Kapitel eins: Das Versprechen

 

 

Er öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Mantels. Obwohl vom See ein kalter Wind durch die Gassen wehte und das Thermometer zu dieser frühen Morgenstunde nur drei Grad zeigte, war ihm heiß. Er fürchtete, einen glühend roten Kopf zu bekommen. Dabei hatte er sich geschworen, gelassen zu bleiben. Es gab keinen Grund, aufgeregt zu sein. Er hatte alles durchdacht, seit Monaten feilte er an seinem Werk. Bis ins kleinste Detail hatte er die Komposition geplant, nichts war mehr dem Zufall überlassen. Über jede einzelne Pose, über Mimik und Gestik hatte er intensiv nachgedacht. Jederzeit konnte er das fertige Bild vor sein geistiges Auge holen. In Sekundenschnelle stand es vor ihm in seiner unbeschreiblichen Schönheit. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Monumental, bedeutend, in die Zukunft weisend.

Bevor seine Gedanken sich aus der Wirklichkeit lösten, zwang er sich zur Konzentration. Er durfte jetzt nicht träumen, sich nicht am eigenen Tun berauschen. Er musste hellwach sein. Die kommenden Tage sollten die bedeutsamsten seines Lebens werden. Danach würde nichts mehr sein, wie zuvor. Heute war der letzte entspannte Tag, den er nutzen wollte, um sich mit dem Terrain vertraut zu machen.

Er bog in die Münsterstraße ein und stieß fast mit einem Fahrradfahrer zusammen, der an diesem kalten Morgen nicht mit einem Spaziergänger gerechnet hatte. Die wenigen Fußgänger gingen zielstrebig in der Mitte der Straße. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zu einem Arzt. Morgen würde das Geschäftsleben in der Stadt auf ein Minimum reduziert. Keiner hatte einen Blick für die Auslagen der Geschäfte, wo Luftschlangen, Konfetti und mit den typischen Kostümen der alemannischen Fastnacht bekleidete Puppen auf die kommenden Tage hinwiesen. Vor einigen Läden lagen lange Holzbretter, mit denen spätestens am Donnerstag viele Händler ihre Schaufenster verrammeln würden. Zu schnell ging im Taumel der Massen etwas zu Bruch.

Fast wie vor einer Großdemonstration in Berlin, nicht fröhlich, eher bedrohlich wirkte die Szenerie. Daran änderten auch die bunten Bänder aus Stofffetzen nichts, die im Abstand von einem Meter über die Straße gespannt waren und ihr ein Dach gaben.

 

Monate lang hatte er über den passenden Zeitpunkt gegrübelt, bis ihm der Einfall kam, der seinem Vorhaben die Richtung gab. Eine ganze Stadt im Taumel der Sinne, was könnte seinem Plan dienlicher sein? Bisher hatte er die Fastnacht nicht gemocht. Zu grell, zu lärmig, zu zügellos - Opium für das gemeine Volk, damit es für ein paar Tage sein Elend vergaß. Nichts für Feingeister.

Jetzt aber würden ihm die tollen Tage liefern, was er als Letztes zur Vollendung seines Werkes brauchte. In den Straßen dieser Stadt würde es ihm in den nächsten Tagen gelingen, nicht zu kopieren, sondern zu erschaffen.

Als er in die Kanzleistraße einbog, trat zwei Meter vor ihm eine Frau aus einer Drogerie. Sie war kaum zwanzig und ging mit ausladenden Schritten Richtung Marktstätte. Nur mit Mühe konnte er ihr folgen. Warum rannte er hinter ihr her? »Bleib ruhig«, murmelte er. »Es ist noch zu früh.«

Erst morgen, am Mittwoch, wenn die Fastnacht ihren Anfang nahm, würde er sein Werk beginnen. Aber war es nicht oft so gewesen, dass alle Planung unwichtig wurde, wenn ihn der kreative Blitz traf, aus dem jedes Kunstwerk sein Leben erhielt, jenen besonderen Glanz, der sich später in den Augen der Betrachter widerspiegelte?

Er griff in die rechte Manteltasche und schloss die Hand um die kleine Flasche. Er wollte sie erst nicht mitnehmen, hatte sich aber ohne darüber nachzudenken anders entschieden. War das der Wink einer höheren Macht, dem zu folgen ein Künstler früher oder später lernte? Er beschleunigte seine Schritte, um die Frau nicht zu verlieren. Ihr dichtes, leicht gewelltes schwarzes Haar wippte über den Kragen der weißen Felljacke. Er hatte sie nur eine Sekunde lang von vorne gesehen, aber sie war eindeutig schlank. Ihr fester Gang ließ darauf schließen, dass sie nicht dürr war, sondern weibliche Formen und Rundungen hatte. Ging dort sein erstes Modell? Als sie an einer Galerie in Höhe des Kaiserbrunnens stehen blieb, überholte er sie. Dabei sah er für einen Moment ihr Spiegelbild im Schaufenster. In seinem Kopf überstürzten sich die Bilder. In Sekundenbruchteilen stanzte sein Gehirn die Unbekannte in das Mosaik seines Werkes. Wer war sie? Was verkörperte sie? Das Versprechen? Die Verführung? Die Hingabe? Als sein fieberhaft arbeitender Geist sie in das letzte Feld setzte, blieb er abrupt stehen.

»Stopp«, sagte er so laut, dass er erschrak. Sofort drehte er sich um. Sie hatte es nicht gehört, sondern betrachtete weiter das Schaufenster. Wie immer funktionierte es. Wenn sein Kopf zu zerplatzen schien und die Gedanken sich verselbstständigten, konnte er sich mit diesem einen Wort zur Ruhe bringen. Dem kreativen Impuls zu folgen, war gut, doch er durfte ihn nicht ins Chaos führen. Sein Werk hatte Anfang und Ende. Die Reihenfolge stand fest. Zuerst kam das Versprechen. War sie es? Das Haar, die Kleidung, die frauliche Figur passten. Die Frau drehte sich um. Sie kam direkt auf ihn zu. Fast hatte sie ihn erreicht, ehe er einen Schritt zur Seite machte. Sie lächelte ihn an und senkte leicht den Blick. In dieser unscheinbaren Geste lag, was er suchte.

Er sah aus den Augenwinkeln, dass sie das Café »Marktstätte« betrat. Er tastete erneut nach dem Fläschchen und bereute, die Wirkung nicht vorher ausprobiert zu haben. Er musste der Beschreibung auf der Internetseite vertrauen. Demnach hatte er ausreichend Zeit für sein Vorhaben.

Er atmete tief durch und spürte, dass seine Nervosität nachließ. Tiefe Ruhe stellte sich ein ‒ wie jedes Mal, wenn er mit einem Werk begann. In dieser Sekunde war alle Falschheit aus der Welt. Alles war an seinem Platz.

Mit festen Schritten ging er auf das Café zu und drückte die Eingangstür auf.

 

 

***

 

 

Thal erwachte, schloss die Augen aber sofort wieder. Er fürchtete, Leah ansonsten zu verlieren. Es war, als schmiege sie sich an ihn, wie sie es morgens getan hatte, wenn sie nach einer im Atelier durchgearbeiteten Nacht zu ihm ins Bett kroch. Das Gefühl war derart real, dass er den Arm nach hinten streckte, um sie enger an sich zu ziehen und seine Hand an ihrem Rücken herunterwandern zu lassen. Er war enttäuscht, nur die kalte Sitzlehne der Wohnzimmercouch zu spüren, zog den Arm zurück und konzentrierte sich auf die Wärme, die ihn vom Hals abwärts umhüllte. Er wollte die Empfindung in jeder Zelle seiner Haut speichern. Thal war ein rationaler Mensch und Skeptiker. Trotzdem hatte er insgeheim auf einen solchen Moment gewartet. Einhundertvier Tage waren seit dem Unglück vergangen, mit dem sein bisheriges Leben endete, ohne dass ein neues an seine Stelle getreten war. Einhundertvier Tage, in denen er nur auf Leah wartete, obwohl er wusste, dass sie nicht kommen würde. Sie war tot, und der Tod war das Ende. Daran zweifelte er nicht. Als seine Mutter ihm nach Leahs Beerdigung erzählte, dass sein Vater vier Wochen nach seinem Tod an ihrem Bett gestanden hätte, streichelte er ihr liebevoll über den Arm. Sie beteuerte, dass es kein Traum gewesen sei. Ihr Mann, sein Vater, habe sie fast eine Minute stumm, aber glücklich lächelnd angesehen. Thal war sich sicher: Das war nichts als eine Halluzination. Der Wunsch war der Vater dieser Erscheinung.

