natürlich nicht», entgegnete Edmund wütend. «Es gibt nur einen Gott!»
«Es gibt viele Götter», widersprach Ivar. «Sehr viele. Das weiß jeder.»
«Nein, es gibt nur einen Gott, und dem müsst Ihr dienen.»
«Aber wir werden Euch besiegen», erklärte Ivar geduldig, und es schien, als spräche er mit einem Kind. «Mit anderen Worten: Unsere Götter besiegen Euren einen Gott.»
Der König erschauderte bei diesen lästerlichen Worten. «Eure Götter sind Götzen», sagte er, «Auswürfe des Teufels, schreckliche Unwesen, die Dunkelheit über die Welt bringen. Unser Gott aber ist mächtig und herrlich.»
«Beweis es», sagte Ivar.
Plötzlich wurde es still. Der König, seine Priester und die Mönche starrten Ivar fassungslos an.
«Beweis es», wiederholte Ivar. Seine Männer unterstützten murmelnd die Forderung.
König Edmund blinzelte und schien ratlos. Doch dann hatte er eine Idee. Er zeigte auf die Ledertafel mit dem Bild des heiligen Sebastians. «Unser Gott ersparte diesem gesegneten Mann den Tod durch Pfeile», sagte er. «Das müsste Beweis genug sein.»
«Aber dann ist er trotzdem gestorben», bemerkte Ivar. «Nur, weil es Gott so wollte.»
Ivar dachte nach. «Was meint Ihr, würde Euer Gott auch Euch vor meinen Pfeilen schützen?», fragte er. «Wenn es sein Wille ist, ja.»
«Dann sollten wir es versuchen», schlug Ivar vor. «Wir beschießen Euch mit Pfeilen, und wenn Ihr überlebt, werden wir uns alle waschen lassen.»
Edmund starrte den Dänen an, als frage er sich, ob dieser Vorschlag ernst gemeint war. Als er sah, dass Ivar nicht scherzte, wurde er sichtlich nervös. Der König öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder, als ihm einer der tonsurierten Mönche etwas ins Ohr flüsterte. Womöglich versuchte er den König davon zu überzeugen, dass Gott ihn dazu auserkoren hatte, diese Prüfung auf sich zu nehmen, um die Dänen durch ein Wunder seiner Kirche zuzuführen, auf dass wir alle Freunde sein und dereinst im Himmel gemeinsam auf der höchsten Ebene zur Harfe singen würden. Was immer der Mönch gesagt haben mochte, der König zeigte sich keineswegs überzeugt. Doch jetzt wollten die Dänen ein Wunder erleben, und es lag nicht mehr bei Edmund, sich für oder gegen die Prüfung zu entscheiden.
Ein Dutzend unserer Männer drängte die Mönche und Priester beiseite, während andere hinausgingen, um Bögen und Pfeile zu holen. Der König hatte sich in der Verteidigung seines Gottes in eine ausweglose Lage gebracht und betete, vor dem Altar kniend, so inbrünstig, wie man nur beten konnte. Die Dänen grinsten. Mir gefiel die Sache, und ich hoffte sehr, ein Wunder zu erleben, nicht weil ich Christ war, sondern einfach, weil ich ein Wunder sehen wollte. Beocca hatte mir oft von Wundern erzählt, doch nie hatte ich eines erlebt. Niemand war je auf den Wassern vor der Bebbanburg gewandelt, und kein Aussätziger war geheilt worden und keine Engelsscharen hatten den Nachthimmel mit ihrer Herrlichkeit erleuchtet. Jetzt aber würde ich vielleicht etwas von der Macht Gottes erfahren, von der Beocca immer gepredigt hatte. Brida dagegen wollte Edmund lieber tot sehen.
«Seid Ihr bereit?», verlangte Ivar vom König zu wissen.
Edmund sah seine Mönche und Priester an. Vielleicht, überlegte ich, wollte er einen von ihnen bitten, die Prüfung an seiner Stelle auf sich zu nehmen. Dann zog er die Stirn in Falten und wandte sich an Ivar. «Ich nehme Euren Vorschlag an.»
«Dass wir mit Pfeilen auf Euch schießen?»
«Dass ich König bleibe.»
«Aber zuerst wollt Ihr uns waschen.»
«Darauf könnten wir verzichten», sagte Edmund.
«Nein», entgegnete Ivar. «Ihr habt behauptet, dass Euer Gott allmächtig und der einzige ist. Das will ich jetzt bewiesen sehen. Wenn Ihr Recht habt, werden wir uns alle waschen lassen. Ist doch so, oder?» Die Frage war an seine Mannen gerichtet, die sich alle johlend einverstanden erklärten.
Nur Ravn widersprach. «Nein, ich werde mich nicht waschen lassen.»
«Doch, auch du», knurrte Ivar. Mir fiel auf, dass er nun stärker an dem Ausgang der Prüfung interessiert war als an einem schnellen, zweckmäßigen Friedensschluss mit Edmund. Die Unterstützung durch ihren Gott haben alle Menschen nötig, und Ivar wollte herausfinden, ob er bislang auf den richtigen gesetzt hatte oder nicht. «Tragt Ihr eine Rüstung?», wollte er von Edmund wissen.
«Nein.»
«Davon sollten wir uns überzeugen», meinte Ubba mit Blick auf das makabere Gemälde. «Zieht ihn aus», befahl er.
Der König und die Kirchenmänner erhoben Einspruch, doch die Dänen ließen sich nicht beirren und nahmen ihm die Kleider ab. Brida hatte ihren Spaß. «Der ist aber ziemlich mickrig», sagte sie. Edmund, nun von allen verspottet, bemühte sich, seine Würde zu bewahren. Die Priester und Mönche lagen betend auf den Knien, während sechs Bogenschützen in zehn Schritt Entfernung Aufstellung nahmen.
«Gleich wissen wir Bescheid», sagte Ivar zu seinen Männern, die zu lachen aufhörten. «Wenn der König überlebt, ist sein Gott mächtiger als unsere Götter, und wir werden uns alle zum Christentum bekennen.»
«Ich nicht», widersprach Ravn erneut, aber so leise, dass Ivar ihn nicht hören konnte. «Sag mir, was passiert, Uhtred.»
Es war schnell erzählt. Sechs Pfeile trafen, der König schrie, Blut spritzte über den Altar, er ging zu Boden und zuckte wie ein Lachs am Haken. Dann erreichten sechs weitere Pfeile ihr Ziel. Edmund zuckte noch ein bisschen weiter, und die Bogenschützen schössen weiter, obwohl ihre Treffsicherheit vor lauter Lachen sehr beeinträchtigt war, bis der König mit befiederten Schäften gespickt war wie ein stacheliger Igel. Er war eindeutig tot, lag da mit offenem Mund, die weiße Haut blutüberströmt. Sein Gott hatte ihn schmählich im Stich gelassen. Heute wird diese Geschichte natürlich anders erzählt. Die Kinder lernen, dass sich der heilige Edmund den Dänen mutig widersetzt, ihre Bekehrung verlangt und dafür seinen eigenen Tod in Kauf genommen habe, weshalb er nun als Märtyrer und Heiliger im Himmel frohlocke. In Wahrheit aber war er ein Narr, der sich selbst um Kopf und Kragen geredet hat.
Die Priester und Mönche klagten so untröstlich, dass Ivar auch sie töten ließ. Daraufhin ernannte er Graf Godrim, einen seiner Gefolgsleute, zum Herrscher über Ostanglien und erteilte seinem Bruder Halfdan den Auftrag, jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Ihm und Godrim wurde ein Drittel des Heeres unterstellt, mit dem sie Ostanglien befrieden sollten, während der Rest von uns nach Northumbrien zurückkehrte, um die Revolte niederzuschlagen.
Ostanglien gab es nicht mehr.
Und Wessex war das letzte Königreich Englands.
Wir stachen mit der Windviper in See, segelten die Küste entlang, ruderten, zunächst über den Humber und dann über die Ouse flussaufwärts, bis der Ringwall von Eoferwic in Sicht kam. Zusammen mit den Schiffen von Ivar und Ubba bildeten wir eine stattliche Flotte, zu der auch die erbeuteten englischen Boote gehörten, die als Stevenschmuck grüne Eichenzweige zum Zeichen unseres Sieges trugen. Vor Eoferwic zogen wir die Schiffe an Land und luden unsere Schätze aus. Die Dänen legen großen Wert auf Beute. Die Männer folgen ihren Anführern, weil sie mit Silber dafür belohnt werden, und nun, da die Dänen von den vier englischen Königreichen drei erobert hatten, gab es ein riesiges Vermögen zu verteilen. Einige der Männer, allerdings nur wenige, entschieden sich, mit ihrem Geld nach Dänemark zurückzukehren. Die überwiegende Mehrzahl blieb, denn das größte Königreich war noch nicht bezwungen, und die Männer rechneten damit, dass sie so reich wie Götter sein würden, wenn Wessex fiele.
Ivar und Ubba waren auf Kampf eingestellt und hatten ihre Schiffe mit Schilden gewappnet, doch war in der Stadt selbst nichts von Rebellion zu spüren, und König Egbert, der von Gnaden der Dänen über das Land regierte, bestritt, dass es überhaupt einen Aufstand gegeben habe. Erzbischof Wulfhere pflichtete ihm bei. «Es kommt allerdings immer wieder vor, dass Banditen ihr Unwesen treiben», erklärte er hochtrabend. «Vielleicht habt Ihr davon gehört.»
«Vielleicht seid Ihr aber auch taub», blaffte Ivar, der guten Grund zum Argwohn hatte, denn kaum hatte sich herumgesprochen, dass das dänische Heer zurückgekehrt war, trafen Boten von Aldermann Riesig aus Dunholm ein. Die Festung Dunholm lag auf einem hohen Felsvorsprung, der fast in seinem gesamten Umfang von dem Fluss Wiire umspült wurde. Wie die Bebbanburg war sie dank dieser natürlichen Gegebenheiten nahezu uneinnehmbar. Riesig, der Herr dieser Burg, hatte nie sein Schwert gegen die Dänen erhoben und, als Eoferwic angegriffen und mein Vater getötet worden war, behauptet, krank gewesen zu sein. Doch jetzt schickte er Boten, die Ivar mitteilten, dass mehrere Dänen im Kloster von Gyruum getötet worden seien. In diesem berühmten Kloster arbeitete ein Mann an einer Chronik der englischen Kirche, die Beocca immer gepriesen und mir als Lektüre ans Herz gelegt hatte, wenn ich denn anständig zu lesen lernte. Das habe ich noch vor mir. Doch in Gyruum bin ich gewesen und habe gesehen, wo dieses Buch geschrieben wurde, denn Ragnar war aufgefordert worden, mit seinen Männern herauszufinden, was sich tatsächlich ereignet hatte.
Allem Anschein nach waren sechs Dänen, allesamt
Männer ohne Herren, nach Gyruum gezogen, wo sie den Klosterschatz zu sehen verlangten. Als die Mönche behaupteten, bettelarm zu sein, machten die sechs von ihren Schwertern Gebrauch. Die Mönche aber setzten sich zur Wehr, und weil sie in der Überzahl waren und von Männern aus dem Ort unterstützt wurden, gelang es ihnen, die Dänen zu töten. An Pfählen aufgespießt, verwesten ihre Leichname zur Abschreckung aller Plünderer. Dafür hatte Ragnar noch Verständnis, doch ermutigt von ihrem Erfolg, waren die Mönche am Ufer der Tine flussaufwärts gezogen und hatten eine dänische Siedlung überfallen, in der nur einige wenige Menschen lebten, die zu alt und krank waren, um mit dem Heer nach Süden zu ziehen. Dass bei diesem Überfall mindestens zwanzig Frauen und Kinder geschändet und getötet worden waren, entschuldigten die Mönche mit der Erklärung eines heiligen Krieges. Aus Furcht vor der Rache der Dänen hatte Aldermann Icicsig daraufhin eigene Truppen ausgesandt, um den kriegerischen Haufen aufzulösen, dem sich immer mehr Männer anschlossen. Ihm waren etliche Aufständische in die Hände gefallen, darunter auch ein Dutzend Mönche, die jetzt in seiner Festung über dem Fluss gefangen saßen.
All dies hörten wir von Ricsigs Boten, später auch von den Siedlern, die das Morden überlebt hatten. Ein Mädchen im Alter von Ragnars Tochter berichtete, von mehreren Mönchen zuerst vergewaltigt und dann gegen ihren Willen getauft worden zu sein. Sie sagte, dass auch Nonnen dabei gewesen seien, Frauen, die die Vergewaltiger angefeuert und sich danach am Töten beteiligt hätten. «Schlangenbrut», sagte Ragnar. So wütend, wie ich ihn jetzt erlebte, hatte er nicht einmal damals auf Svens Belästigung seiner Tochter reagiert. Wir gruben einige der toten Dänen aus und stellten fest, dass sie alle gefoltert worden waren.
Ein Priester wurde aufgegriffen und mit Nachdruck dazu gebracht, die Namen der wichtigsten Klöster Northumbriens zu nennen. Eines war natürlich Gyruum. Ganz in der Nähe, auf der anderen Flussseite, lagen ein großes Frauenstift und etwas südlich an der Wiire- Mündung ein weiteres Kloster. Die nahe Eoferwic gelegene Abtei Streonshall gehörte einem großen Nonnenorden, und dann gab es da noch jene Abtei von Lindisfarena, die auf einer Insel vor Bebbanburg lag und, wie ich von Beocca wusste, als besonders heiliger Ort galt. Es gab noch viele andere Klöster, doch Ragnar begnügte sich mit den wichtigsten und schickte Männer mit dem Vorschlag zu Ivar und Ubba, den Orden von Streonshall aufzulösen und all diejenigen Frauen zu töten, die an der Revolte beteiligt waren. Dann zogen wir nach Gyruum. Alle Mönche wurden getötet, sämtliche Gebäude, die nicht aus Stein gemauert waren, niedergebrannt und der Schatz geraubt - tatsächlich hatten sie Gold und Silber in ihrer Kirche vergraben. Wie ich mich erinnere, fanden wir auch einen Stapel von Schriften, Pergamentseite um Pergamentseite, alle dicht beschrieben mit kleinen schwarzen Lettern. Welche Texte sie enthielten, werde ich nie erfahren, denn sie wurden verbrannt. Als es Gyruum nicht mehr gab, überfielen wir das Kloster an der Wiire- Mündung und wüteten auch dort, überquerten anschließend die Tine und zerstörten das Nonnenkloster am Nordufer. Aus Angst, geschändet zu werden, hatten sich die Nonnen, als sie hörten, dass wir anrückten, dem Vorbild der Äbtissin folgend, die Gesichter zerschnitten und empfingen uns blutüberströmt, vor Schmerzen schreiend und abstoßend hässlich. Warum sie nicht weggelaufen waren, ist mir ein Rätsel. Stattdessen harrten sie aus, verfluchten uns, riefen die Rache des Himmels auf uns herab, und dann starben sie.
Ich habe Alfred nie erzählt, dass ich an diesen berüchtigten Überfällen teilgenommen hatte. Noch immer wird davon als Zeugnis für die unbarmherzige Grausamkeit der Dänen berichtet. Jedes englische Kind weiß von den Nonnen, die sich selbst verstümmelten, um der drohenden Vergewaltigung zu entgehen. Doch all diese Geschichten konnten ebenso wenig bewirken wie Edmunds Gebete. Ich erinnere mich, eine Osterpredigt zum Andenken an die Nonnen gehört zu haben. Ich musste mich beherrschen, um den Priester nicht zu unterbrechen und die Tatsachen richtig zu stellen. Er behauptete, dass die Dänen versprochen hätten, alle northumbrischen Mönche und Nonnen zu schonen, was nicht stimmte, falsch war auch, dass es, wie er sagte, keinen Grund für dieses Morden gegeben habe. Und dann erzählte er eine unglaubliche Geschichte, nach der Gott, von den Nonnen um Hilfe gebeten, die Klosterpforte mit einem unsichtbaren und undurchdringlichen Vorhang zugehängt habe, um die Dänen abzuwehren. Warum aber, so fragte ich mich, hatten die Nonnen, solchermaßen beschützt, selbst Hand an sich gelegt? Als Antwort darauf hörte ich, dass die Dänen angeblich Kinder aus dem Nachbardorf als Geiseln genommen und damit gedroht hätten, ihnen die Kehlen durchzuschneiden, falls dieser Vorhang nicht geöffnet werde.
