Kapitel 1: Kontrolle über die Menge
“Das Wasser wird sie aufhalten. Nimm es!”
Taylor reichte Carl eine Sprühflasche gefüllt mit Wasser. “Wenn sie versuchen, sich zu nähern, besprüh sie damit.”
“Weil sie Tollwut haben, richtig? Sie haben Angst vor Wasser wegen der Tollwut. Das hast du gesagt”, meinte Carl. Er schwang die Plastiksprühflasche mit beiden Händen und richtete sie auf die Menge vor ihm als wäre er kurz davor, ein Gewehr abzufeuern.
“Ich sagte, es ist ähnlich wie Tollwut.”
Taylor hatte ebenfalls eine Sprühflasche. Er drückte den langen Hebel und sandte eine neblige Wolke aus Wasser auf die auflebende Menge. Die Meute wich zurück um der Wolke auszuweichen und bewegte sich wieder vorwärts nachdem die Wolke verdunstet war. Das Wasser in den Flaschen würde nicht ewig reichen. Es würde in der Tat nicht mehr viel länger reichen. Er stand mit seinem Rücken gegen Carls und unterdrückte den Zwang zu schreien. Etwas so einfaches wie Wasser. Etwas so simples, das jedoch gerade gefährlich knapp war.
Carl sagte, “Sie versuchen, uns zu umkreisen.”
“Verdammt richtig. Besprüh sie weiter.”
Und als nächstes, fragte er sich. Welchen Rat würde er haben wenn das Wasser verbraucht und die Flaschen leer waren? Seine Gedanken rasten, unfähig einen einzelnen, zusammenhängenden Gedanken zu fassen, da alle in nutzloser Zufälligkeit aufeinander trafen. Sie mussten einen Weg heraus finden. Er musste Carl retten. Und er musste sich selbst retten.
Jenseits der Meute konnte Taylor sehen, wie mehr von ihnen zwischen den Gebäuden hervorkamen. Es war als beobachte man Schädlinge, wie sie aus Rissen in einer Mauer hervorkrochen; als beobachte man einen Insektenschwarm. Der Wind nahm zu und als er den Hebel drückte, wurde der Nebel aus der Düse in sein Gesicht geblasen. Zum Glück ist uns das Benzin in einer kleinen Stadt ausgegangen, dachte er. Es hätte viel schlimmer sein können. Carl hatte ihm mehrfach mitgeteilt, er sei der einzig verbliebene Optimist auf der Welt und obwohl Taylor dies gewöhnlich leugnete, nahm er an, dass jeder, der auf die gute Seite hinweisen konnte wenn eine irre Meute auf sie zukam, diesen Titel verdiente.
Die Gestalten gaben Speichel von sich und knirschten mit den Zähnen. Es klang als ob fünfzig Leute mit offenen Mündern an Captain Crunch knabbern würden.
Carl sagte, “Ich kann das nicht viel länger machen, Bruder. Wasser ist fast alle.” Carls Stimme hatte das hohe Jammern eines kleinen, hysterischen Kindes.
Taylor zog seinen Arm zurück bevor eines der Dinger der Meute ihn ergreifen konnte. Er sprühte eine neblige Wolke aus Wasser und trat einen Schritt zurück.
“Sei ehrlich mit mir”, sagte Carl. “Wir schaffen es diesmal nicht, oder? Wir beide haben wirklich taffe Dinge zusammen durchgestanden aber das hier ist die Krönung. Weißt du noch als du mit sechszehn den Bronco gerollt hast? Ich dachte immer, das war total verrückt. Jetzt denke ich das nicht mehr.” Carl schrie fast.
“Keine Ahnung, aber ich sage dir, wir werden nicht hier stehen und sterben.” Er nahm eine Hand von der Flasche und deutete nach rechts. “Siehst du das Haus? Das Sandsteingebäude schräg gegenüber von uns?”
“Ja, ich sehe es.”
“Auf mein Zeichen rennen wir darauf zu. Ich möchte, dass du zu dem Gebäude läufst. Du hältst nicht an und schaust nicht zurück.” Die Menge war wieder nähergekommen und Taylor bespritzte sie mit dem Wasser, was sie ein paar Fuß zurückweichen ließ. “Vielmehr darum herum. Ich sehe hier nichts Nützliches, aber vielleicht finden wir da drüben etwas. Falls nötig, versuchen wir, uns in einem der Gebäude zu verstecken. Kannst du rennen?”
“Erinnerst du dich, wer im Track-Team war?”
“Du lässt es mich nicht vergessen.”
“Die Frage ist, kannst du mithalten?”
“Mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde direkt hinter dir sein.”
Gemeinsam begannen sie, sich nach rechts zu bewegen damit es in der Menge eine bessere Öffnung in die Richtung gab, in die sie wollten. Taylor schielte zum Ziegelgebäude und versuchte, die Entfernung zu beurteilen. Es mussten fast 100 Yards sein; etwa die Länge eines Football-Feldes. Carl war schnell genug. Er glaubte das sofort. Doch er selbst hatte fast zwanzig Kilo und vier Jahre mehr als sein jüngerer Bruder und er war nie im Track-Team gewesen. In der Mittelschule war er ein Jahr lang im Football-Team, was sein Interesse an Sport befriedigt hatte.
“Tun wir es bald?”
Carl sah nicht, wie Taylor nickte. “Ich zähle bis drei. Bei drei sprühst du ein wenig und läufst dann los.”
Die Meute schloss auf. Taylor spürte, wie eine gierige Hand den Ärmel seines Hemdes packte. Er besprühte das Ding –angesichts des Anzugs mit Krawatte vermutete Taylor, es war ein Geschäftsmann—und der Mann ließ ihn los, griff sich ins Gesicht und schrie. Man könnte meinen, in diesen Dingern sei Säure statt Wasser.
