Kapitel 9: Die Suche
Taylor hatte nicht bedacht, dass es unebenes Terrain war und seine Schuhsohlen mit Schlamm bedeck waren. Durch das extra Gewicht musste er sich deutlich mehr anstrengen. Eine Entfernung, für die er mit einem lockeren Joggen zehn Minuten gebraucht hätte, kostete ihn letztendlich fast zwanzig.
Der Ford stand so da, wie sie ihn verlassen hatten. Er sperrte die Fahrertür auf und nahm die Glock aus seinem Hosenbund bevor auf den Sitz glitt. Er startete das Auto, lauschte dem Motor im Leerlauf und erwägte seine Möglichkeiten. Welche Richtung? Die Straße vor ihm führte in eine Sackgasse; er konnte sehen, wo sie abrupt endete und nichts als Hügel und Wald folgte. Der einzige Weg war, zurückzufahren. Das Auto wenden und die erste Straße rechts nehmen und hoffen, dass sie entweder herumführte oder es Kreuzung gab, die sich mit der kreuzen würde, die Carl und Tina genommen hatten.
Du solltest diese Dinge wissen, dachte er.
Taylor wendete das Auto. Eine halbe Meile später bog er rechts auf eine Straße ein, die schließlich eine graduelle Kurve beschrieb, die ihn nach Norden führte.
Die Straße endete an einer T Kreuzung. Direkt vor der Kreuzung stand ein Schild, das ihn daran hinderte, weiterzufahren. STRASSE GESPERRT: September-April.
Er stieg aus dem Auto.
Das Schild hatte einen schweren Metallboden. Er packte es an der Seite und fing an, es zum Straßenrand zu ziehen, was ihm den Platz gab, darum herum zu fahren.
Oh mann, ich hoffe, es ist so einfach, dachte er.
Carl verlangsamte sein Tempo als er bemerkte, dass Tina zurücklag. Er versuchte das Walkie-Talkie jede Minute oder so und er musste sich beherrschen, nicht zu rennen.
Rennen hätte ihm nichts genutzt.
Angie war irgendwo hier draußen. Und das Wichtigste, sie war am Leben. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus.
Als Tina ihn einholte, sagte sie, “Danke. Du warst zu schnell für mich. Ich konnte nicht mithalten.”
“Schon in Ordnung. Ich glaube, ich bin nur unruhig.”
Die Untertreibung des Jahres, nicht wahr?
“Ich kann es dir nicht verübeln.”
Carl versuchte das Walkie-Talkie wieder. Er empfing ein kurzes statisches Geräusch. Könnte ein gutes Zeichen sein, dachte er.
Er sprach in das Radio. “Angie, wenn du mich hören kannst, wir sind unterwegs. Wenn du kannst, versuche, uns irgendwie ein Signal zu senden. Ich liebe dich, Baby.”
Ein weiteres Statik-Geräusch.
“Glaubst du, das ist sie?”
“Könnte sein. Oder es ist nur statisch.”
Der unbefestigte Weg machte eine Kurve nach links und dann nach rechts. Der Boden war nach und nach weniger schlammig und an manchen Stellen waren die Reifenspuren schwer zu erkennen. Er schätzte, sie waren den Spuren fast eine Meile weit gefolgt, dabe beständig schnell gegangen, außer wenn er Tina ermöglichte, ihn einzuholen.
“Wie weit geht diese Straße?”
“Ein paar Meilen, vermute ich.”
Die Vorstellung, mehrere Meilen zu gehen, war total erschöpfend. Sie hoffte, dass Taylor im Auto sie eher früher als später einholen würde.
“Ich wünschte, sie würde antworten,” sagte Carl. “Dass wir mehr als nur Störgeräusche bekomen. Wir müssen jetzt näher sein, richtig? Also warum funktioniert das Ding dann nicht? Wir hörten sie, als wir am See waren. Warum jetzt nicht?”
