Kapitel 10: Das Ende der Straße
Carl hörte einen Zweig knicken.
“Hast du etwas gehört?” fragte er, nahm das Walkie-Talkie aus seiner Hosentasche und hielt es an sein Ohr.
“Nein. Wieso?”
“Ich dachte, ich hätte etwas gehört.” Er rief Angie über das Walkie-Talkie, ohne Erfolg.
Noch ein Geräusch. Der matschige, raschelnde Klang von über spröde Blätter trampelnden Füssen.
“Oh mein Gott!” schrie Tina.
Er sah zu hir hinüber, folgte ihrem Blick und sah sofort den Grund für ihre Aufregung: eine Gruppe Tollwütiger war wie aus dem Nichts heraus aufgetaucht.
Carl bemerkte sie wie jemand in einem Traum, der sich der Tatsache bewußt ist, dass er träumt und dabei nur vage einen Drang wahrnimmt in der Erkenntnis, dass er nicht wirklich in Gefahr ist.
Aber die Gefahr vor ihm war real.
Er dachte, er hörte wieder ein Geräusch in der Ferne. Weit weg. Eine Stimme vielleicht?
Sein erster Gedanke war, dass die Gruppe Tollwütiger erstaunlich klein war. Nachdem er die merkwürdige Migration auf der Interstate erlebt hatte, erwartete er, sie in großer Anzahl zu sehen. Sein Gehirn rechnete flink. Im ersten Anlauf zählte er ein Dutzend. Sie standen in einer willkürlichen Reihe. Einige von ihnen trugen eine Kletterausrüstung. Vierzig Yards entfernt.
Dann hörte er die Stimme deutlich. Er drehte sich um sah Taylor neben dem Auto stehen, die Hände um den Mund gelegt, und er rief ihnen etwas zu.
Carl hörte Blätter rascheln und brauchte nicht hinzusehen um zu wissen, die Tollwütigen rannten auf sie zu. Er packte Tina am Arm und sagte, “Lauf!”
Sie war langsam. Carl brauchte einen Moment um zu merken, dass der Rucksack auf ihrem Rücken sie behinderte.
“Lass den Rucksack fallen.”
“Was?”
“Lass den verdammten Rucksack hier!”
In einer fließenden Bewegung schüttelte sie den Rucksack von ihren Schultern. Er schlug auf den Boden auf und Blätter stoben hoch.
Angies Stimme kam über das Walkie-Talkie, “Carl? Wo bist du?”
Carl hörte seinen Namen über das Walkie-Talkie und versuchte, es aus seiner hinteren Hosentasch zu ziehen. Er rannte mit voller Geschwindigkeit, eine Hand um Tinas Handgelenk. Er fummelte am Radio und es fiel zu Boden. Er ließ Tinas Handgelenk los und stoppte.
“Was machst du?”
“Ich habe das Radio fallen lassen.”
“Lass es liegen.”
“Ich habe Angie gehört.” Er ging in die Hocke, durchwühlte die Blätter, schob sie mit seinen Armen beiseite und suchte panisch nach dem Radio.
“Carl!”
Es war die Art von Fehler, die einem keine zweite Chance geben.
Sie erwischten ihn, rissen an ihm bevor er schreien konnte und selbst in der Lage streckte er seine Arme aus zu der Stelle, wo das Walkie-Talkie plötzlich auf den Blättern lag. Der Schmerz kam schnell und war unerträglich.
Angies Stimmer über das Radio: Carl, wo bist du? Ich liebe dich. Bitte sag etwas.
Carl spürte, wie sein Fleisch abgerissen und zerfetzt wurde; spürte, wie eine nässende Wärme seinen Körper hinablief. Er schloss die Augen.
Er war fast dankbar, dass das Letzte, das er hörte, Angies Stimme über das Walkie-Talkie war.
Taylor sah seinen Bruder anhalten und auf den Boden knien.
Was zum Teufel macht er da?
Er sah, wie Tina zögerte, aber nur einen Moment, dann rannte sie wieder auf ihn zu.
Taylor rannte. Er hat den Verstand verloren, dachte er. Verdammter Idiot!
Er lief an Tina vorbei. Sie schrie. Sie schien ihn nicht einmal zu bemerken als sie aneinander vorbeiliefen. Taylors Herz schlug so schnell, er dachte es würde direkt aus seiner Brust springen.
Er kam zu spät an. Die Tollwütigen hatten Carl und ihn innerhalb von Sekunden getötet.
Taylor fühlte, wie Wut ihn überkam. Eine laute Stimme, die nur die Sprache der Rage kannte, übertönte die stille und besonnene Stimme, die ihm zuflüsterte, wegzulaufen.
Er zog die Glock aus seinem Hosenbund und feuerte, traf einige von ihnen, traf aber meistens aus Unachtsamkeit daneben.
