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16. April
Hier ist mein Platz zum Schreiben. Ich hab ihn gestern zufällig entdeckt. Es war zwar riskant herumzulaufen, aber ich habe es einfach nicht mehr länger im Bett ausgehalten. Mit diesem unerträglichen Gefühl, meine Zeit zu verschwenden und nur darauf zu warten, dass er wiederkommt. Als ich aufstand, hat mir alles wehgetan. Ich muss wirklich schwer verletzt gewesen sein. Viel schwerer, als ich dachte. Wenn ich mich zu weit vorbeuge, habe ich solche Schmerzen im Rücken, dass ich mich kaum noch bewegen kann. Ich spüre bei jedem Atemzug meine Rippen und mein Körper ist mit blauen Flecken übersät, die allmählich verblassen. Von meinem Bett aus sehe ich den Flur und ich habe die anderen Patienten vorbeilatschen sehen. Es gibt viele verschiedene Arten, verrückt auszusehen. Ich habe meine eigene entwickelt. Ich gehe so gebeugt, wie das mit meinem Rücken geht, und taste mich mit winzigen Schritten vorwärts. Mein Mund steht offen, sodass mir die Spucke über die Unterlippe läuft. Bei den Augen muss ich am meisten aufpassen, damit sie mich nicht verraten. Es ist schwer, mit leerem Blick herumzulaufen, anstatt ihn auf irgendetwas zu richten. Zum Glück habe ich herausgefunden, dass sich ein Tränenfilm bildet, wenn man möglichst wenig blinzelt. Das hält die Welt auf Abstand.
Obwohl es im Moment nicht so aussieht, als würde mich irgendjemand aufmerksam beobachten. Vermutlich ist das nur eine provisorische Station – viele Dinge scheinen hier nur halb fertig zu sein. Die Ärzte und Schwestern wirken zerstreut. Als könnten sie es kaum erwarten, zu wichtigeren Dingen zurückzukehren. Die wenigen Pflegekräfte, die überhaupt hier sind. Manchmal ist es schwer, eine Krankenschwester zu finden, und wenn, dann sind sie immer in Eile und sehen müde aus. Wahrscheinlich ist das im Moment überall so. Wegen des Erdbebens. Das macht die Sache einfacher für mich. Nur vor dem Arzt muss ich mich in Acht nehmen. Soweit ich weiß, kommen die Ärzte immer nur einmal am Tag, meistens abends oder nachts, und machen hastig ihre Runden.
Also habe ich angefangen herumzulaufen. Es tut so gut, aus diesem Zimmer herauszukommen, dass ich mich beherrschen muss, um nicht zu lächeln. Ich wandere den Flur entlang und drehe eine Runde durch die Station. Am Schwesternzimmer vorbei, dann zu den Toiletten, durch den Aufenthaltsraum, in dem die Besucher sitzen und so tun, als würden sie den durchdringenden Uringestank nicht riechen. Und krampfhaft versuchen, nicht auf den laufenden Fernseher zu starren. Weiter zu den Zimmern, an deren Türen Schildchen mit unseren Namen hängen, falls wir sie vergessen haben. Auf meinem Schild steht »Chris«. Den Namen hat sich irgendein Arzt oder eine Schwester für mich ausgedacht und ich werde mich hüten, ihnen etwas anderes zu sagen. Gar nichts werde ich ihnen sagen. Ich laufe einfach nur den ganzen Tag durch die Gegend und sehe mich um, denn das ist besser, als nichts zu tun.
Bei meiner dritten Runde kehrte ich nicht zurück. Es war, als wollte ein Teil von mir davonlaufen. Und alles zurücklassen. Eine Telefonnummer wählen, reden, eine vertraute Stimme hören und einfach alles stehen und liegen lassen. Ich ging durch die große Glastür, als wäre ich überhaupt kein Patient, sondern irgendein Typ, der die Stromleitungen überprüft und zufällig einen Krankenhauspyjama trägt. Am verwaisten Empfangsschalter und am Aufzug neben dem Treppenhaus vorbei. Obwohl ich genau wusste, wie gefährlich mein Verhalten war, fühlte ich mich mit jedem verbotenen Schritt leichter. Aber viel weiter kam ich nicht. Das Schicksal ließ mich nicht gehen.