“Noch etwas”, meinte Taylor.
“Das wäre?”
“Warte nicht auf mich. Verstanden? Es ist mir egal ob du mich in einer Staubwolke zurück lässt, aber wage es nicht, langsamer zu werden. Oder das Letzte, das passiert bevor diese Dinger uns kriegen, wird sein, dass ich dir in den Hintern trete.”
“Versprechungen”, sagte Carl und lächelte. Für einen Moment spürte den vertrauten Adrenalinkick. Dasselbe Gefühl wie damals, als er vor so vielen Jahren die Bronco rollte; dasselbe Gefühl, das er während ihrer Streiche unzählige Male hatte. Jetzt waren sie älter und diese Zeiten gab es nur noch selten, aber dies war eine davon. Zum ersten Mal in zehn Minuten, dachte Carl, dass sie eine Chance hatten. Keine große, vielleicht nichtmal eine gute, aber jede Chance war besser als gar keine. Sein Vater hatte einmal gesagt, Du kannst es nicht wissen bis du es nicht versucht hast. Es war die Antwort auf Carls Frage ob er es im Wrestling-Team versuchen sollte. Bewaffnet mit der simplen Weisheit seines Vaters, hatte er es versucht und es den ganzen Weg ins State-Team geschafft. Er sah das Gesicht seines Vaters vor sich und er beurteilte die Entfernung zwischen ihrem momentanen Standort und dem fünfstöckigen Sandsteinhaus das so weit weg schien, und er stellte sich vor wie sein Vater sagte, “Du kannst es nicht wissen bis du es nicht versucht hast, Carl.”
Eine Chance war eine Chance, Hoffnung war Hoffnung.
“Tu nur dieses eine Mal was ich dir sage”, sagte Taylor. “Okay?”
“In Ordnung. Ich werde dir zuwinken wenn sie deinen Hintern essen.”
Sie waren Schulter an Schulter, ihre Körper bildeten einen rechten Winkel, jeder besprühte die Menge, die sich in jeder Sekunde zu vergrößern schien.
Taylor rief, “Eins!”
Carl sah auf das restliche Wasser in seiner Flasche. Genug für fünf oder sechs weitere Spritzer.
Vielleicht mehr, vielleicht weniger.
“Zwei!”
Lass es bloß funktionieren, dachte Taylor.
“Drei!”
Taylor drückte den Hebel seiner Flasche ein letztes Mal, drehte sich um und rannte los.
Carl war beim Start langsamer, er hielt an um das Wasser in Menge zu pfeffern und beobachtete, wie die Gestalten das Wasser von ihren Köpfen schüttelten bevor sie weiterrasten. Doch nachdem er zu laufen begann, überholte er seinen Bruder in wenigen Sekunden.
“Bewege deinen fetten Hintern”, sagte er als er an Taylor vorbei sprintete.
Auf halben Weg schluckte Taylor Luft. Das war stets eines seiner Probleme beim Laufen: er hatte nie gelernt, richtig zu atmen. Ein paar Minuten lang war alles in Ordnung, doch als er anfing nach Luft zu schnappen ging alles schief. Er lief trotz des Sauerstoffmangels weiter, pumpte seine Beine, richtete seinen Blick auf den Rücken seines Bruders, setzte ihn sich als Ziel. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, wie die Menge ihnen folgte. Es waren über einhundert. Sie waren schnell und unermüdlich und er fühlte, wie sich ihre Augen in ihn bohrten als sie näherkamen.
Taylor rannte schneller und schloss auf. Carl sah zu ihm um. Nicht langsamer werden, dachte er. Vor allem nicht wegen mir.
Carl erreichte das Sandsteingebäude und lief weiter bis er um die Ecke kam. Er verlangsamte zu einem schnellen Gang, suchte nach etwas –irgendetwas- das sie verwenden konnten. Wo waren all die Autos? Hatte sich jemand die Mühe gemacht, alle zu verstecken? Er konnte sich nicht erinnern, ein einziges Fahrzeug gesehen haben,seit sie in die Stadt gekommen waren.
Taylor kam um die Ecke und rannte fast in ihn. “Warum gehst du?”
“Du sagtest, laufe zum Sandsteinhaus und um dessen Ecke. Das habe ich getan. Du hast nicht gesagt, was ich dann tun soll”, erwiderte Carl. “Es ist kein verdammtes Auto zu sehen.”
Taylor suchte ungläubig die Strasse ab. Carl hatte recht. Kein Auto oder Lastwagen oder Motorrad in Sichtweite. In dem Moment hätte er sich über ein Fahrrad gefreut. Ein pinkfarbenes Fahrrad mit Troddeln an den Griffen und einen weißen Korb vor der Lenkstange. Egal, denn es wäre schneller gewesen als zu Fuß zu rennen.
“Vergeude nicht deine Zeit”, sagte Carl. “Du wirst nichts finden. Ich sagte bereits, da ist nichts.”
Taylor lief an der Rückseite des Gebäudes entlang. An dessen Ende waren zwei Türen. Beide verschlossen.
Der erste in der Meute erreichte das Sandsteingebäude und Taylor sagte, “Folge mir”, und fing wieder an zu rennen. Dieses Mal rannten sie nebeneinander, Carl fragte ihn, wohin sie liefen.
“Ich bin mir nicht sicher. Wir checken die Gebäude bis wir eines finden, das unverschlossen ist. Ich würde sagen, ohne Auto mit Schlüssel darin und Benzin im Tank ist es unsere einzige Möglichkeit.”
