Kapitel 2: Dave’s Haushaltswaren
Eine Stunde verging. Sie hatten die ganze Zeit kein Geräusch rennender Füsse gehört. Die Meute war nicht wieder am Schaufenster vorbeigekommen.
Taylor sperrte die Ladentür auf und öffnete sie, erst vorsichtig mit einem Blick die Straße hinauf und hinunter. Die Stadt wirkte still und leer. Die Wolken hatten sich geteilt, der Himmel war klar und einen Moment lang bewunderte Taylor die Sterne und die gebogene Mondsichel. Mit der Nacht war die Kälte gekommen und er wünschte, er hätte eine Jacke. In einer kalten Nacht war der Himmel immer klarer. Er wusste nicht, wieso das so war. Er dachte, vermutlich gab es eine wissenschaftliche Erklärung dafür.
Er trat auf den Gehsteig vor dem Laden, Carl hielt hinter ihm die Tür auf. “Die Luft ist rein,” flüsterte er. Bevor er die Ladentür aufsperrte, hatte Taylor deutlich gemacht, dass sie von nun an flüstern sollten. Carl hatte die Augen verdreht.
Sie gingen an den Gebäuden entlang und beide warfen regelmäßig einen Blick über ihre Schultern.
“Es ist nicht so weit. Hinter der Glasscheibe wirkte es viel weiter,” sagte Carl und meinte damit das Haushaltswarengeschäft.
Einige Häuserblocke weiter endete die Straße. Es war, als würde man den Rand der Welt sehen, dachte Taylor für sich. Ein Schritt weiter und man würde zwangsläufig über den Rand fallen. Er deutete nach vorne und sagte, “Da oben endet die Straße. Wenn wir losfahren müssen wir entscheiden, ob wir links oder rechts abbiegen sollen.”
“Links. Links abbiegen bringt uns näher zur Autobahn,” sagte Carl.
Sie überquerten die Straße. Taylor nahm an, sie sahen aus wie zwei Dumme, die praktisch auf Zehenspitzen auf dem Asphalt liefen.
“Fühlt es sich so an? Hast du das gemeint? Sich wie der letzte Mensch auf Erden zu fühlen wenn man mitten in der Nacht in der Stadt herumwandert.”
“So ähnlich. Stell es dir so vor, aber ohne das Gefühl drohenden Unheils.”
Carl erreicht als erster die Ladentür von Dave’s Hardware. Er zog kurz am Griff und schüttelte den Kopf. “Kein Würfel,” sagte er. “Verschlossen. Wir wir angenommen hatten.”
Taylor ging an der Vorderseite des Ladens entlang. Zwischen Dave’s Hardware und der Apotheke daneben war eine enge Gasse, kaum weit genug um ein Auto durchzufahren. “Lass es uns dort unten versuchen.”
Carl hörte den Klang seiner eigenen Schritte. Sie waren ihm noch nie so laut vorgekommen, aber jetzt klang jeder Schritt, den er tat, wie ein Donnerschlag.
Als sie den Parkplatz hinter dem Haushaltswarenladen erreichten, bemerkten beide dasselbe Ding zuerst. “Ein Auto!” sagte Carl.
Es war ein gebrauchter Ford Escort, der seit mindestens einem Jahrzehnt keinen guten Tag mehr gesehen hatte. Ein Überbleibsel aus den Neunzigern, dachte Taylor. Carl lief darauf zu und versuchte alle Türen. Alle waren abgesperrt. “Shit!”
“Wer immer es hier geparkt hat, hat es richtig nah an der Hintertür abgestellt. Da sind nicht mehr als zwei Fuss zwischen der Tür und der vorderen Stoßstange.”
“Vielleicht waren sie in Eile. Gehört bestimmt einem Mädel. Kein Kerl würde ein Pinguin-Stofftier vom Rückspiegel hängen haben.”
“Nicht so sehr in Eile um zu vergessen, die Autotüren abzuschließen,” sagte Taylor und versuchte, die Hintertür des Ladens zu öffnen.
Sie war unverschlossen.
“Ich fass es nicht,” sagte Carl. “Wie groß ist die Chance? Wäre ein guter Tag gewsesen, um ein Lottoticket zu kaufen.”
Taylor betrat das Gebäude zuerst, seine Hand berührte instinktiv seine Hosentasche um das beruhigende Teppichmesser zu spüren.
Der Raum war dunkel und roch nach Öl und Sägestaub. Sie waren mit demselben Geruch aufgewachsen, der dauernd aus der Werkstatt ihres Vaters wehte. Taylor mochte ihn nie; als Kind war er schlecht für seine Allergien.
“Ich sehe rein gar nichts,” sagte Carl.
“Ich weiß. Also sei vorsichtig. Bleib einfach hinter mir.”