In den Tagen nach der Beerdigung, die er benebelt von Wein und Whiskey in der abgedunkelten Wohnung verbracht hatte, kroch die Vorstellung in sein Hirn, in den unzähligen, in allen Kulturen verbreiteten Mythen vom Leben nach dem Tod stecke möglicherweise doch ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht wollten die Verstorbenen doch mit den Lebenden Kontakt aufnehmen. Er wehrte sich gegen diesen Gedanken, trauerte und trank. Der Alkohol betäubte ihn. Wenn er morgens mit einem Geschmack von Seetang auf der pelzigen Zunge und pochendem Schmerz im Hinterkopf erwachte, prüfte er als Erstes, ob der Schnapsvorrat für den nächsten Tag reichte. So viel er auch trank, die Sehnsucht ließ nicht nach. Nur seine Erinnerungen wurden unschärfer. Um sich Leahs Gesicht vorzustellen, musste er bald ein Foto zu Hilfe nehmen. Früher hatte er mühelos ganze Situationen wie nach Drehbuch in seinem Kopfkino abrufen und Szene für Szene anschauen können. Zehn Tage nach Leahs Beerdigung versuchte er abends ‒ die am Nachmittag geöffnete Whiskeyflasche war mehr als zur Hälfte geleert ‒, sich an den heißen Sommertag vor zwanzig Jahren zu erinnern, an dem der Kriminalkommissar Alexander Thal das winzige Atelier der jungen, noch unbekannten, indes nach Meinung ihrer Professoren zu großen Hoffnungen berechtigenden Künstlerin Leah Braasch betrat, um sie als Zeugin im Mordfall des über die Grenzen der Region hinaus bekannten Bildhauers Gottlieb Großmann zu befragen. So sehr er sich auch abmühte, er konnte sich nicht erinnern, ob Leah bei diesem ersten Treffen ein Kleid oder ihre weiten »Malerhosen« getragen hatte. Sollte der Alkohol etwa seine Erinnerungen löschen wie ein Virus die Dateien einer Festplatte? Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und goss den Whiskey in den Küchenausguss. Seitdem hatte er keinen Tropfen angerührt. War er jetzt belohnt worden, indem er Leah noch einmal spürte? Langsam nahm die Wärme in seinem Rücken ab, als wäre sie aufgestanden und hätte das Zimmer verlassen. Thal wusste, dass es ein endgültiger Abschied war. Leah würde nicht wiederkommen, aber seltsamerweise machte ihn das nicht traurig. Mit vorsichtigen Bewegungen stand er von der Couch auf. Bisher hatte er es nicht geschafft, das Bett im Schlafzimmer zu benutzen, er hatte das Zimmer seit damals nicht einmal betreten. Thal schaute auf die Uhr. Viertel vor acht. Im Zimmer war es trotz der großen Fenster noch dämmerig. Dabei gab es weder Vorhänge noch Gardinen. »Ohne Licht keine Farben, und ohne Farben kein Leben«, hatte Leah gesagt, als ihre Mutter bei einem Besuch anregte, bunte Stoffbahnen würden mehr Stimmung in die nüchterne Wohnung bringen. Thal schaute hinaus und konnte wegen des dichten Nebels kaum das gegenüberliegende Haus erkennen. Dabei war die Schreibergasse in der Konstanzer Niederburg das, was der Name suggerierte: ein wenige Meter breites Sträßchen.

 

»Ho Narro!«

Thal erschrak. Unten stand, fröhlich zu ihm heraufwinkend, eine Gruppe von fünf Kindern, die sich auf dem Weg zur Schule auf den Ruf einstimmten, der in den nächsten Tagen die Stadt beherrschen würde.

Thal hatte nicht daran gedacht, dass am heutigen Mittwoch die Fastnacht begann und morgen, am »Schmotzigen Dunschtig«, ihren ersten Höhepunkt erreichte. Zwar zählte er die Tage seit Leahs Tod, ordnete sie aber nicht in den Kalender ein. Auf dem Weg zur Küche, wo er sich den ersten seiner täglichen fünf Espressi zubereiten wollte, überlegte er, wie er die kommenden Tage überstehen sollte. Das war in der Niederburg, Konstanz ältestem Stadtteil und Hochburg des fastnächtlichen Treibens, eine ernsthafte Frage. Früher hatte Leah die Entscheidung getroffen. Nach Lust und ob sie eine kreative Schaffensphase hatte oder nicht, fuhren sie entweder ins Tessin oder stürzten sich in den Trubel und zogen bis in die Morgenstunden durch die Gassen der Altstadt, obwohl er pünktlich zum Dienst erscheinen musste. Für einen Konstanzer Polizeibeamten galt an diesen Tagen des allgemeinen Ausnahmezustands Urlaubssperre, egal, ob er Uniform trug oder ein Kriminalkommissariat leitete.

Als der belebende Duft des Kaffees den Raum durchzog, stand sein Entschluss fest. Er würde vor Aschermittwoch das Haus nicht verlassen, auch wenn er kaum zur Ruhe käme. Seit Leahs Tod arbeitete er nicht mehr. Sein Arzt hatte ihm sofort Arbeitsunfähigkeit bescheinigt und dieses Attest seitdem regelmäßig erneuert. Noch beim letzten Besuch sagte Dr. Wolters: »Überfordern Sie sich nicht! In Ihrem Beruf kommt es vor allem auf die psychische Stabilität an. Nur Sie selbst können entscheiden, wann Sie so weit sind.«

Thal war sich nicht sicher, ob er jemals wieder arbeiten wollte. Er wurde in diesem Jahr sechzig, und für Leah und ihn stand lange fest, dass er an diesem Geburtstag seinen Dienstausweis zurückgeben würde. »Wenn ich dich später als Tattergreis pflegen muss, will ich so viel wie möglich von dir haben, so lange du noch voll Saft und Kraft bist«, hatte Leah an einem Abend kurz vor ihrem Tod lachend gesagt und ihn anschließend ins Schlafzimmer gezogen. Sonst waren die fünfzehn Jahre Altersunterschied ohne Bedeutung, in diesem Punkt aber stimmten sie überein. Sie konnten nicht miteinander alt werden, also wollten sie wenigstens ein paar Jahre ausschließlich für sich haben, ohne dass er ständig auf Abruf stehen musste.

 

Unter der Dusche überlegte Thal, was er einkaufen müsse, um die Fastnachtswoche in seiner Höhle zu überstehen. Auf jeden Fall würde er den Doktor bitten, sein am Wochenende ablaufendes Attest erneut zu verlängern. Danach fühlte er sich frischer als in den letzten Wochen. Aus Angst, seine Müdigkeit könne zurückkehren, zog er sich den langen Wintermantel an, setzte den Hut auf und verließ die Wohnung, ohne gegessen zu haben. Das Frühstück war ihm nie wichtig gewesen. In den vergangenen einhundertvier Tagen hatte er an neunzig darauf verzichtet. Im Treppenhaus roch es nach frischen Brötchen. Thal verspürte Appetit.

Im Erdgeschoss fiel sein Blick auf die Reihe der fünf Briefkästen. Nichts deutete mehr auf den Anschlag hin, alle Spuren waren sorgfältig beseitigt. Angesichts der Höhe der Miete hatten die Bewohner Anspruch darauf, dass diese traurige Erinnerung schnell getilgt wurde.

Thals Briefkasten war der Letzte in der Reihe. Als er ihn öffnete, richteten sich die Haare an seinem Unterarm auf. Alle Sinne waren alarmiert, obwohl er wusste, dass keine Gefahr bestand. Zwar verfehlte die erste Bombe ihr Ziel, als sie Leah statt ihm die Arme abriss. Einen zweiten Versuch, ihn zu töten, würde es aber nicht geben. Andrea Simoni, der Attentäter, ein bis dahin in der Stadt gut angesehener italienischer Anwalt, saß im Gefängnis. Thals Kollegen hatten ihn wenige Stunden nach der Explosion festgenommen. Sie gingen von Anfang an davon aus, dass der Anschlag nicht Leah, sondern ihm galt. Deshalb verhörten sie alle Personen, die mit abgeschlossenen Fällen der letzten Monate zu tun hatten. Simoni stand ganz oben auf der Liste, denn er hatte Thal noch im Gerichtssaal Rache geschworen, als sein Sohn wegen Totschlags verurteilt wurde.

Im Briefkasten lag ein einzelner Brief von der Größe einer Kondolenzkarte. Ein bisschen spät, dachte er, und steckte ihn in die Manteltasche, eher er in die Kälte trat.

 

 

***

 

 

»Wenn Sie endlich zur Sache kommen, Kollegin Berg, werden wir vielleicht noch fertig, bevor hier die Narren die Herrschaft übernehmen.«

»Haben sie das nicht längst?« Bettina Berg erschrak über diese spontane Erwiderung, aber langsam reichte es ihr mit Gerth. Zum Glück bezogen alle einschließlich Gerth die Äußerung auf den neuen Präsidenten, dessen Beliebtheit sich nach seinem letzten internen Rundschreiben auf dem Tiefstand befand. So lockerte die freche Bemerkung die gereizte Stimmung eher auf. Gerth war ohnehin davon überzeugt, dass er spätestens in ein paar Monaten zum Kommissariatsleiter befördert würde. Außerdem fehlte ihm jedes Gespür für Ironie.

»Die verrückten Narren werden uns in den kommenden Tagen eh zu keiner sinnvollen Arbeit kommen lassen«, dröhnte Klaus Wagners Bass in die Runde. »Ich bin froh, wenn der Spuk vorbei ist.«

Die meisten Polizisten in Konstanz dachten ähnlich. Am stärksten traf es die uniformierten Kollegen, die in ständiger Einsatzbereitschaft sein mussten. Doch auch die Kriminalpolizei würde in dieser Woche mehr Arbeit bekommen als sonst in einem Monat. Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Diebstahl und Raub waren die Begleiterscheinungen des nach außen fröhlichen Treibens. Deshalb fand sich im Präsidium kaum ein Hinweis auf die Fastnacht. Einzig am Empfang hatte ein Kollege ein Hanselepüppchen aufgestellt. Dieses Jahr kam noch die Einbruchsserie dazu, die sie seit Wochen unter Spannung hielt.

Bettina richtete sich in dem unbequemen Stuhl auf und blickte in die Runde. Bevor ein allgemeiner Heiterkeitsausbruch drohte, räusperte sie sich.

