Rachel ist süß

 

„Du bist süß …“, leckte sie mir mit rauer Zunge in der Mitte der Nacht durchs Ohr und ich spürte, wie sich meine Moleküle neu zusammensetzten. C12 H22 und Oh, Oh, Oh, O11.. Ich spürte mich zu Zucker werden und wohlig schmelzen, spürte, wie meine Kristalle in der Hitze ihre Struktur verloren, und sie rollte sich wohlig durch die weiche, anschmiegsame Form, die ich wurde. Alles war vergessen. Ihre Zweifel reichten meinen Zweifeln die Hand und gemeinsam nahmen sie sich neben unseren zerwühlten Kissen das Leben. Diesmal wird sie bleiben, dachte ich, diesmal bestimmt, und in zwei kurzen Schlafphasen träumte ich, dass wir gemeinsam Rollrasen und Mustertapeten aussuchten.

 

„Rachel, du bist süß, aber in meinem Leben ist kein Platz für so etwas. Lass mich bitte endlich in Ruhe“, sagte sie am nächsten Morgen halb zur geöffneten Tür und halb zu mir. Was ich für den Beginn unseres gemeinsamen Lebens gehalten hatte, war für sie offensichtlich ein Abschied gewesen. Es war zwar nicht neu, dass mir die Schonungslosigkeit der Realität kurz nach dem Aufwachen negativ auffiel, aber das milderte die Wucht dieses Treffers kein bisschen.

 

„Sie hat bestimmt mit dir gesprochen“, sagte ich deshalb trotzig zur Tür.

 

„Goldene Träume lassen hungrig erwachen“, zitierte die Tür einen mir unbekannten Dichter und fiel gnadenlos hinter der Frau meiner Träume ins Schloss. Da ich mich bis zu diesem Moment noch nicht einmal aufgerichtet hatte, konnte ich auch nicht dramatisch in mein Kissen zurücksinken. So presste ich einfach die Lider zusammen, bis sie schmerzten, und wartete auf die Rückkehr meiner Träume. Morpheus suchte blitzschnell seine Sachen zusammen und verschwand grußlos. Wie immer, wenn er Liebeskummer bei mit witterte. Nessun dorma sang ich, ohne einen Ton zu treffen, in das Laken, das nach einer verbotenen Mischung aus ihr und mir und Weichspüler roch. Ich folgte der Duftspur schnüffelnd wie ein junger Hund durch die Bettwäsche, sah uns begehren und küssen und lieben und versprechen, sah uns weinen, lügen und glauben. Wir waren klassische Götterlieblinge, wenn man Goethes Versen glauben durfte. Meine verkrampften Lider flehten um Gnade, und ich schlug die Augen wieder auf. Gut, wir nehmen eure Version, sagte ich zur Realität und zur Tür und machte mir zur Abwechslung einfach mal klar, dass meine heimliche Geliebte mich soeben verlassen hatte. Ihr Profil hatte im Weggehen einen Augenblick wie eine dieser schwarzen Jahrmarktsscherenschnitte mit zu vielen scharfen Linien ausgesehen, die wir bei unserem Besuch in Paris nicht hatten zeichnen lassen, weil wir Paris gemeinsam nicht besucht hatten. So wie wir auch nicht an südlichen Stränden unsere Hände ineinander verflochten oder uns tiefe Blicke über die Speisekarten versteckter Hafenrestaurants zugeworfen hatten. Sie hatte einen Mann, ein Haus, eine Firma und einen guten Ruf, und das machte den gesamten Planeten, mit Ausnahme meines Schlafzimmers, zu einem Ort, an dem sie alles verlieren konnte. Die Mehrzonen-Federkernmatratze, die ich eigentlich gekauft hatte, um meinen Rücken zu schonen, war dadurch zum einzigen Spielfeld geworden, auf dem ich den Kampf um diese Liebe hatte austragen können. Nur dort hatten sich die Gegensätze angezogen, ausgezogen und dann abgestoßen. Ich vermutete, dass unsere Chancen auf gemeinsames Glück mit jedem Liter Milch, den wir zusammen und vollständig bekleidet aus einem öffentlichen Kühlregal genommen hätten, stetig gestiegen wären. Oder auch nicht.

 

Ich war süß.

 

Sie hatte keinen Platz für mich.

 

Sie wollte Ruhe vor mir.

 

Empfindlichere Wesen hätten daraus möglicherweise geschlossen, dass sie zwar gut genug gewesen waren, einer verheirateten Frau die Freuden der lesbischen Sexualität näherzubringen, dass aber sonst keine größeren Emotionen mitgespielt hatten. Wie gut, dass ich nicht empfindlich war. Ich war süß wie die Rache und Kristall für süßes Kristall rieselte ich in Gedanken in ihr platzloses Leben. Auf den leeren Beifahrersitz, wenn sie morgens zur Arbeit fuhr, und auf den warmen Fahrersitz, den sie kurz frei machte, um den ersten Schüler einsteigen zu lassen. Ich streute mich in die kalte Ritze, die sie in der Nacht von ihrem Ehemann trennte, und eine feine weiße Spur folgte ihr bei jedem ruhelosen Schritt in der Dunkelheit über zu oft poliertes Parkett. Ich sah sie stehen und gehen, sich sehnen und weinen und lügen und schweigen und ließ sie wie zufällig auf meiner körnigen Zuckerspur ausrutschen und sich die Stirn an der Kante des Echtholzschrankes aufschlagen. Das Blut, das ihr rot und dick die Stirn hinablief, besänftigte mich, und ich schlief ein.