Taylor tappte nach rechts, seine Arme vor sich ausgestreckt, ging er langsam vorwärts bis seine Fingerspitzen die Wand berührten. Er drückte beide Handflächen gegen die Wand und folgte ihr bis er die Wand vor ihnen erreichte. Er folgte ihr bis das Material unter seinen Händen von einer rauhen Trockenbauwand zu glattem, lackierten Holz wechselte. Er tastete es mit seiner rechten Hand ab bis er den Rand zwischen Tür und Wand spürte. Dann war es einfach, den Türgriff zu finden.
Carls Hand lag auf seiner Schulter.
Taylor sagte, “Ich habe die Tür gefunden.”
Er öffnete sie und einen Moment später konnten sie wieder sehen. Das Licht der Straßenlaternen schien durch die vorderen Fenster und gab genug Licht ab um durch den Laden zu wandern. Lange Regalreihen verliefen von einer Seite des Ladens zur anderen. Umschattete Dinge standen entlang der Wände und erschienen im schwachen Licht etwas bedrohlich.
“Sieht von hier drinnen viel größer aus,” sagte Carl. Er hatte wieder etwas seines früheren Selbstvertrauens wiedererlangt. Nachdem sie ohne Vorfälle die Straße überquert und es in den Laden geschafft hatten, begann er zu denken, dass vielleicht alles in Ordnung sein würde; dass die Verrückten jetzt vielleicht etwas anderes jagten.
Sie wanderten die Gänge hinunter. Die Straßenlampen gaben genug Licht um zu sehen wenn man im vorderen Teil des Ladens nahe der Kassen war, aber die dunklen Gänge abzusuchen war schwieriger. Taylor suchte nach Taschenlampen. Er beauftragte seinen Bruder damit, Batterien ausfindig zu machen und verschiedene zu nehmen.
Es dauerte fünf Minuten bis er den Gang fand, wo die Taschenlampen waren. Er nahm unterschiedliche von den Haken und entfernte die harte Plastikverpackung mit dem Taschenmesser. Er klemmte sie unter seinen Arm und brachte sie zur Vorderseite des Ladens, wo er sie am Boden aufreihte,, wo das einfallende Licht gut war.
Carl kam mit mehreren Batterienpackungen in jeder Hand zurück. Taylor sah sie sich an. Er gab Carl eine der Packungen und sagte, “Nimm die. Sie gehören zu dieser.” Er beschäftigte sich mit einer der anderen Taschenlampen, drehte das Endstück wieder fest und stellte den Schalter auf AN. Die Taschenlampe sandte einen Lichtstrahl einen der Gänge hinab. Einen Moment später funktionierte Carls ebenso.
“Okay. Das ist erledigt, lass uns etwas anderes Nützliches finden. Aber sei sicher, wir können es ohne große Probleme tragen. Halte nach Autoschlüsseln Ausschau. Sie müssen irgendwo hier sein, es sei denn, der Besitzer des Ford ist mit ihnen in der Hosentasche nach draußen gelaufen. Ich sehe bei der Kasse nach. Schau im Hinterzimmer nach wenn du willst. Dort war es stockfinster als wir hereinkamen. Es könnte ein Büro oder so etwas dort sein. Im schlimmsten Fall versuchen wir, das verdammte Ding kurzzuschließen.”
“Und wann hast du gelernt, wie man das macht?”
“Ich weiß nicht, wie man es macht, aber wenn es je eine Zeit gab um es zu lernen, dann ist es vermutlich jetzt. Es würde die Dinge viel einfacher machen wenn es so leicht ginge.”
“Verlass dich nicht drauf,” sagte Carl und fing an, einen der Gänge hinunter zu gehen, der Strahl seiner Taschenlampe tanzte vor ihm hin und her.
Taylor warf einen Blick aus dem vorderen Fenster. Die Straße war immer noch leer. Er war dankbar dafür.
Er richtete den Strahl auf die Kassenbereich, über den Tresen und die Kasse und dann entlang der Regale dahinter. Keine Schlüssel. Er nahm den Gang weit links. Verschiedene Geräte für die Arbeit im Freien hingen an der Wand links von ihm: Schaufeln, Leitern, Schläuche, Gartenwerkzeuge, Tüten mit Erde, Heckenscheren; und ein ganzer Bereich für veschiedene Arten von Handschuhen.
Taylor langte nach oben und nahm die Heckenschere vom Haken. Sie war seltsam und schwer, sie mit nur einer Hand zu schwingen, er legte sie beiseite und setzte seinen Weg entang der Wand fort.