“Taylor meinte, es waren irgendwelche Störungen. Sie könnte genau wie wir unterwegs sein.”
“Es hörte sich an, als hätte sie über diese Dinger gesprochen. Darüber, getrennt worden zu sein. Was wenn sie hinter ihr her sind? Was wenn wir zu spät kommen?”
“Wir haben die Dinger zuletzt auf der Interstate gesehen, nicht seit wir hier sind. Das ist gut.”
Der Pfad schien sich zu verengen als sie weitergingen. Riesige Steine zierten die Landschaft.
Im zaghaften Versuch, Carl von seinen Gedanken abzulenken, sagte Tina, “Es ist schön hier oben. Wie lange hast du gesagt ist es her, seit du das letzte Mal hier warst?”
Carl zeigte auf den Boden. “Schau. Hier verlassen die Spuren die Straße. Siehst du? Sie machen eine Kurve und gehen in diese Richtung.”
Soviel zu dieser Idee, dachte Tina.
“Siehst du sie?”
“Ja.”
“Sie müssen zu diesen Felsen da drüben gegangen sein.”
“Könnten sie mit dem Auto da durch? Es sieht rauh aus.”
Carl folgt den Spuren. Der Boden war fest, steinig und mit Blättern bedeckt. Die Spuren wurden schwächer. Nach fünfzig Yards waren sie komplett weg.
“Sie können nicht einfach so verschwunden sein, oder?”
Carl stampfte mit seinem Fuß auf dem Boden auf. Sein Fuß hinterließ keine Markierung.
“Der Boden hat keine Nachgiebigkeit. Nicht wie es näher am See der Fall war. Und es scheint nicht viel zu regnen hier oben. Der Boden ist hart und steinig. Die Reifen haben keine Spuren hinterlassen.
“Was machen wir jetzt?”
“Weiter hier entlang gehen.”
“Wie weit ist es?”
“Vielleicht eine Meile, vielleicht ein bißchen mehr.”
Tina war es als würden ihre Beine jederzeit nachgeben, aber sie marschierte weiter voran.
Es dauerte nicht lange bis er merkte, warum gerade diese Straße geschlossen war. Schlechte Instandhaltung. Taylor dachte, es wahr vermutlich ähnlich einer Fahrt über die mit Krater bedeckte Oberfläche des Mondes. Der Escort hatte Probleme.
Er musste im Kriechtempo fahren. Die Tachonadel bewegte sich irgendwo zwischen fünf und fünfundzwanzig Meilen pro Stunde. Es fühlte sich wie die Ewigkeit an. Taylor war frustriert weil er so langsam fahren musste, während alles in ihm schrie, sich zu beeilen.
Aber da war immer die Realität: wenn er zu schnell fuhr und dabei eines der Schlaglöcher traf, wäre Tinas Auto erledigt.
Ich muss inzwischen nahe am See sein, dachte er. Es war nicht so weit.
Er hoffte, ihn vor sich zu sehen, doch in dieser Gegend standen die Bäume rechts von ihm eng zusammen und es war unmöglich zu sehen, was dahinter war.
Die Straße bog leicht nach rechts. Er umfuhr ein weiteres Schlagloch.
Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Mysterium um das Boot. Es war schwer zu verstehen. Er sah es in Gedanken vor sich, wie es verloren in der Mitte des ruhigen Sees saß. Seine Theorie war falsch. Es gab keinen Beweis, der darauf hinwies, dass es zufällig da hinausgetrieben war.
Gib es zu. Sie haben das Boot verlassen. Das ist die einzige Erklärung.
Es ging gegen alles, was sie über die Tollwütigen wussten. Wenn seine Eltern und Angie durch sie in Gefahr waren, dann wäre der sicherste Ort im Boot gewesen. Die Dinger würden nicht ins Wasser gehen.