»Kommen wir zu unserer derzeit wichtigsten Ermittlung. Mit dem gestrigen Einbruch in der Mozartstraße sind es insgesamt fünf, alle nach dem gleichen Muster.«

Bettina hob die rechte Hand und zählte mit den Fingern die Übereinstimmungen:

»Es waren freistehende Häuser, alle standen im Musikerviertel, jedes Mal wurde die Alarmanlage ausgeschaltet, stets nahmen die Diebe vor allem Gemälde, Kleinantiquitäten und Schmuck mit.«

Bettina machte eine kurze Pause, ehe sie den fünften Finger hob.

»Es gab nie verwertbare Spuren am Tatort.«

Wie oft hatten sie diese Fakten in den vergangenen Tagen durchgekaut? Je länger sie Polizistin war, desto mehr kam Bettina zu dem Schluss, dass ihre Arbeit vor allem im ständigen Memorieren der bekannten Tatsachen bestand, bis einem irgendeine Kleinigkeit auffiel, die man zuvor übersehen hatte.

»Haben Sie nicht etwas Entscheidendes vergessen, Frau Berg?«

Wie sie Gerths schulmeisterlichen Ton hasste. Fast war sie versucht, patzig zu schweigen. Noch war Alexander der Chef, obwohl sie langsam daran zweifelte, dass er seinen Dienst wieder aufnahm. Andererseits war der Fall zu wichtig. Deshalb unterdrückte sie ihren ersten Impuls und antwortete sachlich:

»Das Beste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Unser Täter, oder besser unsere Täter, denn nach der Menge und Größe der bei den Einbrüchen gestohlenen Gegenstände müssen wir von zwei, wenn nicht drei ausgehen, hat endlich einen Fehler gemacht.«

Bettina nahm ihre Schreibmappe aus feinstem Nappaleder zur Hand, die sie vor zwei Jahren von ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Sie wirkte unter den sonst auf dem Tisch liegenden billigen Kunstledermappen und Notizblöcken mit Werbeaufdruck reichlich deplatziert. Während sie weitersprach, blätterte sie in ihren Notizen.

»Bei allen Einbrüchen zuvor waren die Häuser leer, die Bewohner entweder im Urlaub oder für den Abend ausgegangen. Vorgestern befand sich der siebenundachtzigjährige Vater des Eigentümers im Haus. Er überraschte die Täter, die ihn daraufhin brutal niederschlugen.«

Sie hatte gestern ausführlich mit Wagner über diese veränderte Situation gesprochen, mit dem sie seit Alexanders Rückzug am liebsten zusammenarbeitete, trotz seines brummigen Gemüts. Mit ihm kam sie allemal besser zurecht als mit Gerth. In der Tat hatte die Einbruchsserie eine neue Richtung bekommen. Der alte Mann lag schwer verletzt im Krankenhaus. Der Druck auf die Ermittler war deutlich größer geworden. Jetzt zog nicht mehr nur eine Bande von Einbrechern durch das nobelste Konstanzer Wohnviertel und räumte Villen aus. Jetzt hatten sie einen wehrlosen, alten Mann bewusstlos geschlagen, und es stand nicht fest, ob er überlebte. Der Südkurier schrieb schon von einer »neuen Qualität der Kriminalität in der größten Stadt am Bodensee«. Vor allem der Polizeipräsident Schober, der erst ein halbes Jahr im Amt war, stand unter besonderer Beobachtung. Es musste ein schneller Fahndungserfolg her, koste es, was es wolle. Deshalb die bis auf Widerruf geltende Urlaubssperre für alle Mitarbeiter des Kriminalkommissariats 1, die für viel Unmut sorgte. Normalerweise konnte man sich nach den Fastnachtstagen ein bisschen Erholung gönnen – damit wurde es diesmal nichts.

»Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?« Stephanie Bohlmann hatte bisher schweigend am äußersten Rand des Tisches gesessen. Sie hatte erst vor einigen Monaten die Polizeihochschule beendet und war nicht nur das Küken des Kommissariats, sondern auch seine graue Maus. Vermutlich setzte sie sich immer weit entfernt von Bettina, damit ihre Unscheinbarkeit nicht auffiel. Obwohl Bohlmann fünfzehn Jahre jünger war, konnte sie ihr sowohl vom Aussehen wie vom Auftreten und Stil nicht das Wasser reichen. Dabei hätte Bettina sie gerne unter ihre Fittiche genommen, denn sie spürte, dass in ihr viel mehr steckte, als sie nach außen zeigte.

Gerth hatte vor einer Stunde mit der Ärztin gesprochen, die den alten Mann betreute. Er war in ein künstliches Koma versetzt worden, und es bestand Hoffnung, dass er sich erholte.

»In dem Alter weiß man das nie«, brummte Wagner.

»Wenn es nichts Neues gibt, können wir wieder an die Arbeit gehen. Auf meiner Liste stehen noch acht Anwohner der Mozartstraße.«

Frank Auer hatte sich bisher zurückgehalten, was sonst nicht seine Art war. Jetzt erhob er sich, ohne auf Gerths Zustimmung zu warten, zwinkerte Bettina zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

Um seine Autorität in dieser Situation zu retten, stand auch Gerth auf und sagte: »Es ist alles besprochen. An die Arbeit.«

 

 

***

 

 

Thal fröstelte, als er die Wohnungstür aufschloss. Der Nebel hatte sich verzogen, und die Sonne erhellte die Wohnung, trotzdem war es kalt. Von der Diele aus sah er in einem Lichtstrahl, der sich quer durch das Wohnzimmer zog, tanzende Staubkörnchen. Wann war zuletzt geputzt worden? Thal hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, dass Tamara, die zwei Mal in der Woche wie der sprichwörtliche Putzteufel durch die Wohnung fegte, nach Leahs Tod nicht mehr gekommen war. Vermutlich hielt sie ausschließlich Leah für ihre Arbeitgeberin, und im Grunde hatte sie recht. Thal sah sie selten, denn er verließ das Haus, bevor sie zur Arbeit kam. Außerdem sprach die Ukrainerin kaum Deutsch, und er hatte es aufgegeben, eine Konversation zu versuchen.

Er stellte die Einkaufstasche in die Küche und ging zurück in die Diele, um seinen Mantel aufzuhängen. Er griff in die Manteltasche und holte den Brief heraus, den er vor einer Stunde aus dem Briefkasten genommen hatte. Zusammen mit dem Attest, das ihm zwei weitere Wochen Zeit zum Trauern und Nachdenken verschaffte, legte er ihn auf das schlichte Sideboard. Er überlegte, das Attest persönlich ins Präsidium zu bringen. Unmittelbar nach Leahs Tod hatte Bettina Berg zunächst fast täglich, später seltener versucht, ihn anzurufen. Er wollte mit niemandem sprechen. Mehrmals stand sie vor dem Haus, er öffnete aber nicht.

Thal wusste, dass Bettina sich um ihn sorgte. Es tat ihm leid, sie abgewiesen zu haben. Er konnte nicht anders. Er hatte das Wichtigste in seinem Leben verloren. Nein! Er hatte sein ganzes Leben verloren. Niemand konnte ihn trösten, doch alle würden es versuchen. Er ertrug das nicht.

Wenn er das Attest persönlich ins Präsidium brächte, würde er sie beruhigen – hoffte er wenigstens.

Thal ging in die Küche und packte die Tasche aus. So viel hatte er in den vergangenen drei Monaten nie eingekauft. Er verspürte oft tagelang keinen Hunger und aß fast nichts anderes als Brot und Käse. Seit er mit dem Saufen aufgehört hatte, musste er keine Flaschen mehr die Treppen hinaufschleppen, denn er trank fast ausschließlich Tee. Nur seinen wöchentlichen Besuch in der Kaffeerösterei versäumte er nicht ein einziges Mal. Als wäre diese spezielle Arabica-Mischung der dünne Faden, der ihn mit seinem früheren Leben verband. Thal bereitete sich seinen zweiten Espresso zu. Diese Sucht würde er nie überwinden - ach was, er wollte es nicht. Mit der kleinen Tasse in der Hand ging er Richtung Wohnzimmer. Unterwegs nahm er den Briefumschlag vom Sideboard. Auf der Couch lag noch sein Bettzeug, deshalb setzte er sich in den breiten Ledersessel am Fenster, nahm den ersten Schluck des Kaffees und schloss die Augen. Das Koffein würde hoffentlich die Müdigkeit vertreiben, die schon wieder in ihm aufkam. Mit einem zweiten Schluck leerte er die Tasse und stellte sie auf den niedrigen, auf gebürsteten Chromfüßen stehenden Glastisch. Alles in diesem Raum war perfekt. Jedes einzelne Möbelstück hatte Leah ausgesucht. Bei den meisten handelte es sich um Einzelstücke nach ihren eigenen Ideen oder den Entwürfen von Freunden. Zu jedem konnte sie eine Geschichte erzählen. Thal schluckte. Die Trauer traf ihn erneut wie ein Schlag. Alles in seinem Leben stand mit Leah in Verbindung. Außer seiner Arbeit. Aber das war vorbei. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Womöglich würde es ihm guttun, die tröstenden Worte eines mitfühlenden Menschen zu lesen, der erst jetzt von Leahs Tod erfahren hatte.

