10

Schlafen ist wie Kacken für den Verstand. Träume sind nichts anderes als unbrauchbare Gedanken, die einen vergiften, wenn man sie nicht herauslässt. Schlafmangel kann einen ziemlich schnell verrückt machen. In jener Nacht in der Scheune hatte keiner von uns viel geschlafen. Drei oder vier Stunden höchstens. Die Nacht in Cone Hut war noch viel schlimmer.

Die kleine Hütte ist maximal drei auf vier Meter groß. Der Schlafplatz befindet sich auf einem Holzpodest über dem Lehmboden. Dort könnten sechs Personen bequem Platz finden. Wenn es Matratzen gäbe. Gab es aber nicht. Sondern nur einen vermoderten Schaumstoffklumpen, der nach Feuchtigkeit, Dreck und Dingen roch, die man sich lieber nicht vorstellen wollte. Wir legten uns früh hin, direkt nach der Funkmeldung. Der Wetterbericht meldete aufkommenden Wind für den folgenden Nachmittag und möglicherweise Regen im Bergland. Wir hörten, wie sich die anderen Gruppen per Funk meldeten. Alle drei waren oben in Alpha. Irgendetwas schien die schnellste Gruppe aufgehalten zu haben. Als die Zentrale sie fragte, ob sie irgendwelche Nachrichten hinterlassen wollten, antworteten sie: »Nein, danke.« Als wären wir überhaupt nicht mit ihnen auf Tour gegangen. Das war uns nur recht. Wir hinterließen auch keine Nachricht. Wir waren heilfroh, dass wir sie erst am Ende der Wanderung wiedersehen würden.

Als ich mich auf den blanken Holzbrettern ausstreckte, ahnte ich bereits, dass Schlafen nicht einfach werden würde. Ich hatte dieses typische Campinggefühl im Bauch: Mir war halb schlecht von dem vielen ungesunden Essen, dem Qualm des offenen Feuers und dem vielen Herumliegen, ohne sich wirklich zu entspannen. Mein Magen fühlte sich wie ein Steinklumpen an, mein Hals war trocken und meine Gedanken kreisten ruhelos durch mein Hirn. Ich stützte den Kopf auf den Ellbogen und sah mich um, ob es irgendjemandem noch so ging wie mir. Lisa hatte sich bereits aufgesetzt. Wir versuchten verzweifelt, ein ähnliches Gespräch wie am Vorabend in der Scheune in Gang zu bringen. Aber es funktionierte nicht. Die Stimmung war vorbei. Eine Weile schnitten wir alle möglichen Themen an, Schule, Familie, ehemalige Haustiere, bis uns Jonathan erlöste.

»Haltet endlich die Klappe! Ich versuche zu schlafen.«

Ich legte mich wieder hin und vergrub meinen Kopf in einem Knäuel aus Trainingshose und Fleecepulli und wartete darauf, dass mich der Schlaf von dem Gefühl der Enttäuschung befreite. Die Ratten waren schneller.

Ich lag ganz außen an der Wand. Über unseren Köpfen verlief ein schmaler Vorsprung, auf den sich notfalls noch zwei weitere Personen quetschen konnten. Ich hörte das Rascheln, war aber fest entschlossen, es zu ignorieren. Bestimmt nur Vögel. Und wennschon. Es war mir egal. Ich war zu müde. Dann flitzten sie von einer Seite zur anderen. Es war unmöglich, nicht hinzuhören.

»Verdammte Ratten!« Jonathans Wasserflasche kippte von dem Brett über unseren Köpfen und ich hörte, wie die kleinen Füße davontrippelten. Eine Minute später, nachdem man gerade angefangen hatte, sich wieder zu entspannen, waren sie wieder da. Dieses Mal zu unseren Füßen, wo unsere Rucksäcke lagen. Ich hörte, wie ihre scharfen Zähne kurzen Prozess mit unseren Plastiktüten machten. Ich stellte mir vor, wie die Krankheitserreger von ihren Zungen troffen und wie sich ihre langen, glatten Schwänze anfühlen würden, wenn sie über mich liefen. Ich versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, ob ich irgendetwas an meinem Rucksack nicht richtig zugemacht hatte. Die anderen hatten es ganz sicher nicht. Ich hatte gesehen, wie Lisa auf der Suche nach ihrer Taschenlampe achtlos sämtliche Sachen aus dem Rucksack geworfen hatte. Ich wartete darauf, dass die anderen etwas unternahmen. Die anderen warteten ebenfalls. In der Zwischenzeit nagten die Ratten ungestört weiter und die Geräusche füllten die Dunkelheit. Ich versuchte, es zu verdrängen und mich in den Schlaf fallen zu lassen, aber jedes Mal wenn meine Gedanken verschwammen, gingen die Geräusche wieder los. Das Nagen und Beißen.