Oder sie hatten das Boot absichtlich dort gelassen, damit man das Walkie-Talkie fand. Der See war so klein, ein einzelnes Boot, das in der Mitte trieb, sprang ins Auge wie ein bunter Hund. Hatte sein Vater gewusst, sie würden kommen und sie finden und dass das Boot ihre Aufmerksamkeit erregen würde? War es nicht auch seltsam, dass sich im Boot nichts befand außer das Walkie-Talkie? Fast als wäre es absichtlich dort gelassen worden. Wenn das alles ein Teil des ausgefeilten Planes seines Vaters war, dann hatte es funktioniert.
Der einzige Grund, das Walkie-Talkie zu hinterlassen war zu kommunizieren. Vielleicht hatte sein Vater ein Versteck und das Walkie-Talkie im Boot gelassen um ihnen Direction geben zu können. Seine Eltern und Angie waren irgendwie getrennt worden und Angie hatte das Walkie-Talkie. Soviel hatte er durch Angies Statikgeladene Übertragung herausfinden können.
Diese Gedanken erinnerten ihn an die Dringlichkeit der Sache. Fünfzehn Meilen pro Stunde zu fahren war eine Qual, aber es ging nicht anders. Er konnte es nicht riskieren, ihr einzigstes Transportmittel zu verlieren.
Dann konnte er auf der rechten Seite den See durch die Bäume hindurch sehen. An den Bäumen vorbei konnte er das Boot genau dort sehen, wo sie es gelassen hatten. Die unbefestigte Straße folgte der nördlichen Seite des Sees und bog dann nach links, nach Norden führend. Er musste die Augen zusammenkneifen um die Reifenspuren vom Auto aus erkennen zu können. Er rollte das Fenster herunter.
Ich bin fast da, dachte er.
Das Terrain war steiniger geworden seit sie den Pfad verlassen hatten. Der Boden war felsig und Tinas Slipper waren dünn genug um es scheinen zu lassen als würde sie barfuss über jeden Ast und Felsen gehen. Der Rucksack wurde schwer. Beklage dich nicht. Du hast darum gebeten. Mit einem Sinn für ein Ziel, presste sie ihre Lippen aufeinander und ging weiter, schaute auf Carls Rücken während sie ihm folgte.
Sie hatten sich nicht mehr unterhalten seit sie von der Straßen abgewichen waren. Sie hatte Angst, wenn sie etwas sagen würde, würde sie sich letztendlich nur über den schweren Rucksack und den Zustand ihrer Schuhe beschweren. Sie wollte nicht als wehleidig gelten; sie wollte nicht klingen wie die meisten Mädchen, die sie kannte.
Carl hatte sich verändert seit er Angie über das Walkie-Talkie gehört hatte. Er war ernst und gedankenverloren. Seine Zurückgezogenheit ängstigte sie ein wenig. Er fuhr fort, ins Walkie-Talkie zu sprechen. Er sagte verschiedenen Dinge, aber es war fast als wusste er, dass er nur mit sich selbst redete und es trotzdem tat. Er sagte Dinge wie Es ist in Ordnung, Baby. Ich komme zu dir oder Ich liebe dich so sehr, Süße. Die ständigen Wiederholung der Worte ließ diese zu einer Art Sprechgesang werden, was Tina beunruhigend fand. Besonders da die einzige Antwort ein kurzzeitiges Störgeräusch war.
Teil ihres Studiums war ein Kurs in Psychologie gewesen. Dabei ging es um Sachen wie diese. In gewissen extremen Konditionen konnte der Verstand einer Person so leicht reissen wie man auf einen Zweig tritt. Sie fragte sich, ob das jetzt bei Carl der Fall war.
“Kannst du ein bißchen langsamer gehen?” fragte sie. “Ich kann nicht mithalten.”
Carl antwortete nicht, aber ging langsamer bis sie aufgeholt hatte. Tina trat neben ihn, schaute in sein Gesicht und versuchte, seinen Zustand zu beurteilen. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er hielt das Walkie-Talkie an an seine Lippen und flüsterte etwas hinein.
