Kapitel 5: Rückkehr
Er behielt die Benzinnadel genau im Auge, als würde die Nadel oben bleiben wenn er sie lange genug anstarrte. Sie war auf der viertel Tank Marke. Taylor schätzte die Entfernung auf weitere einhundert Meilen oder so. Es würde knapp werden.
Tina hatte den Lebensmittel-Karton auf den Boden geschoben und schlief auf der Rückbank wie eine auf der Couch zusammengerollte Katze.
Carl hatte seinen Sitz zurückgestellt, die Augen geschlossen, doch er wachte alle paar Minuten unruhig auf.
“Schlecht geträumt?”
“Mit dir am Steuer? Da muss ich ja schlecht träumen.”
Interstate 80 verlief parallel zum Highway. Sie wurde zeitweilig sichtbar und verschwand dann wieder hinter niedrigen Hügeln oder weil sich sich schrittweise entfernten, trafen aber später immer wieder zusammen, wie ein altes Ehepaar. Taylor hatte hier und da eine gute Anzahl an verlassenen Autos gesehen; auf dem Highway gab es dasselbe Problem, aber nicht so häufig. Die meisten Autos, die sie passierten, waren entlang der Schulter geparkt oder waren in den Graben gerollt. Er war auf einen alten Chevy Lastwagen gestossen, der mitten auf der Straße auf dem gelben Mittelstreifen stand, doc her konnte drumherum fahren indem er mit zwei Reifen auf der kiesbedeckten Schulter fuhr.
Der Sturm war in die entgegengesetzte Richtung weitergezogen. Taylor hatte zugesehen wie die Wolken aufbrachen, dünner wurden und sich dann auflösten. Er öffnete das Fenster einen Spalt um die kühle Nachtluft hereinzulassen.
Billionen von Sterne bedeckten den Himmel. Unter anderen Umständen hätte er gerne einen Gartenstuhl aufgestellt und eine Weile die Sterne beobachtet. Er fragte sich, ob Tina so etwas mögen würde. Sie beide draußen in einer kalten Nacht, eingepackt in eine dicke Decke, die Köpfe dem Himmel zugewandt.
Behalte deinen Kopf im Spiel, dachte er.
Seine Augenlider wurden schwer. Schlafmangel machte sich am meisten bemerkbar wenn er hinterm Steuer saß. Er machte das Radio an und schaltete durch die FM und AM Bänder. Er hatte es bereits vor fünfzig Meilen versucht, wusste genau, es war zwecklos.
Eine Nacht. Ist das alles, was es braucht um die Zivilisation zu vernichten? Ich hätte uns für besser gehalten.
Sie fuhren durch eine sogenannte abgelegene Gegend. An einem guten Tag –ein normaler Tag- kam er auf dieser Strecke des Highways an etwa einem Dutzend offener Tankstellen vorbei. War es so schwer zu glauben, dass sie momentan nicht in Betrieb waren? Sie mussten in die Nähe einer Großstadt kommen; nochmal das Telefon versuchen.
Taylor fiel Tinas Handy ein. In der Stadt hatte er kein Signal bekommen, aber Tina hatte gesagt, das war nicht ungewöhnlich und dass, wenn man einige Zeit auf dem Highway fuhr –er dachte, sie sagte zehn Minuten-, der Empfang gut war.
“Bist du okay?”
Carls Stimme schreckte ihn aus seiner Stille auf.
“Ja. Warum?”
“Ich gehe nur sicher. Lass mich wissen, wenn ich fahren soll.” Carl hielt seine Augen geschlossen während er sprach.
“Ich kann noch eine kleine Weile fahren. Noch etwa hundert Meilen. Mehr oder weniger.”
“Das ist es dann wohl, huh?” Er richtete sich im Sitz auf, öffnete kurz die Augen und starrte auf die Straße. Nach einer schnellen Übersicht schloss er sie wieder. “Der Mist, über den sie im Fernsehen reden. Man sieht so viele verschiedenen Endzeit Sendungen. Vulkane, Kometen und Asteroiden, Nuklear-Explosionen, GW. Wahrscheinlich ein Dutzend am Tag. Keine davon behandelte so etwas.”
“Ich glaube nicht, sie dachten an so etwas als sie über das Ende der Welt sprachen,” sagte Taylor.
“Kommt es nur mir so vor, oder scheint die Nacht ewig zu dauern? Es scheint als hätte ich ewig lange kein Tageslicht gesehen, dabei waren es nur ein paar Stunden.”
Taylor öffnete das Fenster einen weiteren Spalt. Der kalte Luftzug half seiner plötzlichen Müdigkeit.
“Ich kann übernehmen, Alter.”
“Ja, ich bin okay, brauche nur eine Ohrfeige. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, schau mal ob du ihr Handy finden kannst. Mal sehen ob wir hier Empfang bekommen.”
Carl setzte sich auf und drehte sich bis er den Rücksitz erreichen konnte. Tina hatte ihr Handy in der Hand. Ihr Griff hatte sich im Schlaf gelockert und Carl konnte es nehmen ohne sie aufzuwecken.
“Sie ist damit eingeschlafen.”
“Wahrscheinlich wartet sie darauf, dass ihr Vater anruft. Wieviele Bars?”
Carl flippte das Handy auf, das Display badete sein Gesicht in blaues Licht. “Dreieinhalb wie’s aussieht.”
