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„In Ordnung, Jeff“, sagte Dr. Carbo, während der Junge auf der Couch festgeschnallt wurde. Carbos rundes, dunkles Gesicht war ernst, besorgt. Selbst seine Augen lächelten nicht.

„Du hast nun viermal hintereinander Kontakt mit dem Katzenwolf aufgenommen. Das ist ausgezeichnet. Jetzt wollen wir sehen, ob du das Tier auch unter Kontrolle bekommen kannst, wenn…“

„Crown“, warf Jeff ein. „Er heißt Crown.“

„Du hast ihm einen Namen gegeben?“

„Das ist sein Name; ich habe ihn ihm nicht gegeben.“

Dr. Carbo blickte einen Augenblick lang mit belustigter Miene auf Jeff hinunter. Dann fuhr er fort: „Okay, er heißt also Crown. Heute wollen wir feststellen, ob du Crown dazu bewegen kannst, für uns ein bißchen auf Kundschaft zu gehen. Wir suchen eine Tierart, die uns helfen kann, die Geräte zu reparieren, die wir auf dem Planeten zurückgelassen haben…“

Er sprach weiter; seine Stimme klang sehr ernst. Amanda und Lee, die zweite Technikerin, waren eifrig damit beschäftigt, all die Kabel und Kontakte zusammenzustecken, die Jeff mit der für das Experiment notwendigen elektronischen Ausrüstung des Laboratoriums verbanden.

Endlich waren sie fertig. Jeff streckte sich bequem aus und schloß die Augen. Dr. Carbo stand neben Amanda und beobachtete den Jungen, der sich entspannte, als ob er einschlafen wollte. Dann begannen sich Jeffs Augen hinter den geschlossenen Lidern schnell hin und her zu bewegen. Seine Hände griffen in die Luft. Sein Kopf zuckte und warf sich zur Seite.

Auf der großen Kontrolltafel begannen sich die Spulen mit den Aufzeichnungsbändern zu drehen. Der Bildschirm erwachte zum Leben und zeigte die Szene auf dem Hügel, die mittlerweile allen schon recht vertraut war.

„Er hat den Kontakt hergestellt“, flüsterte Dr. Carbo.

Amanda machte eine kleine Bewegung, die wie ein Kopfschütteln aussah. „Man hat den Eindruck, als ob er Schmerzen hätte.“

„Keine Spur von Schmerz auf den Monitoren“, entgegnete Dr. Carbo.

„Ich weiß, aber es sieht so aus…“

„Es macht ihm Spaß. Er ist ein Held… jeder Junge möchte gern ein Held sein.“

„Das kann schon sein. Doch er verliert an Gewicht. Haben Sie das bemerkt?“

„Ungefähr ein Kilo. Kein Grund zur Besorgnis.“

„Ich mache mir aber Sorgen“, sagte Amanda.

Crown wachte sofort auf. Nicht daß er jemals fest schlief. Ein Katzenwolf hat keine echten natürlichen Feinde, aber dennoch lauern überall Gefahren: eine hirnlose Schlange, ein Rudel hungriger Aasräuber, ein anderer Katzenwolf, der ihm den Gipfel streitig machen wollte.

Er stellte sich auf seine sechs Beine und streckte sich wie ein Panther, bevor er unter dem Felsvorsprung hervortrottete, wo er die Nacht verbracht hatte. Im milden, diffusen Licht des frühen Morgens hielt er Ausschau vom Gipfel seines Hügels.

Der Wald lockte mit seinen nahrhaften Düften.

Nein, nicht zum Wald. Nach Osten, über das Grasland, der aufgehenden Sonne entgegen.

Crown grunzte. Die Nahrung war im Wald, doch auch im Grasland gab es vielleicht Nahrung. Er hatte sich am Tag zuvor satt gefressen. Der Hunger konnte warten. Zumindest eine Weile.

Dennoch kam es ihm merkwürdig vor, daß er sein angestammtes Jagdrevier im Stich lassen, daß er seinen Berg und Wald verlassen sollte. Nachdem er noch einmal über die Schulter zurückgeblickt hatte, stampfte er den Abhang hinab und auf das grasbewachsene offene Land zu, das sich bis zum Horizont und zur Morgensonne ausdehnte.

Er schafft es! Er hat das Biest unter Kontrolle!