Bald wird er Stimmen durch das Ding kommen hören, wenn da gar keine sind, dachte sie. Wenn das passiert, muss man vorsichtig sein.
Obwohl sie eine weitere halbe Meile hinter sich gebracht hatten, schienen die sich auftürmenden Felsen genauso weit entfernt und unerreichbar zu sein wie vor zwanzig Minuten. Es ist als ob sie sich von uns fort bewegen.
“Sie scheinen nicht näherzukommen,” sagte sie, versuchte wieder einmal, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, und war es nur um seinen Geisteszustand zu prüfen.
Carl sagte, “Es ist immer so. Aber wir machen Fortschritte. Vertrau mir.” Er erhöhte sein Tempo. “Es ist ein Art Illusion. Du darfst dich nicht auf die Gipfel konzentrieren. Die höchsten sind wirklich die, die am weitesten weg sind. Der Trick ist, die Augen auf den Boden gerichtet zu halten.”
Tina wanderte etwas hinter ihm und schaute konzentriert auf den Boden direkt vor ihr. Die Felsen schienen immer noch weit weg zu sein, aber sie vertraute darauf, dass er wusste wovon er sprach.
“Vielleicht noch eine Meile,” sagte er. “Höchstens. Von hier aus wirkt die Gegend ziemlich offen, aber am Ziel gibt es viele Versteckmöglichkeiten.
“Höhlen?”
“Keine Höhlen. Zumindest nicht das ich wüsste.”
Sie war froh, dass er wieder redete. Es half ihr, ihre Fantasie unter Kontrolle zu halten.
Carl versuchte das Walkie-Talkie wieder. Als keine Antwort kam, drehte er am Lautstärkeknopf herum. Er versuchte es ein zweites Mal und dieses Mal klang das statische Geräuch seltsamerweise wie eine hohe menschliche Stimme.
“Baby? Warst du das? Wenn du mich hörst, sag etwas…irgendwas. Nur ein Wort.”
Nichts.
Carl zog seinen Arm mit dem Walkie-Talkie zurück, es sah aus als wollte er es in die Luft schleudern, doch dann überlegte er es sich anders.
“Das ist Scheiße! Sie ist alleine da draußen und ich bin zu blöd um zu wissen, wie ich sie finden kann.”
“Sei nicht so streng mit dir. Du tust was du kannst.”
“Ja?” Und wenn das nicht ausreicht?”
“Es muss, Carl,” sagte sie. “Mehr geht nicht.”
Er schaute empört und stopfte das Walkie-Talkie in seine hintere Hosentasche. Dann meinte er, “Konzentrieren wir uns einfach darauf, hinzukommen. Wir müssen nicht reden.”
Ich glaube er dreht durch, dachte sie.
Die Reifenspuren endeten. Weg. Er parkte das Auto am Straßenrand und stieg aus um die Spuren zu untersuchen, die nach rechts verliefen und verschwanden als sie die steinige Erde erreichten, dort wo die Straße endete.
Taylor stand neben einem Baum und fuhr mit seiner Handfläche dier rauhe Rinde hinunter während er in Richtung Felsen schaute. Es ist unmöglich, damit im Gelände zu fahren.
Sein erster Gedanke war: Ich habe das Auto umsonst gebracht. All die Zeit verschwendet um das Auto zu holen, und jetzt kann ich nicht zu ihnen. Er bemerkte sie weit in der Ferne. Wäre die Entfernung zwischen ihnen nicht ungewöhnlich flach gewesen, hätte er sie nicht gesehen. Sie waren kaum mehr als unscharfe Flecken, aber Carl und Tina stachen zwischen den gedämpften Tönen der Landschaft heraus.
Und dann sah er noch etwas anderes in der Ferne, verborgen zwischen den Bäumen wie geheime Figuren im Gemälde eines Illusionisten.
Dann began er zu rufen und zu schreien.