Nichts davon ist wahr. Wir kamen, sie schrien, die jungen Nonnen wurden geschändet und anschließend wie alle anderen getötet. Allerdings gab es zwei Ausnahmen, die von den Geschichten unterschlagen werden. Zwei hübsche Nonnen hatten sich nicht verunstaltet, und beide schlossen sich Ragnars Männern an. Eine der beiden brachte einen Sohn zur Welt, aus dem ein berühmter dänischer Krieger wurde. Doch Priester nehmen es nie so genau mit der Wahrheit. Mir war es einerlei, und so schwieg ich dazu und verzichtete darauf, zu erklären, was mir Ravn eingeschärft hatte: dass nämlich die Dänen niemals alle töteten, sondern zumindest ein Opfer leben ließen, damit es die Nachricht vom Schrecken der Eroberer verbreiten konnte.
Nachdem das Nonnenstift niedergebrannt war, ritten wir nach Dunholm, wo sich Ragnar bei Aldermann Riesig bedankte, den allerdings die Rache der Dänen tief bestürzte. «Es haben doch nicht alle Mönche und Nonnen an dem Aufstand teilgenommen», sagte er vorwurfsvoll.
«Sie sind alle schlecht», erwiderte Ragnar.
«Ihre Häuser sind Orte des Gebetes, der Besinnung und der Bildung.»
«Erklär mir, wozu Gebete, Besinnung und Bildung nütze sind», verlangte Ragnar ungehalten. «Lassen Gebete den Roggen wachsen? Füllt Besinnung ein Fischernetz? Kann Bildung ein Haus bauen oder ein Feld pflügen?»
Auf diese Fragen hatte Riesig keine Antwort, ebenso wenig wie der Bischof von Dunholm, ein zaghafter Mann, der sich mit einem Kommentar über das Gemetzel vorsichtig zurückhielt und auch kein Wort dazu sagte, dass Riesig die Gefangenen auslieferte, die sofort auf brutale Weise getötet wurden. Ragnar war davon überzeugt, dass in den Klöstern und Ordensstiften finstere Riten gepflegt wurden, um das Volk gegen die Dänen aufzuhetzen, und er sah keinen Grund, diese Orte zu erhalten. Das bei weitem berühmteste Kloster aber war das auf Lindisfarena, das Haus, in dem der heilige Cuthbert gelebt hatte und das vor zwei Generationen zum ersten Mal von den Dänen geplündert worden war. Über den Angriff von damals wurde erzählt, dass Drachen am Himmel erschienen seien, Wirbelwinde über dem Meer getost und schwere Gewitterstürme auf den Hügeln gewütet hätten. Doch als wir nach Norden zogen, geschah nichts dergleichen.
Ich war aufgeregt, denn unser Weg führte nahe an Bebbanburg vorbei, und ich fragte mich, ob es mein Onkel, der falsche Aldermann AElfric, wagen würde, seine Festung zu verlassen, um die Mönche von Lindisfarena zu schützen, die sich ihrerseits immer für die Sicherheit unserer Familie eingesetzt hatten. Wir alle - drei Schiffsmannschaften, also über hundert Mann - ritten zu Pferde, denn es war spät im Jahr, und die Dänen setzten ihre Schiffe nicht gern schlechtem Wetter aus. Wir machten einen Bogen um Bebbanburg, doch als wir über die Hügel ritten, erhaschte ich manchmal zwischen den Bäumen einen Blick auf das hölzerne Bollwerk der Festung. Mein Blick war gebannt, ich sah die raue See, ich träumte.
Wir überquerten das flache Küstenland und gelangten an einen Sandstrand, von dem ein Pfad nach Lindisfarena hinausführte, der bei unserer Ankunft jedoch von der Flut überspült war. Am gegenüberliegenden Inselufer waren Mönche zu sehen, die uns beobachteten. «Die restlichen Bastarde verscharren ihre Schätze», sagte Ragnar.
«Falls sie noch welche haben», sagte ich.
«Sie haben immer noch was.»
«Als ich das letzte Mal hier war», berichtete Ravn, «haben wir einen Kasten voller Gold gefunden. Pures Gold.»
«Ein großer Kasten?», fragte Brida. Sie saß hinter Ravn. auf dem Pferd und diente an diesem Tag als sein Auge. Sie sprach inzwischen fließend Dänisch und durfte uns immer begleiten, weil sie uns, wie die Männer meinten, Glück brachte.
«So groß wie dein Brustkasten», antwortete Ravn.
«Also war's nur wenig», sagte Brida enttäuscht.
«Gold und Silber», erinnerte sich Ravn. «Und Stoßzähne von Walrossen. Woher sie die wohl hatten?»
Das Wasser ging zurück und floss in mäandernden Strömen ab. Dazwischen wurden weiße Markierungspflöcke sichtbar. Als wir uns in Bewegung setzten, flohen die Mönche am Ufer. Rauchfahnen zeigten uns, wo die Gehöfte auf der Insel lagen, und ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass auch ihre Bewohner ihre paar Habseligkeiten vergraben hatten.
«Könnte es sein, dass dich einer der Mönche kennt?», wollte Ragnar von mir wissen.
«Wahrscheinlich.»
«Stört dich das?»
Das tat es, aber ich sagte nein, berührte Thors Hammer, doch irgendwo in meinem Kopf rührte sich die Sorge, dass mich Gott, der Christengott, beobachtete. Beocca hatte immer behauptet, dass über all unsere Taten Buch geführt werde. Aber dann erinnerte ich mich, dass der Christengott versagt und Thor, Odin und all die anderen dänischen Götter den Krieg im Himmel für sich entschieden hatten. Edmunds Tod war der Beweis, also tröstete ich mich und wähnte mich auf der sicheren Seite.
Das Kloster lag im Süden der Insel, an einer Stelle, von der man die Bebbanburg auf ihrem Felsen thronen sah. Die Mönche lebten in kleinen Holzhütten, die um die Kirche herumgebaut und mit Stroh oder Moos gedeckt waren. Der Abt, ein Mann namens Egfrith, kam uns mit einem großen Holzkreuz entgegen. Er sprach Dänisch, was ungewöhnlich war, und zeigte sich furchtlos. «Willkommen auf unserer kleinen Insel», grüßte er uns freundlich. «Ihr solltet wissen, dass ein Landsmann von Euch in unserer Krankenkammer liegt und gepflegt wird.»
Ragnar legte seine Hände auf den mit Vlies bezogenen Sattelknauf. «Was will er mir damit sagen?», fragte er.
«Dass wir friedliche Absichten hegen, Herr», antwortete Egfrith. Er war schon älter, hatte graues, schütteres Haar und nur noch wenige Zähne im Mund, sodass seine Worte undeutlich klangen. «Wir sind ein bescheidenes Haus», fuhr er fort. «Wir pflegen Kranke, helfen Armen und dienen unserem Gott.» Er blickte die Reihe der Dänen entlang, behelmte Männer mit grimmiger Miene, waffenstarrend und mit Schilden gewappnet. Die Wolken hingen tief an diesem Tag, grau und schwer, und es regnete ein wenig. Aus der Kirche trugen zwei Mönche eine Truhe, die sie hinter Egfrith abstellten, worauf sie wieder kehrtmachten. «Das ist alles, was wir haben», sagte Egfrith. «Ihr könnt es gern haben.»
Auf ein Zeichen Ragnars hin stieg ich vom Pferd, ging an dem Abt vorbei und öffnete die Truhe. Sie war bis zur Hälfte mit angelaufenen Silbermünzen von schlechter Qualität gefüllt. Mit einem Blick auf Ragnar zuckte ich mit den Achseln, um kundzutun, dass dieser Schatz nicht viel hergab.
«Ihr seid Uhtred!», sagte Egfrith, der mich die ganze Zeit angestarrt hatte.
«Und?», entgegnete ich streitlustig.
«Ich hörte, Ihr wäret tot», sagte er. «Gelobt sei Gott, dass dem nicht so ist.»
«Ihr hörtet, ich wäre tot?»
«Dass ein Däne Euch getötet hätte.»
Wir sprachen Englisch miteinander, und Ragnar wollte wissen, wovon die Rede war. Also übersetzte ich für ihn. «Hieß dieser Däne Weland?», fragte Ragnar.
«So wird er genannt», antwortete Egfrith.
«Wird?»
«Weland ist der Mann, der sich hier bei uns von seinen Verletzungen erholt, Herr.» Egfrith musterte mich erneut, als könne er kaum glauben, dass ich lebendig vor ihm stand.
«Seine Verletzungen?», fragte Ragnar.
«Er wurde angegriffen, Herr, von einem Mann aus der Festung. Von Bebbanburg.»
Ragnar wollte natürlich die ganze Geschichte hören. Anscheinend hatte es Weland zurück zur Burg geschafft und behauptet, mich getötet zu haben. Also hatte er seine Belohnung in Silbermünzen erhalten und war unter dem Geleit mehrerer Männer abgezogen. Zu ihnen gehörte auch Ealdwulf, der Schmied, mein Geschichtenerzähler von damals. Und Ealdwulf hatte Weland einen Axthieb in die Schulter versetzt, bevor ihn die anderen daran hindern konnten. Weland war auf die Insel gebracht worden und Ealdwulf, falls er noch lebte, war zurück in Bebbanburg.
Falls Egfrith in Weland einen Garanten für seine Sicherheit zu haben glaubte, hatte er sich verrechnet. Ragnar bedachte ihn mit einem finsteren Blick. «Du hast Weland bei dir aufgenommen, obwohl du ihn für den Mörder Uhtreds halten musstest?»
«Dies ist ein Haus Gottes», antwortete Egfrith. «Wir nehmen jeden Menschen bei uns auf.»
«Auch Mörder?» Ragnar griff hinter sich und löste das Lederband, das seine Haare zusammenhielt. «Sag mir, Mönch, wie viele von deinen Leuten sind in den Süden gezogen, um ihren Kumpanen dabei zu helfen, Dänen zu ermorden?»
Egfrith zögerte, was Antwort genug war. Als Ragnar sein Schwert zog, fand der Abt seine Sprache wieder. «Es waren einige wenige, Herr. Ich konnte sie nicht zurückhalten.»
«Du konntest sie nicht zurückhalten?» Ragnar schüttelte den Kopf, und das feuchte, lange Haare flog um sein Gesicht. «Und doch bist du hier der Anführer?»
«Ich bin der Abt, ja.»
«Dann hättest du sie zurückhalten können.» Ragnar war zornig, und ich vermute, dass er an die Leichen dachte, die wir bei Gyruum ausgegraben hatten, an die dänischen Mädchen, deren Schoß noch voller Blut gewesen war. «Tötet sie», forderte er seine Männer auf.
Diesmal beteiligte ich mich nicht. Ich stand abseits am Ufer, lauschte den Schreien der Vögel, sah zur Bebbanburg hinüber und hörte hinter mir die Klingen ihr Werk verrichten. Brida kam an meine Seite, ergriff meine Hand und schaute über das weiß gefleckte Grau des Wassers auf die große Felsenfestung.
«Ist das dein Haus?», fragte sie.
«Das ist mein Haus.»
«Er hat dich einen Herrn genannt.»
«Ich bin ein Herr.»
Sie lehnte sich an mich. «Du glaubst wohl, dass uns der Christengott beobachtet.»
«Nein», sagte ich und fragte mich, woher sie wissen konnte, dass ich genau darüber nachgedacht hatte.
«Er ist nie unser Gott gewesen», erklärte sie. «Wir haben Wotan, Thor, Eostre und all die anderen Götter und Göttinnen verehrt, sie aber vergessen, als die Christen kamen. Die Dänen haben sie uns jetzt wieder in Erinnerung gebracht.»
«Hast du das von Ravn?»
«Ja, einiges», antwortete sie. «Den Rest habe ich selbst herausgefunden. Zwischen den Göttern herrscht Krieg, Uhtred, ein Krieg zwischen dem Christengott und unseren Göttern, und wenn im Asgard Krieg geführt wird, lassen die Götter uns auf der Erde um sie kämpfen.»
«Werden wir siegen?», fragte ich.
Zur Antwort zeigte sie auf die toten Mönche, die mit blutdurchtränkten Kutten im feuchten Gras lagen. Jetzt, da das Töten vorüber war, zerrte Ragnar Weland aus seinem Krankenbett. Der Mann rang, wie man deutlich sehen konnte, mit dem Tod. Er zitterte am ganzen Leib, und seine faulige Schulterwunde stank entsetzlich. Aber ihm war bewusst, was geschah. Sein Lohn für den Mord an mir, ein Beutel guter Silbermünzen vom Gewicht eines Neugeborenen, hatte unter seinem Bett gelegen. Er wurde dem Klosterschatz hinzugefügt und unter unseren Männern aufgeteilt.
Weland lag in dem blutigen Gras und sah zu mir und Ragnar auf. «Willst du ihn töten?», fragte mich Ragnar.
«Ja», antwortete ich, wie es von mir erwartet wurde, und ich dachte an den Tag, an dem ich Ragnar vor dieser Küste über die Ruderschäfte hatte tanzen sehen und wie er am Morgen danach den Kopf meines Bruders zur Bebbanburg gebracht hatte. «Ich will ihm den Kopf abschlagen», sagte ich.
Weland versuchte zu sprechen, doch es war nur ein gutturales Krächzen vernehmbar. Er starrte auf Ragnars Schwert.
Ragnar gab es mir. «Die Klinge ist scharf genug», sagte er. «Aber es ist erstaunlich viel Kraft nötig. Mit einer Axt wäre es einfacher.»
Jetzt sah Weland mich an. Er klapperte mit den Zähnen und sein Körper zuckte. Ich hasste ihn. Er war mir vom ersten Augenblick an unheimlich gewesen, doch jetzt hasste ich ihn. Trotzdem widerstrebte es mir, ihn umzubringen, auch wenn er schon halb tot vor mir auf dem Boden lag. Es ist eine Sache, im Kampf zu töten und die tapfere Seele eines Mannes in die Totenhalle der Götter zu schicken, aber eine ganz andere, einem hilflosen Mann das Leben zu nehmen. Weland musste mein Zögern gespürt haben, denn er flehte um Gnade. «Ich werde Euch dienen», stammelte er.
«Lass den Bastard leiden», antwortete Ragnar für mich. «Schick ihn zur Totengöttin, aber kündige ihn durch sein Leiden an.»
Ich glaube nicht, dass er sehr gelitten hat. Er war bereits so geschwächt, dass ihm meine kümmerlichen Hiebe bald das Bewusstsein raubten, und auch so dauerte es lange, ihn zu töten. Ich hackte wie von Sinnen auf ihn ein. Es hat mich immer wieder überrascht, wie schwer es ist, einem anderen das Leben zu nehmen. Was in den Liedern der Skalden so einfach klingt, ist meist entsetzlich mühsam, denn wir sind zähe Wesen und klammern uns am Leben fest. Doch schließlich war Welands Schicksal besiegelt, und ich trennte ihm mit einer letzten Kraftanstrengung den Kopf ab. Sein Mund war aufgerissen und schmerzverzerrt, was mich ein wenig tröstete.
Ich wusste, dass mir Ragnar einen Gefallen nicht ausschlagen würde, und so bat ich ihn um ein paar weniger wertvolle Münzen aus dem Schatz. Damit ging ich in das Haus der Kopisten, die Texte abgeschrieben und mit kunstvollen Lettern ausgeschmückt hatten. Als Kind hatte ich, von Beocca begleitet, den Mönchen manchmal bei ihrer Arbeit zugeschaut und Schnipsel von Pergament mit den wunderschönen Farben, die sie verwendeten, bemalen dürfen.
