Der Aufbewarier

Axel Dauts zweiter Fall

 

 

Berlin 1943. Angst beherrscht die Stadt. Während die einen Nacht für Nacht in die Bunker flüchten, versuchen die anderen verzweifelt, ihren Häschern und damit der Verschleppung und Ermordung zu entkommen.

 

Nach einem Luftangriff wird in einem Keller die zerstückelte und kopflose Leiche einer Frau gefunden. Der zum Wachtmeister degradierte Kriminalpolizist Axel Daut wird von seinem Freund und Ex-Kollegen zu den Ermittlungen hinzugezogen.

Bei der Suche nach dem Mörder gerät Daut in ein menschliches Panoptikum aus Gejagten, stillen Helden und bedenkenlosen, sich schamlos bereichernden Opportunisten. Er trifft aber auch auf Frauen, die mit dem Mut der Verzweiflung um ihre Männer und ihr kleines, privates Glück kämpfen und er lernt einen der größten Stars seiner Zeit kennen.

Am Ende findet Daut die Wahrheit, von der die Welt aber nie erfahren wird.

 

 

„Ein Krimi, der Geschichte erfahrbar macht. Der Zeitgeist ist auf jeder Seite spürbar. Exzellent recherchiert.“

(Ein Leser bei Amazon)

 

Historisch ausgezeichnet recherchiert, psychologisch überzeugend, spannend.“

(Eine Leserin bei Amazon)

 

 

 

Leseprobe

 

 

Freitag, 26. Februar 1943

 

Eins

 

Wie schnell nach dem infernalischen Lärm Stille eintrat. Niemand redete, kein Geräusch, nicht einmal ein Husten oder Niesen. Nur das konzentrierte Lauschen, das gespannte Warten darauf, dass die Sirenen, die vor nicht einmal einer Stunde mit jaulendem, an den Nerven zerrendem Auf- und Abschwellen Tod und Verderben angekündigt hatten, zur Entwarnung bliesen. Wie leise hundert Menschen sein konnten. Die Angst schnürte die Kehlen zu. Sie lebten, aber was würde sie draußen erwarten? Die letzte Bombe war nicht weit entfernt eingeschlagen, die Detonation hatte den Keller erzittern lassen. Die Tommies waren schon auf dem Rückweg, vielleicht war es ein Notabwurf eines angeschossenen Bombers oder eine fehlgeleitete Mine. Als der letzte Sirenenton verklungen war, öffnete Axel Daut die Tür des Luftschutzkellers, stieg die Stufen zum Erdgeschoss hinauf und trat hinaus auf die Straße. Tief atmete er die frische, kalte Luft ein. Es war eine dunkle Neumondnacht, wegen der Verdunkelung von keinem Licht erhellt. Daut blickte hinauf. Nur im Nordwesten leuchtete ein roter Streifen am Himmel. Die Engländer hatten das Zentrum ins Visier genommen, sein Viertel im Südwesten Berlins war wieder einmal verschont geblieben. Fast jedenfalls, denn als Daut nach rechts schaute, sah er, wie sich Flammen langsam, aber stetig durch den Dachstuhl eines fünfstöckigen Hauses fraßen. Daut lief auf das etwa dreihundert Meter entfernte Gebäude zu, mit der rechten Hand den Tschako festhaltend. Er trug dieses Ding jetzt schon zwanzig Monate und hatte sich immer noch nicht an die nutzlose Kopfbedeckung gewöhnt. Als er noch hundert Meter von dem brennenden Haus entfernt war, erschreckte ein ohrenbetäubender Knall ihn derart, dass er hinter einer Hofmauer Schutz suchte. Asche flog durch die Luft, und ein pfeifendes Geräusch schmerzte im Ohr. Irgendwo war eine Gasleitung zerborsten, hoffentlich funktionierte die Notabschaltung. Daut verließ seine Deckung und ging weiter auf das Haus zu. Aus einer Dachluke schob sich der Oberkörper eines bulligen Mannes. Er legte eine Leiter aufs Dach, auf der er sich langsam in Richtung des Brandherdes schob. Ein zweiter Mann tauchte auf und folgte ihm. Ein dritter reichte ihnen einen Eimer heraus. Die immer höher schlagenden Flammen setzten die Szenerie in grelles Licht, die Schatten der Männer tanzten auf den Dachpfannen wie die Figuren einer Laterna magica. Die Löschkette schien zu funktionieren, denn Eimer auf Eimer wurde zum ersten Mann hinaufgereicht, der das Wasser in die Flammen goss. Sie hatten Glück gehabt und konnten ihr Hab und Gut retten.

Dauts Hilfe wurde hier nicht benötigt, also ging er weiter. Eine Frau hastete aus einer Seitenstraße, in der Hand eine abgewetzte, alte Tasche. Schweigend lief sie an Daut vorbei. Vermutlich hatte der Angriff sie beim Besuch einer Freundin oder Verwandten überrascht und sie wollte jetzt so schnell wie möglich nach Hause. Aus einem Hauseingang trat ein Junge. Für einen Moment glaubte Daut, in dem dreizehn oder vierzehn Jahre alten Steppke seinen Sohn Walter zu erkennen. Dabei sah er ihm nicht einmal ähnlich mit seinen dichten, flachsblonden Haaren.