Aus dem Grasland stiegen neue Gerüche auf. Seltsame Gerüche. Das Gelände war ziemlich eben; nur sanfte Bodenwellen unterbrachen hin und wieder die Monotonie. Bäume gab es hier nicht, allerdings vereinzelte schulterhohe Büsche, und das Gras selbst reichte Crown bis zu den Knien. Es ging ein starker Wind. Da die Böen keinen Widerstand fanden, ächzten sie nicht mehr, sondern sie zischten und brüllten, als sie Crowns Fell peitschten und das Gras in Wellen niederbeugten, die er vom Horizont bis zu der Stelle, wo er ging, verfolgen konnte.

Als der Morgen halb vorüber war, begann der Hunger in Crowns Eingeweiden zu wühlen. Doch nirgends wollte sich ein Beutetier zeigen. Die Luft war erfüllt von Gerüchen, aber Crown konnte kein einziges Tier sehen.

Er hielt inne und drehte den Kopf in den Wind. Die nahrungverheißende Witterung war stark und frisch. Doch es roch anders als im Wald. Andere Gerüche. Andere Tiere.

Crown kauerte sich mit dem leeren Bauch flach auf den Boden, so tief, daß sein massiger Leib fast vollständig im Gras verschwand. Nur die reglose graue Biegung seines Rückens erhob sich über die Spitzen der schwankenden Grasbüschel. Unbewegt, furchtlos und kaum atmend, wachte und wartete er.

Graue Wolkenmassen zogen sich über ihm zusammen, niedriger als die ständige Decke aus weichen, perlweißen Wolken. Sie glichen drohenden Fäusten der Finsternis, und sie überzogen die Ebene mit flüchtigen Schattenflecken, als sie vor dem drängenden Wind einhertrieben. Crown betrachtete das Gras, das einmal in helles Tageslicht und dann wieder in dunkle Schatten getaucht war.

Irgend etwas bewegte sich! Ein kleines braunes Pelzknäuel, nur ungefähr so groß wie eine Pranke. Doch immerhin Beute.

Mehr als eines! Ein braunbepelzter Kopf lugte über die Grasspitzen hinweg, schaute sich rasch und nervös um, und die Nase zuckte, als wittere sie Gefahr. Crown lag im Gegenwind, das kleine Tier konnte also seine Witterung nicht aufnehmen. Der Kopf tauchte unter, und ein anderer kam zum Vorschein, ein wenig weiter rechts.

Kein großer Happen, aber besser als gar nichts. Crown wartete, wartete. Die kleinen Geschöpfe tollten im Gras umher und kamen immer näher. Crowns Muskeln spannten sich. Näher…

Mit einem lauten Gebrüll setzte Crown zum Sprung an. Er landete auf einem Tier, tötete es auf der Stelle. Dann sprang er noch einmal und erwischte ein zweites. Das Gras wimmelte plötzlich von den kleinen Tieren, die wie verrückt nach allen Seiten auseinanderstoben. Sie zwitscherten und kreischten, als sie davonrasten, um dem mächtigen, laut dröhnenden Tod zu entgehen, der in ihrer Mitte zugeschlagen hatte.

Crown schoß hierhin und dorthin, um noch ein paar weitere Tiere zu fangen, doch sie entwischten ihm mühelos. Einige flitzten direkt unter seinen Bauch und waren schon wieder außer Reichweite, ehe er sich umdrehen und sie packen konnte. Mehrere Minuten lang hetzte er brüllend, stampfend und springend durch das Gras und erwischte nichts. Es war, als wollte man Wasser mit den Fingern auffangen.

Mit einem letzten Grunzen der Erschöpfung wandte sich Crown wieder den beiden Tieren zu, die er getötet hatte. Keine große Ausbeute für einen Morgen.

Ein Gebrüll, das den Erdboden erbeben ließ, zwang ihn aufzublicken.

Ein riesiger Katzenwolf stand einige Sprungweiten entfernt vor ihm und starrte ihn mit offenem Fang an, in dem die Zähne wie Dolche blitzten. Seine Schnauze war weiß vor Alter, aber sein machtvolles Brüllen und sein gewaltiger Körper zeigten an, daß er noch immer stark war, stärker als Crown.

Doch Crown hatte nicht die Absicht, seine Beute fahrenzulassen, so klein sie auch war. Knurrend stellte er sich dem Eindringling.

Ein zweiter Katzenwolf erhob sich neben dem ersten aus dem Gras. Ein Weibchen. Es knurrte ebenfalls. Und dann ein dritter, auf der anderen Seite des alten Männchens. Auch von hinten drangen Knurrlaute an Crowns Ohr. Er drehte sich um und erblickte zwei weitere Männchen, kleiner und jünger als er. Also fünf gegen einen.

