Im Myrtenkranz
Noch einen Blick werfen wir auf die uns wohlbekannten Personen, welche an einem der letzten Tage des scheidenden Jahres an der reich und festlich geschmückten Tafel des Westheimschen Hauses vereinigt sind, um Ernas Ehrentag zu feiern. An der Spitze sitzt das junge, eben vermählte Paar, und sein Anblick ist wohl geeignet, die Herzen der beiderseitigen Eltern mit Dank und Freude zu erfüllen. Erna ist eine holdselige Braut; aus den großen Augen strahlt volle, tiefe Befriedigung; ihre ganze Erscheinung ist umflossen von dem Zauber blühender Jugend und bräutlichen Glückes. Der schöne, hohe Mann an ihrer Seite blickt mit zärtlichem Entzücken auf sein junges Weib, das schon als kaum erschlossene Knospe sein Herz gefangen nahm, um es nie wieder loszulassen. Die zwei Jahre des Wartens haben seine Liebe vertieft, sein Inneres gereift und ihm den Stempel edelster, charaktervoller Männlichkeit sichtbar aufgeprägt. – Frau v. Westheim ist immer noch eine höchst anziehende Erscheinung; ihre Blicke ruhen mit mütterlichem Stolz auf der lieblichen Tochter, doch mischt sich schon die tiefe Wehmut des Scheidens darein; verliert sie doch an ihrem Kinde zugleich eine Freundin, mit der sie in den letzten Jahren jede Empfindung, jede Ansicht teilen konnte, bei der sie immer volles Verständnis und lebendigste Teilnahme fand.
Neben ihr sitzt Regierungsrat Freyenstein und beiden gegenüber Nora, die hübscher und anmutiger erscheint, als je. Obgleich das Paar seit zwei Jahren verheiratet ist, liegt doch ein Hauch bräutlicher Zartheit und Innigkeit über ihrem Verhältnis, und Noras Auge leuchtet jedesmal heller auf, wenn es dem ihres Gatten begegnet. Die zarte Gestalt der Frau Klingemann, die kräftige Figur ihres Gatten füllen ihre Platze würdig aus; am unteren Ende der Tafel sitzt Rose Grund, ein hübsches frisches Mädchen, das mit sicherm Blick den Tisch und die Dienerschar überschaut und unmerklich die Fäden zieht, welche das Ganze leiten, daneben aber noch Zeit behält, mit ihrem Nachbar, dem Hauptmann von Lilienkron, eine lebhafte und heitere Unterhaltung zu führen.
Schon mancher Trinkspruch ist ausgebracht, in Ernst und Scherz ist das junge Paar samt Eltern und Anverwandten gefeiert; verstohlen sieht der junge Ehemann nach der Uhr und flüstert seiner Frau zu, daß es Zeit zum Aufbruch sei. Geräuschlos verschwindet sie von der Tafel, nur von ihrer Mutter gefolgt, die ihr beim Ablegen ihres Brautschmuckes behilflich ist. In Ernas traulichem Mädchenzimmer halten sich die beiden noch einmal fest umschlossen.
»Lebewohl, geliebte Mama; ade, mein liebes Vaterhaus und du, meine ganze glückliche Mädchenzeit, ade auf immerdar!« sagte Erna unter heißen Thränen, »o Mama, warum ist das Scheiden so schwer, warum ist mir in diesem Augenblick so bange, das Wohlbekannte zu verlassen und in das unbekannte Leben hinauszutreten? Werde ich die Kraft haben, es würdig auszufüllen?!«
»Laß deine Thränen fließen, mein teures Kind«, erwidert die Mutter, »sie erschrecken mich nicht. Bald werden sie trocknen, wenn das neue reiche Glück die Oberhand gewinnt, wenn der Zauber des eignen Hauses dich umfängt. Du hast es längst erkannt, daß das Leben aus verschiedenen Elementen gemischt ist: Freude und Leid, Irdisches und Himmlisches, geistliche und leibliche Bedürfnisse, jedes verlangt sein Recht, und es ist vor allem die hohe Aufgabe der Frau, das scheinbar Widersprechende in Harmonie aufzulösen. Ein unablässiges Streben nach dem Höchsten und Besten, ein liebevolles Versenken in das Kleine – das sind die Wege, die uns zum Ziele führen, nur auf ihnen wird die Frau zu einer ebenbürtigen Gefährtin ihres Gatten und zu einer treuen Hüterin seines häuslichen Glücks. Ich vertraue dir, daß du sie mit Gottes Hilfe gehen, daß du auf ihnen glücklich sein und glücklich machen wirst. Zieh hin, meine Erna, Gott geleite dich in dein neues Leben!« –
Vor der Thür hält ein eleganter Reisewagen mit einem Postillon in höchster Gala auf dem Bock; rings umher aber bildet eine schaulustige Menge Spalier. Jetzt öffnet sich die Hausthür, ein paar Diener treten an den Wagenschlag, die Fenster oben füllen sich mit geschmückten Damen, unten erscheint das junge Ehepaar. Der Herr hebt seine schöne Frau in den Wagen und breitet sorglich die warmen Decken über sie aus; sie wechseln die letzten Händedrücke mit den sie begleitenden Herren, sie winken und grüßen noch einmal herauf – dann stößt der Postillon ins Horn, die Pferde ziehen an die Menge ruft hurra! und mit einem »Glück auf« verlieren wir den Wagen aus den Augen.