Sie prüften abwechselnd die Türen. Zuerst blieben sie in derselben Straße, dann fingen sie an, kreuz und quer Gassen hinunter zu laufen in der Hoffnung, die Meute abzuhängen, die ihnen weiter folgte. Taylor vermutete, sie hatten etwa 75 Yards zwischen sich und ihre Verfolger gebracht.
Taylor schnappte nach Luft. Seine Lungen brannten und er konnte nicht durchatmen. Seine Beine waren taub. Seine Schenkel und die Muskeln über seinen Knien schmerzten. Eine Reihe dicker Wolken verdeckte die Sonne, doch es war schwül und der Schweiß lief in ihre Augen. Er verlangsamte um am Griff einer Tür zu rütteln – ohne Erfolg.
“Verschlossen,” rief er zu Carl hinüber, der auf der anderen Straßenseite die Tür eines anderen Gebäudes versuchte.
“Diese auch!”
Wieviele Filme hatten sie gesehen, wo jemand von einer Meute Zombies oder einem Irren mit einer Axt gejagt wurde? Und er fragte sich dabei immer, wie sie überhaupt müde werden konnte. Er hatte immer geglaubt, wenn er um sein Leben laufen müsste, könnte er so lange und schnell laufen, wie es nötig war um seinen Arsch zu retten. Aber er rannte jetzt um sein Leben, wahrscheinlich weniger als zehn Minuten, und es kam ihm ein dutzend Mal der Gedanke, langsamer zu laufen. Vielleicht war es die Kombination von Hitze und dass er nicht fit war, und dass er als Kind Asthma hatte.
“Ich habe eine gefunden!”
Taylor lief über die Straße zu seinem Bruder. Carl hielt eine Metalltür auf. An der Innenseite der Tür stand: DIESE TÜR BLEIBT WÄHREND DER ÖFFNUNGSZEITEN UNVERSCHLOSSEN.
Als sie im Gebäude waren, zog Carl die Tür hinter ihnen zu. “Ohne Schlüssel kann ich sie nicht absperren.”
“Hoffen wir, sie haben uns nicht hereinschlüpfen sehen”, sagte Taylor.
“Hoffen wir, dass sie uns nicht riechen.”
“Warum sollten sie uns riechen können?”
“Das kam mir nur so.”
Hinter dem Hinterzimmer war eine weitere offene Tür bestehend aus einem unsoliden Holz, und sie sahen Licht durch die Flachglasscheibe auf der Vorderseite des Ladens strömen sehen.
Taylor sah sich die Regale an und meinte, “Das ist alles Frauenkleidung.”
“Toll”,erwiderte Carl. “Bei all den Läden in der Stadt laufen wir den nutzlosesten. Wir hätten es wissen sollen, denn vergessen, die Hintertür abzuschließen ist typisch Frau.” Das entlockte beiden ein Lächeln. Carl klopfte mit seinen Fingerknöcheln leicht an die Tür. “Unverschlossen ist es nicht sicher hier drinnen.”
“Du hast recht. Ich glaube nicht, dass sie uns hereinkommen sehen haben, aber mit etwas Zeit könnten sie es herausfinden. Wir wissen nicht, wie klug sie sind.”
Taylor inspizierte das Hinterzimmer. Der Sicherungskasten war an der Wand links von der Tür. Es gab ein enges Bad, ein Gasofen auf der einen Seite und ein Boiler auf der anderen. Neben dem Sicherungskasten war eine Telefonanlage. Etwa ein Dutzend isolierte Telefondrähte schlängelten sich nach oben und verschwanden in der Zwischendecke. Er packte einen davon und riss ihn aus der Anlage, wickelte ihn einmal um seine Hand und zog heftig. Er zog weiter an der Schnur bis er ein paar Fuss davon los hatte. Taylor sah es sich an und meinte, “Sollte lang genug sein.”
Er band ein Ende an den Griff der metallenen Ausgangstür und verband sie mit dem Griff der Badezimmertür. Er zog die Schnur fest an und band sie um den Türknauf. “Nicht viel,” sagte er, “aber besser als Nichts.”
“Mein Bruder, MacGyver.”
“Halt die Klappe, Klugscheisser.”
“Was denn? Das war ein Kompliment.”
Taylor drückte an die Metalltür. Sie öffnete einen Spalt, dann verhinderte die Telefonschnur, dass sie sich weiter öffnete.
Carl befand sich bereits im Laden. Er hielt ein Sommerkleid vor sich und sagte, “Was meinst du? Meine Farbe?”
“Bleib mal ernst. Und halte dich vom Fenster fern. Ich möchte nicht riskieren, dass diese Dinger vorbeigehen und dich sehen.”
Carl warf das Kleid über den Ständer. “Ich versuche nur, die Stimmung aufzuheitern. Vielleicht gehe ich so mit angespannten Situationen um. Hast du daran schon mal gedacht? Sag mir nicht, du machst es nicht so.”
Taylor ignorierte ihn. Er durchsuchte den Landen nach etwas Nützlichem. Die Kleiderständer wurden so gestellt, dass sich vier davon von hinten nach vorn aufreihten und fünf nebeneinander. Ein großes Drahtregal im vorderen Teil des Ladens hatte eine Auswahl an Handtaschen.
Ich gebe es ungern zu, aber er hat recht, dachte Taylor. Das ist der nutzloseste Laden, in den wir geraten konnten.
Aber im Moment waren sie sicher; und er sagte sich, dass das zählte.