Diese Farben wollte ich haben. Sie waren in Gefäßen, meist in Pulverform, manche auch mit Harz vermischt. Jetzt brauchte ich noch ein Stück Stoff, das ich in der Kirche fand, ein viereckiges Leintuch, mit dem die Weihgeräte abgedeckt gewesen waren. Zurück im Schreibsaal, zeichnete ich mit Holzkohle einen Wolfskopf auf das weiße Tuch und machte mich dann daran, die Umrisse mit Tinte auszumalen. Brida half mir dabei. Es zeigte sich, dass sie sehr viel geschickter war als ich. Sie färbte Augen und Zunge des Wolfes rot und betupfte die schwarze Tinte mit weißen und blauen Flecken, die einen Eindruck von Fell vermittelten. Als das Banner fertig war, befestigten wir es am Kreuz des toten Abtes. Ragnar durchstöberte die kleine klostereigene Sammlung heiliger Bücher und riss von den kostbarsten Exemplaren die mit Edelsteinen besetzten Metalldeckel ab. Anschließend legten wir Feuer an alle Holzbauten.
Als wir aufbrachen, hörte es auf zu regnen. Wir kehrten aufs Festland zurück und schwenkten auf meine Bitte nach Süden. An dem Damm angelangt, der zur Bebbanburg führte, hielten wir an. Ich löste das Band aus meinem Haar und reichte Brida mein Banner. Mit einem geborgten Schwert an der Seite ritt ich nach Hause.
Brida begleitete mich als meine Standartenträgerin. Sie ritt auf Ravns Pferd, während der Alte und sein Sohn auf uns warteten. Rechts rollten schaumgekrönte Brandungswellen auf das Ufer, während das Wasser zur Linken fast unbewegt war. Vom Wehrwall und dem unteren Torhaus aus beobachteten uns Männer. Brida hielt an und ließ das Banner im Wind fliegen, als ich mein Pferd antrieb und auf das Torhaus zugaloppierte, vor dem ich jetzt meinen Onkel erblickte. Da war er, AElfric der Verräter, mit seinem hageren Gesicht und den dunklen Haaren. Ich wandte ihm mein Gesicht zu, damit er mich erkannte, dann schleuderte ich ihm Welands Kopf vor die Füße, so wie einst der Kopf meines Bruders abgeliefert worden war.
Ich warf dreißig Silberlinge hinterher. Judaslohn. Diese christliche Geschichte war mir noch gut in Erinnerung. Sie war eine der wenigen, die mir wirklich gefallen hat.
Auf dem Wall standen Bogenschützen, doch keiner legte auf mich an. Sie beobachteten nur. Ich zeigte meinem Onkel das Zeichen des Teufels, indem ich die äußeren Finger der rechten Hand ausstreckte, spie vor ihm aus und machte kehrt. Er wusste jetzt, dass ich noch lebte und dass er mich zum Feind hatte. Und ich wusste, dass ich ihn wie einen Hund töten würde, sobald sich mir eine Gelegenheit dazu bot.
«Uhtred!», rief Brida. Sie hatte einen Blick zurückgeworfen und gesehen, dass eine der Wachen vom Wall gesprungen war und hinter uns her rannte. Es war ein großer, bärtiger Mann, mir an Kräften weit überlegen. Die Bogenschützen schössen Pfeile auf ihn ab, die ringsum in den Boden schlugen. Und dann erkannte ich in dem Mann Ealdwulf wieder, den Schmied.
«Uhtred!», rief er, «mein Herr!» Ich ritt zurück, um ihm mit der Flanke meines Pferdes Deckung zu bieten, doch die Pfeile kamen uns nicht einmal nahe, und ich vermute, dass die Schützen absichtlich ihr Ziel verfehlten. «Ihr lebt!» Ealdwulf strahlte.
«Ich lebe.»
«Ich komme mit Euch», erklärte er entschieden. «Aber deine Frau, dein Sohn?»
«Mein Weib ist letztes Jahr gestorben und mein Sohn beim Fischen ertrunken.»
«Das tut mir Leid», sagte ich. Ein Pfeil zischte durchs Dünengras, konnte uns aber nicht gefährlich werden.
«Wotan gibt und nimmt», entgegnete Ealdwulf. «Jetzt hat er mir meinen Herrn zurückgegeben.» Als er Thors Hammer auf meiner Brust sah, lächelte er, denn auch er war, was die Christen einen Heiden nannten.
Nun hatte ich meinen ersten Gefolgsmann, Ealdwulf den Schmied.
«Er ist ein trübsinniger Mann, Euer Onkel», berichtete mir Ealdwulf, als wir uns nach Süden wandten. «So unglücklich wie Scheiße. Nicht einmal sein neugeborener Sohn kann ihn aufheitern.» «Er hat einen Sohn?»
«AElfric der Jüngere wird er genannt, ein herziges kleines Ding. So gesund, wie Ihr es seid. Obwohl Gytha krank ist. Sie wird nicht mehr lange leben. Und Ihr, Herr? Ihr seht gut aus.»
«Es geht mir auch gut.»
«Ihr seid jetzt zwölf?»
«Dreizehn.»
«Also ein Mann. Ist das Eure Frau?», fragte er mit einem Blick auf Brida. «Meine Freundin.»
«Kein Speck auf den Rippen», befand Ealdwulf. «Aber zur Freundin reicht's.» Der Schmied zählte inzwischen an die vierzig Jahre. Seine Hände, die Unterarme und das Gesicht waren dunkel und vernarbt von zahllosen kleineren Verbrennungen seiner Esse. Er hielt trotz seines Alters mühelos mit meinem Pferd Schritt. «Erzählt mir von diesen Dänen», sagte er und warf einen misstrauischen Blick auf die Kämpfer um Ragnar.
«Sie werden von Graf Ragnar angeführt», sagte ich. «Das ist der Mann, der meinen Bruder getötet hat. Ein guter Mann.»
«Er hat Euren Bruder umgebracht?» Ealdwulf war sichtlich entsetzt.
«Dem Schicksal weicht nichts und niemand aus», sagte ich, um mir eine längere Erklärung zu ersparen. «Mögt Ihr ihn?»
«Er ist mir wie ein Vater. Auch du wirst ihn mögen.»
«Aber er ist und bleibt ein Däne, oder? Die Dänen verehren zwar die richtigen Götter, aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn sie wieder verschwänden.»
«Warum?»
«Warum?» Ealdwulf zeigte sich schon wieder entsetzt. «Weil dies nicht ihr Land ist, Herr, darum. Ich will ohne Angst leben und nicht gezwungen sein, einen anderen freundlich zu grüßen, nur weil er ein Schwert trägt. Die haben ihre Gesetze, wir haben unsere.»
«Für sie gelten keine Gesetze», sagte ich.
«Wenn ein Däne einen Northumbrier tötet, hat er nichts zu befürchten. Und das ist eine Schande. Es gibt kein Wergeld zur Sühne, keinen Vogt, der sich darum kümmert, keinen Herrn, der Recht spricht.»
Der Schmied hatte Recht. Wergeld war der Blutpreis für das Leben eines Mannes, auf das die Angehörigen eines Erschlagenen Anrecht hatten. Das Leben eines Mannes kostete mehr als das einer Frau, es sei denn, sie war hoch gestellt, und der Wert eines Kriegers war höher bemessen als der eines Bauern. Aber immer musste der angemessene Preis bezahlt werden, und nur wenn die Familie des Getöteten dieses Wergeld annahm, konnte ein Mörder der Verurteilung zum Tode entkommen. Der Vogt sorgte dafür, dass die Gesetze eingehalten wurden, und erstattete seinem Aldermann Bericht. Doch all dies, was sich früher bewährt hatte, galt seit der Ankunft der Dänen nicht mehr. Es gab kein Recht mehr, nur noch das, was die Dänen bestimmten, und mir war klar, dass mir dieses Durcheinander nur gefiel, weil ich zu den Bevorzugten zählte. Ich war Ragnars Mann, und Ragnar schützte mich. Ohne ihn wäre ich nicht mehr gewesen als ein Ausgestoßener oder ein Sklave.
«Dein Onkel hält still», fuhr Ealdwulf fort. «Beocca dagegen hat sich widersetzt. Erinnert Ihr Euch an ihn? Der rothaarige Priester mit der verkrüppelten Hand und dem scheelen Blick?»
«Ich traf ihn letztes Jahr», antwortete ich.
«Wirklich? Wo?»
«Er war im Gefolge Alfreds von Wessex.»
«Wessex!» Ealdwulf war überrascht. «Ein weiter Weg bis dorthin. Er war ein guter Mann, dieser Beocca, trotz seiner Priesterschaft. Er ist weggegangen, weil er die Dänen nicht ertragen konnte. Dein Onkel war außer sich vor Wut und sagte, dass Beocca den Tod verdiene.»
Gewiss, dachte ich, denn Beocca hatte die Urkunden an sich genommen, die bezeugten, dass ich der rechtmäßige Aldermann war. «Mein Onkel wollte mich umbringen lassen», sagte ich. «Und ich habe dir noch nicht dafür gedankt, dass du diesen Weland nicht ungeschoren hast davonkommen lassen.»
«Dein Onkel wollte mich deswegen den Dänen ausliefern», erklärte Ealdwulf. «Aber weil von den Dänen keine Klage kam, hat er darauf verzichtet.»
«Jetzt bist du selbst unter Dänen», sagte ich, «und daran solltest du dich schnell gewöhnen.»
Ealdwulf dachte eine Weile darüber nach. «Warum gehen wir nicht nach Wessex?», fragte er.
«Die Westsachsen wollen einen Priester aus mir machen», antwortete ich. «Ich aber will ein Krieger werden.»
«Dann also nach Mercien», schlug Ealdwulf vor. «Da herrschen die Dänen.» «Aber Euer Onkel lebt dort.» «Mein Onkel?»
«Der Bruder Eurer Mutter.» Er wunderte sich darüber, dass ich von meiner eigenen Familie so wenig wusste, «AEthelwulf. Er ist ein Aldermann ... wenn er denn noch lebt.»
«Mein Vater hat mir nie von meiner Mutter erzählt», sagte ich.
«Weil er sie so sehr geliebt hat. Eure Mutter war eine Schönheit, ein Goldstück. Sie ist gestorben, als sie Euch zur Welt brachte.»
«AEthelwulf», sagte ich.
«Wenn er denn noch lebt.»
Aber warum sollte ich zu meinem Onkel gehen, wo es mir bei Ragnar so gut gefiel? AEthelwulf gehörte zwar zur Familie, doch ich hatte ihn nie kennen gelernt und bezweifelte, dass er überhaupt von mir wusste. Ich war nicht darauf erpicht, ihn ausfindig zu machen, geschweige denn, nach Wessex zu ziehen, um mich dort zum Priester ausbilden zu lassen. Ich wollte bei Ragnar bleiben, und das ließ ich Ealdwulf wissen. «Er lehrt mich zu kämpfen», sagte ich.
«Von den Besten lernen, eh?», entgegnete Ealdwulf grollend. «So wird man auch ein guter Schmied. Indem man von den Besten lernt.»
Ealdwulf war ein guter Schmied, und obwohl er sich sträubte, fand auch er Gefallen an Ragnar, denn Ragnar war großzügig und schätzte gutes Handwerk. Er richtete ihm in der Nähe unseres Hauses in Synningthwait eine Schmiede ein und zahlte gutes Silber für eine Esse, einen Amboss und all die Hämmer, Zangen und Feilen, die Ealdwulf benötigte. Als gegen Ende des Winters alles bereit war, wurde in Eoferwic Erz gekauft, und durch unser Tal hallte hinfort das klirrende Schlagen von Eisen auf Eisen. Selbst an den kältesten Tagen war es in der Schmiede warm, und sie wurde zum Treffpunkt der Männer, die Geschichten austauschten und sich mit Rätselfragen unterhielten. Ealdwulf war darin ein Meister und verblüffte die Dänen immer wieder. Ich übersetzte seine Rätsel, die sich häufig um Männer und Frauen drehten und das, was sie miteinander trieben. Diese waren meist leicht zu lösen, doch ich bevorzugte die schwierigeren Rätsel: Von meinem Vater und meiner Mutter ausgesetzt, nahm mich eine treue Verwandte auf, und obwohl ich all ihre Kinder tötete, liebte und nährte sie mich, bis ich mich über die Häuser der Menschen aufschwang und sie verließ. Die Lösung wollte mir einfach nicht einfallen, auch den anderen nicht, und es half kein Drängen und Betteln, Ealdwulf behielt die Antwort für sich. Brida, der ich das Rätsel später vortrug, brauchte nicht lange zu überlegen. «Ein Kuckuck, was sonst?», sagte sie sofort und hatte natürlich Recht.
Schon im Frühjahr musste die Schmiede erweitert werden, und den ganzen Sommer über schmiedete Ealdwulf Schwerter, Speerspitzen, Axtklingen und Piken. Auf meine
Frage, ob es ihm schwer falle, für die Dänen zu arbeiten, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: «Ich habe ja auch auf der Bebbanburg für sie gearbeitet. Dein Onkel steht ihnen zu Diensten.»
«Aber dort sind doch keine Dänen?»
«Nein. Aber sie kommen manchmal zu Besuch und fordern Abgaben.» Plötzlich ertönte vor der Schmiede ein gellender Schrei.
Ich rannte nach draußen zu Ragnar, der einer Gruppe von Männern entgegenblickte, die von einem berittenen Kämpfer angeführt wurde. Und von was für einem Kämpfer! An seinem Sattel hingen ein prächtiger Helm, ein bunt bemalter Schild und ein langes Schwert, er selbst trug ein Kettenhemd und die Arme voller Reife. Es war ein junger Mann mit langem blondem Haar und einem dichten goldfarbenen Bart. Wie ein brunftiger Hirsch röhrte er Ragnar entgegen, der auf ihn zustürzte, sodass ich fürchtete, der junge Reiter würde sein Schwert ziehen. Stattdessen aber sprang er aus dem Sattel und lief Ragnar entgegen. Die beiden fielen einander in die Arme und klopften sich überschwänglich auf die Schultern, und als sich Ragnar zu uns umdrehte, lag ein so strahlendes Lachen in seinem Gesicht, dass er damit die finsterste Höllenkammer hätte erleuchten können. «Mein Sohn!», rief er mir zu. «Mein Sohn!»
Ragnar der Jüngere war mit einer Schiffsmannschaft aus Irland zurückgekehrt. Obwohl er mich noch nie gesehen hatte, nahm er mich wie seinen Bruder Rorik herzlich in den Arm, wirbelte seine Schwester durch die Luft, küsste seine Mutter, beschenkte die Diener mit silbernen Kettengliedern und tätschelte die Hunde. Ein Festmahl wurde vorbereitet, und am Abend berichtete er uns, dass er jetzt sein eigenes Schiff kommandiere und nur wenige Monate bleiben könne, weil er auf Ivars Geheiß im Frühling wieder nach Irland zurückkehren müsse. Er war ganz nach seinem Vater geraten, und ich mochte ihn sofort, denn Ragnar der Jüngere sorgte überall für gute Stimmung. Anfangs wohnte er mit einigen seiner Männer bei uns, doch im Herbst wurde ein Haus angebaut, das mit seinem hohen Giebel, an den der Schädel eines Ebers genagelt wurde, einem Grafen Ehre gemacht hätte.
«Du hattest Glück», sagte er eines Tages zu mir. Wir deckten gerade das Dach und kämmten Bündel aus Roggenstroh.
«Glück?»
«Dass dich mein Vater in Eoferwic nicht getötet hat.» «Das stimmt», bestätigte ich.
«Er hatte immer schon einen Blick für die richtigen Männer», sagte er und reichte mir einen Krug Ale. Er saß rittlings auf dem First und schaute über das Tal. «Ihm gefällt es hier.»