»Wachtmeister! Hierher! Schnell!«

Der Junge verschwand wieder im Haus. Daut beschleunigte seine Schritte und folgte ihm.

»Hierher!«

Die Stimme kam aus dem Keller. Daut suchte den Lichtschalter. Als er ihn gefunden hatte, drehte er vergeblich. Stromausfall. Vorsichtig tastete er sich durchs stockfinstere Treppenhaus die Stufen hinunter.

»Die verdammte Tür hat sich verkeilt.«

Dauts Augen hatten sich noch nicht vollständig an die Dunkelheit gewöhnt. Er erkannte nur schemenhaft, dass der Junge mit aller Kraft an der Tür zum Luftschutzkeller riss.

»Die sind alle noch da drin. Meine Mutter auch.«

»Und wo warst du?«

»Bei meiner Oma in der Eylauer Straße.«

Das war nur ein paar Querstraßen entfernt. Vermutlich war der Junge direkt nach der Entwarnung losgelaufen.

Daut schob ihn zur Seite.

»Lass mich mal.«

Er zog an der Klinke und stemmte den Fuß gegen die Mauer.

»Ach du meine Güte«, sagte der Junge, »da denk’ste, du rufst einen kräftigen Polizisten zu Hilfe, und was kriegst du: einen Krüppel.«

Daut ignorierte die Frechheit. Inzwischen hatte er sich an die Dunkelheit gewöhnt. Links vom Eingang des Luftschutzraumes stand eine Kellertür auf. Ein gutes Dutzend Holzpfähle lag an einer Wand aufgestapelt. Sie waren an einem Ende angespitzt, vermutlich hatten sie einmal als Zaun ein Grundstück umfriedet.

»Na, sieh mal einer an«, sagte der Junge. »Da hat der olle Westphal wohl irgendwo einen Jägerzaun geklaut, damit er es mit seiner Alten schön warm hat in der Stube.«

Daut ergriff einen der Pfähle. Wie beim Mikadospiel, das er früher wegen seiner fehlenden Hand zwar gerne, aber doch erfolglos mit Luise gespielt hatte, fiel der gesamte Stapel Pflöcke zusammen. Er wiegte einen in der Hand und ging zurück zur Luftschutztür. Dabei stolperte er über einen gewaltigen, mitten im Kellerflur stehenden Pappkarton. Er wollte ihn mit dem Fuß zur Seite schieben, schaffte es aber nicht, ihn auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

»Verdammt, was ist denn da drin? Wackersteine?«

Daut stieg über den Behälter und setzte den Pfahl an der Tür an.

»Hilf mir mal!«

Der Junge lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen das Pfahlende. Gemeinsam zogen sie am Hebel, und die Tür gab nach.

Eine sehr kleine, sehr alte Frau drückte die Tür mit beiden Händen von innen endgültig auf.

»Na endlich! Wir wollten schon die Mauer in den Nachbarkeller aufbrechen. Wie sieht es draußen aus?«

»Nicht viel passiert.«

Daut zwängte sich an ihr vorbei in den Keller.

»Alles in Ordnung hier? Niemand verletzt?«

»In Ordnung ist nichts«, antwortete ein Mann, den Daut auf etwa sechzig Jahre schätzte. Sicher war er sich nicht, der Krieg ließ die Menschen schnell altern.

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie rausgehen. Wem gehört dieser Karton? Man sollte ihn wegräumen, sonst fällt noch jemand drüber.«

Der Mann, der zuvor nichts in Ordnung gefunden hatte, ergriff den Pappbehälter und ächzte, als er ihn hochhob. Mit Schwung warf er ihn zur Seite. Als er auf dem Boden aufkam, riss die rechte Hälfte auf. Ein in Zeitungspapier gehüllter Klumpen rollte heraus.

»Ist das Ihr Karton?«, fragte Daut.

»Sehe ich so aus, als hätte ich das schwere Ding hier reingeschleppt?«

Der Mann schlug das Papier zurück.

»Na, was haben wir denn da? Da hat wohl ein Volksgenosse sein schwarz geschlachtetes Schwein in Sicherheit bringen wollen.«

Daut konnte nicht erkennen, um was für ein Fleischstück es sich handelte. Für einen Schinken war es zu groß. Ganz frisch schien es auch nicht zu sein, denn ein leicht süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Er versuchte, den Fleischklumpen vollständig in den Karton zurückzustopfen. Das Zeug musste raus aus dem Keller. Als er mit einer Hand an dem Behälter zog, riss die leicht angenässte Pappe der Länge nach auf. Daut trat einen entsetzten Schritt zurück. Was dort aus dem Karton ragte, war ohne Zweifel eine menschliche Hand. Und ein Finger zeigte genau auf ihn.

 

 

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