Eine Taschenlampe wurde angeknipst und ich hörte, wie die Ratten in die Ritzen flüchteten. Es war Ms Jenkins. Sie saß aufrecht in ihrem Schlafsack und leuchtete auf unsere Rucksäcke.

»Ihr müsst nach euren Sachen sehen«, sagte sie. »Wenn ihr das Essen nicht wegpackt, werden sie immer wieder kommen.«

Widerwillig krochen wir aus unseren Schlafsäcken. Bis auf Rebecca, die sich nicht rührte.

»Ihr seid alle so was von unfähig«, knurrte sie. Ihr Rucksack stand so an der Wand, wie sie ihn am Abend verlassen hatte. Sorgfältig verschlossen.

»Wer hat das Brot draußen liegen lassen?« Jonathan hielt die Überreste eines Brotlaibs hoch. Im Schein der Taschenlampe sahen wir die zerfetzte Plastiktüte und das angefressene Brot. »Ganz schön verfressen, diese Biester. He, Turner. Du warst dafür zuständig, das Brot wegzupacken!«

»Woher sollte ich denn wissen, dass du es ausgepackt hattest«, knurrte ich.

»Dann hättest du eben nachschauen müssen.«

»Außerdem war es in Lisas Sachen.«

»Von wegen! Ich hab nach dem Mittagessen den Topf genommen.«

»Nach dem Mittagessen sind wir aber hiergeblieben.«

»Verdammt noch mal!« Rebecca setzte sich wütend auf. Sie klang wie ein entnervter Babysitter, der bei seinem Lieblingsfilm gestört wird. »Irgendeiner von euch packt jetzt das Brot weg. Wir können es sowieso wegwerfen. Beeilt euch gefälligst. Ich will endlich schlafen.«

»Du bist uns ja wirklich eine große Hilfe«, sagte Jonathan.

»Hab ich vielleicht das Essen draußen liegen lassen?«

»Oh, entschuldige. Ich hab völlig vergessen, dass du nie Fehler machst.«

»Ich bin nur nicht so unfähig wie ihr. Das ist was anderes.«

»Es muss wirklich hart für dich sein.«

»Lass sie in Ruhe.«

»Halt das Maul!«

»Haltet ihr lieber euer Maul und macht endlich das Brot weg.«

Es war wie früher. Wir packten alles weg, warfen uns noch ein paar Beleidigungen an den Kopf und verkrochen uns wieder in unseren Schlafsäcken. Die Holzbretter fühlten sich jetzt noch härter an, aber ich war schon im Halbschlaf, als die Ratten zurückkamen. Ich hörte, wie eine über das Brett lief, das nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt an der Wand befestigt war. Dann war es plötzlich still. So still, wie es ist, wenn fünf Personen auf das gleiche Geräusch warten. Plötzlich flitzte eine zweite Ratte so nah an mir vorbei, dass ich sie riechen konnte. Diesen ekelhaften Geruch nach Pisse. Ich verbarg meinen Kopf in meinem Schlafsack, bis es mir so heiß wurde, dass ich kaum noch Luft bekam.

Etwas streifte meine Haare und ich erstarrte. Das war nur Rebeccas Hand, versuchte ich mich zu beruhigen. Dann schrie Lisa gellend auf.

»Sie war in meinen Haaren!« Sie setzte sich auf und rieb sich panisch über den Kopf. »Dieses verdammte Biest war in meinen Haaren!«

»Die haben bestimmt Flöhe«, bemerkte Jonathan.