«Ja. Wie ist Irland?»
Er grinste. «Nichts als Torf und Schorf. Und heimtückische Skraelinge.» So nannten die Wikinger die Einheimischen der Insel. «Aber sie kämpfen wacker. Es gibt Silber dort, und je verbissener sie kämpfen, desto größer ist unsere Beute. Willst du das Ale allein trinken oder bekomme ich auch was?»
Ich reichte ihm den Krug zurück und sah zu, wie ihm Ale durch den Bart rann, als er den Rest in sich hineinstürzte. «Irland ist kein schlechter Ort», sagte er, «aber bleiben möchte ich nicht. Ich würde gern hierher zurückkommen, mich in Wessex niederlassen. Eine Familie gründen. Dick werden.»
«Warum bleibst du nicht einfach?»
«Weil Ivar will, dass ich auf die Insel zurückkehre, und Ivar ist ein guter Herr.»
«Er macht mir Angst.»
«Ein guter Herr muss Angst machen.»
«Das macht dein Vater aber nicht.»
«Dir vielleicht nicht. Aber was glaubst du, wie er auf diejenigen wirkt, die ihn zum Feind haben? Würdest du gern gegen Graf Ragnar den Furchtlosen im Schildwall stehen?»
«Nein.»
«Also macht er Angst», sagte er und grinste. «Geht nach Wessex und unterwerft das Königreich. Sucht Land, auf dem ich mich mästen kann.»
Als das Dach gedeckt war, wurde ich in den Wald geschickt, denn Ealdwulfs Hunger nach Holzkohle, mit der er seine Esse schürte, war unersättlich. Er hatte Ragnars Männern gezeigt, wie sich Holzkohle gewinnen ließ, doch Brida und ich waren seine besten Köhler, und so verbrachten wir viel Zeit im Gehölz. Die Meiler mussten ständig beaufsichtigt werden, sie brannten mindestens drei Tage lang. Brida und ich wachten darüber und beobachteten den Rauch, der aus der Abdeckung aus Farnkraut und Torf aufstieg, denn er verriet, ob die Glut im Inneren die richtige Temperatur hatte. Wurde sie allzu heiß, kletterten wir über den warmen Haufen, um die Luftlöcher in der Hülle mit Erde auszustopfen, damit die Glut wieder ein wenig abkühlte.
Gewöhnlich verarbeiteten wir Erlenholz, denn das war, was Ealdwulf bevorzugte. Es kam darauf an, die Scheite verkohlen und nicht verbrennen zu lassen. Vom Gewicht des frischen Holzes blieb am Ende nur ein Viertel übrig, der Rest wurde zu Rauch. Einen Meiler aufzubauen konnte bis zu einer Woche dauern. In einer flachen Mulde stapelten wir das Erlenholz sorgfältig zu einem hohen Berg, dessen Kern aus zuvor gewonnener Holzkohle bestand. Diesen Berg bedeckten wir zunächst mit Farnkraut und dann mit einer dicken Torfschicht, steckten anschließend den Kern durch eine Öffnung in der Mitte in Brand und verstopften die Öffnung. Nun musste die Glut im Innern kontrolliert werden. Dazu stießen wir Löcher in den Fuß des Meilers und ließen Luft eindringen. Sooft der Wind drehte, mussten diese Löcher geschlossen und andere geöffnet werden. Es war schwere Arbeit, aber wir hatten Gefallen daran. Wenn wir nachts im Dunkeln neben dem warmen Meiler lagen, fühlten wir uns wie Sceadugengans, und außerdem verband Brida und mich inzwischen mehr als Freundschaft.
Neben einem rauchenden Meiler verlor sie ihr erstes Kind. Von ihrer Schwangerschaft hatte sie nicht einmal etwas gewusst. Eines Nachts wurde sie plötzlich von Krämpfen und so heftigen Schmerzen ergriffen, dass ich loslaufen und Sigrid zu Hilfe holen wollte. Doch Brida ließ mich nicht gehen und behauptete zu wissen, was ihr geschehe. Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie sich quälte, und fürchtete das Schlimmste, und noch bevor es hell wurde, brachte sie einen toten Sohn zur Welt. Wir begruben ihn mitsamt der Nachgeburt und kehrten erschöpft nach Hause zurück. Sigrid erschrak beim Anblick Bridas. Sie gab ihr eine Brühe aus Lauch und Schafshirn zu essen und behielt sie im Haus. Offenbar ahnte Sigrid, was geschehen war, denn sie war mir gegenüber tagelang ungehalten und sagte zu Ragnar, es sei an der Zeit, dass Brida heirate. Mit ihren dreizehn Jahren war sie alt genug, und in Synningthwait gab es etliche junge Dänen, die nach einer Frau suchten.
Doch Ragnar erklärte, dass Brida seinen Kriegern Glück bringe, und wollte sie auf den Feldzug gegen Wessex mitnehmen.
«Und wann wird das sein?», fragte Sigrid. «Nächstes Jahr», antwortete er, «oder im Jahr darauf. Spätestens.» «Und dann?»
«Dann sind wir die Herren über ganz England», antwortete Ragnar. Dann wäre das letzte der vier Königreiche an die Dänen gefallen und alle Bewohner wären entweder dänisch, versklavt oder tot.
Während des Julfestes, das wir ausgiebig feierten, ging Ragnar der Jüngere aus allen Wettbewerben als Sieger hervor. Er schleuderte die Felsbrocken am weitesten, rang jeden Gegner nieder, und es gelang ihm sogar, seinen Vater unter den Tisch zu trinken. Es folgten die dunklen Monate, ein langer Winter, und als im Frühjahr die Stürme nachließen, musste Ragnar der Jüngere wieder zurück nach Irland. Mit einem eher traurigen Fest nahmen wir Abschied. Am Morgen danach brach er mit seinen Männern bei grauem Regen auf. Ragnar schaute seinem durch das Tal abziehenden Sohn nach, bis er außer Sicht war, und als er in das neu erbaute Haus zurückkehrte, standen Tränen in seinen Augen. «Er ist ein guter Mann», sagte er mir.
«Er gefällt mir», erwiderte ich, und so empfand ich noch, als ich ihm viele Jahre später wieder begegnete.
Ragnar der Jüngere hatte mit seiner Abreise eine Lücke hinterlassen, dennoch ist mir der Frühling und Sommer dieses Jahres in guter Erinnerung, denn in jener Zeit schmiedete mir Ealdwulf ein Schwert. «Ich hoffe, es ist besser als mein erstes», bemerkte ich spöttisch.
«Euer erstes?»
«Das ich getragen habe, als wir gegen Eoferwic gezogen sind», antwortete ich.
«Ach, das Ding. Das habe nicht ich gemacht. Euer Vater hat es in Berewic erstanden, und ich habe ihm gesagt, dass es nichts tauge und viel zu kurz sei, gerade mal gut genug, um Enten abzustechen, zum Kämpfen aber völlig ungeeignet. Was ist daraus geworden?»
«Die Klinge ist abgeknickt», antwortete ich und erinnerte mich an Ragnars Gelächter beim Anblick meiner kümmerlichen Waffe.
«Schlechtes Eisen, viel zu weich.»
Er erklärte mir, dass es zwei Arten von Eisen gab, weiches und hartes. Das harte ließ sich besonders gut schärfen, war aber spröde und zerbrach beim ersten schweren Aufprall, während sich das weiche Metall allzu leicht verbog, wie mein kleines Schwert. «Darum ist es das Beste, beide Arten zu verwenden.» Ich sah dabei zu, wie er sieben Eisenstangen herstellte. Drei davon waren aus hartem Metall. Warum es härter war als das andere, wusste er nicht, allerdings hatte er aus Erfahrung gelernt, dass Eisen, wenn er es glühend in brennende Holzkohle legte und dann abkühlen ließ, besonders fest und starr wurde. Ragnar nannte dieses Eisen Stahl. Die vier anderen Stangen waren um einiges länger. Sie wurden kein zweites Mal in die Esse gelegt, sondern spiralförmig in sich verdreht, bis sie auf das Maß der harten Eisenstangen geschrumpft waren. «Warum machst du das?», fragte ich.
«Das werdet Ihr schon noch sehen», antwortete er geheimnisvoll.
Sechs Stangen waren ungefähr so dick wie ein Männerdaumen, die siebte, aus hartem Material bestehend, war ein wenig dicker und diente der zu schmiedenden Klinge als Rückgrat. Sie war auch länger als die anderen Stangen, weil der überstehende Teil für das Heft gebraucht wurde. Ealdwulf hämmerte nun auf diese Stange ein, bis ein schlankes, dünnes Blatt entstand. Dann legte er zu beiden Seiten jeweils zwei der weichen Metallstangen an und an diese, für die scharfen Kanten, zwei der harten. Dieses Stangenbündel sah sehr seltsam aus und ließ kaum erahnen, dass daraus ein Schwert entstehen sollte. Doch nun begann erst die eigentliche Arbeit. Mit wuchtigen Hammerschlägen verschweißte Ealdwulf die Eisen, brachte sie immer wieder in der Esse zum Glühen. Schwarze Schlacke brannte aus dem Eisen, Funken sprühten, und zischend tauchte das heiße Metall ins Wasser oder lag, um langsam abzukühlen, in einer mit Asche gefüllten Wanne. Es dauerte Tage, doch allmählich nahm das Schwert Gestalt an. Das weiche Eisen hatte sich mit dem harten verbunden und bildete wundersame Muster aus, die an Rauchschlieren erinnerten. Bei hellem Tageslicht waren sie nicht zu sehen, aber in der Dämmerung, oder wenn bei kaltem Wetter der Atem auf der Klinge beschlug, traten sie zum Vorschein. Brida nannte diese Muster Schlangenhauch, und ich beschloss, dass dies der Name meines Schwertes sein sollte: Schlangenhauch. Zum Schluss hämmerte Ealdwulf eine lange Riefe in die Mitte beider Klingenseiten, damit das Schwert nicht im Fleisch des Feindes stecken bleiben konnte. «Blutrinnen», knurrte er.
Der Knauf des Heftes bestand ebenfalls aus Eisen, wie auch die schwere Querstange, und für den Griff schnitzte ich mir zwei Stücke aus Eschenholz zurecht. Ich hätte das Schwert gern mit Gold oder vergoldeter Bronze verziert, doch Ealdwulf weigerte sich und sagte: «Das ist ein Werkzeug, weiter nichts. Ein Werkzeug, das dir die Arbeit erleichtert, so wie mir mein Hammer hilft.» Er hielt die Klinge in die Höhe und ließ das Sonnenlicht auf der blank polierten Oberfläche spielen. «Eines Tages», sagte er und beugte sich mir zu, «wirst du damit Dänen töten.»
Das Schwert, mein Schlangenhauch, war schwer, viel zu schwer für einen Dreizehnjährigen, aber ich würde bald stark genug sein, um es führen zu können. Die Klinge verjüngte sich schon von der Mitte an und war durch das fehlende Gewicht an der Spitze ausgewogen. Ragnar bevorzugte eine schwere Spitze, um mit größerer Wucht auf die Schilde der Gegner einschlagen zu können. Mein Schwert hatte dagegen den Vorteil, wendiger geführt werden zu können. Hinzu kam, dass es dank der handwerklichen Fähigkeiten Ealdwulfs geradezu unverwüstlich war. Ich besitze es noch heute. Der Eschengriff wurde schon vor langer Zeit ausgetauscht, und die Kanten sind schartig, auch die Klinge ist, weil häufig geschliffen, noch schlanker geworden, aber immer noch ist es ein wundervolles Schwert. Manchmal hauche ich auf die Klinge, dann tauchen, wie von Zauberhand gemalt, die blau-silbrigen Schlierenmuster auf. Sie erinnern mich an jenen Frühling und Sommer in den northumbrischen Wäldern, und ich sehe Brida vor mir, wie sie sich in der blanken Klinge spiegelt.
Mein Schlangenhauch ist außerdem voller Magie. Ealdwulf hatte, als er das Schwert schmiedete, Zauberformeln verwendet, die er streng geheim hielt, und Brida hatte es einmal mit in den Wald genommen, wo sie eine ganze Nacht verbrachte, ohne mir zu verraten, was sie getan hatte, und so war auch der Zauber einer Frau in das Schwert übergegangen. Als einmal mehr ein blutiges Ritual in einer eigens dafür ausgehobenen Grube abgehalten und ein Mann, ein Pferd, ein Widder, ein Bulle und ein Enterich geopfert werden sollten, bat ich Ragnar, er möge den todgeweihten Mann mit meinem Schwert erstechen, damit Odin von ihm Kenntnis nähme und ihm gewogen sei. Das waren die Zaubereien eines Heiden und Kriegers.
Doch ich glaube, Odin war ihm tatsächlich gewogen, denn meinem Schwert sind mehr Männer zum Opfer gefallen, als ich mir in Erinnerung rufen kann.
Im Spätsommer war Schlangenhauch endlich fertig, und ehe mit dem Herbst die ersten Stürme das Meer aufwühlten, zogen wir nach Süden. Es war an der Zeit, England der Vergessenheit anheim zu stellen, und so segelten wir nach Wessex.
FÜNF
Wir sammelten uns in Eoferwic und wurden von Egbert notgedrungen willkommen geheißen. Er ritt zum Flussufer, wo die Schiffe lagen. Die Mannschaften, ein wilder Haufen, hatten Aufstellung genommen und bedachten den jämmerlichen König, der kein König war, mit verächtlichen Blicken, als er ihre Reihen abnahm. Zu seiner dänischen Leibgarde gehörten auch Kjartan und Sven. Vermutlich bestand ihre Aufgabe weniger darin, sein Leben zu schützen, als den Gefangenen zu bewachen. Kjartan war mit einem Kettenhemd und einer riesigen Streitaxt gewappnet, die an seiner Schulter hing. Sven, inzwischen zu einem Mann herangewachsen, trug eine Binde über dem fehlenden Auge, ein langes Schwert, einen Umhang aus Fuchsfellen und zwei Armreife. «Sie haben an dem Überfall auf Streonshall teilgenommen», klärte mich Ragnar auf. Offenbar hatten sie bei dem Rachezug gegen das Nonnenkloster gute Beute gemacht.
Kjartan, den ein Dutzend Reife an den Armen auszeichneten, blickte Ragnar in die Augen und sagte: «Ich würde Euch nach wie vor dienen.» Von der Unterwürfigkeit, die er früher an den Tag gelegt hatte, war jetzt nicht mehr viel zu spüren.
«Ich habe einen neuen Schiffsmeister», entgegnete Ragnar. Mehr sagte er nicht, worauf Kjartan abzog, gefolgt von Sven, der mir mit der linken Hand das Zeichen des Teufels machte.
Der neue Schiffsmeister hieß Thorbjorn, genannt Toki. Er war ein großartiger Seemann und noch tapferer als Krieger. Er wusste viele Geschichten zu erzählen, Geschichten über seine Reisen mit den Svear in fremde Länder, wo es außer Birken keine Bäume gab und wo über viele Monate Winter herrschte. Er behauptete, dass die Bewohner dort ihre eigenen Kinder fräßen, Riesen anbeteten und am Hinterkopf ein drittes Auge trügen, und manche von uns glaubten seine Geschichten.
Mit der letzten Sommerflut ruderten wir nach Süden, entlang der öden Küste Ostangliens, wo wir des Nachts lagerten. Wir steuerten auf die Mündung der Temes zu, über die wir, wie Ragnar sagte, bis an die Nordgrenze von Wessex gelangen würden.
Diesmal führte Ragnar die Flotte an. Ivar der Knochenlose war nach Irland gezogen und hatte von Ragnar ein Goldgeschenk für dessen Sohn mitgenommen, während Ubba Dalriada, das Land nördlich von Northumbrien, plünderte. «Da ist nicht viel zu holen», spottete Ragnar, aber wie Ivar, so hatte auch Ubba während seiner Raubzüge durch Northumbrien, Mercien und Ostanglien schon so reiche Schätze anhäufen können, dass ihm nicht der Sinn danach stand, über Wessex herzufallen. Allerdings sollte er sich später, wie ich noch berichten werde, eines anderen besinnen und ebenfalls in den Süden ziehen.