Als Thal den Briefumschlag mit dem Zeigefinger aufriss, fiel ein kleines Plastikstück zu Boden. Ansonsten war der Umschlag leer. Thal drehte ihn um. Nichts. Kein Absender. Seine Adresse war maschinell auf ein Etikett gedruckt, das penibel aufgeklebt war. Soweit das mit bloßem Auge erkennbar war, schienen die Abstände zum rechten und unteren Rand exakt gleich zu sein. Ein Pedant, dachte Thal und bückte sich nach dem winzigen Teil. Es handelte sich um einen Speicherchip, wie er in digitalen Fotokameras verwendet wurde. Merkwürdige Idee, einen Brief auf einen Chip zu speichern statt auszudrucken. Einen Trauerbrief zumal, obwohl ... Der Umschlag war schlicht und wies nicht das typische schwarze Band der meisten Beileidsbriefe auf, die sich in der Silberschale auf der Konsole neben dem Sofa stapelten. Nur Leahs Künstlerfreunde und Kollegen an der Münchener Kunstakademie waren kreativer gewesen und hatten sich zumindest für andersfarbige Trauerränder entschieden.

Thal ging zu Leahs Arbeitsplatz. Vor einem Jahr hatte sie den Computer gekauft, der nur aus einem großen, berührungsempfindlichen Bildschirm bestand. Er hatte sich nicht vorstellen können, ein technisches Gerät im Wohnzimmer zu haben. Bis dahin hatte der alte Computer in dem kleinen, vor allem als Gästezimmer genutzten Raum gestanden, von dem man über eine Klapptreppe den größten Luxus dieser Wohnung erreichte: die ihnen allein gehörende, fast sechzig Quadratmeter große Dachterrasse.

Leah hatte seine Bedenken mit einem Lachen beiseitegewischt. »Was bist du für ein altmodischer Knochen. Computer sind ein wichtiger Teil des Lebens, also gehören sie in die Mitte der Wohnung.«

Seine Bedenken waren unbegründet gewesen. Der Computer war, wie konnte es bei Leah anders sein, ein edles Designerstück. Mit seinem weißen Rahmen und der matten Oberfläche wirkte er eher wie ein Kunstwerk. Dabei war er ein technisches Meisterwerk, das intuitiv zu bedienen war. Selbst Thal kam damit ohne Schwierigkeiten zurecht.

Nach wenigen Sekunden startete der Rechner. Auf dem Bildschirm erschien ein Bild, das Thal erstarren ließ. Es sah aus, als klebte dort ein gelber Notizzettel. Darauf stand in Leahs schöner Handschrift: »Hallo Liebling! Mach Dir keine Sorgen, ich werde heute länger arbeiten. Gebhard will noch zwei Bilder für die Ausstellung. Wärmst Du mich, wenn ich ins Bett komme? Liebe! L.«

Für einen Moment glaubte Thal, Leah habe ihm wirklich eine Nachricht aus dem Jenseits geschickt. Er starrte auf den Bildschirm, unfähig, sich zu bewegen. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er den Computer seit damals nicht gebraucht hatte. Leah hatte an jenem Morgen das Notizprogramm des Rechners benutzt, um ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Dazu schrieb man mit der Fingerkuppe auf das entsprechende Feld des Bildschirms. Auch Thal hatte Leah häufig auf diese Weise einen kleinen Gruß hinterlassen.

Er berührte den virtuellen Zettel mit dem Zeigefinger. So stand er zehn Sekunden, den Blick starr auf den Monitor gerichtet und den Finger auf der Nachricht. Dann verschob er sie vorsichtig, als handele es sich um eine zerbrechliche Kostbarkeit, in den Zwischenspeicher.

 

Am unteren rechten Rand des Bildschirmrahmens befanden sich diverse Einschübe für Speicherkarten. Der zweite war der passende. Der Chip enthielt eine einzige Datei mit dem Namen »Das Versprechen«. Darin befanden sich von eins bis sechs durchnummerierte Fotos. Was soll das für ein Scherz sein, dachte Thal und öffnete das erste Foto.

Auf seinem Bildschirm erschien die Aufnahme einer Frau, nicht viel älter als zwanzig Jahre. Sie lag ausgestreckt auf einem Steinfußboden, der Kopf war erhöht, als wäre er auf ein Kissen gebettet. Sie hatte die Augen geschlossen und die Lippen aufeinandergepresst. Der strenge Gesichtsausdruck passte nicht zu ihrem Gesicht. Wie bei einer Toten, die man zur Besichtigung durch die Trauergemeinde hergerichtet hatte.

Er erschrak bei diesem Gedanken. Schnell öffnete er das zweite Foto. Dieselbe Frau in fast der gleichen Lage. Lediglich die Hände waren nicht mehr auf dem Bauch gefaltet, sondern mit nach oben geöffneten Handflächen neben den Körper gelegt. Die dichten, leicht gewellten, schulterlangen schwarzen Haare schienen anders angeordnet. Umschmeichelten sie auf dem ersten Bild das Gesicht, waren sie jetzt seitlich zurückgenommen. Thal klickte zurück zum ersten Foto an. Der Gesichtsausdruck schien ihm unverändert.

Als er die dritte Datei öffnete, hielt er die Luft an. Die Frau lächelte ihm direkt entgegen. Jetzt sah er, wie schön sie war mit ihren vollen, leicht geöffneten Lippen. Dahinter blitzte eine Reihe blendend weißer Zähne. Die Körperhaltung war unverändert, allerdings war die beigefarbene Felljacke geöffnet. Sie fiel zur Seite über die Arme. Der dadurch sichtbare enge Wollpullover betonte ihre Figur genauso wie die hautengen Jeans.

Aufgeregnet klickte Thal die nächste Datei an. Zuerst bemerkte er, dass die Jacke fehlte. Beim genaueren Vergleich entdeckte er noch mehr Unterschiede. So waren Beine und Arme jetzt ein paar Zentimeter weiter gespreizt. Die Mimik war gleich geblieben, die Frau lächelte. Thal hatte das Gefühl, dass es kein echtes, lebendiges Lachen war.

 

Das fünfte Foto beunruhigte Thal noch mehr. Der Mund lächelte zwar, die Frau starrte ihn aber aus glasigen, tot wirkenden Augen an. Aus dem linken Mundwinkel hing ein kleiner Speichelfaden. Wenn Speichel floss, lebte die Frau höchstwahrscheinlich noch. Ein paar Sekunden später war er sich da nicht mehr so sicher.

 

Was würde ihn auf der letzten Fotografie erwarten? Thal atmete tief durch, eher er mit dem linken Zeigefinger auf das entsprechende Symbol tippte. Er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet und wurde überrascht. Die junge Frau lag in einer friedlichen Position, soweit man davon sprechen konnte. Augen und Mund waren geschlossen, die Hände lagen übereinander auf dem Schoß, sie trug auch wieder die Felljacke. In welcher Reihenfolge waren die Fotos entstanden? Der Fotograf wollte mit den Nummerierungen eine bestimmte Abfolge suggerieren, aber entsprach sie der Realität? Thal fiel eine Diskussion mit Leah darüber ein, wann sie das letzte Mal in Florenz gewesen waren. Sie öffnete damals die entsprechende Fotodatei auf dem Computer und rief die Informationen bei einem der Bilder ab. Thal hielt einen Finger auf die Datei mit der Bezeichnung »1«. Es öffnete sich ein kleines Fenster:

Typ: JPEG-Bild

Aufnahmedatum: 06.02. 08:52

Abmessungen: 1920 x 2560

Größe: 2.14 MB

Die Aufnahme war also gestern um acht Uhr zweiundfünfzig entstanden. Thal schaute sich die Dateiinformationen der anderen Fotos an. Sie waren nicht in der von der Nummerierung suggerierten Abfolge entstanden. Er schrieb die korrekte Sequenz auf einen Zettel:

1 – 6 – 2 – 3 – 4 - 5

Es gab eine einzige Abweichung. Das zweite Foto war zuletzt entstanden. Was konnte das bedeuten? Thal verkleinerte die Bilder und ordnete sie in der korrekten Reihenfolge. Wenn die Frau tot war, wäre es schwierig gewesen, ihr erst für Foto vier und fünf die Jacke auszuziehen, um sie für die sechste Aufnahme wieder anzukleiden. Dem Fotografen ging es um eine Botschaft, es sei denn, die Dateiinformationen wären ebenfalls manipuliert. Aber das ließe sich überprüfen. Thal kopierte die Dateien auf seinen Computer, zog den Chip heraus und stürmte in die Diele. Dort griff er seinen Mantel und verließ die Wohnung.

 

 

***

 

 

Bettina Berg lehnte sich in ihrem altersschwachen Bürostuhl zurück, der darauf laut und anhaltend stöhnte. Sie sollte sich dringend um einen neuen Stuhl bemühen, sonst würde sie bald rücklings auf den Boden fallen, aber vor Aschermittwoch wäre das sinnlos. Die Kollegin von der Beschaffung war die einzige Polizistin in Konstanz, die über Fastnacht Urlaub bekam.