Er ging hinter den Verkaufstresen und bückte sich um in den Regalen dahinter zu wühlen. Rechts vom Tresen waren zwei Schubladen. In einer davon befanden sich ein Preismarkierungsgerät, eine Rolle Klebeband und ein Stapel Blanko-Rechnungsformulare. Die andere Schublade war verschlossen.
Carl sagte, “Ducken!”
Taylor sah rechtzeitig hoch um zu sehen, wie sein Bruder sich hinter einem der Kleiderständer im vorderen Teil des Ladens versteckte und er duckte sich als er draußen auf dem Gehweg hunderte von Füssen vorbeidonnern hörte. Er reckte seinen Kopf über den Tresen und sah die Meute vorbeiziehen.
Als sie weg war, schlich Carl um den Ständer herum und zum Schaufenster und beobachtete sie, wie sie die Straße entlang nach Süden wanderten. “Glaubst du, sie suchen noch nach uns?”
“Wahrscheinlich.”
“Hartnäckige Bande. Glaubst du, das ist ein vereinzelter Vorfall? Vielleicht sind wir einfach in die falsche Stadt geraten?”
Taylor zog am Schubladengriff. “Komm mal kurz her. Und nein, das glaube ich nicht. Du weißt es besser. Wir haben es doch beide im Radio gehört.”
Carl ging um den Tresen herum und stellte sich hinter seinen Bruder. “Im Radio wurde nur gesagt, dass irgendetwas ausgebrochen ist und jeder Schutz suchen soll.”
“Es wurde auch gesagt, sicheren Abstand von den Infizierten zu halten. Zum Glück sind sie leicht zu erkennen.” Er zeigte zur Schublade und zog wieder am Griff. “Siehst du? Abgeschlossen. Wenn etwas wert ist, eingeschlossen zu werden, könnte es nützlich sein. Also hilf mir, sie zu öffnen.”
Carl bückte sich, zwängte seine Finger in den kleinen Spalt zwischen der Schublade und dem Tresen, und zog daran als Taylor am Griff zog.
“Es hilft nichts. Wir brauchen etwas womit wir sie aufstemmen können.”
“Wir wissen nicht, ob das im Radio eine regionale Sendung war. Es könnte nur für diesen Ort gelten.”
“Das glaube ich nicht.”
“Wieso sagst du das?”
“Ist ein Bauchgefühl”, erwiderte Taylor.
Carl verdrehte die Augen. “Sagte dir dein Bauchgefühl auch, so heftig auf dickem Schotter zu bremsen als du den Ford gefahren bist?”
“Du kannst mir das nicht nachsehen, richtig?”
“Wenn man ein Nahtoderlebnis hat, erinnert man sich gewöhnlich daran.”
“Ich war sechzehn. Das war vor zwölf Jahren.”
Carl half ihm bei der Suche nach etwas, womit sie die Schublade aufstemmen konnten. Nach einigen Minuten sagte er, “Vergiß es. Hier gibt es nichts, womit wir die aufbekommen.”
“Warte mal.” Taylor öffnete die oberste Schublade und nahm den Paketbandabroller heraus. Es war einer der Sorte mit einer Metallzunge mit gezackten Zähnen unten wo sich das Paketband befand. “Das könnte klappen”, sagte er. “Nicht von oben, aber wenn ich den Zuschneider seitlich hinein zwängen kann.”
Er bedeutete Carl, am Schubladengriff zu ziehen und damit einen Zentimeter Platz zu schaffen, breit genug um den Zuschneider hineingleiten zu lassen. Taylor hielt den Abroller am Griff und drückte ihn nach vorne, wobei er die Ecke des Tresens als Widerstand benutzte. Er hörte das Holz splittern. “Gott sei dank für billiges Holz.” Taylor drückte starker mit beiden Händen und die Metallklappe, die die Schublade verschlossen hielt, gab nach.
“Siehst du. Du bist wirklich wie MacGyver.”
Taylor ging den Inhalt der offnenen Schublade durch. “Keine Waffe,” sagter er.
“Wir brauchen keines. Ein Feuerwehrschlauch würde es tun.”
Taylor nahm eine Geldtasche aus Leder hoch, öffnete den Reisßverschluss und legte sie dann auf den Tresen. Carl nahm sie und zählte das Geld, das sich darin befand. “Fast eintausend Dollar”, stellt er fest.
“Und komplett nutzlos.”
In der Schublade war weiterer Krimskrams, aber nichts davon nützlich genug um es wegzuschließen, dachte Carl. “Warum zur Hölle haben sie dieses Ding abgeschlossen? Das ist alles Mist.”
Carl sagte, “Für uns ist es Mist.” Er hielt die Ledertasche hoch. “Aber an einem normalen Tag sind eintausend Kröten wert, sicher aufbewahrt zu werden, würde ich sagen.”
“Dafür gibt es Banken.”
“Vielleicht hat der Besitzer Banken nicht vetraut.”
Am Boden der Schublade, unter einem Stapel Dokumente, fand Taylor einen schwarzen Kasten. Er öffnete es und entdeckte ein Werkzeugset. “Einfach”, sagte er. “So einfach wie es nur sein kann. Ein Senkkopf-Schraubenzieher und ein Phillips. Kabelbinder? Die muss jemand dazugelegt haben. Nicht viel.”
Carl hielt die Geldtasche hoch. “Was willst du damit tun?”
“Leg sie zurück. Sie gehört uns nicht.”
Carl verschloss die Tasche und warf sie in die Schublade. “Ich bezweifle, dass jemand sie vermissen wird.”
“Vielleicht, vielleicht nicht, aber wir sind keine Diebe. Es geht ums Prinzip. Könnte man die Dinger verletzen indem man fünf-Dollar-Scheine auf sie wirft, wäre es anders. Dann würde ich das Geld womöglich nehmen.”