Als die Glock leer war, hob er einen robusten Ast vom Boden auf und schwang ihn gegen einen der Tollwütigen, der seinen Bruder festhielt. Er erwischte den tollwütigen Mann im Nacken und dessen Kopf neigte sich stark auf eine Seite. Ein anderer von ihnen zischte und griff nach ihm. Taylor hieb ihm dem Ast übers Gesicht und drückte eine Gesichtshälfte der Gestalt ein.
Sie ließen Carls Überreste fallen. Taylor stand neben dem Körper, schwang den Ast wild vor und zurück, versuchte verzweifelt, seinen Bruder zu beschützen.
Carl war zweifellos tot.
Dieses Mal traf Taylor eine Frau, harkte das Astende über ihren Mund, es riss ihre Lippen auf und entblößte ihre Zähne.
Einer von ihnen packte ihn von hinten. Taylor fuhr herum wie ein gefangenes Tier, warf den Kopf zurück, so dass sein Hinterkopf mit dem Gesicht des Tollwütigen kollidierte.
Er fühlte Schmerz in seinem Nacken; dicke Nässe. Er fiel auf die Knie und brachte es noch fertig, sich am Ast festzuhalten, sein Bruder war deutlich vor ihm auf dem Boden, nur zwei Fuss entfernt.
Das war’s, dachte er. Alles, was er in seinem Leben noch gerne getan hätte kam ihm in einer einizgen Sekund in den Sinn. Seine Hand wurde zu schwach um den Ast weiter festzuhalten. Dunkle Flecken behinderten seine Sicht, sie liefen von den Ecken zur Mitte bis sein Blick völlig verschleiert war. Das war’s. Ein Tatsache, die schwer zu akzeptieren war.
Sie waren auf ihm, zogen ihn zu Boden, das Gesicht zuerst. Er schmeckte Dreck und roch den Moder spröder, toter Blätter.
Taylor war stur. Wie sein Vater. Er bemühte sich weiter, kämpfte gegen den Tod mit der Sturheit für die er bekannt war. Am Ende war es jedoch eine verlorene Schlacht.
Tina weigerte sich, zurückzuschauen.
Sie erreichte das Auto, setzte sich auf den Fahrersitz und schloss die Tür, lauschte dem Jammern des Motors. Sie hatte aufgehört zu schreien. Ihre Hände umfassten das Steuer, zitterten mit der Vibration des Motors.
Sie startete das Auto, trat auf das Gaspedal und wendete um zurück in Richtung See zu fahren. Als sie den See vor sich sah, stand die Tachonadel auf Sechzig-Meilen-pro-Stunde.
Sie sah das Loch nicht. Der rechte vordere Reifen des Escort erfasste es mit genügend Wucht um in die Luft zu hüpfen, wieder zu landen, mit einem kurzen Quietschen als die Luft aus dem Reifen wich. Tina trat auf die Bremse und der hintere Teil des Autos schlingerte. Einer der Hinterreifen rutschte über die Böschung, die die Stelle, wo eine Seite der Straße endete, markierte. Sie drückte das Gaspedal durch so hart sie konnte, aber das Auto bewegte sich nicht.
“Nein!” Sie hämmerte mit ihren Fäusten auf das Steuer ein. “Neeeiiiinnn!” Tina zog das Wort in die Länge und schrie bis sie außer Atem war. Sie riss die Autotür auf und rannte auf den See zu. Hinter ihr folgten die Tollwütigen der Straße. Sie waren weit zurück, aber sie waren unermüdlich und unnachgiebig und Tina wusste, es war aussichtslos zu versuchen, ihnen davonzulaufen; ihr war klar, sie würden ihr weiter folgen lange nachdem sie nicht mehr laufen konnte.
Das Boot war an der Stelle, wo sie es zurückgelassen hatten.
Wasser, dachte sie. Sie können Wasser nicht ausstehen.
Ihr Verstand raste in Panik. Sie war jetzt ganz alleine und dieses Wissen raubte ihr jede Vernunft, die sie noch hatte.
Tina erreichte das Boot. Ihre Schuhe versanken im Matsch und sie spürte Wasser zwsichen ihren Zehen. Sie schob die Vorderseite des Bootes an in der Hoffnung, es vom Ufer lösen zu können. Zuerst tat sich nichts; es war ein unbewegliches Objekt. An der Stelle, wo es am Ufer lag, hatte das Boot eine tiefe Furche in den Schlamm gegraben.
Sie stellte ihre Füsse etwa schulterweit entfernt und ging in die Hocke, spürte bereits das Brennen in ihren Schenkeln als sie ihre Hände auf das Boot legte. Sie hob es hoch und stieß es gleichzeitig ab, grunzte bei der Anstrengung und gewahr, dass sich das Boot nur immer einen Inch bewegte.
Sie müssen nahe sein. Sie schaute nicht hinter sich.