Seit Höferers Pensionierung vor zwei Monaten teilte sie das Büro mit Klaus Wagner, der auf Gerths Anweisung direkt nach der Besprechung ins Krankenhaus gefahren war. Die Ärzte wollten heute Gustav Häfele, das Opfer des letzten Raubüberfalls, aus dem künstlichen Koma holen. Wahrscheinlich würde Wagner dort nur die Zeit totschlagen, denn die Ärzte erlaubten eine Befragung in der Regel frühestens nach ein paar Tagen. Aber wenn Gerth meinte … Bettina seufzte. Auf jeden Fall war sie froh, mit Wagner das Zimmer zu teilen. Sie hatte befürchtet, dass Gerth sich zu ihr setzen würde. Wagner war zwar dreiundfünfzig Jahre und damit vierzehn Jahre älter als sie, aber sie waren beide Kriminaloberkommissare. Normalerweise achtete man darauf, dass in jedem Raum eine Dienstgradhierarchie bestand. Seitdem Alexander krankgeschrieben war, gab es nur noch einen Kriminalhauptkommissar im Kommissariat 1: Gerth. Die ganze Mannschaft rätselte, warum er es vorgezogen hatte, in ein »Dreierbüro« mit Frank Auer und Stephanie Bohlmann zu ziehen. Böse Zungen behaupteten, der notorische Schürzenjäger Gerth rechnete sich bei der schüchternen Kommissaranwärterin größere Chancen aus als bei Bettina. Womöglich spekulierte Gerth eher darauf, dass Thal nicht mehr in den Dienst zurückkehrte. Dann könnte er in ein paar Wochen in das Büro des Kommissariatsleiters umziehen. Bettina wollte sich den Tag nicht zu schwer machen und wischte diesen Gedanken beiseite. Bis dahin floss noch viel Wasser durch den Bodensee. Personalentscheidungen waren im Präsidium ohnehin unvorhersehbar.

Zeit für einen Kaffee! Sie nahm ihre Tasse vom Schreibtisch, in der sich ein abgestandener Rest vom Vortag befand. Sie wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als die Tür geöffnet wurde.

»Alexander!« Bettina starrte ihn an.

»Hallo Bettina. Wie geht’s?«

Langsam, ohne den Blick von Thal zu wenden, ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück. Alexander war immer schlank und durchtrainiert gewesen, jetzt war er abgemagert. Sein Gesicht war verhärmt. Er zog den Mantel aus. Die modische Leinenhose hing wie ein Sack an ihm herunter. Auch früher trug er seine dunklen, dichten Haare länger, als man es von einem Mann Ende fünfzig erwartet hätte. Bettina sah darin den Versuch, sich dem Stil der Künstlerfreunde seiner Frau anzupassen. Jetzt hingen die Haare bis auf die Schultern. Sie wirkten ungepflegt. Alexander war eindeutig nicht in einem guten Zustand. Seine Augen waren stumpf, sein Blick irrte fahrig im Raum umher. Selbst sein einnehmendes Lächeln wirkte angestrengt.

Obwohl der äußere Anschein dagegen sprach, stellte Bettina die naheliegende Frage:

»Und du, bist du gesund? Fängst du wieder an zu arbeiten?«

Thal klopfte auf sein Jackett. »Hier ist das Attest für die nächsten Wochen.«

Bettina nickte. Sie traute sich nicht, weiter zu fragen. War Alexander nur deshalb gekommen, um seinen endgültigen Abschied einzureichen, und wollte sie vor den anderen informieren?

Alexander ging zu Wagners Schreibtisch. Er zog den Stuhl neben Bettina und holte einen Plastikbeutel aus der Tasche, in dem sich ein aufgerissener Briefumschlag und ein kleines Plastikstück befanden. Er ließ beides auf die Tischplatte fallen.

»Das war heute in meiner Post. Schieb den Chip mal in den Rechner. Aber zieh Handschuhe an.«

Bettina öffnete die Schreibtischschublade, zog einen Plastikhandschuh aus der Zupfbox und fummelte den Speicherchip in den Computer. Schweigend klickte sie sich durch die Fotos. Thal rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Als sie das letzte Bild geöffnet hatte, räusperte er sich.

»Na, was meinst du?«

Bettina zuckte die Schultern. »Irgendein Spinner, der sich daran aufgeilt, seine Frau oder Freundin in demütigenden Posen zu fotografieren.«

»Aha! Und warum schickt er ausgerechnet mir die Fotos?«

Alexander wirkte ungehalten. Das sah ihm nicht ähnlich, normalerweise war er die Ruhe selbst und geduldig wie ein Zen-Mönch.

Bettina drehte ihren Stuhl zur Seite, was dieser erneut mit einem lauten Quietschen kommentierte.

»Kennst du diese Frau?«

Thal schloss die Augen und legte den Kopf leicht in den Nacken.

»Darüber denke ich die ganze Zeit nach, aber ich erinnere mich nicht, ihr jemals über den Weg gelaufen zu sein.«

»Meinst du nicht, dass es ein dummer Fastnachtsscherz sein könnte, mit dem man den Leiter der Konstanzer Mordkommission ärgern will?«

Thal schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Außerdem: Wieso bist du sicher, dass die Frau noch lebt? Vielleicht haben wir hier die Bilder einer Leiche und damit Tatortfotos auf dem Bildschirm.«

»Das wäre das erste Mal, dass der Täter den Tatortermittlern die Arbeit abnimmt.«

Bettina hielt diese Idee für abwegig, bis Thal ihr von seiner Entdeckung erzählte, dass die Fotos nicht in der Reihenfolge entstanden waren, die der unbekannte Fotograf suggerieren wollte. Sie wiegte den Kopf und sagte bedächtig:

»Du meinst, wir haben es mit einer Botschaft zu tun?«

»Mit einer Botschaft und mit einer Inszenierung. Und vielleicht sogar mit Mord.«

»Wenn das stimmt, Alexander Thal, ist das der verrückteste Fall, den diese verschlafene Stadt jemals gesehen hat.«

Beide wandten sich wieder den Fotos auf dem Bildschirm zu und versuchten, mehr Informationen zu gewinnen. Ließen sich irgendwelche Schlüsse über die Frau oder den Ort ziehen, an dem die Aufnahmen entstanden waren? Viel konnte Bettina nicht in ihrer Mappe notieren. Die Kleidung der Frau war billig. Die Felljacke gab es für ein paar Zehn-Euro-Scheine beim Kleidungsdiscounter. Einzig die Jeans war ein Markenprodukt aus dem gehobenen Preissegment, allerdings schon älter. Die Frau lag auf einem schwarzweißen Mosaikfußboden. Thal meinte, das könne auf den Flur eines Hauses hinweisen, welches in den zwei Jahrzehnten nach 1900 erbaut worden wäre. Bettina staunte über so viel Architekturkenntnis, weiter brachte sie diese Erkenntnis aber nicht. Häuser aus dieser Zeit gab es in der im Krieg unzerstörten Stadt zuhauf. Auch die Frage, ob das Opfer noch lebte, ließ sich nicht klären. Es war zwar keine Verletzung zu sehen, aber der glasige Blick und der Speichelfaden im Mundwinkel verhießen nichts Gutes.

»Bei Bewusstsein war sie nicht, als die Fotos entstanden«, meinte Thal.

Bettina nickte. Sie nahm den Plastikbeutel mit dem Briefumschlag vom Schreibtisch.

»Den Umschlag und den Chip sollen sich die Techniker ansehen.«

»Das wird nicht viel bringen, der Brief ist durch zig Hände gegangen. Frage sie besser, ob man die Dateiinformationen manipulieren kann. Hoffentlich haben wir wenigstens hier etwas Verlässliches.«

Bettina kopierte die Fotos auf ihren PC und steckte den Chip zurück in den Plastikbeutel.

»Ich schicke die Bilder an den Doc. Schau’n wir mal, was er meint.«

Mehr gab es in diesem Fall – so es überhaupt einer war – nicht zu sagen, geschweige denn zu tun. Es entstand ein bedrückendes Schweigen, ehe sich Thal von seinem Stuhl erhob. Immer noch wortlos ging er zur Tür. Bettina konnte nicht glauben, dass er jetzt ohne Erklärung verschwinden wollte. Monatelang ließ er nichts von sich hören, tauchte mir nichts, dir nichts mit dieser merkwürdigen Geschichte im Gepäck auf und wollte jetzt gehen, ohne ein persönliches Wort mir ihr zu wechseln? Hatte er sich durch Leahs Tod so verändert?

Thal hatte die Türklinke in der Hand, als Bettina sich räusperte.

»Alexander!«

Er drehte sich zu ihr um. Sein Blick wirkte abwesend wie zu Beginn ihres Gesprächs.

»Alexander, heute ist Mittwoch. Wir waren lange nicht mehr bei Antonio.«

»Gut, sehen wir uns dort«, antwortete Thal und verließ den Raum.

 

 

***

 

 

Es war noch kälter geworden. Er zog die Mütze tief ins Gesicht, als er in die Unterführung vom Hafen in die Stadt trat. Im Sommer saßen hier die Bettler und Musikanten, die für ein paar Cent ihren Instrumenten oder Kehlen jämmerliche Töne entlockten. Heute war es menschenleer. Er war froh, die breite Marktstätte zu betreten. Bald begann es. Am Abend würden sie das Feuer entzünden, um darum zu tanzen in ihren urtümlichen Kostümen. Ein archaischer Akt wie vor Tausenden von Jahren. Das wärmende, Licht spendende Feuer gegen Kälte und Dunkelheit. Jetzt würde sich der Kreis schließen. Was vor Hunderten von Generationen mit dem Tanz um das gezähmte Feuer seinen Anfang nahm, würde jetzt vollendet in einem nie gesehenen Kunstwerk. Endlich würde das Darstellende mit dem Nachbildenden versöhnt. Nicht Malerei oder Bildhauerei, nicht Tanz oder Schauspiel allein reichten aus, um den Taumel der menschlichen Sinne in seinem inneren Wesen zu erfassen. Ein Reigen, getanzt vom Anbeginn der Zeit mit der gleichen Abfolge. Am Anfang stand das Versprechen, und am Ende hofften alle auf die Erlösung. Dazwischen blickten die Sterblichen in die tiefsten Abgründe des Daseins.