Ich kam zu einer interessant aussehenden Tür, in der sich ein kleines Glasfenster befand. Als ich durchsah, konnte ich kaum etwas erkennen, weil der Raum dahinter nur schwach beleuchtet war. Verwundert stellte ich fest, dass sie unverschlossen war, und ging durch einen kurzen dunklen Korridor, bis ich vor einer unverputzten Betonwand stand. Ich stand einfach nur da und atmete den feuchten, muffigen Geruch ein, während ich mir vorstellte, irgendwo anders zu sein. Nirgendwo zu sein. Einen kurzen Moment lang entspannte ich mich.
Von dem Gang gingen noch zwei weitere Türen ab. Auf einer Tür stand »Putzraum«. Sie war verschlossen. Auf der anderen stand »Heizung«. Als ich sie öffnete, stand ich hier in diesem Raum. Es ist kein richtiger Heizungskeller, sondern nur ein Raum, in dem sich die Ventile und Schalter für die Heizung in diesem Teil des Krankenhauses befinden. Ein kleiner, stickiger Raum, der gerade groß genug ist, dass sich jemand, der nach der Heizung sieht, darin bewegen kann. Mit einem Klappstuhl drin. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der sich hierher verzieht. Der Raum erinnert mich an einen Schrank bei uns zu Hause, in dem ich mich als Kind immer verkrochen und gemalt habe. Das hat mich auf die Idee mit dem Schreiben gebracht. Ich hatte gesehen, dass im Wartezimmer ein Notizbuch lag, und kehrte zurück, um es zu holen. Nachdem ich im Empfangsbereich einen Kugelschreiber aufgetrieben hatte, verbarg ich beides unter meiner Pyjamajacke und kam hierher zurück. Ich bin mir sicher, dass mich keiner gesehen hat.
Sobald ich mit Schreiben angefangen hatte, flossen die Worte nur so aus mir heraus. Ein Schwall voller Erinnerungen und Erleichterung. Alles aufzuschreiben wird mir helfen, nicht den Verstand zu verlieren, solange ich hier ausharren und seinen Tod planen muss. Und es wird mir helfen, meine Erinnerungen zu ordnen, die immer noch verschwommen sind. Weil die Medikamente sie zu Matsch gemacht haben.
Und es gibt noch einen Grund, warum ich all das aufschreibe. Das ist mein Beweismaterial, falls mein Plan misslingt. Ich werde an meine Schule einen Brief mit meinem Namen drauf schreiben. Sollte ich nicht mehr zurückkehren, wird hoffentlich jemand den Brief öffnen. In dem Brief wird stehen, wo ich die Notizen versteckt habe. In dem Hohlraum, der sich hinter einer Platte in der Wand befindet. Die Platte ist sehr schwer, aber man kann sie verschieben. Und dort verstecke ich das Notizbuch immer, wenn ich weggehe. Wenn ich alles aufschreibe, was passiert ist, dann besteht zumindest noch die Chance, dass die Welt erfährt, was er getan hat. Falls ich es nicht schaffe, ihn zu töten. Auch wenn das nur ein schwacher Trost wäre. Viel schlechter als die erste Möglichkeit. Und deshalb will ich jetzt gar nicht darüber nachdenken.