Sie riss sich zusammen, fand Halt und schob das Boot aus dem Matsch so gut sie konnte. Sie wuchtete es ein letztes Mal hoch, stieß dabei ihren Atem aus. Das Boot löste sich vom Ufer. Es glitt in den See und sie beeilte sich hineinzuklettern bevor es außer Reichweite war. Ihre Schuhe waren schwer vom Matsch. Sie zog sie aus und es gelang ihr, in das Boot zu klettern, holte den Anker ein und wunderte sich, wie etwas so kleines so schwer sein konnte. Das Seil wurde straff und anfangs war das Gewicht zuviel für sie. She hob ihn wieder an und der Anker bewegte sich einen Fuss, grub einen flache Spur in das schlammige Ufer. Tina zog noch fünfmal bevor der Anker nahe genug war, um ins Boot geholt werden zu können. Als es geschafft war, lehnte sie sich zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Das Boot trieb langsam dahin.
Die Tollwütigen erreichten den See, hielten aber gebührenden Abstand zum Wasser als sie am Ufer standen und sie beobachteten.
Stunden vergingen auf diese Weise. Sie schienen es nicht müde zu werden zu stehen, schauen oder zu warten. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Hosentasche. Es war jetzt nichts weiter als eine überteuerte Uhr, aber sie benutzte es um zu sehen, wie spät es war.
Sie dachte: Wie lange können sie dort warten? Bis sie verhungern? Können sie verhungern?
Es war schwer, nicht an die zwei Brüder zu denken, die sie so kurz kannte, aber sie hatte sich in beide auf unterschiedliche und doch Art verliebt. Vielleicht hatten die Umstände dazu beigetragen. In der Tat, sie wusste, es war so. In ihrem Kopf lief die Erinnerung daran, wie sie weggelaufen war, in einer Dauerschleife. Taylor rannte auf sie zu und an ihr vorbei als er zu seinem Bruder eilte, und sie lief wie ein Feigling zum Auto. Die Scham deswegen schnitt tief. Du hättest nichts tun können, dachte sie, aber das half wenig dabei, ihre Schuldgefühle zu erleichtern.
Der Himmel verdunkelte sich und es kam ein beissender Wind auf, der das Boot sanft schaukelte und hypnotische Wellen über das Wasser sandte. Sie schalt sich dafür, nicht die Voraussicht gehabt zu haben, wenigstens einen der Schlafsäcke mitzunehmen.
Das Auto sehen zu können war irgendwie Tortur. Ihr kleiner Ford Escort, der schon bessere Tagen gesehen hatte, stand nun für viele Dinge gleichzeitig: Wärme, Essen, Reisen…ein Weg von hier weg. Und jetzt saß er da in einem seltsamen Winkel, komplett nutzlos.
Um halb acht war es nacht geworden. Der Himmel war klar und voller Sterne. Komisch, dachte sie, wie man anfängt, etwas zu schätzen nachdem es zu spät ist.
Im Licht der Sterne konnte sie die Tollwütigen am Rande des Wassers stehen sehen. Sie wusste, sie würden warten. Sie hatte einmal eine Katze gehabt, die vor einer kleiner Stelle zwischen Küchenschrank und Ofen stundenlang Wache hielt weil sie eine Maus hineinhuschen hatte sehen.
Sie schlang die Arme um ihren Körper. Der Wind hatte sich gelegt aber es war immer noch kalt und ihr Atem hing in der Luft.
Das Auto hätte genausogut eine Million Meilen weit weg sein können. Es war jetzt ein Fossil; die Leiche eines prähistorischen Insekts. Aber im Inneren war immer noch Essen und Wärme. Sie konnte die Schlafsäcke auf einer Seite des Rücksitzes und den Karton mit Lebensmittel am Boden visualisieren.
Wenn das auf dem gesamten Planeten passiert, kann das Auto ewig dort sitzen.
Tina bemerkte die subtile Veränderung nicht; war sich des Moments nicht bewußt, als Resignation einsetzte. Der Escort war weit weg und sie vergaß alle Gedanken an Flucht als sie in den See starrte, hypnotisiert von der Reflektion der Sterne und wie sie sich im sanft rippling Wasser bewegten. Sie starrte sie an und fand sie wunderschön. Sie drängte ihren Überlebensinstinkt aus ihren Gedanken bis sie das Gefühl nur noch hin und wieder erhaschen konnte. Es gab ihr ein bemerkenswertes Empfinden von Frieden. Aufgeben machte alles irgendwie einfacher.
Flucht. Es fühlte sich an, als hätte sie ihren Körper verlassen; als würde sie die Situation auf einmal aus der Luft betrachten, hoch oben schwebend als sie auf die Gruppe Tollwütiger hinunter sah, die still und bewegungslos am Ufer standen. Mit der Zeit kamen mehr von ihnen an und gesellten sich zu den anderen.
Und sie sah das einsame Mädchen in einem Boot in der Mitte des Sees treiben.
Wie lange würde sie es hier draußen in der Kälte und ohne Essen aushalten? Es war ein flüchtiger Gedanke.
Tina starrte in das sich kräuselnde Wasser. Sie dachte, sie könnte es ewig tun.