“Was jetzt?”
Taylor zuckte mit den Schultern und schob die Schublade hinein. “Ich denke, wir bleiben erstmal hier. Wir wissen, die sind noch da draußen. Ich möchte nicht wieder versuchen müssen, vor ihnen davonzulaufen. Wenn überhaupt, dann warten wir bis es dunkel ist und versuchen dann, uns aus der Stadt zu schleichen.”
“Zu Fuß?”
“Wir werden ein Auto oder einen Lastwagen oder sowas finden.”
“Die scheint es hier nicht im Überfluß zu geben, falls du es nicht bemerkt hast”, meinte Carl. “Ich verstehe das nicht. Es ist eine kleine Stadt. Was glaubst du, wieviele Leute leben hier?”
“Ich erinnere mich, die Bevölkerungszahl auf dem Schild gesehen zu haben als wir angedampft kamen. Ich weiß, es war nicht mehr als fünfzehnhundert oder nahe daran.”
“Ungefähr soviel wie Coldwater. Also denk an Zuhause. Wenn das hier unser Heimatort wäre und wir würden wie hier in der Stadt herumlaufen, hätten wir inzwischen Autos gesehen?”
“Also, in der Innenstadt würde ich sagen, ja, wegen dem Autoladen.”
“Was, wenn du die Hauptstraße hinunter gehen würdest, so gegen…” Taylor sah auf seine Armbanduhr. “Kurz nach halb sechs.” Wieviele Autos würdest du sehen?”
“Ich weiß, worauf du hinaus willst. Nicht viele. Am Sonntag hat außer der Tankstelle auf dem Highway nichts geöffnet, und der ist nicht in der Innenstadt. Trotzdem merkwürdig.”
“Es scheint jetzt merkwürdig weil du es zum ersten Mal bemerkst. Nun, da wir aktiv nach etwas suchen, womit wir hier schnellstens wegfahren können, fällt es schmerzlich auf. Ein paar Glückliche konnten vermutlich weg als es noch gut ging. Nur die Irren sind gegangen. Wieviele davon haben wir gesehen? Hundert oder so. Höchstens. Das ist nicht so ungewöhnlich. Ich wette, wenn wir zu den Wohnorten der Stadt gelangen können, würden wir finden wonach wir suchen. Aber ich will das nicht riskieren bevor es dunkel wird. Diese Kreaturen da draußen wollen uns zerreissen, aber sie sind noch menschlich. Zumindest glaube ich nicht, dass sie nachts sehen können.”
“Du hast das echt durchdacht. Das Problem mit den fehlenden Autos, meine ich.”
“Erinnerst du dich, als ich jünger war und gerne spazieren ging?”
“Ich erinnere mich, dass du gerne um Mitternacht spazieren gingst. Es machte mir echt ein bißchen Angst. Wer macht das denn schon? Mitten in der Nacht spazieren gehen?”
“Das ist die beste Zeit dafür. Es ist sonst niemand unterwegs. Eine Kleinstadt ist um diese Zeit tot. Ich stellte mir vor, ich war die einzige Person auf der Erde.”
“Wie bist du seltsam geworden, verdammt nochmal?”
Taylor ignorierte die Frage und sah sich im Laden um. “Hilf mir festzustellen, ob es sonst etwas gibt, das wir gebrauchen können. Es ist fast sechs Uhr abends. Um neun sollte es dunkel genug sein.”
Carl ging an einem Ständer mit Wintermänteln vorbei. Einer davon hatte einen unechten Pelzkragen und er fuhr mit seinen Fingern durch. “Um die Zeit wird es draußen auch kalt sein. Es ist Mitte Oktober, es könnte jederzeit anfangen zu schneien.”
“Nimm eine dieser Jacken.”
“Das ist für Mädels. Lieber friere ich.”
Die Anprobe war im hinteren Teil des Ladens. Ein weiterer Tresen befand sich einige Fuß vor zwei Türen. Taylor suchte die Regale im hinter dem Tresen ab. Er fand ein Maßband, Stecknadeln, Kleiderbügel, Scheren, einen Kaffeebecher mit einer Mischung aus Kugelschreibern und Bleistiften, und eine halbvolle Flasche mit Arrowhead Trinkwasser. “Was ist das?” Er schob einige andere Dinge aus dem Weg und legte seine Hand um ein Metallobjekt. “Ein Teppichmesser.” Er ließ den Griff nach oben gleiten und die Klinge trat hervor. Sie wirkte scharf genug. Er nahm die Klinge ab und schob das Teppichmesser in seine Hosentasche.
“Das könnten wir brauchen.”
“Meines ist besser,” sagte Carl und zog sein Messer hervor. Er ließ die Klinge aufschnappen.
“Steck das Ding weg.”
“Das sagen alle Mädels zu dir, stimmts?”
“Bring mich nicht dazu, dich zu verkloppen.”
Carl wedelte mit einer Hand und lachte, aber er klappte das Messer zusammen und steckte es in seine Hosentasche. “Hat dir schon jemand gesagt, du hast eine übertriebene Fantasie?”
Taylor ging in den vorderen Teil des Ladens, blieb dabei in der Nähe der Kleiderständer falls er sich plötzlich verstecken musste. Als er die Flachglasscheibe erreichte, schaute er hinaus zur Straße. “Die Sonne geht unter.”
Auf der anderen Straßenseite war eine Reihe von Läden. Einer davon war ein Friseurladen mit einem altmodischen rot-weiß-blauen Pfosten neben der Tür. Daneben befand sich ein Solarium. Weiter unten sah Taylor einen Laden mit dem Titel Dave’s Hardware auf dem Vordach. Warum sind wir nicht dort gelandet?