Lisa verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Aua! Ich mein ja bloß.«

»Ich glaube, eine hat gerade mein Ohr gestreift«, sagte ich.

»Sie ist immer noch hier!«, kreischte Lisa. »Da!«

Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe kauerte die Ratte am Fußende. Ich hätte sie berühren können, wenn ich die Hand ausgestreckt hätte. Sie sah uns mit ihren schwarz glänzenden Augen furchtlos an. Jonathan schnappte sich Lisas Taschenlampe und schleuderte sie auf das kleine Biest. Es gab einen dumpfen Knall, dann war es dunkel.

»Jetzt hast du die Glühbirne kaputt gemacht.«

»Willst du lieber, dass sie noch mal zurückkommen?«

»Das werden sie bestimmt. Jetzt, wo sie wissen, dass du nicht zielen kannst.«

»Ich kann sowieso nicht mehr schlafen«, erklärte Lisa. »Keine Chance.«

»Lisa.« Rebecca sprach langsam, als müsste sie sich sehr beherrschen, um nicht zu platzen. »Hat sie dich gebissen? Hat sie dir irgendetwas getan?«

»Nein.«

»Na also. Dann ignorier sie einfach.«

»Das kann ich nicht.«

Ms Jenkins murmelte etwas Unverständliches, kroch aus dem Schlafsack und ging zu ihrem Rucksack.

»Hier. Ich zünde eine Kerze an. Solange die brennt, werden sie nicht zurückkommen.« Vielleicht stimmte das. Vielleicht hatte auch Jonathans Attacke mit der Taschenlampe sie vertrieben. Oder sie sind zurückgekommen und über mein Gesicht gelaufen. Ich weiß es nicht. Ich schlief.

Als ich aufwachte, war mein Hals trockener, mein Kopfweh schlimmer und mir war schlecht. Lisa und Jonathan schliefen beide noch. Rebecca war schon auf und aß ein Müsli. Wir hatten zwei Tage kaum geschlafen, einen Tag Verspätung, Ratten hatten unsere Vorräte angefressen und die schwierigste Etappe lag noch vor uns. Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass Mr Camden uns in den Folgekursen als abschreckendes Beispiel dafür benutzen würde, wie man die Exkursion auf keinen Fall angehen sollte.

Die Strecke begann mit einer Flussüberquerung, die ganz gut verlief. Es hatte schon länger nicht mehr geregnet und das Wasser war nicht allzu tief. Anschließend schleppten wir uns mit nassen Füßen einen zweieinhalbstündigen Anstieg hoch und meine Laune änderte sich fast minütlich. Weil wir ständig stehen blieben, um etwas zu trinken, jemanden zu beschuldigen oder zu jammern, fanden wir nie zu einem gleichmäßigen Rhythmus. Eigentlich waren wir gar nicht so unfit. Nur Lisa schien immer wieder zu kämpfen, aber auch das nur in unregelmäßigen Abständen. Unser Schwachpunkt war eher sozialer Art.

Ich merkte, dass ich Ms Jenkins unterschätzt hatte. Sie schien kein bisschen erschöpft, obwohl sie genauso wenig geschlafen hatte wie wir. Sie wirkte ausgeglichen und blieb den ganzen Tag ruhig und gelassen. Es war, als ließe sie uns stillschweigend wissen, dass wir uns auf sie verlassen konnten, wenn es darauf ankam. Und sie war von uns allen am fittesten. Wenn sie vor uns ging, sah ich, wie sich ihre Wadenmuskeln bei jedem Schritt anspannten, und sie schien niemals abzurutschen oder langsamer zu werden.

Der Weg führte zwischen Sträuchern und Buchen hindurch und wurde weiter oben immer moosiger. Als der Anstieg allmählich abflachte, lichteten sich die Bäume und wir durchwanderten eine Landschaft aus niedrigem Buschwerk und Felsen. Hier hörten wir zum ersten Mal den Wind, der über uns durch die Gipfel pfiff. Zuerst achtete ich nicht darauf. Ich war zu sehr damit beschäftigt, nicht an meine schmerzenden Schultern oder die vielen Stunden, die noch vor uns lagen, zu denken. Oder daran, wie Jonathan und Rebecca abrupt verstummt waren, als ich mich am Morgen zu ihnen gesellt hatte.