“Nicht schlecht. Versuch, Angie anzurufen.”
Carl wählte und horchte. “Nichts. Ging direkt zu ihrer Mailbox. Das ist nicht gut. Sie geht nie ohne das Ding irgendwohin.”
“Das bedeutet nichts. Könnte sein, dass sie in Eile war. Wenn dein Anruf zu ihrer Mailbox ging, wissen wir zumindest, dass der Mobilfunk noch funktionieren. Versuch Mutter und Vater’s – vielleicht die Standleitung zuerst.”
“Sagt nur, die Nummer ist nicht länger erreichbar.”
“Das Festnetz ist unten. Versuch ihr Handy.”
Carl wählte die Nummer. Wartete. “Mailbox.”
“Ruf jemand anderen an.”
Carl sah auf die Handy-Tastatur. Nach einem Moment sagte er, “Ich weiß keine anderen Nummern. Sie sind in meinem Handy gespeichert. Ich kann mich an keine erinnern.”
“Neun-neun-eins.”
“Wieder nichts, “ sagte Carl. “Gibt einem das Gefühl, verdammt ageschnitten zu sein von der Welt.”
Taylor umklammerte das Steuer fester. “Ich sage dir, es macht keinen Sinn.”
“Da hast du recht.”
“Es ist nicht nur, was mit den Menschen passiert.”
“Tollwut,” sagte Carl.
“Nenn es wie du willst. All das hat erst gestern angefangen. Vor knapp zwölf Stunden. Die Gesellschaft kann nicht so schnell zusammenbrechen.”
“Wie willst du das wissen?”
“In Ordnung. Eine Naturkatastrophe könnte den Strom ausfallen lassen, Telefone, den ganzen Kram. Aber ich begreife nicht, was jetzt vor sich geht. Die Leute mit dieser Krankheit oder was immer es ist…sie sind verrückt. Wahnsinnige. Sie haben offensichtlich nicht viel von der Intelligenz behalten, die sie hatten bevor sie sich veränderten. Guck mal wie lange sie brauchten, in den Laden zu gelangen.”
“Aber sie fanden uns dort.”
“Was ich meine ist, es muss eine Erklärung dafür geben, warum alles derart schnell ausfällt. Wir wissen, das Festnetz unserer Eltern ist auch tot. Das lässt mich glauben, es ist überall so.” Taylor trat auf die Bremse als sie auf ein Fahrzeug trafen, das am Straßenrand stand. Die Tür auf der Fahrerseite war offen. Kleidungsstücke waren um das Auto herum verstreut. Es waren keine Körper zu sehen.
“Was glaubst du, wo sind die hin? Im Wagen ist nichts und niemand. Und die ganze Kleidung auf dem Boden. Das kann nichts Gutes bedeuten. Es macht mir Angst.”
Carl rollte sein Fenster hinunter als sie das verlassene Fahrzeug passierten. “Ich sehe niemanden im Auto,” meinte er, spuckte aus dem Fenster und schloss es wieder.
“Hörst du mir zu?” fragte Taylor.
“Ich höre zu.”
“Wenn diese Dinger nicht viel besser sind als kannibalische Dorfdeppen, was ist mit den anderen Vorfällen? Sie haben den Strom nicht abgedreht. Also wer dann? Das kann nicht nur Zufall sein. Wenn es nur die eine Stadt wäre, würde ich es vielleicht noch schlucken.”
“Jaa, ich kapier’s, es ist alles verdammt merkwürdig. Aber ehrlich, Bruderherz, das ist mir sowas von egal. Ist das wirklich wichtig? Solche Rätsel zu lösen. Ich will nach Hause. Ich will sicher sein, dass es Angie und Mutter und Vater gut geht.”
“Und ich will das nicht?”
“Das behaupte ich doch gar nicht. Ich sage dir, was ich will. Im Moment kümmert es mich nicht, warum Dinge passieren. Hör zu, du bist der einzige von uns dreien, der sich noch nicht ausgeruht hat. Lass mich eine Weile fahren. Hör mal auf, den Helden zu spielen und tu so als wärst du menschlich wie der Rest von uns. Wir tauschen den Platz und ich fahre die restliche Strecke. Schalte deine Gedanken ab, Alter.”
Taylor seufzte und hielt dann an. Er öffnete die Tür und die Deckenleuchte ging an.
Tina erwachte aus ihrem unruhigen Schlaf und sagte, “Was ist los? Sind wir da?”
“Nein. Wir tauschen die Plätze. Schlaf weiter.”
Sie hat viel durchgemacht, dachte Taylor. Ich hoffe, es hat sie nicht ihren ganzen Kampfgeist gekostet.
Carl stellte den Fahrersitz etwas zurück. “Verdammt, du bist kurz.”
“Das kommt mit dem Alter.”
“Klar. Wenn du das sagst, alte Frau.”
“Bleib einfach auf dem Highway.”
“Ich kenne den Weg.”
Taylor verstellte seinen Sitz nach hinten. Er schloss die Augen und lauschte dem Wind und dem seltsamen grummelnden Beschwerden des Ford-Motors. Der Rhythmus der Fahrt, jede Bodenwelle, Delle und Unebenheit in der Straße beruhigte ihn.
Das hättest du früher tun sollen, dachte er, und spürte, wie er in eine andere Welt glitt. Eine, die nicht endete.