Ihn fröstelte. Die großen Herausforderungen an seine Fähigkeiten lagen noch vor ihm. Aber wo, wenn nicht in dieser Stadt, und wann, wenn nicht in diesen Tagen, sollte es ihm gelingen. Gestern hatte es gut funktioniert. Zugegeben, »Das Versprechen« stellte die geringsten Anforderungen an den Künstler. Es war eine Art Fingerübung für Anfänger. Das Modell war gut gewählt. Allerdings erwies es sich als schwierig, den Gesichtsausdruck zu modellieren. Anfangs sah wie ein Grinsen aus, was das unergründliche Lächeln der Mona Lisa zeigen sollte. Es brauchte viele Versuche, ehe er zufrieden war. Fast noch schwerer war es, die Augen zu öffnen. Sie fielen immer wieder zu. Sicher würde er darin von Mal zu Mal routinierter werden. Er zweifelte nicht, dass er das Vertrauen seiner großen Lehrerin rechtfertigen könnte. Vorgestern hatte er sie besucht, um sich zu bedanken. Sie half ihm auch bei diesem Werk. Deshalb musste er denjenigen bestrafen, dessen einziges Recht auf Leben darin gründete, sie zu beschützen. Nichts anderes war seine Aufgabe. Er hatte versagt.

Am Kaiserbrunnen standen fünf Hansele, die den Beginn des Spektakels nicht erwarten konnten. Sie fassten sich an den Händen und tanzten ausgelassen Ringelreihen. Er sollte aufhören zu grübeln, in irgendeiner Kneipe etwas trinken. Nein, keinen Alkohol, den brauchte er nicht. Er bog ab in die Münsterstraße und ging zielstrebig in Richtung Niederburg. Dort gab es viele Gaststätten. Er musste sich einen Moment ausruhen. Ein paar Minuten Ruhe würden ihm guttun. Er brauchte Kraft. Viel Kraft.

 

 

***

 

 

Früher wartete fast immer Bettina Berg auf Thal, der es nicht geschafft hatte, pünktlich Feierabend zu machen. Heute öffnete zuerst Thal die Tür zu der kleinen, mit Tischen vollgestopften Trattoria. Sofort kam ihm Antonio freudestrahlend entgegen. Als hätte er ihn gestern zuletzt gesehen, rief er: »Buona sera, commissario. Fraulein Berge isse noch nicht da!«

Der Wirt geleitete ihn zu dem einzigen halbwegs ruhigen, weil durch einen Mauervorsprung abgeteilten Tisch in der hinteren rechten Ecke des Restaurants. Don Antonios Trattoria war ein Stück Italien – genauer: ein Stück Kampanien - in Konstanz. Entsprechend lebhaft ging es zu. Mit schwungvoller Geste nahm Antonio das Reserviert-Schild vom Tisch, das er dort seit vier Jahren jeden Mittwoch aufstellte. Ohne Reservierung war es unmöglich, abends einen Platz zu finden. »Don Antonios« war einer der wenigen Orte, an denen sich alte und junge Konstanzer trafen. Nur Touristen verirrten sich selten in das von außen unscheinbare und in einer dunklen Gasse am Rand der Altstadt liegende Restaurant. Gott sei Dank, dachten die meisten Stammgäste. Austauschbare Touristenrestaurants mit ihrem immer gleichen Angebot gab es genug in der Stadt. Hier waren die Speisen hausgemacht, eine Mikrowelle hatte Antonios Küche, in der seine Frau Anna laut- und durchsetzungsstark regierte, noch nie gesehen. Zudem bot die Weinkarte alles, vom preiswerten »vino della casa« bis zum Super-Toskaner, für den einer der vielen hier tafelnden Studenten den halben BAföG-Satz auf den Tisch legen müsste.

Thal hatte Bettina nach dem Ende ihrer kurzen, heftigen und unglücklichen Affäre mit Tobias vorgeschlagen, sich einmal in der Woche zu einem außerdienstlichen, rein privaten Abendessen zu treffen. Also bat er Antonio, jeden Mittwoch um neunzehn Uhr jenen ruhigen Tisch freizuhalten. Sollten sie um halb acht nicht gekommen sein, könne er ihn gerne anders vergeben, was der geschäftstüchtige Patrone auch ohne diesen Hinweis getan hätte. Die Reservierung wurde auf »Berg und Thal« eingetragen, wobei Antonio den besonderen Wortwitz nicht verstand. Obwohl er dreißig Jahre in Deutschland lebte, radebrechte er noch immer.

Leah hatte Thal gewarnt, dass eine solche Sonderbehandlung einer Mitarbeiterin zu Gerede im Präsidium führe. Ihn interessierte das nicht. Bettina Berg war eine erstklassige Polizistin, intelligent, mit blitzschneller Auffassungsgabe und der Emphatiefähigkeit ausgestattet, die ein guter Ermittler brauchte. Thal hielt sie für die Beste in seinem Stab mit allen Chancen auf eine große Karriere. Er hatte nichts einzuwenden, als sich zwischen ihr und Tobias eine Beziehung anbahnte. Im Gegenteil, er freute sich für seinen Sohn, der bisher mit Frauen eher Pech gehabt hatte. Dem Altersunterschied, Bettina war damals fünfunddreißig, Tobias sechsundzwanzig Jahre, maß er keine Bedeutung bei. Schließlich lebte er selbst schon viele glückliche Jahre mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau zusammen. Was genau zwischen Bettina und Tobias vorgefallen war, hatte er nie erfahren. Auf jeden Fall schob er die Schuld am abrupten Ende der erst gerade aufgeflammten Liebe seinem Sohn zu. Später erklärte ihm Bettina, ohne ins Detail zu gehen, sie hätten beide eingesehen, dass ihre Beziehung chancenlos war. Thal mischte sich prinzipiell nicht ungebeten in die Angelegenheiten seines Sohnes ein. Deshalb fragte er ihn nicht nach seiner Version der Geschichte. Zu Bettina aber entwickelte sich eine Freundschaft, die sich wie ein nährender Kokon um ihre Kollegialität legte. Sie arbeiteten weiter ausgezeichnet und mit immer besseren Ergebnissen zusammen. Bald galten sie im Präsidium als unschlagbares Team. Selbst dieser gute Ruf konnte das aufkommende Gerede über eine sexuelle Beziehung der beiden nicht ersticken. Thal machte sich Sorgen, dass die aus der Luft gegriffenen Gerüchte Bettina Bergs Karriere schadeten. Darauf angesprochen, reagierte sie wie erwartet:

»Was interessiert mich das Geschwätz der anderen. Wenn es deswegen nichts wird mit der Beförderung ...«. Zur Vollendung des Satzes schnippte sie mit den Fingern.

Die wöchentlichen Treffen bei Don Antonio wurden zu einem festen Bestandteil nicht nur ihrer Freundschaft, sondern auch ihrer Zusammenarbeit. Mancher Fall wurde hier bei Pasta, dolce und reichlich vino einer Lösung nähergebracht.

 

»Aperitivo, commissario?«

»Grazie, Antonio, heute nur ein Mineralwasser.«

Der Wirt lupfte leicht die Augenbraue wegen dieser ungewöhnlichen Bestellung und blickte sich gleichzeitig im Raum um, ob nicht ein anderer Gast seiner Fürsorge bedurfte. Nur eine Sekunde später eilte er zu dem langen Tisch in der Mitte des Restaurants, an dem sich eine Gruppe Studenten auf den abendlichen Hexensprung, den traditionellen Auftakt der Fastnacht, einstimmte.

Thal blickte sich um. Der Innenarchitekt, möglicherweise auch Donna Anna, hatte eine Meisterleistung vollbracht. Besser konnte man den Raum nicht aufteilen, jede nur erdenkliche Möglichkeit, einen Tisch aufzustellen, war genutzt. Trotzdem wirkte das Lokal nicht beengt. Gleichzeitig entstand jene besondere Atmosphäre, die Thal in Italien so liebte, wo Restaurants Theaterbühnen glichen, auf denen unter der Regie des Patrone jeder Gast seine Rolle spielte. Lautstark und mit großer Geste, ohne dass sich jemand gestört fühlte. Obwohl der Geräuschpegel im Don Antonio wegen der niedrigen Bogendecke hoch war, kam kein Gast auf die Idee, sich darüber zu beschweren.

Heute war es noch lebhafter, die meisten Gäste waren in freudiger Erwartung der kommenden Fastnachtstage. Man beratschlagte, wo und mit wem man feiern wollte.

Antonio brachte eine große Flasche San Pellegrino an Thals Tisch, als Bettina Berg das Restaurant betrat. Sie winkte ihrem Kollegen zu, während sie den Mantel aufknöpfte und zur Garderobe ging. Die beiden Männer an dem kleinen Tisch gegenüber der Tür unterbrachen ihre Unterhaltung, um ihr nachzusehen. Sie ist eine Schönheit, dachte Thal. Trotz ihrer bald vierzig Jahre hatte sie ihre schlanke, sportliche Figur behalten. Das schulterlange, kastanienbraune Haar war zu einem Zopf geflochten, den sie mit einer Spange hochgesteckt hatte. Dadurch kam ihr Gesicht gut zur Geltung, das von den ausdrucksstarken braunen Augen dominiert wurde. Sie bewegte sich sicher durch die eng gestellten Tische auf ihn zu. Obwohl sie mit ihrer Größe von einem Meter siebenundsiebzig selbst die meisten ihrer männlichen Kollegen überragte, wirkten ihre Bewegungen grazil. Sie trug einen engen, wadenlangen, weißen Wollrock, dessen seitlicher Schlitz bei jedem Schritt ihre perfekten, in blickdichte, ebenfalls weiße Strümpfe gehüllten Beine bis oberhalb des Knies sehen ließ. Der cremefarbene Pullover war eng geschnitten. Um den Hals trug sie ein braunes Tuch, das zu ihrem Haar und ihren Augen passte. Von der Schulter baumelte eine lange, nicht billige Handtasche.