“Ich habe Hunger.”
“Ich glaube ich habe im Hinterzimmer eine Tüte mit Reiskuchen gesehen.”
“Ich pfeif drauf. Ich will echtes Essen.”
“Also gut, wir müssen nur über die Straße bummeln und das Steak-Restaurant im Ort finden. Klingt das gut?”
“Sei so wenn du willst,” meinte Carl, “aber früher oder später müssen wir uns damit befassen. Was wenn das nicht einfach vorübergeht? Was wenn wir hier festsitzen? Irgendwann müssen wir essen.”
“Wir werden Essen haben wenn wir wieder Zuhause sind. In der Gefriertruhe im Keller ist genug Jagdfleisch für über einen Monat.”
“Angenommen, wir schaffen es bis nach Hause.”
“Wovon redest du? Wenn es draußen dunkel genug ist, sind wir hier weg. Wir finden ein Auto und machen uns auf den Heimweg. Wir können zuerst zu dir. Machst du dir keine Sorgen um Angie?”
“Was ist das für eine Frage? Klar sorge ich mich um sie.”
“Sie ist ein kluges Mädchen. Nur nicht schlau genug, dich loszuwerden. Wie lange geht ihr nun schon zusammen aus? Sechs Jahre?”
“Sieben.”
“Und du hast ihr keinen Ring an den Finger gesteckt. Herrgott.”
“Als würdest du groß reden können. Du verlobst dich mit jeder Nutte, die du auf der Straße triffst. Wie war das?” Carl gab vor, an seinen Fingern zu zählen. “Mindestens vier, von denen ich weiß. Nicht alle sind zum heiraten geeignet, weißt du. Oh, richtig, du solltest das bereits wissen, denn sie haben dich alle verlassen.”
“Rede nur weiter,” sagte Taylor.
Carl hob seine Hände. “Hey, du hast angefangen. Und du musstest Angie unbedingt wie ein junger Hund folgen.”
“Ich bin Angie nicht wie ein junger Hund gefolgt, sondern dir. Ich würde sie sofort nehmen. Du hast Glück, so ein Mädchen zu haben. Sieben Jahre, Mann. Sie war lange genug für dich da. Glaub mir, es gibt nicht viele wie sie.”
“Lass es. Okay?”
“Wie du willst.”
Carl schaute die Straße rauf und runter. Alles war ruhig. “Vielleicht sind sie weg.”
“Ich bezweifle es. Gut möglich, sie sind noch irgendwo hier in der Nähe. Sie warten wahrscheinlich darauf, dass wir etwas Dummes tun.”
“Du glaubst, die sind schlau?”
“Sie waren einmal normale Menschen. Daher, ja, könnte sein. Wie auch immer, ich werde es nicht darauf ankommen lassen.”
“Welcher Idiot hat so sehr versagt, dass so etwas passieren konnte?”
“Ich wünschte wir hätten einen TV. Oder ein Radio. Das könnte uns dabei helfen herauszufinden, was los ist.”
Carl starrte immer noch die Straße hinunter als er sagte, “Wovon redest du?”
“Ich glaube ich habe nur laut gedacht.”
“Was ist mit Mutter und Vater? Glaubst du, es geht ihnen gut?”
“Ich weiß es nicht, und ich versuche nicht, daran zu denken bis wir hier raus sind. Wir müssen den Kopf frei halten. Es wird schwer sein, aber es muss sein damit wir keine Fehler machen und getötet werden.”
“Diese Flasche Wasser war hinter dem Tresen,” sagte Carl. “Ich fülle sie mit Leitungswasser auf bevor wir gehen.”
Taylor nickte und ging vom Fenster weg. “Gut gedacht.”
Ich will in den Haushaltswarenladen bevor wir gehen, dachte er. Ein paar Dinge mitnehmen. Als Vorsichtsmaßnahme wenn sie sonst nicht helfen. Ich würde eine Niere spenden für einen Waffen & Munitions-Laden genau jetzt.
“Du glaubst, es gibt ein Sportgeschäft in dieser Stadt? Ein Laden, der Waffen verkauft? Das könnten wir wirklich gebrauchen.”
Dass Carl laut aussprach was Taylor einen Augenblick bevor gedacht hatte, war keine Überraschung. Diese Art Zufälle zwischen ihnen waren normal. Was Taylor überraschte war, dass es immer noch solche Momente gab, obwohl sie stets unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Carl war immer das Vorzeige-Kind gewesen, das dazu bestimmt war, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Als Kind folgte er Vater immer wie dessen zweiter Schatten.
Und was warst du? Das schwarze Schaf? Nicht mal das. Tu dir nicht selbst leid. Du wurdest schließlich nicht misshandelt oder sowas.
Taylor setzte sich hinter die Kasse, bobachtete wie das Tageslicht langsam weniger wurde. Er hörte Wasser durch die Rohre laufen und wusste, Carl füllte die Flasche mit Wasser.
Als Carl damit zurückkam, hielt er sie hoch und sagte, “Schwer zu glauben, dass dies so gut wie eine geladene 45er ist.”
“Ich bin nicht sicher ob dem so ist.”
“Worüber bist du nicht sicher? Es tut ihnen weh, oder nicht?”