Ivar und Ubba waren also nicht dabei. Statt ihrer führte Halfdan, der dritte Bruder, den Angriff auf Wessex. Er zog mit seinem Heer über Land und würde irgendwo an der Temes zu uns stoßen. Mit dem Wechsel in der Führung war Ragnar nicht einverstanden. Er hielt Halfdan für einen ungestümen Hitzkopf, war aber trotzdem guter Dinge, weil er sich an meine Geschichten von Alfred erinnerte, die bestätigten, dass Wessex von Männern regiert wurde, die ihre ganze Hoffnung in den Christengott setzten, der inzwischen oft genug bewiesen hatte, dass er keinerlei Macht besaß. Wir hatten Odin, Thor und unsere Schiffe, und wir waren erfolgreiche Krieger.
Nach vier Tagen erreichten wir die Temesmündung und ruderten gegen eine starke Strömung flussaufwärts. Am Morgen war nur das Nordufer sichtbar, das noch zu Ostanglien gehörte, doch gegen Mittag zeichnete sich am südlichen Horizont das Land des ehemaligen Königreiches von Kent ab, das nun ein Teil von Wessex war. Am Abend hatten sich die Ufer bis auf eine halbe Meile angenähert, aber es gab immer noch nicht viel zu sehen, denn der Fluss führte durch eine leere, flache Sumpflandschaft. Wir nutzten die Gezeiten, indem wir uns von der Flut vorwärts treiben ließen, und legten uns in die Riemen, wenn uns das Wasser entgegenströmte. So zogen wir flussaufwärts, bis ich zum ersten Mal Lundene erblickte.
Bislang hatte ich Eoferwic für eine große Stadt gehalten, doch Eoferwic war, mit Lundene verglichen, nicht mehr als ein Dorf. Ich staunte angesichts der Ausmaße dieser Stadt, über der eine gewaltige Rauchwolke hing, gespeist aus zahllosen Feuerstellen. Lundene lag an der Grenze zwischen Mercien, Ostanglien und Wessex und wurde von Burghred von Mercien regiert, war also in dänischer Hand, und so trat uns niemand in den Weg, als wir uns jener erstaunlichen Brücke näherten, die den breiten Fluss überspannte.
Lundene. Von Bebbanburg abgesehen, sollte mir dieser Ort wie kein anderer ans Herz wachsen. Er war so lebendig und vielfältig wie kein zweiter. Alfred sagte mir einmal, dass jede Bosheit, zu der ein Mensch fähig sei, hier anzutreffen wäre, und ich bin durchaus froh, dass er Recht behalten hat. Während er für die Stadt betete, ließ ich es mir in ihr gut gehen. Ich kann mich noch sehr genau an meine ersten Eindrücke erinnern. Es war ein grauer, verregneter Tag, doch für mich erstrahlte die Stadt in einem geradezu magischen Glanz.
Im Grunde bestand Lundene aus zwei Städten, gebaut auf zwei Hügeln. Die eine Stadt, im Osten gelegen, stammte noch aus der Römer zeit. Von dort führte die mächtige Brücke hinüber ans sumpfige Südufer. Die stattlichen Gebäude waren von einem Ringwall umgeben, einem Steinwall, nicht aus Erde aufgeschüttet, sondern aus festem Mauerwerk, hoch und breit und von einem tiefen Graben gesäumt, in dem sich jetzt allerdings Schutt und Abfälle sammelten. Die Wehrmauer war an manchen Stellen eingestürzt und mit Hölzern notdürftig ausgebessert. Auch an den prächtigen Gebäuden im Inneren des Ringwalls hatte die Zeit genagt. Statt wie ursprünglich mit Ziegeln waren die Dächer nunmehr mit Stroh gedeckt. Es lebten nur wenige Mercier hier, denn in der alten Stadt zu wohnen war den meisten zuwider. Einer ihrer Könige hatte sich innerhalb der Mauern einen Palast errichten lassen, und auf der Hügelkuppe war eine große Kirche gebaut worden. Die überwiegende Mehrzahl der Einwohner jedoch lebte, weil sie Angst vor römischen Geistern hatte, außerhalb der Mauern in einer neuen Stadt aus Holz und Stroh, die sich nach Westen hin erstreckte.
Verfallen waren auch die Anlegestellen und Kais der alten Stadt, sodass am Ufer östlich der Brücke die verrotteten Pfeiler und zerbrochenen Planken wie faule Zähne aus dem Wasser ragten. Die neue Stadt lag wie die alte am Nordufer und war eine halbe Meile stromaufwärts auf einem flachen Hügel im Westen errichtet worden, entlang der Uferstraße, von der ein Kiesstrand zum Wasser führte. Nie wieder ist mir ein so hässlicher Strand vor Augen gekommen. Er war übersät mit Unrat, stinkenden Tierkadavern und den schleimigen Gerippen alter Kähne, zwischen denen kreischende Möwen umherschwirrten. Und ausgerechnet dort mussten wir mit unseren Schiffen anlanden.
Zuvor aber galt es, die Brücke hinter uns zu lassen. Wie es die Römer geschafft hatten, solch einen Bau zu errichten, wissen allein die Götter. Sie war so lang, dass sie ganz Eoferwic hätte überspannen können, ließ sich aber schon seit einiger Zeit nicht mehr in voller Länge nutzen, weil sie eingebrochen war. Zwei mittlere Bögen waren eingestürzt, und an ihrer Stelle ragten nur noch die römischen Stützen aus dem Wasser, die in kurzen Abständen tief ins Bett der Temes gerammt waren und von tückischen Strömungen umschäumt wurden. Um an den verdreckten Strand der Neustadt zu gelangen, mussten wir eine dieser Lücken zwischen den Stützen passieren, die aber für die ausgelegten Ruder unserer Schiffe nicht breit genug waren. «Das wird spannend», meinte Ragnar trocken.
«Können wir das überhaupt schaffen?», fragte ich.
«Die haben es geschafft», sagte er und deutete auf die am Strand liegenden Schiffe jenseits der Brücke. «Dann schaffen wir es auch.» Wir hatten Anker geworfen und warteten auf den Rest der Flotte. «Die Franken bauen solche Brücken über all ihre Flüsse. Weißt du, warum?»
«Um auf die andere Seite zu kommen?» Diese Antwort erschien mir nahe liegend.
«Um uns aufzuhalten», erklärte Ragnar. «Wenn ich Lundene regierte, wäre diese Brücke längst repariert. Seien wir also den Engländern dankbar, dass sie sich nicht darum gekümmert haben.»
Wir warteten auf den Höhepunkt der Flut aus dem Unterlauf, der gegen die wirbelnde Strömung des Flusses drückte und diese für kurze Zeit zum Erliegen brachte. Das war unsere Gelegenheit, sieben oder acht Schiffe durch die Lücke zu bringen Als das Wasser seinen höchsten Stand erreicht hatte, ruderten wir mit voller Kraft auf die Lücke zu, um möglichst viel Fahrt aufzunehmen, und dann, im letzten Moment, stellten wir die Ruderblätter hoch, damit sie nicht an die verrotteten Pfeiler stießen, und das Schiff sollte von seinem Schwung durch die Lücke getragen werden. Zwei Schiffe scheiterten beim ersten Versuch. Ich verfolgte, wie sie zurückgespült wurden, mit krachenden Ruderblättern gegen einen Pfeiler prallten und mit fluchenden Mannschaften stromabwärts trieben. Die Windviper aber schaffte es, obwohl auch sie unter der Brücke fast zum Stillstand kam. Doch es gelang uns, die vorderen Ruder wieder ins Wasser zu bringen, und so arbeiteten wir uns ganz langsam von dem Strömungssog der Lücke weg, bis uns Männer von zwei auf der anderen Seite ankernden Schiffen Leinen zuwarfen und uns von der Brücke wegzogen, bis wir plötzlich wieder in ruhigem Wasser waren und ans Ufer rudern konnten.
Am Südufer, jenseits der Sümpfe, wo auf flachen Hügeln Bäume wuchsen, hatten Reiter Posten bezogen, um uns zu beobachten. Es waren Westsachsen, die unsere Schiffe zählten, um die Stärke unserer Großen Armee abzuschätzen. So nannte Halfdan unser Heer, die Große Armee der Dänen, obwohl von groß kaum die Rede sein konnte. Geplant war, in Lundene auf weitere Schiffe zu warten und darauf, dass die Fußtruppen, die auf den langen Römer-
Straßen in den Süden marschierten, zu uns stießen. Wessex konnte warten, während sich die Dänen sammelten.
Brida, Rorik und ich nutzten die Zeit, um Lundene zu erkunden. Rorik war wieder krank gewesen, und Sigrid hatte zu verhindern versucht, dass er mit dem Vater reiste, seinem Drängen aber schließlich nachgegeben, zumal Ragnar ihr versichert hatte, dass ihn die Fahrt übers Meer heilen werde. Und so war Rorik mit uns in Lundene. Er war zwar bleich, aber nicht krank und ebenso begeistert von der Stadt wie ich. Ragnar verlangte, dass ich meine Armreife und das Schwert ablegte, da die Stadt, wie er sagte, voller Diebe sei. Zuerst durchstreiften wir den neueren Teil und wanderten durch übel stinkende Gassen, wo Handwerker Leder gerbten, Bronze trieben oder Eisen schmiedeten. Frauen saßen an Webstühlen, in einem Hinterhof wurden Schafe geschlachtet. Es gab Geschäfte, in denen Steingut, Salz, lebende Aale, Brot, Kleider, Waffen und alles nur Erdenkliche verkauft wurden. Kirchenglocken läuteten ohrenbetäubend zu jeder Gebetsstunde und zu jedem Trauerzug auf den Friedhof. Hundemeuten liefen durch die Straßen, überall saßen rote Milane, und wie dichter Nebel hing der Rauch über den schwarz verfärbten Reetdächern. Ein blutig gepeitschter Ochse zog einen so hoch mit Reet beladenen Karren, dass das Gefährt unter dem riesigen Haufen verschwand und auf beiden Seiten der Gasse immer wieder aneckte. Männer beschimpften die Knechte, die den Ochsen antrieben, und beschwerten sich, dass der Karren überladen sei. Zu einer Schlägerei kam es schließlich, als die Wagenladung ein großes Stück aus einem faulenden Strohdach riss. Überall waren Bettler: blinde Kinder, Frauen ohne Beine, ein Mann mit einem nässenden Geschwür auf der Wange. Da waren Leute, die in Sprachen redeten, die ich noch nie gehört hatte, und andere, die seltsame fremdländische Kleidung trugen. In der Altstadt, die wir am nächsten Tag erkundeten, sah ich zwei Männer mit kastanienbrauner Haut. Ravn erklärte mir später, dass sie aus Blaland stammten, doch wo dieses Land war, wusste auch er mir nicht zu sagen. Sie trugen schwere Umhänge mit Krummschwertern und sprachen mit einem Sklavenhändler, dessen Hof voll gefangener Engländer war, die in dieses geheimnisvolle Blaland verschifft werden sollten. Der Händler rief uns zu: «He, ihr drei, gehört ihr zu irgendwem?» Die Frage war nur halb scherzhaft gemeint.
«Zu Graf Ragnar», antwortete Brida. «Er würde Euch gern einen Besuch abstatten.»
«Übermittelt Seiner Hoheit meinen ergebenen Gruß», sagte der Händler, spuckte aus und folgte uns mit seinen Blicken.
Die Häuser der Altstadt waren außergewöhnlich, von den Römern hoch und fest erbaut und immer noch bewundernswert, obwohl ihre Mauern und Dächer teilweise eingestürzt waren. Manche hatten drei oder sogar vier Stockwerke, und wir jagten einander in den verlassenen Treppenhäusern. Nur wenige Engländer lebten hier, doch während sich die Armee sammelte, bezogen viele Dänen in den leer stehenden Gebäuden Quartier. Brida meinte, dass kein vernünftiger Mensch in römischen Häusern wohnen wolle, da in den alten Gemäuern Geister umgingen. Vielleicht hatte sie Recht, obwohl ich in der Römerstadt Eoferwic nie einen Geist gesehen hatte. Trotzdem machten uns ihre Bemerkungen über Erscheinungen ängstlich, als wir eine Treppe hinunter ins Dunkel eines Gewölbekellers spähten.
Statt weiter nach Westen vorzudringen, blieben wir, als Halfdans Armee zu uns gestoßen war, noch mehrere Wochen in Lundene. Zwar zogen berittene Verbände immer wieder plündernd über Land, doch die Große Armee blieb, wo sie war. Einige Männer, die nicht länger warten wollten, fingen an zu murren, dass wir den Westsachsen zu viel Zeit ließen, um sich auf den Kampf gegen uns vorzubereiten. Halfdan aber bestand darauf, abzuwarten. Manchmal näherten sich westsächsische Reiter der Stadt, und zweimal kam es zwischen ihnen und unseren Reitern zum Kampf. Doch als das Julfest bevorstand, zogen sich die feindlichen Späher zurück. Offenbar rechneten sie vor Ende des Winters nicht mehr mit einem Angriff.
«Wir warten nicht auf den Frühling», erklärte mir Ragnar, «sondern auf den tiefsten Winter.»
«Warum?»
«Weil sich im Winter kein Heer in Marsch setzt», antwortete Ragnar mit wölfischem Grinsen. «Also werden die Westsachsen zu Hause am Feuer sitzen und zu ihrem schwachen Gott beten. Im Frühjahr, Uhtred, wird uns ganz England gehören.»
Zu Winteranfang hatten wir alle viel zu tun. Ich schleppte Brennholz, und wenn ich einmal kein Holz aus den Wäldern im Norden der Stadt herbeischaffte, übte ich mich im Umgang mit dem Schwert. Ragnar hatte Toki, seinen neuen Schiffsmeister, beauftragt, mich zu unterrichten, und Toki war ein guter Lehrer. Ich führte ihm die Hiebe vor, die ich eingeübt hatte, worauf er mir sagte, dass ich sie getrost vergessen könne. «Im Schildwall siegt der Wildeste», erklärte er. «Geschicklichkeit hilft, List ist gut, aber was siegt, ist die Wildheit. Probier es damit.» Er reichte mir eine Saxe mit breiter Klinge. Sie gefiel mir nicht, weil sie viel kürzer war als mein Schlangenhauch und bei weitem nicht so prächtig. Toki aber, der stets neben seinem Schwert auch eine Saxe bei sich führte, überzeugte mich davon, dass die kurze, breite Klinge im Schildwall sehr viel nützlicher sei. «Du hast im Schildwall nicht genügend Platz, um mit einem Schwert auszuholen», sagte er. «Aber für eine kurze Waffe reicht es. Duck dich und stich zu, geradewegs in den Bauch des Gegners.» Auf sein Geheiß wappnete sich Brida mit einem Schild und übernahm die Rolle des Feindes. Dann stellte er sich neben mich und täuschte einen von oben geführten Hieb vor, worauf Brida instinktiv den Schild hob. «Halt!», sagte er, und Brida verharrte. «Siehst du?», bemerkte er und zeigte auf den erhobenen Schild. «Dein Mitstreiter sorgt dafür, dass der Feind den Schild hebt. Jetzt kannst du ihm den Bauch aufschlitzen.» Er lehrte mich noch ein Dutzend anderer Finten, und ich griff alles, was er mir riet, begeistert auf, und je mehr ich lernte, desto stärker und geschickter wurde ich.