Vielleicht sollte ich noch erzählen, dass ich nicht weiß, wie ich hierhergekommen bin. Ich erinnere mich an die fünf Tage nach dem Erdbeben draußen in den Bergen. Aber die gehören zu der Geschichte mit dem Arzt und deshalb werde ich sie an einer anderen Stelle aufschreiben. Eins nach dem anderen. An das, was danach passiert ist, habe ich so gut wie keine Erinnerung. Im Grunde kann ich nur raten. Jemand muss mich gefunden und ins Krankenhaus von Palmerston North gebracht haben, das einzige Krankenhaus in der Nähe, das noch stand. Ich war verletzt, erschöpft, dehydriert und stand wahrscheinlich unter Schock. Aber auf meiner Station liegen keine Patienten mit physischen Verletzungen. Wo ich liege, werden psychisch gestörte Patienten behandelt. Der Arzt muss mich gesehen haben, als sie mich brachten. Er muss überglücklich gewesen sein, dass ihm der einzige Zeuge seiner Tat auf diese Weise in die Hände fiel. Wahrscheinlich hat er irgendeine Ausrede erfunden, um mich hierher zu verlegen. Inmitten des Chaos war das bestimmt nicht schwer. Und dann hat er mir einen Medikamentenmix verschrieben, der mir den Verstand rauben sollte. Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Ein einfacher Plan oder jedenfalls der erste Schritt, während er in Ruhe darüber nachdenken konnte, was er mit mir anstellt.
Aber irgendetwas muss schiefgegangen sein. Etwas, was ich nicht verstehe. Irgendwie habe ich aufgehört, die Medikamente zu nehmen. Ich weiß nicht, wie. Ich wünschte, ich wüsste es. Die vielen Lücken in meinem Gedächtnis machen mir Angst. Vielleicht war es ein Versehen. Vielleicht sind die Pillen auf den Boden gefallen, als eine Schwester gerade nicht hingesehen hat. Wie auch immer es kam – ich wurde befreit. Es war, als würde ich nach langem, tiefem Schlaf langsam wieder erwachen. Wie wenn man noch halb benommen ist und einem die Umgebung gleichzeitig fremd und bekannt vorkommt. Als hätte ich die ganze Zeit mit offenen Augen geschlafen. Erinnerungsfetzen aus den Tagen in den Bergen kamen zurück und mit ihnen die schrecklichen Wachträume, immer mit dem Gesicht des Arztes darin. Der Albtraum ist immer noch gegenwärtig. Er lauert unter der Oberfläche meiner Gedanken. Und jedes Mal, wenn sich meine Gedanken bewegen, kommt ein Teil davon zum Vorschein.
Ich weiß noch, wie ich die ganze Nacht wach lag und verzweifelt versuchte, Ordnung in das Wirrwarr meiner Gedanken zu bringen. Ich musste mich beherrschen, um nicht laut loszuschreien. Am Morgen kam die Schwester ins Zimmer und schob ihren Rollwagen mitten durch meine Panik.
»Guten Morgen, stummer Chris«, sagte sie fröhlich, ohne mir in die Augen zu sehen. Als wüsste sie, dass es dort nichts zu sehen gab. »Gut geschlafen?« Sie plapperte munter weiter, während sie mir Puls und Temperatur maß, und währenddessen traf ich meine Entscheidung. Es schien mir einfacher und sicherer zu sein, stumm zu bleiben und nichts von mir preiszugeben. Aber das war gar nicht so leicht. Etwas in mir drin wollte schluchzend zusammenbrechen, sich an sie klammern und ihr alle Fragen stellen, die mich quälten. Sie bitten, mir unmögliche Dinge zu sagen. Dass alles gut werden würde. Doch mein Instinkt hinderte mich daran.
An jenem Abend, nach zwei weiteren Rollwagenbesuchen und zweimaligem Vortäuschen von Schlucken, sah ich den Arzt und wusste schlagartig Bescheid. Mein Instinkt hatte mir das Leben gerettet.
Jetzt spiele ich mein Spielchen weiter. Ich warte auf den richtigen Zeitpunkt und dann werde ich der Welt zeigen, dass Marko Turner nicht so ein Versager ist, wie alle immer gedacht haben. Ich werde es dem Arzt heimzahlen.