Taylor antwortete ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. “Ich bin nicht sicher, ob es ihnen weh tut. Ich glaube eher, sie haben Angst davor. Im Radio wurde gesagt, was immer da passiert könnte mit Tollwut zu tun haben. Woher sie das so schnell wissen, ist mir ein Rätsel, aber wenn es mit Tollwut zu tun hat, dann passt ihre Abneigung gegen Wasser. Leute mit Tollwut entwickeln eine Abneigung gegen Wasser. Aber es ist noch schlimmer. Als ob nur der Gedanke an Wasser sie durchdrehen lässt. Wenn ich mich recht erinnere, nennt man das Hydrophobie.”
Carl neigte amüsiert den Kopf. “Und du weißt das alles warum?”
“Ich habe ein Buch darüber gelesen. Also, das Buch war nicht ganz über Tollwut aber es hatte ein Kapitel darüber. Ich weiß nicht mehr, wer es geschrieben hat. Irgendein Doktor, glaube ich. Jedenfalls ging es um verschiedenen Arten von Bisse und Stiche. Giftige Tiere und sowas. Tollwut war erwähnt. Ich erinnere mich nur daran weil es interessant war. Bis ich das gelesen habe, wusste ich nicht, dass Tollwut eine so verrückte Krankheit ist.” Taylor zeigte auf die Wasserflasche in Carls Hand. “Kannst du dir eine Krankheit vorstellen, die dazu führt, so etwas Harmloses zu fürchten?”
“Ich habe es vor einer Stunde selbst gesehen,” erwiderte Carl. “Und ich sage dir, ich hatte eine Scheißangst. Hätte ich gewußt, dass es ihnen nicht wirklich wehtut, wäre es noch viel schlimmer gewesen.”
“Halte meine Worte nicht für die biblische Wahrheit. Ich äußerte nur eine begründete Vermutung basierend darauf, wass der Typ im Radio sagte. Ich könnte total falsch liegen. Oder der Typ im Radio könnte unrecht haben. Wenn mir jemand die Wahl zwischen der Wasserflasche und einer geladenen 45er geben und sagen würde, ich soll wieder da raus gehen, würde ich jederzeit die geladene 45er nehmen.”
Carl warf einen enttäuschten Blick auf die Arrowhead Flasche. “Es ist besser als nichts.”
“Ja, besser als nichts.” Er sah auf seine Armbanduhr und nickte Richtung Schaufenster. “Noch neunzig Minuten, dann sollte es dunkel genug sein. Wir gehen dort hinaus wo wir hereingekommen sind. Ich denke, wir sollten über die Straße gehen und sehen, ob wir auch in das Haushaltswarengeschäft gelangen können.
“Warum finden wir nicht einfach ein Auto und hauen ab? Ich halte eine Einkaufstour nicht für eine gute Idee.”
“Nur für den Fall.”
“Was? Wir laden einen Einkaufswagen voll und schieben ihn die Straße hinunter bis wir ein Auto finden um die Sachen einladen zu können?”
“Nein. Wer benutzen keinen Einkaufswagen. Wir nehmen nur, was wir tragen können ohne ins Stocken zu kommen. Ein Einkaufswagen würde zuviel Lärm machen.”
“Echt jetzt, Sherlock. Es ist immer noch eine blöde Idee. Ich sage dir, wenn wir irgendwo anhalten, sollte es ein Waffengeschäft sein.”
“Denk daran wo wir sind. Es ist gut möglich, dass so eine kleine Stadt kein Waffengeschäft hat. Vergleich sie mit unserer Stadt. Gibt es dort ein Waffengeschäft? Nein. Also gibt es hier wahrscheinlich auch keines. Hier ist ein Laden mit Haushaltswaren das Nächstbeste.”
Carl dachte darüber nach. Er ging zu einer der Flachglasscheiben und schaute die Straße hinunter zu Dave’s Haushaltswaren. “Es ist nicht so weit. Vielleicht würde es nicht schaden, nachzusehen was wir dort finden.”
“Wir müssen das so sehen, dass es eine lange Sache wird. Es geht nicht darum, nach Hause zu gelangen und alles ist wieder normal. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, wie die Lage sich wieder so schnell verändern könnte. Der Plan ist, nach Hause zu fahren, all unsere Lieben zu versammeln und aus deinem oder meinem oder dem Haus unserer Eltern eine Art selbsterhaltendes Fort zu machen. Es so zu verstärken, dass die Dinger nicht hinein können. Dann können wir vielleicht abwarten bis alles vorbei ist.”
“Hat dir schon jemand gesagt, du hast zu viele Filme gesehen?”
“Ja zum Glück für dich habe ich das,” sagte Taylor. “Sie sind nun wie Überlebenstipps wenn das Chaos wirklich ausbricht.”
Carl verdrehte die Augen. “Siehst du. Genau das meine ich. Zu viele verdammte Filme.”
Carl hörte das Geräusch und stellte sich vor, so hörte sich Spanien während des Stiertreibens an. Der Klang hunderter Füsse, die zusammen laufen. Das Geräusch wurde lauter und er duckte sich hinter einem Ständer mit Power Suit für Frauen und schielte rechtzeitig um ein Paar Hosen, um zu sehen wie die irre Meute direkt vor dem Fenster vorbeikam. Sogar auf dem Asphalt hörten sich so viele Füsse an wie bedrohliches, entferntes Donnergrollen.
Taylor hatte hinter dem Tresen für Rückgaben Schutz gesucht. Er dachte, wenn diese Dinger sie sahen, würde es das Ende für sie beide bedeuten. Da war nichts um sie aufzuhalten außer eine dünne Scheibe Glas.
“Ich glaube das nicht,” meinte Carl. “Glaubst du, die suchen uns immer noch?”
“Ich würde es nicht bezweifeln.”
Carl wartete eine weitere Minute, warf einen letzten Blick um die Ecke um sicher zu sein, dass die Luft rein war, dann ging er zurück zu Taylor.