Gewöhnlich übten wir in der römischen Arena. So nannte Toki diesen Ort, obwohl er mir nicht erklären konnte, was dieser Name zu bedeuten hatte. Jedenfalls war es ein ganz und gar erstaunliches Bauwerk. Man muss sich ein freies rundes Feld vorstellen, umringt von abgestuften Steinwällen, aus deren Fugen jetzt Unkraut wucherte. Die Mercier hatten hier, wie ich später erfuhr, Volksversammlungen abgehalten, doch Toki behauptete, dass in diesem Rund zur Zeit der Römer blutige Schaukämpfe stattgefunden hätten. Vielleicht war das auch nur eine seiner phantastischen Geschichten, aber groß war die Arena, unvorstellbar groß, ein mysteriöser, von Riesen geschaffener Ort. In diesem Rund fühlten wir uns wie Zwerge, es hätte die gesamte Große Armee aufnehmen können, und auf den Steinstufen wäre noch genügend Platz für zwei weitere, ebenso große Heere geblieben.
Das Julfest kam, und wir feierten ausgiebig, und die Männer übergaben sich in den Gassen, und wir zogen immer noch nicht los. Doch kurz nach dem Fest trafen sich die Anführer der Großen Armee in dem Palast gleich neben der Arena. Brida und ich hatten wie gewöhnlich die Aufgabe, für Ravn die Augen offen zu halten, und wie immer erklärte er uns, was wir ihm schilderten.
Das Treffen fand in der Palastkirche statt, einem Römerbau, dessen Dach die Form eines der Länge nach halbierten Fasses hatte. Obwohl die blaue und goldene Farbe längst verblasst war und abblätterte, ließen sich noch Mond und Sterne auf einem Nachthimmel erkennen. Im Innern der Kirche war ein großes Feuer entfacht worden, von dem dichter Rauch bis unter das hohe Dach emporwirbelte. Halfdan stand vor dem Altar und leitete das Gespräch mit den wichtigsten Grafen. Einer von ihnen war hässlich, hatte ein grobes Gesicht und einen buschigen braunen Bart, an der linken Hand fehlte ihm ein Finger. «Das ist Bagseg», erklärte uns Ravn. «Er bezeichnet sich selbst als König, steht aber nicht höher als die anderen.» Bagseg war im Sommer aus Dänemark gekommen und hatte auf achtzehn Schiffen fast sechshundert Männer mitgebracht. Neben ihm stand ein großer, düsterer, weißhaariger Mann, der Zuckungen im Gesicht hatte. «Graf Sidroc», sagte Ravn. «Sein Sohn müsste auch da sein.»
«Ein dünner Mann mit tropfender Nase?», fragte Brida.
«Ja, das ist Graf Sidroc der Jüngere. Er schnieft ständig. Seht ihr auch meinen Sohn?»
«Ja», antwortete ich. «Er steht neben einem sehr dicken Mann, der ihm ständig etwas zuflüstert und dabei grinst.»
«Harald!», sagte Ravn. «Ich habe mich schon gefragt, ob er auch kommt. Noch ein König.» «Wirklich?», staunte Brida.
«Nun, so nennt er sich, doch er herrscht nur über ein paar morastige Felder und eine stinkende Schweineherde.»
All diese Männer und noch mehr waren aus Dänemark gekommen. Graf Fraena hatte Kämpfer aus Irland mitgebracht, und Graf Osbern stellte mit seinen Männern die Garnison von Lundene, während sich die Armee sammelte. Insgesamt hatten diese Könige und Grafen über zweitausend Männer zusammengetrommelt.
Osbern und Sidroc schlugen vor, den Fluss zu überqueren und geradewegs nach Süden vorzudringen, um Wessex in zwei Teile zu spalten. So ließe sich, wie sie betonten, der Osten, das ehemalige Königreich Kent, mit Leichtigkeit einnehmen. «In Contwaraburg müssen reiche Schätze liegen», sagte Sidroc. «Es ist der heiligste Ort der Christen hier.»
«Und während wir auf dieses Heiligtum zumarschieren, fällt uns der Feind in den Rücken», erwiderte Ragnar. «Nein, wir sollten ihn zuerst da bezwingen, wo er am stärksten ist, nämlich im Westen. Der Rest fällt dann von selbst, auch Contwaraburg.»
Um diese Frage wurde nun gestritten. Sollte zunächst der leichter einzunehmende Teil von Wessex besetzt werden oder die wichtigsten Festungen im Osten? Zwei dänische Händler wurden befragt, die zwei Wochen zuvor in Readingum gewesen waren. Readingum lag eine Tagesreise stromaufwärts, an der Grenze zu Mercien, und die beiden Händler wussten zu berichten, dass König AEthelred und sein Bruder Alfred aus den Grafschaften im Westen Truppen zusammengezogen hatten, und rechneten mit mindestens dreitausend Mann.
«Von denen allenfalls dreihundert ernst zu nehmende Kämpfer sind», höhnte Halfdan, was die versammelten Männer mit lautstarkem Beifall beantworteten, indem sie mit ihren Waffen auf die Schilde schlugen. Noch während der Lärm durch den hohen Raum hallte, betrat eine weitere Gruppe von Kriegern die Kirche, angeführt von einem sehr großen, stämmigen Mann in einem schwarzen Gewand. Er wirkte großartig, war sauber rasiert, trug eine finstere Miene zur Schau und war außerdem sehr reich, denn an seinem schwarzen Umhang prangte ein großer, in Gold gefasster Bernstein. Seine Arme bedeckten lauter goldene Reife, und auch die Halskette und Thors Hammeramulett bestanden aus purem Gold. Es wurde still, als er sich von seinen Gefolgsleuten den Weg nach vorn bahnen ließ. Die soeben noch festliche Stimmung schlug mit einem Male um.
«Wer ist gekommen?», flüsterte Ravn.
«Sehr groß, viele Armreife», antwortete ich.
«Düster», fügte Brida hinzu, «in Schwarz gekleidet.»
«Ah! Graf Guthrum», sagte Ravn.
«Guthrum?»
«Guthrum der Unglückliche.»
«Der Unglückliche? Mit all den Armreifen?»
«Selbst wenn man ihm die ganze Welt zu Füßen legte, würde er sich noch betrogen fühlen», sagte Ravn.
«In seinem Haar steckt ein Knochen», bemerkte Brida.
«Frag ihn selbst, was es damit auf sich hat.» Ravn schmunzelte, sagte aber nichts weiter zu dem Knochen, einer Menschenrippe mit goldener Spitze.
Graf Guthrum der Unglückliche, ein dänischer Graf, überwinterte in Beamfleot, einem am Nordufer der Temesmündung gelegenen Ort. Nachdem er die Männer am Altar begrüßt hatte, ließ er die Anwesenden wissen, dass er vierzehn Schiffe mitgebracht habe. Niemand applaudierte. Guthrum starrte mit dem traurigsten, verdrießlichsten Gesicht, das ich je gesehen hatte, in die Runde wie ein Angeklagter, der ein strenges Urteil fürchten musste, und zeigte dabei eine so sauertöpfische Miene, dass mir ganz anders wurde. Ragnar brach das unangenehme Schweigen und sagte: «Wir haben beschlossen, nach Westen vorzurücken.» Obwohl ein solcher Beschluss gar nicht gefasst war, erhob niemand Einspruch. Ragnar fuhr fort: «Alle Schiffe, die durch die Brücke sind, werden mit ihren Mannschaften stromaufwärts rudern. Der Rest des Heeres zieht über Land, zu Pferde oder zu Fuß.»
«Ich will mit meinen Schiffen stromaufwärts», sagte Guthrum.
«Sind sie durch die Brücke?»
«Sie werden trotzdem mitkommen», entgegnete Guthrum und gab damit zu verstehen, dass seine Flotte noch unterhalb der Brücke lag.
«Wir sollten uns morgen in Marsch setzen», sagte Ragnar. Während der vergangenen Tage hatte sich die gesamte Große Armee in Lundene gesammelt. Die einzelnen Truppen waren aus Siedlungen im Norden und Osten, wo sie Quartier bezogen hatten, in die Stadt gekommen, und je länger wir warteten, desto mehr kostbare Nahrungsvorräte wurden verbraucht.
«Meine Schiffe kommen mit», wiederholte Guthrum ausdruckslos.
«Er fürchtet, zu Pferde nicht genügend Beute wegschaffen zu können», flüsterte mir Ravn zu. «Die Schiffe könnte er dagegen voll beladen.»
«Warum sollte er überhaupt mitkommen?», fragte ich, denn es war deutlich, dass keiner der Anwesenden Graf Guthrum mochte und dass seine Ankunft weder willkommen war noch gelegen kam. Ravn aber zuckte nur mit den Schultern. Guthrum war nun einmal da, und deshalb würde er eben am Angriff teilnehmen. Das leuchtete mir immer noch nicht ein, doch genauso wenig verstand ich, warum Ivar und Ubba nicht mit uns nach Wessex zogen. Zwar hatte keiner der beiden weitere Reichtümer nötig, aber sie hatten seit Jahren davon gesprochen, Westsachsen erobern zu wollen, und den Plan jetzt einfach aufgegeben. Auch Guthrum brauchte weder neues Land noch ein größeres Vermögen, aber er wollte es trotzdem haben, und deshalb kam er mit. So waren die Dänen. Halfdan befehligte zwar die Große Armee, doch im Unterschied zu seinen beiden älteren Brüdern fehlte es ihm an Durchsetzungskraft, sodass er auf die Zustimmung der übrigen Anführer angewiesen war. Ich lernte mit der Zeit, dass ein Heer von einem einzigen Mann geführt werden muss, wenn es unter zwei Befehlshabern steht, ist es nur halb so stark.
Es dauerte zwei Tage, bis Guthrums Schiffe die Brücke passiert hatten. Sie waren wunderschön, größer als die meisten dänischen Boote und jedes an Vorder- und Hintersteven mit schwarz bemalten Schlangenköpfen geschmückt. Seine Männer, und es waren viele, trugen allesamt Schwarz. Selbst ihre Schilde waren schwarz bemalt, und wenn mir auch der Anblick ihres Herrn über die Maßen kläglich erschien, so fand ich diese Truppen doch außergewöhnlich beeindruckend. Wir hatten vielleicht zwei Tage verloren, aber die schwarzen Krieger dazu gewonnen.
Und was hätten wir zu furchten gehabt? Die Große Armee hatte sich gesammelt, es herrschte strenger Winter, in dem der Feind keinen Angriff erwartete, und dieser Feind wurde von einem König und einem Prinzen regiert, die mehr vom Gebet als vom Kampf erwarteten. Ganz Wessex lag vor uns, und nach allem, was wir gehört hatten, war Wessex das reichste Land der Welt, reicher noch als das Frankenland, bevölkert von Nonnen und Priestern, die in ihren Häusern Gold und Silber horteten und uns wehrlos ausgeliefert waren. Wir alle würden reich werden.
Und so zogen wir in den Krieg.
Unsere Schiffe glitten über die winterliche Temes, vorbei an sprödem Schilf, laublosen Weiden und kahlen Erlen. Feuchte Ruderblätter schimmerten im fahlen Sonnenlicht. Die Bestien über dem Bug unserer Schiffe vertrieben die Schutzgeister des Landes, in das wir einzogen. Es war gutes Land mit fruchtbaren Böden, doch die Bevölkerung war geflohen. An Bord herrschte eine geradezu feierliche Stimmung. Unsere kurze Fahrt glich einem Fest, dem selbst Guthrums dunkle Schiffe keinen Abbruch tun konnten. Männer tanzten über die Ruder wie Ragnar damals, als seine drei Schiffe auf die Bebbanburg zugesteuert waren. Ich versuchte es selbst und erntete viel Gelächter, als ich ins Wasser stürzte. Es sah so einfach aus, außen an der Bordwand entlangzulaufen und von Schaft zu Schaft zu springen, doch es musste nur ein Mann mit dem Ruder zucken, und man landete in dem eiskalten Wasser des Flusses. Ragnar hieß mich meine tropfnassen Sachen ausziehen und gab mir sein Bärenfell, bis mir wieder warm wurde. Männer sangen, die Schiffe durchpflügten die Strömung, die Hügel des Nord- und des Südufers näherten sich einander an, und als der Abend kam, waren am Südufer erste Reiter zu entdecken. Sie beobachteten uns.
Wir erreichten Readingum in der Dämmerung. Ragnars Schiffe hatten Schaufeln an Bord, die fast alle von Ealdwulf geschmiedet worden waren, und unsere erste Aufgabe bestand darin, einen Wall zu errichten. Mit jedem weiteren Schiff, das anlegte, kamen mehr Männer zu Hilfe, und noch ehe die Nacht vorüber war, hatten wir unser Lager halbwegs befestigt. Dieser Wall war zwar nicht geeignet, einem Angriff standzuhalten, denn er ließ sich ohne weiteres überqueren, doch es griff uns niemand an, und auch am nächsten Morgen zeigte sich der Feind nicht, sodass uns genügend Zeit blieb, die Befestigung auszubauen.
Readingum lag am Zusammenfluss von Kenet und Temes. Zwischen diesen beiden Flüssen bauten wir unseren Wall. Er umschloss die kleine Stadt, die von ihren Bewohnern verlassen worden war und in der sich ausreichende Lebensmittelvorräte für unsere Schiffsmannschaften finden ließen. Unser Landheer war noch nicht in Sicht. Es zog am nördlichen Temesufer entlang durch mercisches Gebiet und suchte eine Furt, die es weiter stromaufwärts fand. Wir hatten unseren Wall schon fast vollendet, als die Fußtruppen endlich zu uns stießen. Zuerst dachten wir, die Westsachsen rückten an, doch es waren Halfdans Männer, die uns aus dem verlassenen Feindesland entgegenkamen.
Der Wall hatte inzwischen eine stattliche Höhe erreicht und war auf seiner gesamten Länge von rund achthundert Schritt mit Palisaden verstärkt worden, für die wir in den Wäldern, die sich im Süden erstreckten, Bäume gefällt hatten. Der Graben vor dem Wall wurde geflutet, indem wir einen Durchstich zu beiden Flüssen aushoben. Über den Wassergraben führten vier mit Wehrtürmen abgesicherte
Brücken. Das war unser Stützpunkt. Von hier aus konnten wir bis tief ins Land der Westsachsen vordringen, was nun auch geboten war, denn um die vielen Männer und Pferde innerhalb des Walls ernähren zu können, mussten Getreide, Heu und Fleisch in großen Mengen herbeigeschafft werden. Wir hatten zwar viele Fässer Ale und Mehlvorräte, Pökelfleisch und getrockneten Fisch in den Schiffen mitgebracht, doch es war erstaunlich, wie schnell dieser Vorrat zur Neige ging.
Wenn Barden einen Krieg besingen, ist meist von Schildwällen die Rede, von fliegenden Speeren und Pfeilen, von Schwertern, die auf Schilde schlagen, Helden, die fallen, und von der reichen Beute des Siegers. Ich aber machte die Erfahrung, dass es im Krieg vor allem um die Lebensmittel geht. Darum, Männer und Pferde zu ernähren. Darum, an Nahrungsmittel zu kommen. Das Heer, das besser versorgt ist, gewinnt. Außerdem gilt es, jede Menge Mist zu schaufeln, wenn in einer Festung Pferde gehalten werden. Als das Landheer Readingum erreicht hatte, waren schon nach zwei Tagen unsere Lebensmittelvorräte aufgebraucht, weshalb die beiden Sidrocs, Vater und Sohn, mit einer großen Truppe ins Feindesgebiet nach Westen zogen, um für Nachschub zu sorgen. Doch stattdessen stießen sie auf den Fyrd von Berrocscire.
Später erfuhren wir, dass unser Vormarsch im Winter für die Westsachsen alles andere als überraschend gekommen war. Während sich die Dänen auf ihre reisenden Händler als Kundschafter verließen, hatten die Westsachsen durch eigene Kundschafter in Lundene in Erfahrung gebracht, wann und mit wie vielen Kämpfern wir uns in Marsch setzen würden, und ein Heer zusammengestellt, um uns zu trotzen. Außerdem hatten sie im Süden Merciens, wo sich die Herrschaft der Dänen noch nicht hatte festigen können, Unterstützung gesucht, und tatsächlich waren aus dem angrenzenden Berrocscire Verstärkungstruppen angerückt, die von einem Aldermann namens AEthelwulf angeführt wurden.