Crown wußte, was das Knurren und Brüllen zu bedeuten hatte. Es ging den fünfen nicht um die Beute. Crown befand sich in ihrem Territorium. Er war der Eindringling. Und diese Familie wollte ihn vertreiben.

Sie schlossen einen Kreis um ihn, während sie ihn aufmerksam beobachteten und fortwährend schnupperten und grunzten. Der Ring zog sich zusammen und wurde mit jedem Schritt enger.

Crown stand über den beiden winzigen Tieren, die er gerissen hatte, und ein rumpelndes Knurren drang aus seiner Kehle. Der Alte blieb stehen und brüllte seine Wut hinaus. Aus einer Entfernung von knapp zehn Metern klang das Gebrüll ohrenbetäubend. Crown packte eines der kleinen Fellbündel und riß aus. Seine Beute mit der rechten Vorderpranke festhaltend, bewegte er sich ungeschickt auf fünf Beinen.

Sie jagten ein paar Minuten lang hinter ihm her. Zufrieden damit, daß er sich aus ihrem Territorium entfernte, ließen sie ihn schließlich laufen und schickten ihm nur noch ein letztes warnendes Gebrüll nach.

Crown fegte über die Grasebene, stieg eine kleine Erhebung empor und hielt dann inne, um sich nach der Katzenwolffamilie umzuschauen. Der alte Rudelführer stand noch immer mit gesträubtem Fell steifbeinig da, das Gesicht Crown zugewandt. Crown ließ ein verärgertes und enttäuschtes Brummen hören und machte sich wieder auf den Weg, nur fort von den anderen Katzenwölfen.

Die Tiere kennen also ein Territorialverhalten. Er wird nirgendwo jagen können, wo andere Katzenwölfe hausen.

Dann muß er sich ein Territorium suchen, wo es keine anderen gibt. Oder sich seihst zum Familienoberhaupt aufschwingen.

Das ist leichter gesagt als getan. Sehr viel leichter.

An dem kleinen Fellbündel war nicht viel dran. Crown verspürte noch immer einen Heißhunger, als er seine Wanderung durch das flache Grasland fortsetzte.

Während er dahinschritt, begann ein Unwetter den Himmel zu verdunkeln. Schwarze Wolken zogen auf, und der Sturmwind heulte und trug Crowns geweiteten Nüstern die Witterung anderer Katzenwolffamilien zu.

Auf seinem Hügel verzog sich Crown unter einem Felsvorsprung oder in eine Höhle, wenn es regnete. In seinem Wald gab es genügend Bäume und Dickichte, unter denen er bei einem Sturm vor dem Schlimmsten geschützt war. Doch hier in der offenen Grasebene konnte er nirgends Unterschlupf finden. Nichts als ein Meer von Gras, das der rasende Wind wütend aufpeitschte.

Ein Blitzstrahl teilte den Himmel in zwei Hälften, und beim nachfolgenden Donnerschlag begann der Regen so dicht und schwer herniederzuprasseln, daß Crown kaum noch weiter sehen konnte als bis zu seiner Schnauzenspitze.

Wieder zuckte ein Blitz! Crown hatte die gezackte Linie eines Blitzes noch nie so nahe, so blendend hell gesehen. Nieder! Leg dich hin, sonst ziehst du den Blitz an. Mit einem unterdrückten Murren, das sehr elend klang, streckte sich Crown in dem nassen, verfilzten Gras aus und ließ den Regen auf sich niedergehen.

Es war nicht nur Regen. Spitzige Eisbrocken trommelten gegen seinen Leib, prallten von den dicken Knochen seines Schädelpanzers ab, drangen sogar durch sein dichtes Fell. Crown wimmerte und knurrte, als die scharfen Hagelkörner ihn wie mit zehntausend Nadeln stachen. Er vergrub seine Schnauze tiefer ins Gras, in den aufgeweichten Boden, nur darauf bedacht, dem Hagel auszuweichen.

Es dauerte nicht viel länger als zehn Minuten, aber diese Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Endlich war der Hagelsturm vorbei, und einige Zeit später ließ auch der Regen nach und hörte schließlich ganz auf. Die Wolken verschwanden jedoch noch nicht, sondern trieben grau und bedrohlich dahin, als ob sie es sehr eilig hätten.