Den Wind im Tararua-Gebirge kann man nicht allzu lange ignorieren. Als wir auf dem Gipfel des Bull Mound anlangten, sahen wir sofort, dass dies kein lauschiger Ort war. Keine Bäume. Nur niedriges Dornengestrüpp, das sich an den felsigen Untergrund schmiegte. Die einzigen Farbkleckse in der grauen Felslandschaft waren leuchtend grüne Moosflecken. Am Himmel trieben Wolkenfetzen.

Wir kamen aus Wellington. Eigentlich waren wir an starken Wind gewöhnt. Unten in der Stadt fegte der Sturm oft durch die engen Gassen und die Kinder mussten sich an Parkuhren festhalten, um nicht davongeweht zu werden. Aber dieser Wind war anders. Dieser Wind war Furcht einflößend. Er dröhnte in meinen Ohren und zerrte aus drei verschiedenen Richtungen an mir. Er blähte meine Nasenflügel auf und zog an meinen Augenlidern. Er brachte mich in tausenddreihundert Meter Höhe zum Schwanken, ohne die geringste Unterschlupfmöglichkeit. Grenzsteine zeigten uns den Weg in Richtung Süden über den flachen Gipfel. Wenigstens waren wir weit weg von steilen Abhängen.

Instinktiv hängten wir uns beieinander ein. Jonathan und Rebecca. Ms Jenkins und ich nahmen Lisa in die Mitte. Wir stolperten vorwärts, klammerten uns aneinander und duckten uns schützend, wenn uns ein besonders heftiger Windstoß erfasste. Jonathan erwischte es als Ersten. Er und Rebecca waren vor uns und ich sah, wie er über einen Felsen stolperte und Rebeccas Arm losließ. Es war erschreckend, wie schnell der Wind ihn packte und samt Rucksack wie eine Feder in die Luft wirbelte. Er landete wenige Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt rücklings auf seinem Rucksack. Mit rudernden Armen und Beinen wie ein umgekippter Käfer.

Wir hasteten zu ihm. Der Wind trug jeden Laut, den man von sich gab, davon, ehe man etwas hören konnte. Erst als ich direkt über ihm stand, sah ich, dass Jonathan lachte. Er lachte aus vollem Halse. So sehr, dass er kaum noch Luft bekam. Er ergriff unsere ausgestreckten Arme und zog sich hoch.

»Los, komm, Marko!«, rief er mir ins Ohr. »Lauf los! Das war das Coolste, was ich je erlebt habe!«

Wir rannten. Als mich der Wind das erste Mal packte, bekam ich Panik. Ich war mir sicher, dass ich ungünstig landen, mir ein Knie verdrehen oder mit dem Kopf voraus gegen einen Felsen knallen würde. Doch Jonathan hatte recht. Wenn man erst einmal den Dreh raushatte, machte es einen Riesenspaß. So ungefähr musste es sich anfühlen, auf dem Mond spazieren zu gehen. Mithilfe des Windes wurde man vorübergehend schwerelos und irrte wie ein Betrunkener mit Riesensprüngen über die Erde. Wenn man wieder nach unten fiel, musste man sich rasch auf den Rücken drehen und den Rucksack als Sicherheitspolster benutzen. Dann schnell wieder aufstehen und zu den anderen laufen, während der Wind unser fröhliches Gelächter davonwehte, bis es irgendwo im Tal an den Blättern der Bäume hängen blieb. Es war ein wundervolles Gefühl, einer so mächtigen Naturgewalt ausgeliefert und doch unbesiegbar zu sein.

Am südlichen Ende des Bull Mound führte ein sumpfiger Weg in den Schutz der Bäume hinunter. Dort blieben wir stehen und dachten daran, wie der Wind mit uns und wir mit ihm gespielt hatten. Eine Viertelstunde auf dem Berggipfel hatte uns genug Energie gegeben, dass wir den restlichen Weg bis nach Alpha bewältigen konnten. Dieses eine Mal war es Jonathan gewesen, der uns wieder zusammengebracht hatte.