Der Himmel sah düster aus, dicke Wolken hatten sich gebildet.
Carl sagte, “Das ist es was wir brauchen. Regen. Wenn diese Dinger Angst vor Wasser haben, dann sollte Regen ihnen wirklich zusetzen.”
Taylor glaubte nicht, dass es regnen würde. Es war Herbst. Obwohl die Jahreszeit durchaus Regen bekam, war er sich auch der Tatsache bewußt, dass diese dunklen Wolken zu achtzig Prozent eine der grausamsten Täuschungen der Natur sein konnten. Er sprach es nicht aus; er wollte einen positive Ausblick behalten. Kein Thema, Carl wusste, wie man einen klaren Kopf behält. Aber Taylor unterschätzte nie die Macht positive Gedanken, auch wenn er nicht besonders gut darin war. “Regen würde nicht schaden,” meinte er.
“Ich kann nicht glauben, dass die Dinger hier bleiben,” sagte Carl. “Einfach so hin und her rennen. Ich weiß, sie suchen uns vermutlich noch, aber sollten sie nicht irgendwann etwas anderes machen? Müssen sie nicht immer noch essen? Oder schlafen?”
“Hätten wir Zugang zu einem Radio oder TV, wüssten wir zumindest ob sie das schon herausgefunden haben.”
Taylor sah auf seine Armbanduhr. Die Zeit schlich dahin und die Wolken draußen gaben ihm trotz seines Pessimismus einen Hoffnungsschimmer. Mag sein, dass der Regen ihnen nicht wehtut, dachte er. Aber er könnte sie eine Weile von uns fernhalten.
Carl öffnete die Arrowhead Flasche und trank einen Schluck.
“Ich dachte, du sparst es für sie auf?” sagte Taylor mit einem Nicken Richtung Fenster.
“Das tue ich. Ist doch kein Problem, es ist Leitungswasser. Ich werde auffüllen bevor wir gehen. Es schmeckt scheußlich, weißt du. Ist nicht mal kalt.”
“Man kann nicht alles haben.”
“Warum sind sie gerannt, was meinst du? Als sie vorbeikamen, sind sie gerannt. Warum? Ich sehe keinen Sinn darin. Ob sie immer noch nach uns suchen oder nicht, sie müssen dabei nicht rennen. Ich frage mich, ob es etwas damit zu tun, was mit ihnen los ist. Du bist der Tollwut-Experte. Kann Tollwut sie dazu bringen, so zu rennen?”
“Keine Ahnung,” sagte Taylor. “Ich erinnere mich nicht, dazu etwas gelesen zu haben. Und ich bin bei weitem kein Experte zu dem Thema.”
“Da sonst niemand hier ist, würde ich sagen, du bist nahe dran.”
Carl ging wieder zum Fenster. Er war misstraurisch, dass die Meute zurückkam. Er sah zu Dave’s Haushaltswaren. Der Laden war schräg gegenüber vom Kleidergeschäft. “Es ist wirklich nicht so weit. Ich wette, ich könnte einen Stein bis dorthin werfen. Es dauerte viel länger, diesen Laden hier zu finden.” Er beugte seinen Kopf nach vorne, drückte die Nase an das Fenster und schaute zur anderen Seite der Straße hinunter. “Im Moment ist keines dieser Dinger zu sehen. Was, wenn wir es jetzt versuchen? Ich meine, wenn wir jetzt gehen? Direkt darauf zusteuern. Mit voller Geschwindigkeit zur Ladentür hinaus.”
“Das einzige Problem dabei ist, was, wenn wir dort ankommen und die Tür ist verschlossen?” Er ging zum Fenster und stellte sich neben seinen Bruder, das Gesicht nahe am Fenster ohne es dagegen zu drücken. “Die Luft ist gerade rein, und vielleicht würden wir es schnell genug über die Straße schaffen, aber was passiert wenn wir bei der Tür sind und sie ist abgeschlossen? Du weißt, so wird es sein. Abgesehen davon, dass kein vernünftiger Ladenbesitzer vergißt, sein Geschäft abzuschließen, wir haben einfach nicht so viel Glück. Wie oft hast du deine Haustür unverschlossen gelasssen?”
“Oft genug.”
“Okay. Schlechtes Beispiel. Sagen wir, du besitzt ein Geschäft. Würdest du nicht dafür sorgen, dass die Tür abgeschlossen ist?”
“Ja, ich denke schon.”
“Na siehst du.”
“Ich meinte nicht, wir sollen über die Straße gehen, am Türgriff rütteln und sagen ‘oh, na ja, abgeschlossen, dann können wir genausogut weitergehen.’ Ich meinte, wir stossen das Glas in der Tür ein wenn nötig. Oder wir versuchen einfach die Hintertür.”
“Das Glas einstossen wird laut genug sein um diese Dinger auf uns aufmerksam zu machen. Und wenn wir die Tür aufbrechen wird nichts zwischen uns und denen sein.”
“Stimmt.” Carl klopfte leicht gegen das Fensterscheibe. “Aber hält sie das wirklich auf wenn sie hinein wollen?”
“Der Punkt geht an dich, aber einer Stunde oder so wird es dunkel genug sein. Eine Stunde mehr ist das Risiko nicht wert.”
Carl seufzte und ging zum Tresen zurück. Er trank nochmal von der Wasserflasche, verzog das Gesicht bei dem Geschmack. Sein Magen protestierte laut gegen die fehlende Nahrung. Taylor setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. Carl setzte sich neben ihn. Gemeinsam beobachteten sie die Straße und warteten.