War das mein Onkel? AEthelwulf hießen nicht wenige, aber wie viele waren Aldermänner in Mercien? Als ich den Namen hörte, überkam mich zugegebenermaßen ein seltsames Gefühl, und ich dachte an meine Mutter, die ich nie gekannt hatte. In meiner Vorstellung war sie eine stets gütige, sanfte und liebevolle Frau, die vom Himmel oder aus dem Asgard, oder wo immer unsere Seelen während der langen Finsternis verweilen mochten, auf mich herabblickte, und ich ahnte, dass sie es mir verübelte, einem Heer anzugehören, das gegen ihren Bruder ins Feld zog. In jener Nacht war ich sehr bedrückt.
In ähnlicher Stimmung waren auch die Kämpfer unserer Großen Armee, denn mein Onkel, falls dieser AEthelwulf tatsächlich mein Onkel war, hatte unsere beiden Grafen und ihre Truppe in einen Hinterhalt gelockt. Einundzwanzig Dänen waren dem Anschlag zum Opfer gefallen, acht weitere wurden gefangen genommen. Die Engländer hatten ebenfalls einige Männer verloren, den Kampf aber gewonnen, und ihre zahlenmäßige Überlegenheit schmälerte ihren Triumph nicht. Die Dänen hatten einen Sieg erwartet, doch stattdessen waren sie ohne die dringend benötigten Nahrungsmittel in die Flucht geschlagen worden. Solchermaßen gedemütigt worden zu sein, erschütterte die gesamte Armee, die sich nicht einmal hatte vorstellen können, von Engländern geschlagen zu werden.
Wir hungerten noch nicht, aber das Heu für die Pferde wurde knapp, und wir waren gezwungen, Wintergras zu schneiden, wozu auch wir, Rorik, Brida und ich, aufgefordert wurden. Als wir am Tag nach AEthelwulfs Überfall mit mehreren Gruppen den schützenden Wall hinter uns ließen und ausschwärmten, um mit langen Messern Gras zu schneiden und das armselige Futter in Säcke zu stopfen, griff die Armee der Westsachsen an.
Von AEthelwulfs Sieg ermutigt, fiel das gesamte Feindesheer über Readingum her. Zuerst hörte ich nur Schreie aus westlicher Richtung, dann sah ich, wie galoppierende Reiter zwischen den Gruppen, die Gras schnitten, mit ihren Schwertern und Speeren niedermachten, was ihnen in die Quere kam. Wir drei rannten Hals über Kopf davon. Hinter mir hörte ich Hufschlag, warf einen Blick zurück und sah einen der Reiter mit erhobenem Speer Jagd auf uns machen. Ich war sicher, dass einer von uns sterben würde, und zerrte Brida an der Hand zur Seite. In diesem Moment traf ein Pfeil, vom Wall abgeschossen, den Reiter ins Gesicht, und er drehte blutend ab. Andere, die mit uns Gras gesammelt hatten, hasteten, von den Reitern der Westsachsen verfolgt, in Todesangst auf die Brücken zu. Auch wir rannten weiter und durchquerten, halb watend, halb schwimmend, den Graben, an dessen Rand uns zwei Männer aus dem modrigen, kalten Wasser zogen und über den Wall hievten.
Draußen herrschte Durcheinander. Die Grassammler drängten sich auf den Brücken und wurden gnadenlos niedergemacht. Dann tauchten die westsächsischen Fußtruppen auf. Zahllose Kämpfer kamen aus dem nahen Wald und schwärmten über das Feld aus. Ich rannte zum Haus, in dem Ragnar Quartier bezogen hatte, gürtete mich mit Schlangenhauch, den ich unter Kleidern versteckt hatte, und machte mich auf die Suche nach Ragnar. Ich fand ihn und seine Männer auf dem Wall vor der Brücke, die der Temes am nächsten lag. Brida war mir gefolgt. Ich sagte: «Geh zurück und kümmere dich um Rorik.» Rorik hatte nach dem kalten Bad im Graben am ganzen Leib zu zittern angefangen und fühlte sich so elend, dass ich ihm geraten hatte, im Haus zu bleiben.
Brida hörte nicht auf mich. Sie hatte sich mit einem Speer bewaffnet und war außer sich vor Erregung, obwohl noch nichts weiter geschah. Auf unserer Seite des Brückentors liefen immer mehr Männer zusammen. Ragnar starrte auf das Feld hinaus und brüllte, nach einem Blick auf seine Männer, «Holt eure Schilde!», denn viele Männer hatten sich in aller Hast nur mit Schwertern und Speeren bewaffnet. Auch ich hatte keinen Schild, sollte aber auch gar nicht hier sein, und Ragnar bemerkte mich nicht.
Er sah, wie die letzten unserer Grassammler von westsächsischen Reitern abgeschlachtet wurden. Auch von der Gegenseite fielen einige, von unseren Pfeilen getroffen, doch weder wir noch die Engländer hatten viele Bogenschützen. Bogenschützen sind nützlich. Sie können aus großer Entfernung töten, und selbst, wenn sie nicht treffen, machen sie den Feind doch nervös. Unter dem Beschuss von Bogenschützen ist der Angreifer blind, weil er hinter seinem Schild in Deckung gehen muss. Aber es ist eine hohe Kunst, mit Pfeil und Bogen zu kämpfen. Es sieht einfach aus, und jedes Kind hat einen Bogen und ein paar Pfeile. Aber der Bogen eines Mannes, ein Bogen, mit dem man einen Hirsch aus hundert Schritt Entfernung töten kann, ist schweres Gerät, aus Eibenholz geschnitzt. Ihn zu spannen erfordert sehr viel Kraft, und nur wer unablässig übt, bringt seine Pfeile zuverlässig an ihr Ziel. Deshalb hatten wir nie mehr als eine Hand voll
Bogenschützen. Ich habe nie einen Bogen zu beherrschen gelernt. Im Umgang mit Speer, Axt oder Schwert war ich tödlich, aber mit einem Bogen war ich wie die meisten Männer unnütz.
Ich frage mich manchmal, warum wir nicht hinter unserem Wall geblieben sind. Er war so gut wie fertig gestellt. Um ihn zu erreichen, hätte der Feind den Graben oder die Brücken überqueren müssen, und zwar unter einem Hagel von Pfeilen, Speeren und geschleuderten Äxten. Er wäre mit Sicherheit zurückgeschlagen worden, hätte uns dann aber wahrscheinlich belagert und auszuhungern versucht. Daher beschloss Ragnar den Angriff. Und nicht nur er. Während Ragnar seine Kämpfer am Nordtor sammelte, tat Halfdan am Südwall das Gleiche, und als beide der Ansicht waren, genügend Männer beisammenzuhaben, ließen sie die Tore öffnen.
Das Heer der Westsachsen, noch an die zweihundert Schritt entfernt, rückte unter seinem großen Drachenbanner auf die beiden mittleren Brücken vor. Offensichtlich glaubten die Männer, das Gemetzel an unseren Grassammlern sei bloß der Vorgeschmack auf ein noch größeres Blutbad gewesen. Sie hatten keine Leitern bei sich, und wie sie den neu errichteten Wall überqueren wollten, weiß ich nicht. Aber manchmal macht sich in der Schlacht eine Art Wahnsinn breit, und Männer handeln ohne Vernunft. Die Männer aus Wessex hatten keinen vernünftigen Grund, sich auf die Mitte unseres Walls auszurichten, zumal sie nicht darauf hoffen konnten, ihn zu überwinden, und sie taten es dennoch. Nun schwärmten unsere Männer aus den äußeren Toren und griffen sie von beiden Seiten an.
«Schildwall!», brüllte Ragnar. «Schildwall!»
Ein Schildwall schließt sich mit unverkennbaren Geräuschen. Die Schilde - aus Lindenholz, wenn sie gut sind, anderenfalls aus Weide - schlagen krachend aneinander. Die linke Seite überlappt die rechte des Nebenmannes, damit der Gegner, der sein Schwert gewöhnlich rechtshändig führt, auf zwei Holzschichten prallt.
«Eng zusammenschließen!», rief Ragnar. Er stand im Zentrum seines Schildwalls, unmittelbar vor der Standarte mit der zerrupften Adlerschwinge. Er war einer der wenigen Männer mit kostbarem Helm, der ihn dem Gegner als Anführer verriet, als einen Mann, den es schnell zu töten galt. Ragnar trug nach wie vor den Helm meines Vaters, den von Ealdwulf geschmiedeten Kopfschutz mit Visier und Silberschmuck. Außerdem trug er ein Kettenhemd, auch diese Kostbarkeit besaßen nur wenige Männer. Die meisten hatten sich mit Leder gewappnet.
Der Feind wandte sich gegen uns und formierte sich ebenfalls zu einem Schildwall. Ich sah eine Reitergruppe in der Mitte des Heeres hinter dem Drachenbanner Aufstellung nehmen und entdeckte unter ihnen einen rothaarigen Mann, in dem ich Beocca wieder zuerkennen glaubte. Wenn ich richtig gesehen hatte, würde auch Alfred da sein, womöglich in der Schar schwarz gekleideter Priester, die zweifellos um unseren Tod beteten.
Der gegnerische Schildwall war länger als unserer. Er war nicht nur länger, sondern auch breiter, denn während unserer aus drei Reihen von Männern bestand, war ihr Wall aus fünf oder sechs Reihen gebildet. Vernünftigerweise hätten wir entweder die andere Seite angreifen lassen oder, besser noch, uns hinter unseren Wall zurückziehen sollen. Doch es eilten immer mehr Kämpfer herbei, um unsere Reihen zu verstärken, und außerdem war Ragnar nicht in der Stimmung für vernünftige Überlegungen. «Tötet sie!», brüllte er. «Tötet sie!» Mit diesem Schlachtruf trieb er seine Formation vorwärts. Die Dänen folgten ihm mit lautem Gebrüll. Gewöhnlich stehen sich Schildwälle lange Zeit abwartend gegenüber. Die Kämpfer drohen der jeweils anderen Seite, beleidigen den Feind und versuchen, sich selbst Mut zu machen für diesen schrecklichen Moment, in dem Holz auf Holz prallt und die Klingen aufeinander schlagen.
Anzugreifen war wider alle Vernunft, doch Ragnar kannte kein Halten. Er kochte vor Wut, und sein Stolz war gekränkt, zum einen durch AEthelwulfs Sieg, zum anderen durch den Überfall der Reiter auf uns, die wir Pferdefutter hatten beschaffen sollen. Es drängte ihn, zurückzuschlagen, und irgendwie steckte er alle anderen mit seiner unbändigen Wut an, sodass unsere Reihen brüllend vorwärts stürmten.
Kurz bevor die Schilde aufeinander prallten, schleuderten unsere Männer aus der hinteren Reihe ihre Speere. Einige hatten sich mit drei oder vier Speeren bewaffnet, und sie warfen nun einen nach dem anderen über die Köpfe der vor ihnen stehenden Mitstreiter. Auch von der Gegenseite flogen Speere. Ich packte einen, der neben mir in den Boden gefahren war, und schleuderte ihn, so fest ich nur konnte, zurück.
Ich war von den Männern, die fanden, dass ich ihnen im Weg stand, in die hinterste Reihe geschoben worden, aber ich rückte zusammen mit Brida, die übermütig grinste, weiter mit ihnen vor. Ich hatte sie aufgefordert, in die Stadt zurückzukehren, doch sie zeigte mir nur ihre Zunge. Dann hörte ich das Krachen, als die Schilde einem hölzernen Gewitter gleich aufeinander prallten. Sofort darauf folgten die dumpfen Schläge der Speere auf Holz und das
Klirren der Schwerter. Ich war nicht groß genug, um etwas sehen zu können, und wurde mit den anderen bald zurückgeworfen, bald nach vorn gerissen. Die rechte Seite unseres Schildwalls drohte nachzugeben, doch die Verstärkung kam, bevor der Gegner den Vorteil für sich nutzen konnte. Die Westsachsen, die auf dieser Seite kämpften, stammten aus den hinteren Reihen ihres Heeres, wo immer die zaghaftesten und schwächsten Männer stehen. Der heftigste Kampf war vor mir entbrannt. Ich hörte eiserne Schildbuckel auf Holz schlagen, Klingen auf Schilde, stampfende Schritte, Waffenklirren und vereinzelte Schreie. Brida hatte sich auf alle viere fallen lassen und kroch zwischen den Beinen der Männer nach vorn. Ich sah, wie sie mit dem Speer gegen die ungeschützten Füße des Gegners ausholte. Sie stach zu, traf ein Fußgelenk, ein Bein strauchelte, eine Axt fiel zu Boden, und plötzlich klaffte eine Lücke in der feindlichen Reihe. Unsere Reihe drängte weiter vor. Ich folgte, benutzte Schlangenhauch wie eine Pike und stach auf die Stiefel der Engländer ein. Plötzlich war von Ragnar ein mächtiges Brüllen zu hören, ein Schrei, um die Götter in den großen Hallen des Asgard aufhorchen zu lassen, und ein Schrei, um unsere Männer zu noch wilderem Einsatz anzustacheln. Schwerthiebe und Axtschläge gingen auf den Feind nieder, und ich spürte, wie er vor der Wut der Nordmänner zurückschreckte. Herr, erlöse uns.
Es floss Blut in solchen Mengen, dass es den Boden aufweichte. Unser Schildwall stieg über Gefallene hinweg und ließ mich mit Brida zurück. Ihre Hände waren rot, weil Blut über den langen Eschenschaft ihres Speers rann. Sie sah mich an, leckte das Blut auf und lächelte viel sagend. Halfdans Männer bedrängten die Flanke des Feindes. Dort war der Schlachtenlärm jetzt lauter als bei uns, da die unmittelbaren Gegner Ragnars den Rückzug antraten. Nur einer, ein großer, kräftiger Mann, hielt stand. Er trug ein Kettenhemd, ein Waffengehänge aus rotem Leder und einen Helm, der selbst den von Ragnar noch an Pracht überbot und wie eine Krone gestaltet war, auf der ein silberner Eber prangte. Das könnte König AEthelred sein, dachte ich, obwohl dieser Mann größer war. Ragnar hielt seine Männer mit einem Ruf zurück und schwang sein Schwert gegen den Feind mit dem Eberhelm, der den Hieb mit dem Schild parierte und seinerseits zuschlug. Doch auch Ragnar hatte seinen Schild gehoben und rammte ihn dem Widersacher so wuchtig vor die Brust, dass der Mann zurücktaumelte und über einen Gefallenen stürzte. Ragnar holte mit seinem Schwert aus, als wolle er einen Ochsen töten, und die Klinge fuhr auf das Kettenhemd des am Boden liegenden Gegners nieder.
Eine Gruppe von englischen Kämpfern eilte ihrem Herrn zur Seite, doch sofort waren ebenso viele Dänen zur Stelle, Schild an Schild, und Ragnar versetzte dem Gestürzten mit einem gellenden Triumphschrei den Todesstoß. Mit einem Mal widersetzte sich uns niemand mehr. Wer nicht tot oder verwundet war, rannte davon, allen voran ihr König, der Prinz und die Priester zu Pferde. Wir johlten und brüllten ihnen unseren Spott hinterher, hießen sie Duckmäuser und Feiglinge, die wie Mädchen kämpften.
Und dann warteten wir, bis unser Atem wieder ruhig ging, ruhten uns aus auf diesem Feld voller Blut und voller Leichen. Nun fiel Ragnars Blick auf mich und Brida. «Was tut ihr hier?», fragte er und lachte.
Statt zu antworten, zeigte Brida ihm ihren bluttriefenden Speer, und Ragnars Augen wanderten weiter zu
Schlangenhauch, und er sah die rot verschmierte Klinge. «Narren», schalt er uns liebevoll. Und dann brachte einer unserer Männer einen gefangenen Westsachsen, um ihm den Herrn zu zeigen, den Ragnar erschlagen hatte. «Wer ist das?», verlangte Ragnar zu wissen. Ich übersetzte für ihn.