Das letzte Stück der Wanderung führte durch ein feuchtes Waldgebiet, wo alles außer dem Himmel mit einem dichten Moosteppich bedeckt zu sein schien. Eine grasgrüne Landschaft wie aus einem Märchenfilm. Schweigend wanderten wir zwischen den Bäumen hindurch. Es war das erste Mal, dass wir die Wanderung genossen, obwohl wir uns natürlich auf die Rast in der Hütte freuten.

Die Hütte war deutlich komfortabler als Cone Hut. Ziemlich neu und funktional gebaut. Vom Schlafraum blickte man auf eine großzügige offene Küche. Hohe Fenster machten den Raum hell und freundlich. Auf jedem Bett lag eine Matratze, und soweit ich das beurteilen konnte, gab es keinerlei Schlupflöcher und Ritzen für Ratten. Lisa trat zu der Landkarte an der Wand.

»Seht mal. Das alles haben wir heute geschafft.« Sie fuhr mit dem Finger den Weg entlang. »Wir haben fast alle Steigungen hinter uns.«

Wir umringten sie neugierig. Sie hatte recht. Alpha Hut lag auf tausenddreihundert Meter Höhe, nicht weit vom höchsten Punkt der Bergüberquerung. Wir streiften unsere Rucksäcke ab und ließen uns auf die Betten fallen. Langsam machte sich Erleichterung darüber breit, dass wir die Tagesetappe geschafft hatten, und wir waren stolz auf uns. Es war die Art von Erleichterung, der das Schicksal auflauert.

Das Abendessen war lecker. Rebecca war mit Kochen dran und machte einen riesigen Topf Reiscurry mit frischem Gemüse und Cashewkernen. Mit zufriedener Miene sah sie zu, wie Jonathan und ich uns beeilten, um uns eine zweite Portion zu sichern. Dann folgte die vorhersehbare Debatte um den Abwasch, die ich verlor. So wie ich jede Debatte verliere. Weil mir die Argumente ausgehen. Danach erledigten wir unsere abendliche Funkmeldung. Die anderen hatten sich auf den Weg nach Kime gemacht, ehe der Wind aufkam. Von ihnen gab es noch keine Nachricht. Ich rechnete fest damit, dass wir uns sofort aufs Ohr hauen würden, um unser Schlafdefizit nachzuholen. Aber Ms Jenkins hatte andere Pläne.

»Wer von euch kommt noch zu einem kleinen Spaziergang zum Gipfel mit?«, fragte sie. »Es sind nicht mehr als fünfzehn Minuten.«

»Ein kleiner Spaziergang?«, sagte Jonathan. »Wie schön! Nach so einem ruhigen Tag kann ein bisschen Bewegung bestimmt nicht schaden.«

»Wir gehen doch morgen sowieso hoch, oder?«, fragte Lisa.

»Aber nicht bei Nacht. Der Wind hat sich gelegt. Draußen ist es wunderschön.« Sie wischte über die beschlagene Fensterscheibe. Der Himmel war mit Sternen übersät. »Von da oben hat man einen umwerfenden Blick über die ganze Stadt.«

»Ich komme mit«, erklärte Rebecca und setzte sich in ihrem Bett auf. Es war eine Herausforderung und wir nahmen sie an. Sogar Lisa überwand sich und schlüpfte der Gruppe zuliebe noch einmal mit den warmen Füßen in die nassen Strümpfe.

Wir folgten einem schmalen Pfad, der zum Gipfel führte. Wenig später waren wir wieder über den Bäumen und stapften durch taunasses Berggras. Die Luft war kühl und roch sauber. Bis auf Lisa hatten wir alle unsere Taschenlampen dabei. Ms Jenkins bat uns, sie auszuknipsen, damit sich unsere Augen an das milchige Licht des tief stehenden Halbmonds gewöhnten. Es war, als wanderten wir durch eine andere Welt. Hier oben schien so vieles, was zu unserem Leben gehörte, plötzlich unglaublich weit weg: Hausaufgaben, Fernsehen, Supermärkte.