Thal vermutete, dass Bettina sich umgezogen und deshalb verspätet hatte. Sie wohnte im äußersten Konstanzer Vorort, mit dem Auto brauchte man in die Innenstadt mindestens fünfundzwanzig Minuten. Sie war selbstbewusst genug, um derart elegant gekleidet im Büro zu erscheinen, aber heute Morgen hatte sie etwas anderes getragen. Sie hasste die »Kriminalkommissaruniform«, wie sie es nannte. Tatsächlich trugen die meisten Polizistinnen Jeans und Schlabberpulli, als müssten sie ständig wie im Fernsehkrimi über Zäune und Mauern hinter Verdächtigen herjagen. Bettina Berg dagegen kleidete sich geschmackvoll weiblich, weil sie wusste, dass es bei Ermittlungen von Vorteil sein konnte, neben ihrem klugen Kopf ihren schönen Körper einzusetzen.

Als sie den Tisch erreichte, erhob sich Thal. Eine Sekunde standen sie sich gegenüber und blickten sich in die Augen, ehe Bettina Berg ihn umarmte. Eine lange vermisste Wärme durchströmte ihn. Als sie sich setzten, hielt Bettina noch für einen kurzen Moment seine Hand umfasst. Dann lächelte sie ihn an, wies auf seine zu einem Zopf zusammengebundenen Haare und sagte:

»Jetzt siehst du schon zivilisierter aus als heute morgen.«

»Und du bist wie für einen festlichen Empfang gekleidet.«

Bettina richtete sich kerzengerade auf.

»Gefällt es dir? Ich dachte, es gibt etwas zu feiern. Schließlich scheinst du wieder unter den Lebenden zu weilen.«

Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, da senkte sie den Blick.

»Entschuldige«, murmelte sie.

»Schon gut, Bettina.«

Thal wollte auf keinen Fall, dass die fröhliche Stimmung umschlug. Das erste Mal seit Monaten fühlte er sich halbwegs wohl.

Fast gleichzeitig sagten sie: »Und, wie geht es dir?«

Beide konnten ein Lachen nicht zurückhalten. Die danach eintretende Stille beendete Thal.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie es mir geht. Ich habe das Gefühl, aus meinem Leben gefallen zu sein. Manchmal denke ich, dass der Schmerz langsam nachlässt, aber dann sehe ich ein Bild, lese einen Satz in einem Buch oder denke an einen Ort, an dem ich mit Leah glücklich war, und es zerreißt mich schier. In anderen Momenten glaube ich tatsächlich, dass es besser wird. So wie jetzt zum Beispiel.«

Thal sah einen feuchten Glanz in Bettina Bergs Augen. Er war froh, dass Antonio an den Tisch trat und sie fröhlich anschmachtete: »Signora, que bella«! Während er die Speisekarte überreichte, spulte er in einem halsbrecherischen Deutsch die Tagesspezialitäten herunter.

Ohne einen Blick in die Karte bestellte Thal einen Salat sowie Spaghetti Marinara, während sich Bettina Berg für einen Tomatensalat und einen Scampispieß entschied.

»Unde alse vino?«, fragte der Wirt.

Bettina schaute ihren Kollegen fragend an: »Wie immer einen Liter Hauswein?«

Thal schüttelte den Kopf: »So weit bin ich noch nicht, ich bleibe beim Wasser. Aber du kannst natürlich gerne ...«

Bettina schluckte die Frage herunter, die ihr auf der Zunge lag, und bestellte einen Viertelliter »vino della casa«.

Als Antonio gegangen war, beugte sich Thal vor und goss der Kollegin Wasser ein.

»Jetzt aber zu dir, Bettina. Wie geht es dir, du siehst ein bisschen müde aus.«

»Danke für das Kompliment«, sagte sie und trank einen Schluck Wasser. »Aber du hast recht. Es war ein bisschen viel in der letzten Zeit. Du weißt, wie unterbesetzt wir sind. Die Neue ist vor allem damit beschäftigt, ihren Platz bei all den Machos zu finden, und Gerth spielt sich als Chef auf. Wenn er wüsste, dass du bald zurückkommst, würde er toben vor Wut.«

Thal legte ihr die Hand auf den Arm.

»Ich weiß noch nicht, ob ich das will.«

Wieder sah er Trauer in Bettinas Augen. Deshalb fragte er:

»Ist es so schlimm?

»Gerth ist ein teamunfähiger, egozentrischer Idiot, dem es ausschließlich um seine Karriere geht. Er kann dir nicht das Wasser reichen, also versucht er, auf andere Weise an deinen Posten zu kommen. Er schleimt sich ein und macht alle anderen schlecht. Aber lassen wir das.«

Antonio trat mit Bettinas Wein und den Salaten an den Tisch.

»Salute, Signora Berge, e bon appetito!«

Schweigend begannen die beiden zu essen. Thal merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Er aß schnell und konzentriert. Nachdem er seinen Salatteller geleert hatte, wandte er sich Bettina zu.

»Und wie macht sich Schober?«

Berg dachte einen Moment nach, ehe sie in die Serviette prustete.

»Weißt du, was sein Spitzname im Präsidium ist? Imam! Nicht nur wegen seines komischen Namens, sondern vor allem wegen seiner Art zu sprechen. Er leiert seine Sätze so herunter.«

Thal lachte kurz auf.

»Immanuel Schober. Was Eltern ihren Kindern antun! In der Presse hat er aber passable Kritiken.«

»Noch«, antwortet Bettina Berg. Sie schob den erst halb geleerten Salatteller zur Mitte. »Wenn er in der Einbruchsserie nicht bald die Täter präsentieren kann, wird es für ihn ungemütlich werden. Sechs Einbrüche in fünf Wochen. Alle in Häuser oder Villen angesehener Bürger. Alle im Musikerviertel. Alle ohne Spuren. Und jetzt noch dieser um ein Haar totgeschlagene alte Mann. Der Druck auf Schober wächst jeden Tag, und er macht das, was alle an seiner Stelle täten: Er gibt ihn an uns weiter.«

Erneut trat eine Pause ein, weil Antonio die Salatteller abräumte und die Hauptspeisen servierte. Als beide die ersten Bissen gegessen hatten, nahm Thal das Gespräch auf.

»Haben die Techniker sich den Chip angesehen?«

Bettina Berg schob sich ein Stück Scampi in den Mund, nickte und griff in ihre Handtasche. Nachdem sie sich die Hände an der Serviette abgeputzt hatte, öffnete sie die feine Schreibmappe.

»Man kann auf dem Chip erkennen, mit welcher Kamera die Bilder gemacht wurden.«

Sie blätterte in ihrem Block.

»Hier habe ich es: Canon Ixus 125. Wagner meinte, dass sei eine Allerweltskamera. Seine Tochter hätte die gleiche.«

»Und die Daten auf dem Chip?«

»Datum und Uhrzeit lassen sich in der Kamera frei wählen und jederzeit verändern. Der Techniker meinte, es wäre mühsam, vor jeder Aufnahme die Uhrzeit zu manipulieren. Was die Reihenfolge der Fotos angeht, könnten wir uns auf die Daten vermutlich verlassen. Auf das Datum und die Uhrzeit würde er nicht wetten.«

»Immerhin etwas«, sagte Wagner und spießte eine Venusmuschel auf. »Es bringt uns aber nicht viel weiter. Hast Du mit Restle gesprochen?«

Bettina hatte einen Scampi im Mund und nickte stumm. Erst nachdem sie den Bissen mit einem Schluck Wein heruntergespült hatte, berichtete sie von ihrem Telefonat mit dem Pathologen.

»Du kennst doch den Doc, der legt sich nie fest. Er tendierte aber dazu, dass die Frau während des Fotografierens noch lebte. Schließlich hätte sie keine sichtbaren Wunden und eine schöne, rosa Hautfarbe. Außerdem meinte er, Leichen sähen gewöhnlich nicht derart erotisch aus.«

Thal hatte angespannt zugehört, wobei ihm die aufgedrehten Spaghetti von der Gabel auf den Teller zurückrutschten. Ohne darauf zu achten, sagte er:

»Ich bin nicht so sicher. Auf jeden Fall sagt mir mein Gefühl, dass diese Fotos erst der Anfang sind.«

»Wir können aber nichts tun, Alexander. Kein Opfer, kein Fall.«

»Warten wir den morgigen Tag ab. Wenn ich weitere Fotos bekomme, melde ich mich zum Dienst zurück.«

Thal wunderte sich, wie bestimmt er das sagte. Noch vor einer Stunde war er sich nicht sicher, ob er jemals wieder als Polizist arbeiten wollte. Jetzt konnte er sich vorstellen, morgen im Büro zu sitzen. Als wollte er das vor sich und der Welt bekräftigen, holte er mit ausladender Geste das ärztliche Attest aus der Jackentasche und hielt es in die Höhe.

»Das hier habe ich heute Morgen nämlich noch nicht abgegeben.«

Den Rest des Abendessens plauderten Alexander Thal und Bettina Berg über dieses und jenes, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben.