Der Engländer bekreuzigte sich. «Das ist Aldermann AEthelwulf», antwortete er. Mir verschlug es die Sprache. «Was hat er gesagt?», fragte Ragnar. «Es ist mein Onkel», sagte ich.
«AElfric?» Ragnar war überrascht. «AElfric von Northumbrien?»
Ich schüttelte den Kopf. «Der Bruder meiner Mutter», erklärte ich, « AEthelwulf von Mercien.» Ob er es tatsächlich war, konnte ich nicht wissen. Vielleicht gab es noch einen anderen AEthelwulf von Mercien. Trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass es sich um meinen Oheim handelte, den Mann, der über die Grafen Sidroc gesiegt hatte. Ragnar sah die Niederlage des vorausgegangenen Tages gerächt und jubelte vor Freude, während ich in das tote Gesicht starrte. Ich hatte ihn nie gekannt. Warum also war ich traurig? Er hatte ein schmales Gesicht, helles Barthaar und einen gestutzten Schnauzbart. Ein gut aussehender Mann, dachte ich. Und er gehörte zu meiner Familie. Gleichzeitig erschien es mir seltsam, da ich außer Ragnar, Ravn, Rorik und Brida keine Familie kannte.
Ragnar forderte seine Männer auf, die Waffen des Toten sowie den kostbaren Helm an sich zu nehmen, und ließ, weil der Aldermann so tapfer gekämpft hatte, dem Leichnam seine übrige Bekleidung. Schließlich legte er ihm ein Schwert in die leblose Hand, damit seine Seele in die große
Halle einziehen könne, in der alle tapferen Kämpfer an Odins Seite feierten.
Vielleicht haben sich die Walküren tatsächlich seiner Seele erbarmt, denn als wir den Toten am nächsten Morgen begraben wollten, war der Leichnam von Aldermann AEthelwulf verschwunden.
Sehr viel später hörte ich, dass es sich um meinen Onkel gehandelt hatte. Und dass ein paar seiner Männer in jener Nacht auf das Feld geschlichen waren, seine Leiche gesucht und anschließend für ein christliches Begräbnis in seine Heimat gebracht hatten.
Und vielleicht stimmt das auch. Aber vielleicht feiert er auch an Odins Seite in der großen Halle.
Jedenfalls hatten wir die Westsachsen in die Flucht geschlagen, und wir hatten immer noch Hunger. Also war es an der Zeit, die Vorräte des Feindes zu rauben.
Warum habe ich für die Dänen gekämpft? Jeder Lebensabschnitt wirft Fragen auf, doch diese quält mich immer noch, obwohl sie nicht schwer zu beantworten ist. Meine andere Wahl wäre gewesen, in irgendeinem Kloster zu sitzen und lesen zu lernen. Da hätte wohl jeder Junge lieber für den Teufel gekämpft, als Buchstaben auf Schiefer- oder Ton tafeln zu kratzen. Außerdem war da Ragnar, den ich liebte. Er schickte seine drei Schiffe über die Temes, um in mercischen Dörfern Heu und Hafer zu beschaffen, und sie fanden auch genügend, sodass die Pferde wieder bei Kräften waren, als unser Heer weiter gen Westen zog.
Es ging auf AEbbanduna zu, eine weitere an der Temes gelegene Grenzstadt zwischen Wessex und Mercien, in der die Westsachsen, so einer unserer Gefangenen, einen Großteil ihrer Vorräte gelagert hatten. Wenn es uns gelänge, AEbbanduna einzunehmen, wäre das Heer von AEthelred ohne Proviant, Wessex würde fallen, England verschwinden und Odin triumphieren.
Es kam jetzt nur noch auf die Kleinigkeit an, das westsächsische Heer vernichtend zu schlagen. Nach der Schlacht von Readingum marschierten wir vier Tage lang, ohne dass uns feindliche Truppen zu Gesicht kamen, und wir wähnten uns schon am Ziel. Rorik war wieder einmal krank und in Readingum geblieben, ebenso wie viele Geiseln, darunter die mercischen Zwillinge Ceolberht und Ceolnoth, über die eine kleine Truppe wachte, die auch unsere kostbaren Schiffe beschützen sollte.
Alle anderen marschierten zu Fuß oder ritten. Ich hielt mich in der Gruppe der älteren Jungen auf, die das Heer begleitete. Unser Kampfauftrag bestand darin, in der Schlacht zerschlagene Schilde gegen neue auszutauschen. Immer wieder standen unversehens Kämpfer in den vorderen Reihen, die anstelle eines Schildes nur noch den eisernen Buckel und ein paar herabhängende Holzsplitter in der Hand hielten. Auch Brida zog in unserem Tross mit, sie saß hinter Ravn auf dem Pferd, und ich lief häufig neben ihnen her. Ravn formulierte an den ersten Versen eines Gedichts mit dem Titel «Der Fall der Westsachsen», worin er die Namen unserer Helden anführte und beschrieb, wie sie sich zum Kampf rüsteten. Irgendwann schloss einer dieser Helden, der düstere Graf Guthrum, auf seinem Pferd reitend, zu uns auf. «Ihr seht gut aus», sagte er zu Ravn und schlug einen Tonfall an, der eine ungünstige Wendung verhieß.
«Ihr seht, was ich nicht sehe», antwortete Ravn. Er liebte es, mit Worten zu spielen.
Guthrum, in einen schwarzen Umhang gehüllt, schaute über das Flusstal, das auch jetzt, obwohl es Winter war, in einem satten Grün leuchtete. «Wer wird wohl der nächste König von Wessex sein?», fragte er.
«Halfdan vielleicht?», antwortete Ravn verschmitzt.
«Ein so großes Königreich würde besser von einem älteren Mann regiert», knurrte Guthrum. Und mit säuerlichem Blick auf mich fragte er: «Wer ist das?»
«Ihr vergesst, dass ich blind bin», sagte Ravn, «also, wer ist wer? Oder fragt Ihr, welcher ältere Mann König werden sollte? Ich vielleicht?»
«Nein, nein! Der Junge, der Euer Pferd führt. Wer ist das?»
«Graf Uhtred», antwortete Ravn. «Er weiß, dass die Dichter so bedeutend sind, dass ihre Pferde von echten Grafen geführt werden müssen.»
«Uhtred? Ein Sachse?»
«Ich bin Däne», entgegnete ich.
«Ein Däne, der in Readingum sein Schwert mit sächsischem Blut benetzt hat, Guthrum», fügte Ravn hinzu, um Guthrum daran zu erinnern, dass seine schwarz gekleideten Männer nicht vor dem Wall gekämpft hatten.
«Und wer ist das Mädchen?»
«Brida», antwortete Ravn. «Sie wird eines Tages ein Skalde und eine Zauberin sein.»
Guthrum wusste darauf nichts zu sagen. Er starrte finster auf die Mähne seines Pferdes und kam dann wieder auf seine erste Frage. «Will Ragnar König werden?»
«Ragnar will kämpfen», sagte Ravn. «Mein Sohn hat keine hohen Ansprüche. Ihm reicht es, zu scherzen, Rätsel zu lösen, sich zu betrinken, Armreife zu verleihen, mit Frauen zu schlafen, gut zu essen und dereinst bei Odin zu sitzen.»
«Wessex braucht eine starke Führung», meinte Guthrum, «einen Mann, der zu regieren versteht.»
«Klingt nach einem Ehegemahl», erwiderte Ravn.
«Wir nehmen ihre Festungen ein, kümmern uns aber kaum um den Rest des Landes», bemängelte Guthrum. «Selbst Northumbrien ist nur zur Hälfte besetzt, und aus Mercien kommen Wessex Männer zu Hilfe, die eigentlich auf unserer Seite stehen müssten. Wir siegen zwar in der Schlacht, führen unseren Kampf aber nicht zu Ende.»
«Und wie sollten wir das Eurer Meinung nach tun?», fragte Ravn.
«Mit mehr Männern, mehr Schiffen und mehr Toten.» «Mehr Toten?»
«Alle umbringen», sagte Guthrum mit scharfer Stimme. «Samt und sonders. Keiner soll verschont bleiben.»
«Nicht einmal die Frauen?», fragte Ravn.
«Allenfalls ein paar von den jüngeren.» Guthrum warf mir einen missbilligenden Blick zu. «Was gaffst du so, Junge?»
«Ich betrachte Euren Knochen, Herr», sagte ich und deutete auf seinen sonderbaren Haarschmuck.
Er griff mit der Hand danach. «Das ist eine Rippe meiner Mutter», erklärte er. «Sie war eine gute Frau, eine wundervolle Frau, und sie begleitet mich, wohin ich auch gehe. Auf sie, Ravn, solltet Ihr einmal ein Lied dichten. Ihr kanntet sie doch, nicht wahr?»
«O ja», antwortete Ravn. «Ich kannte sie sehr gut und furchte deshalb, dass meine Dichtkunst nicht ausreicht, um diese großartige Frau angemessen würdigen zu können.»
Sein Spott erreichte Guthrum den Unglücklichen nicht. «Ihr könntet es versuchen», sagte er. «Für ein gelungenes Lied würde ich Euch eine Menge Gold geben.»
Der ist verrückt, dachte ich, verrückt wie eine Eule am
Mittag. Doch dann vergaß ich ihn, denn vor uns stand das Heer von Wessex und forderte uns zum Kampf heraus.
Das Drachenbanner von Wessex wehte über der Kuppe eines lang gezogenen, flachen Hügels, auf den unsere Straße zuführte. Unser Ziel, die Ortschaft AEbbanduna, lag hinter diesem Hügel, der zur Temes hin abfiel. An ihrem Ufer verlief ein Pfad, der sich als Umgehung anbot. Um uns aufzuhalten, hätte der Gegner vom Hügel herabsteigen und uns auf flachem Gelände angreifen müssen.
Halfdan rief die dänischen Anführer zusammen. Sie berieten sich lange, konnten aber offenbar zu keiner Einigung finden. Die einen wollten geradewegs auf den Feind zumarschieren, während andere empfahlen, die Westsachsen auf den flachen Uferweiden zu bekämpfen. Am Ende setzte sich Guthrum der Unglückliche mit dem Vorschlag durch, unser Heer aufzuteilen und beides zu tun, was ich für eine kluge Idee hielt. Ragnar, Guthrum und die beiden Grafen Sidroc sollten den Uferweg einschlagen und den vom Feind gehaltenen Hügel umgehen, während Halfdan mit Harald und Bagseg den Hügel zu erstürmen versuchte. Der Feind würde zögern, Ragnar anzugreifen, weil er fürchten musste, zwischen zwei Fronten zerrieben zu werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er, wie Ragnar mutmaßte, dem Kampf ausweichen und sich nach AEbbanduna zurückziehen, wo wir ihn dann belagern könnten. «Besser, sie sind in einer Festung eingepfercht, als dass sie frei umherziehen», sagte er gut gelaunt.
«Noch besser wäre es, wir blieben zusammen», entgegnete Ravn trocken.
«Mit den Westsachsen werden wir allemal fertig», spottete Ragnar.
Es war schon nach Mittag und der Wintertag kurz, sodass nicht mehr viel Zeit blieb, doch glaubte Ragnar, AEthelreds Truppen bis zur Dämmerung niedergerungen zu haben. Die Männer berührten ihre Glücksbringer, küssten ihre Schwertgriffe und Schilde und marschierten los. Wir stiegen ans Flussufer ab und folgten ihm, halb verdeckt von kahlen Bäumen. Immer wieder warf ich einen Blick auf den Hügel und sah Halfdans Männer gegen die Westsachsen vorrücken. Sie hielten ihre Stellung, und es schien, dass Guthrums Plan aufgehen würde. «Wir steigen von der anderen Seite auf den Hügel, und dann sitzen die Bastarde in der Falle», sagte Ragnar. «Keiner soll überleben!»
«Doch. Wenigstens einer», sagte Ravn.
«Einer? Warum?»
«Natürlich, damit er davon erzählt. Schau dich nach ihrem Barden um. Er muss gut aussehen. Mach ihn ausfindig und lass ihn am Leben.»
Ragnar lachte. Wir waren, glaube ich, an die achthundert Mann und nicht ganz so zahlreich wie die von Halfdan angeführte Truppe. Das feindliche Heer war vermutlich etwas stärker als unsere beiden Verbände zusammen. Während wir jedoch allesamt erfahrene Krieger waren, bestand der westsächsische Fyrd zum großen Teil aus Bauern, die man zum Kampf gezwungen hatte. Wir waren vollkommen siegessicher.
Dann, als unsere ersten Männer aus einem Eichenwald kamen, erkannten wir, dass der Feind unserem Beispiel gefolgt war und seine Armee in zwei Hälften aufgeteilt hatte. Eine erwartete Halfdan auf dem Hügel, die andere war uns entgegen gezogen.
Alfred führte unsere Gegner: Das wusste ich, als ich Beoccas rotes Haar entdeckte. Später, während des Kampfes, sah ich auch das lange, sorgenvolle Gesicht Alfreds. Sein Bruder, König AEthelred, war auf der Hügelkuppe geblieben, und statt auf Halfdans Angriff zu warten, rückte er selbst vor. Die Sachsen schienen den Kampf unbedingt zu wollen.
Also sollten sie ihn bekommen.
Unsere Truppen nahmen in Keilformation Aufstellung, um den gegnerischen Riegel zu sprengen. Wir beteten zu Odin, brüllten unseren Kriegsruf und griffen an. Doch die Reihen der Westsachsen hielten stand, und so kam es zur erbitterten Schlacht.
Das Schicksal ist, wie Ravn immer wieder betont hat, unausweichlich. Am Fuß des Schicksalsbaumes sitzen die drei Nornen und entscheiden über unser Leben. Wir glauben zwar, frei wählen zu können, doch in Wahrheit spielen sie mit uns. An diesem Tag gefiel es ihnen, in mein Leben einzugreifen und ihm eine neue Wendung zu geben. Wyrd bid ful äraed, alles ist dem Schicksal unterworfen.
Was wäre über jene Schlacht zu sagen, die, wie die Westsachsen später berichteten, an AEscs Hügel stattgefunden hat? Ich vermute, AEsc war der Thegn, dem die Felder gehörten, die an diesem Tag mit Schwertern gepflügt und mit Blut und Knochen gedüngt wurden. Die Barden mögen in zahllosen Versen beschreiben, was sich dort zugetragen hat, doch jede Schlacht ist im Grunde wie die andere. Männer sterben. Im Schildwall herrschen Schweiß, Grauen, Krampf, halbe Treffer, ganze Treffer, Schreie und der Tod.
Es gab, genauer gesagt, zwei Schlachten, nämlich eine oben auf AEsc Hügel, die andere am Flussufer, und beide waren schnell entschieden. Harald und Bagseg fielen, Sidroc der Altere sah seinen Sohn sterben und wurde wenig später selbst getötet, so auch die Grafen Osbern und Fraena mit vielen anderen guten Kämpfern. Die Christenpriester erflehten von ihrem Gott Kraft für ihre Schwerter, und an diesem Tag schlief Odin, aber der Christengott war wach.
Wir wurden zurückgeschlagen, sowohl auf dem Hügel als auch im Tal, und nur der Erschöpfung des Feindes war es zu verdanken, dass wir nicht alle fielen und einige fliehen konnten. Zu den vielen Opfern gehörte auch Toki, Ragnars Schiffsmeister, der so geschickt mit dem Schwert hatte kämpfen können. Er starb in dem Graben vor Alfreds Schildwall. Ragnar, das Gesicht und das offene Haar voller Feindesblut, konnte es nicht fassen. Die Westsachsen triumphierten.
Sie hatten wie Besessene gekämpft, wie Männer, die genau wussten, dass die Zukunft ihres Landes von diesem Winternachmittag abhing. Und sie hatten uns besiegt.
Alles ist dem Schicksal unterworfen. Geschlagen kehrten wir nach Readingum zurück.