Taylor fand Gasbehälter am Ende des zweiten Ganges. Sie waren aus haltbarem Plastik und er nahm eine davon. Weiter unten im Gang fand er eine Auswahl von Sprühflaschen. Er durchsuchte die Gänge bis er den Bereich für Farben fand und ein Leinwand-Abdecktuch ausfindig machte. Er brachte es in den anderen Gang, breitete es auf dem Boden aus und ließ den Gasbehälter und mehrere Sprühflaschen in die Tuchmitte fallen. Er faltete die vier Ecken und legte sich das Tuch über die Schulter, wobei er sich ein wenig fühlte wie der Weihnachtsmann mit einem Sack voller Geschenke.
Carl kam um die Ecke und leuchtete mit der Taschenlampe in Taylors Gesicht.
“Nimm das Ding aus meinem Gesicht,” sagte Taylor.
“Was hast du da?” fragte Carl und richtete den Lichtstrahl auf den selbstgemachten Leinwandsack.
“Einen Gasbehälter und Sprühflaschen. Ich dachte, wir können sie mit Wasser füllen bevor wir hier abhauen.”
“Siehst du was ich hier habe?” Carl hielt seine Hand hoch. Er hielt eine Machete. “Ich dachte, sie könnte nützlich sein.”
“Hast du die Schlüssel gefunden?”
“Ich war noch nicht hinten. Du?”
“Vorne bei den Kassen ist nichts. Hast du sonst irgendwas Brauchbares gefunden?”
“Nicht wirklich.”
“Lass uns nach hinten gehen und nach –“
Das donnernde Getöse fing wieder an. Zuerst entfernt, dann wurde es mit jeder Sekunde lauter. Tayler schaltete seine Taschenlampe aus und bedeutete Carl, es ihm nachzutun. Sie setzten jeweils auf eine Seite des Ganges mit dem Rücken gegen die kalten Metallregale, und sahen zu, wie die Meute am vorderen Schaufenster vorbeizog.
“Sie rennen immer noch,” sagte Carl. “Ich kann es nicht glauben. Sie werden wohl nie müde. Es ist fast als würden sie Runden drehen. Die Stadt ist nicht so groß, nicht wahr? Vor wievielen Stunden haben wir sie zuletzt gesehen? Wenn sie die ganze Zeit gerannt sind, warum haben sie so lange gebraucht, wieder hierher zu kommen?”
“Frag mich nicht. Vielleicht haben sie unterwegs etwas gefunden, wonach sie suchten. Vielleicht haben sie für einen Fraß beim Diner im Ort angehalten.”
Sie blieben sitzen bis der Klang der laufenden Füsse der Meute nicht mehr zu hören war. Taylor stand auf und schulterte den selbstgemachten Leinwandbeutel. “Lass uns nachsehen ob wir die Schlüssel im Hinterzimmer finden, dann überlegen wir unser weiteres Vorgehen.”
Carl hatte eine Scheide für die Machete gefunden und sie an seinem Gürtel befestigt, er sah aus wie ein moderner Pirat, armiert mit einer Machete an seiner linken Hüfte.
Das Hinterzimmer von Dave’s Hardware war geräumiger als das im Kleidergeschäft für Frauen. Entlang der Wände befanden sich Kisten. Es gab ein Bad ein kleines Büro, in dem nur Platz war für einen Schreibtisch und einen Stuhl. Über dem Schreibtisch hing eine Korktafel bedeckt mit Rechnungen und Post-It Notizen.
Taylor checkte den Schreibtisch. Er durchstöberte die Schubladen ohne Erfolg.
“Ich wußte, es würde nicht so einfach sein, aber aus irgendeinem Grund hatte ich doch Hoffnung.”
Er legte das Leinwandtuch ab, öffnete es und gab Carl einige der Sprühflaschen. “Füll die auf. Danach können wir draußen am Escort rumwerkeln. Schlimmstenfalls schaffen wir es nicht, ihn kurzzuschließen und müssen einige der Sachen hierlassen. Ich werde all das hier nicht sehr weit tragen können wenn es einmal mit Wasser gefüllt ist.”
Taylor hörte dem Geräusch des laufenden Wassers im Waschbecken im Bad zu als Carl die Flaschen füllte. Alles worum er gebeten hatte war, die Autoschlüssel zu finden. Es war eine kleine Bitte, aber aus irgendeinem Grund hatte Gott entschieden, sie nicht zu gewähren. All dies folgte einer gewissen pessimistischen Logik, die er über die Jahre entwickelt hatte. Ging das so weiter, würden sie auch mit dem Escort Pech haben. Er war sich da so sicher wie er siche war, dass sie die Schlüssel nicht finden würden.
Aber mitunter hat man doch Glück.
“Fertig,” sagte Carl.
“Leg sie hierhin. So weit in die Mitte wie möglich.”
Carl arrangierte die vollen Flaschen und den Gasbehälter auf dem Leinwandtuch. Als er fertig war, faltete Taylor die Ecken wieder.
Carls Hand lag auf dem Griff der Ausgangstür. Er sah sich zu Taylor um bevor er sie öffnete. “Bist du soweit?”
“Mach es.”