Nach dolci und caffè verließen sie gegen halb zehn das Lokal. Aus der Ferne hörten sie die rhythmischen Töne einer Guggemusikkappelle. Die Fastnacht hatte endgültig begonnen.

 

 

***

 

 

Wenig später betrat Thal seine Wohnung. Der Abend hatte ihn erschöpft, dabei hatte er das Treffen mit Bettina Berg genossen. Sie war eine Freundin, das hatte er in den letzten Stunden deutlich gespürt. Er schämte sich, dass er sich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte. Er hatte nicht viele Freunde, für die sozialen Kontakte war Leah zuständig gewesen, die über eine unermessliche Zahl an nahen und fernen Bekannten und Freunden verfügte. Zu ihren zwei Mal im Jahr stattfindenden Atelierfesten kamen vierzig oder fünfzig Gäste.

»Dabei habe ich nur den engsten Kreis eingeladen«, betonte sie jedes Mal.

Wenn sie Thal fragte, welche seiner Freunde sie auf die Gästeliste schreiben sollte, zuckte er mit den Schultern. Nur ein Mal, das war jetzt fast vier Jahre her, hatte er, mehr um Leah eine Freude zu machen, Bettina Berg vorgeschlagen. Er hielt schon damals große Stücke auf sie. Er zweifelte, ob sie die Einladung annähme, hielt es aber für eine Möglichkeit, ein bisschen mehr über sie zu erfahren. Bisher hatte sie sich bei gelegentlichen, eher beiläufig gestellten Fragen nach ihrem Privatleben recht zugeknöpft gezeigt.

Es war das Ateliersommerfest vor vier Jahren, das Wetter war prächtig, und Bettina erschien in einem atemberaubenden Etuikleid. Mit Ausnahme der Schwulen scharrten sich alle Männer augenblicklich um sie und begannen mit ihren Balzritualen. Am anderen Morgen erzählte sie ihm auf der Fahrt zu einem Zeugen mit gespielter Entrüstung, dass sechs Maler sie geradezu angefleht hätten, ihnen Modell zu stehen.

Thal antwortete lachend: »Die meinten sicher keine züchtigen Historienbilder in wallenden Gewändern.«

»Du glaubst doch nicht etwa ...?«

»Und ob! Aktbilder wollen sie malen, meine Liebe. Ich kenne die Künstlerfreunde meiner Frau.«

Noch einen Tag zuvor wäre ein solch fröhliches, mit Neckereien verbundenes Gespräch unmöglich gewesen. Die besondere Atmosphäre von Leahs Atelierfest hatte alles verändert. Dabei war Alexander Thals Sohn Tobias am meisten von Bettina fasziniert. Er wich den ganzen Abend nicht von ihrer Seite. Sein Vater beobachtete das amüsiert, denn Tobias fragte Bettina ohne Scheu über ihr Privatleben aus. Bei einem Glas Sekt plauderte sie über ihren Vater Claus Berg, der bei ihrer Geburt erst achtzehn Jahre war. Er hatte ihre Mutter Ursula bei einer Griechenlandreise kennengelernt, von der sie schwanger zurückkehrte. Die beiden heirateten nach ihrer Rückkehr und wohnten in Claus’ elterlicher Wohnung in Hamburg. Bettinas Mutter studierte Deutsch und Geschichte, ihr Vater machte vier Jahre später ein ausgezeichnetes Examen in Physik. Zwei Jahre danach promovierte er und folgte seinem Professor als Assistent nach Manchester. Die ersten vier Jahr ging Bettina in England zur Schule, ehe die Familie nach Köln übersiedelte, wo ihr Vater eine Honorarprofessur angeboten bekam. Sechs Jahre später folgte der Ruf auf eine ordentliche Professorenstelle in Konstanz. Die Familie kaufte sich ein schönes Eigenheim auf der Insel Reichenau, und Bettina machte Abitur. Ihre berufliche Laufbahn kannte Thal aus ihrer Personalakte: Studium an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen, dann erste Stelle in Mannheim. Sechs Jahre später wurde sie als Kriminaloberkommissarin nach Konstanz versetzt.

Tobias Thals Wissbegierde war damit aber noch nicht gestillt, ihn interessierte, wo diese bezaubernde Kollegin seines Vaters wohnte. Zum ersten Mal stockte Bettinas Redefluss für einen kurzen Moment, ehe sie zugab, in Dettingen zu wohnen.

»Wie hältst du es in diesem Kaff aus«, entrüstete sich Tobias. Leah, die als gute Gastgeberin ständig von einem Grüppchen zum anderen wechselte und sich erst kurz zuvor auf die Lehne von Bettinas Stuhl gesetzt hatte, blies in das gleiche Horn: »Das Beste an Dettingen ist die Linie 13 – damit ist man schnell in der Stadt.«

Bettina Berg konterte lächelnd:

»Ich nehme lieber die 4. Da hat man die schönere Aussicht auf den See.«

Gleich darauf lächelte sie Leah an und sagte:

»Sie haben recht, ich bin schon lange auf der Suche nach einer Wohnung im Zentrum. Aber Sie wissen ja, wie das ist: Die Wohnungen, die mir gefallen, kann ich mir nicht leisten, und die Wohnungen, die ich mir leisten kann, gefallen mir nicht.«

Alle Zuhörer kannten die horrenden Mieten, die in Konstanz verlangt und bezahlt wurden, und pflichteten ihr bei.

Erst später erfuhr Thal, dass Bettina die Wohnung im Vorortkaff fünf Jahre zuvor mit ihrem damaligen Freund gekauft hatte, mit dem sie bereits seit ihrer Schulzeit zusammen war. Als die Beziehung mit einem gewaltigen Theater endete, wollte sie nicht noch einen finanziellen Verlust einstecken, der ihr bei einem Verkauf gedroht hätte.

 

Thal war so in seine Erinnerungen an jenen unbeschwerten Abend versunken, dass er nicht merkte, welcher Lärm auf der Straße herrschte. Der Hexensprung war zu Ende, fröhliche Narren zogen durch die Gasse auf dem Weg zu einer Weinstube. Er ging zum Computer, öffnete mit ein paar Fingerbewegungen den Mediaplayer und wählte ein Album von Marianne Faithfull. Nach ein paar Sekunden ertönten die ersten Takte von »Vision of Johanna«. Auch Leah hatte diese rauchige, ausdrucksstarke Stimme geliebt. Er verbot sich weitere Gedanken an seine Frau, um nicht in Schwermut zu verfallen. Stattdessen fragte er sich, wie sich sein Verhältnis zu Bettina Berg entwickelt hätte, wenn ihre Beziehung zu seinem Sohn von Dauer gewesen wäre. Vermutlich wäre Tobias eifersüchtig geworden. Thal erschrak ein bisschen, weil er merkte, dass er über die Trennung der beiden froh war. Damit er sich nicht für schäbig halten musste, redete er sich ein, dass die Beziehung einer Kriminalkommissarin mit dem Redaktionsleiter der örtlichen Tageszeitung ohnehin problematisch gewesen wäre.

 

Thal setzte sich auf das Sofa und schlug die Bettdecke zurück. In den nächsten Tagen würde er im Wohnzimmer, dessen Fenster auf der Straßenseite lagen, kaum Ruhe finden. Ab morgen um sechs Uhr würden ununterbrochen Guggemusiker durch die Niederburg ziehen. Aber er brauchte Schlaf. Nicht nur sein Körper, auch sein Geist schrie danach. Langsam, mit schweren Schritten ging er ins Schlafzimmer. Eine Sekunde stand er unschlüssig vor der verschlossenen Tür, eher er vorsichtig die Klinke herunterdrückte. Er hatte den Raum seit damals nicht betreten. Die stickige, abgestandene Luft nahm ihm fast den Atem. Er öffnete das Fenster und holte tief Luft. Zurück im Wohnzimmer, griff er nach den Briefen, die sich auf der Konsole stapelten. Einige wollte er noch einmal lesen. Zuerst öffnete er aber einen Brief ihres Berliner Galeristen, der vorgestern in der Post gewesen war. Nach einer kurzen, sachlichen Bekundung des Beileids kam man gleich zur Sache. Es sei zwar womöglich nicht der richtige Zeitpunkt, aber man wisse, dass es noch viele Bilder und Plastiken von Leah Braasch gäbe, die bisher noch niemandem angeboten worden wären. Nach Leahs Tod gewännen sie an Wert. Wenn Thal als Erbe sich in der Lage fühle, seien sie gerne zu einem Gespräch bereit.

Thal hatte darüber noch nicht nachgedacht. Gab es noch viele Bilder? Waren sie wertvoll? Wie stand es überhaupt um seine Finanzen? Von seinem A 12-Gehalt konnte er sich die imposant Wohnung nicht leisten.

Thal schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Er musste anfangen, die Realität zu akzeptieren. Aber nicht heute. Morgen! Jetzt war er zu müde. Er raffte die Bettdecke zusammen. Als er sich umdrehte, um das Kopfkissen zu ergreifen, fiel sein Blick auf den in Brauntönen gehaltenen »Bronski« über dem Sofa. Manches sollte man sofort erledigen. Er legte die Decke auf den Boden, stellte sich auf die Sofalehne und hängte das Bild ab. Er mochte es nicht. Es hing an diesem exponierten Platz, weil Leah ihrem Freund Bronski helfen wollte, als er finanziell in der Klemme steckte. Thal lehnte das Gemälde an die Wand und ging mit schlurfenden Schritten Richtung Schlafzimmer.