»So sieht ein richtiger Nachthimmel aus«, sagte Ms Jenkins und blieb stehen. Der Anblick war überwältigend. Am Himmel leuchteten so viele Sterne, dass es mehr weiße als schwarze Punkte zu geben schien. Mit offenem Mund betrachtete ich das Funkeln über mir. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

»Mein Gott, ist das schön«, flüsterte Lisa, deren Stimme in der Stille laut und deutlich zu hören war. Wir nickten nur zustimmend.

Südlich von uns glitzerten die Lichter von Wellington, als leuchtete es nur für uns. Wir entdeckten einen schmalen, windgeschützten Felsvorsprung nicht weit vom Rand und drängten uns eng aneinander, um uns zu wärmen. Ms Jenkins begann zu erzählen. Allmählich entspannte sie sich mit uns. Jetzt, wo die anderen weit weg waren, wo alles weit weg war.

Sie zeigte uns Sternbilder und erklärte, wie man sich mit dem Kreuz des Südens orientierte, als die erste Welle den Boden erschütterte. Ich hatte schon mehrere Erdbeben erlebt und zuerst war es so wie immer. Im allerersten Moment begreift man noch nicht, was los ist. Man denkt, es wäre wegen der Dunkelheit oder ein Gleichgewichtsproblem. Bis man sich verwundert umsieht und feststellt, dass die anderen genauso verwirrt sind wie man selbst. Dann weiß man plötzlich, was Sache ist. Das kann nur eins sein. Der Boden schwankt wie ein Schiff bei starkem Seegang. Man denkt an alles, was passieren und schiefgehen könnte. Vielleicht schreit jemand oder ruft »cool!« und man benutzt es als Ausrede, um noch ein bisschen näher zu rücken. Und dann wartet man, dass es vorbeigeht, weil es immer vorbeigeht. Man wartet, bis der Boden wieder zu festem Boden wird, eine dicke Kruste über einer flüssigen Erde. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal hörte es nicht auf.

Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Aus dem Beben wurde heftiges Rütteln und aus dem Rütteln wurden Wellen. Es war, als hätte die Erde genug von uns und versuchte, uns abzuschütteln. Und dann die Geräusche. Geräusche von berstendem Boden und rutschenden Erdhängen. Neue Risse im Baustoff der Erde. Und Schreie. Meine Schreie gemischt mit den Schreien der anderen, während wir uns verzweifelt aneinander-klammerten, weil es das Einzige war, woran wir uns noch festhalten konnten. Wir wussten, wie schlimm es um uns stand, ohne es sagen zu müssen. Der Boden konnte jeden Moment unter uns nachgeben, und das wäre das Ende. Wir würden überleben oder sterben und waren dem Schicksal hilflos ausgeliefert.

Mein Kopf fühlte sich dumpf an, während ich wartete. Es war, als würde ich alles aus der Ferne beobachten. Die ganze Welt löste sich aus den Angeln – sogar die Zeit stand still. Wenn man mich gefragt hätte, wie lange es dauerte, hätte ich gesagt, eine Ewigkeit.

Dann war es vorbei. Zumindest das Hauptbeben. Plötzlich zitterten nur noch unsere Körper. Wir machten alle merkwürdige, namenlose Geräusche vor Angst und Erleichterung.

»Die Stadt ist weg«, flüsterte ich schließlich. Ich weiß noch, wie ich zum Hafen hinunterblickte und nichts als undurchdringliche Finsternis sah. Als hätte sich die Erde schlafen gelegt und das Licht ausgemacht. Es war totenstill, während jeder von uns an die Zerstörung dachte und wie knapp wir dem Tod entronnen waren. Dann kamen die Explosionen. Zwei Lichtblitze, die sich in gigantische Feuerbälle verwandelten und zum Himmel aufstiegen wie ein außer Kontrolle geratenes Feuerwerk.

»Sollen wir zur Hütte zurückgehen?«, fragte Rebecca. Die Unsicherheit in ihrer Stimme klang ungewohnt.