Während des ganzen langen, grauen Nachmittags zog Crown durch das Grasland, hielt sich außer Sichtweite fremder Katzenwölfe, wich auch jedem anderen Tier aus und erstickte den nagenden Hunger, der in seinem Bauch rumorte. Bei Einbruch der Nacht kletterte er mühsam einen sanft ansteigenden Hang empor. Irgendwo in der Nähe hörte er das Rauschen von Wasser. Er witterte eine ausgewachsene Antilope, und dann sah er sie, wie sie, braun und weiß, mit bösartig wirkenden Hörnern und geschmeidigen, schlanken Läufen, dem sprudelnden Bach zustrebte, um zu trinken. Lautlos schoß Crown auf sie zu. Er hetzte ihr nach, als sie davonsprang, holte sie ein und tötete sie mit einer blitzschnellen Bewegung.

Er hatte erst einen kleinen Teil seiner Beute verzehrt, als die anderen Katzenwölfe auftauchten. In der rasch hereinbrechenden Abenddämmerung konnte er ihre drohenden Gestalten ausmachen, und er vernahm ihr warnendes Knurren.

Crown knurrte zurück. Ich habe Hunger! Das ist mein Riß!

Sie kamen langsam auf ihn zu. Er stopfte sich von seiner Beute so viel wie möglich in den Schlund, setzte dann über den Wasserlauf und verzog sich tiefer in den Wald, der die Hänge bedeckte.

Noch immer von Hunger gepeinigt, legte er sich unter einem Baum zum Schlafen nieder. Er träumte von seinem Hügel, seinem Wald, sobald er eingeschlafen war.

„Er schläft tatsächlich“, flüsterte Amanda überrascht, als sie Jeffs schmächtigen Körper ausgestreckt auf der Couch liegen sah.

„Ja“, sagte Dr. Carbo. „Das war ein langer Tag für ihn. Aber wir können das Tier nicht zu lange allein in diesem Hügelland lassen. Nachdem wir soviel in diesen Katzenwolf investiert haben, dürfen wir ihn jetzt nicht verlieren.“

„Sie können doch von dem Jungen nicht erwarten, daß er…“

Carbo bedeutete ihr mit einem Wink zu schweigen. „Hören Sie, wir können ihn schlafen lassen, solange das Tier schläft. Schalten Sie den elektronischen Tranquilizer ein. So kann er sich besser ausruhen als in den Armen seiner Mutter. Und verabreichen Sie ihm intravenös etwas Nahrung. Er muß wieder ganz auf dem Posten sein, wenn das Tier aufwacht.“ Er flüsterte dabei ebenfalls, aber seine Stimme war so scharf, daß das Flüstern beinahe wie ein wütendes Zischen klang.

Amanda verzog das Gesicht. „Das ist keine Art, mit einem Kind umzugehen.“

„Schluß jetzt!“ fauchte Dr. Carbo.

„Es wird Schluß sein, wenn ich es seinen Eltern erzähle. Sie haben schon dreimal angerufen und sich nach ihm erkundigt.“

„Sagen Sie ihnen, daß er über Nacht hier bleibt. Sagen Sie ihnen, wir passen gut auf ihn auf. Um Gottes willen, Amanda, vermasseln Sie jetzt nicht alles! Es steht zuviel auf dem Spiel.“

Wider Willen mußte Amanda lächeln. „Nun regen Sie sich nur nicht so auf. Ich habe den Holmans bereits mitgeteilt, daß Jeff die Nacht hier verbringt. Und ich habe ihnen versichert, daß der gescheite Dr. Carbo und seine getreue Assistentin persönlich für sein Wohlergehen sorgen werden.“

Carbo grinste. „Braves Mädchen! Ich wußte, daß ich auf Sie zählen kann.“

Amanda schüttelte den Kopf und sagte: „Mit dem, was Sie nicht wissen, könnte man ganze Bibliotheken füllen.“

„Okay, okay“, erwiderte er und tätschelte ihre Wangen, die wie schwarze Seide aussahen. „Sie sorgen dafür, daß er es bequem hat und genug zu essen bekommt. Morgen beginnt für uns ein neuer großer Tag. Das Tier müßte um die Mittagszeit beim Camp eintreffen, wenn nichts schiefgeht.“

Carbo eilte durch das Labor, vorbei an der Couch, auf der Jeff schlief, auf die Tür zu.

„Wohin gehen Sie?“ rief Amanda in einem heiseren Flüsterton.

„Zum Essen“, entgegnete er flüsternd, wie ein Schauspieler auf der Bühne. „Wie hätten Sie denn gern Ihr Steak?“

„Mit Ketchup!“

Sie lachte über die Grimasse, die er schnitt.