»Noch nicht«, antwortete Ms Jenkins. »Es gibt bestimmt noch mehrere Nachbeben. Im Moment ist es sicherer, wenn wir hierbleiben.«

In der nächsten halben Stunde bebte es noch drei Mal. Das zweite Beben war am schlimmsten – wie eine Antwort auf das Hauptbeben. Erst nachdem die Erde zwanzig Minuten lang ruhig geblieben war, gab Ms Jenkins Entwarnung. Niemand stellte ihre Autorität infrage oder witzelte darüber, dass bei der Exkursion doch die Schüler entscheiden sollten. Wir hatten schreckliche Angst und brauchten sie.

Sie ging vorsichtig voraus, immer einen Fuß vor den anderen. Wir hatten die Taschenlampen angeknipst und gingen so dicht hintereinander, dass ich Lisas warmen Atem in meinem Nacken spürte. Meine Beine zitterten und waren verkrampft vor Angst und zu langem Sitzen in der Kälte.

»Passt genau auf, wo ihr hintretet«, ermahnte uns Ms Jenkins. »Es könnte überall ein Erdrutsch sein oder gerade entstehen.«

In der Dunkelheit konnten wir nicht sehen, wie sehr sich die Welt um uns herum verändert hatte. Aber ich versuchte, es mir vorzustellen. An einem Punkt schien der Weg plötzlich zu Ende zu sein und wir gingen durch lose Erde und Steine. Dann quetschten wir uns zwischen Felsbrocken hindurch, die viel zu groß erschienen, um bewegt werden zu können. Aber auf dem Hinweg waren sie definitiv nicht da gewesen.

»Sind Sie sicher, dass das der richtige Weg ist?«, fragte Lisa hinter mir.

»Ja. Wartet mal. Das fühlt sich ziemlich wacklig an. Okay, ich glaube, es geht.« Ms Jenkins war auf einen hüfthohen Felsbrocken geklettert. Jonathan kletterte hinterher, dann Rebecca. Als sie oben war, drehte sie sich zu mir um und streckte mir die Hand entgegen. In diesem Moment bewegte sich der Fels und sie fiel mit einem lauten Schrei nach vorn und warf mich rücklings auf den Boden.

»Eigentlich hättest du mich auffangen sollen«, scherzte sie, aber ich spürte, dass sie genauso zitterte wie ich. Wir hörten, wie der Felsbrocken den Abhang hinunterrollte und irgendwo im Gebüsch liegen blieb.

»Verdammt.«

»Alles okay mit euch?«

»Was ist passiert?«

Lichtkegel wanderten durch die Dunkelheit. Ich nickte und lächelte schwach. Mehr schaffte ich nicht.

Erleichtert stellten wir fest, dass die Hütte noch stand. Nur die Umgebung sah nicht mehr so aus wie vorher, soweit wir das im Dunkeln beurteilen konnten. Ms Jenkins schärfte uns ein, draußen zu warten, während sie die Hütte dreimal mit der Taschenlampe umrundete. Sie inspizierte das Fundament, trat prüfend gegen die Wände und lehnte sich gegen den Wassertank. Ich vertraute ihr. So wie man als Kind seinen Eltern blind vertraut, weil alles andere viel zu beängstigend wäre.

Als wir schließlich hineingingen, liefen wir alle rastlos umher, als müssten wir dringend etwas erledigen, wüssten aber nicht mehr, was. Ich stand neben Lisa am Bett. Sie drehte sich zu mir um und vergrub ihren Kopf an meiner Brust. Jemand zündete eine Kerze an und die Stille wurde durch das Knistern des Funkgeräts unterbrochen.

»Hier spricht JG67.« Ms Jenkins saß am Tisch und sprach mit ruhiger Stimme in das Funkgerät. Sie war viel härter im Nehmen, als ich gedacht hatte. »Hier spricht JG67. Können Sie mich hören? Over.«

Wir scharten uns um sie und warteten auf die knisternde Antwort. Nichts. Sie versuchte es wieder und wieder. Dreißig Minuten lang immer dieselbe Nachricht. Als wäre sie ganz sicher, dass beim nächsten Mal jemand antwortete. Doch es antwortete keiner.

Dann krochen wir in unsere Betten. Alle fünf dicht nebeneinander in der unteren Etage. Sobald ich die Augen schloss, füllte sich mein Kopf mit Bewegung. Als ich eindöste, fühlte ich mich wieder wie ein Baby, das langsam in den Schlaf schaukelte.