 

Nach dem Duschen am späten Mittag wurde mir klar, dass ich zwei Möglichkeiten hatte. Entweder, mich von Liebeskummer wie von Dornenranken in hundertjährigem Schlaf umwuchern zu lassen oder eine Weile auf Metaphern zu verzichten und einfach ein wenig Schaden anzurichten. Ich entschied mich für den Schaden und kontrollierte im Spiegel die Mischung aus femininer Unschuld und jungenhaftem Übermut, die ich zu diesem Anlass zu tragen gedachte.

 

Meine platzlose Geliebte beugte sich gerade gemeinsam mit einem Schüler über ein Schriftstück und ich spürte sofort wieder, wie unsere Hände in den ersten Theoriestunden zu beiden Seiten eines Bogens mit Vorfahrtsregeln und Parkverboten nervös aufeinander gelauert hatten. Wie sich unsere Zeigefinger kurz und prickelnd über dem Bußgeldkatalog berührt hatten, während sie mir die Strafe für die Unterschreitung des Mindestabstands erklärte.

 

Als sie aufsah, hatte ich schon ihren Mann begrüßt, der hinten aus dem hinteren Büro kam und sich sichtlich freute, mich wiederzusehen.

 

„Motorradführerschein? Da sind Sie also doch noch auf den Geschmack gekommen. Das ist eine wundervolle Idee!“ Er war begeistert. Ich auch. Sie nicht. Dem unbekannten Schüler war es egal.

 

„Wie lange ist das jetzt her mit ihrem Führerschein? Zwei Jahre schon? Wie die Zeit vergeht …“

 

… und wie sie stillsteht …

 

Während er nach hinten eilte, um ein Anmeldeformular zu holen, froren seine Gattin und ich gemeinsam in einer eisigen Zeitscholle fest. Ich süß lächelnd, sie sichtlich entsetzt. Tick! Tick! Tick! … machte die große Uhr über der Tafel mit den Verkehrsschildern, als wollte sie uns an die Gesetze von Zeit und Raum erinnern. Der Schüler neben ihr wurdeunruhig und nahm seinen Übungsbogen vom Tisch.

 

„Ich schaue mir das dann zu Hause noch mal an“, sagte er im Gehen, und da weder sie noch ich reagierten, war er sich wie der hypothetisch fallende Baum auf dem Weg nach draußen nicht sicher, ob er wirklich ein Geräusch gemacht hatte.

 

Ich erinnerte mich wieder daran, wie sie hinter meinen Stuhl getreten war und sich so tief über mich gebeugt hatte, dass ihre langen Haare meinen nackten Hals entlang in meinen Ausschnitt gefallen waren. Ich sah uns nebeneinander im Fahrschulwagen sitzen, ihr Oberschenkel zu dicht an meinem, ihre Hand über meiner auf dem Schaltknüppel. Wir hatten im stehenden Fahrzeug das Schalten geübt. Hoch und runter und hoch und runter, immer wieder. Als sie mir unaufgefordert ein Übungsbuch nach Hause gebracht hatte und wir uns schon im Flur küssten, war ich sicher gewesen, dass der Ehemann ein Irrtum und ich ihre Zukunft war.

 

Sie sah all diese Dinge in diesem Moment nicht, das erkannte ich an ihren ungesund verkrampften Händen.

 

Sie stellte sich die vielen Stunden vor, die ich ab jetzt mit ihrem Mann, der den Motorradunterricht am liebsten selbst gab, verbringen würde.

 

„Du willst es ihm erzählen“, sagte sie, aber da es keine Frage gewesen war, gab ich keine Antwort.

 

„Was will sie mir erzählen?“, fragte der gehörnte Gatte, als hätte er sein Stichwort für den Auftritt in einer Telenovela vernommen. Da er seine Frau angesprochen hatte, schwieg ich und wartete süß lächelnd auf ihre Antwort.

 

„Sie will dir erzählen, wo ich letzte Nacht war“, flüsterte sie und täuschte sich damit gründlich in mir. Das hätte ich ihm frühestens in der letzten Fahrstunde erzählt, wenn überhaupt. Warum aber sollte ich ihr jetzt widersprechen?

 

„Wie unhöflich von ihr.“ Er sah mich nur kurz an und schob dann auf dem kleinen Modell-Verkehrsübungsplatz ein Automodell so heftig an, dass es einen arglosen Modellradfahrer überfuhr. „Damit verderben Sie ihr den Tag, wissen Sie. Vielleicht sogar die Woche.“ Er stupste den kleinen Radfahrer, der fest verbunden mit seinem Rad auf der aufgemalten Straße lag, an, als wollte er überprüfen, ob er wirklich tot war.

 

„Sie kann es nämlich überhaupt nicht leiden, wenn ich erfahre, welcher Fahrschülerin sie Nachhilfeunterricht gibt. Ihre Vorgängerinnen waren da wesentlich diskreter.“

 

Vorgängerinnen? Er sah die verletzte Überraschung in meinen Augen und lächelte milde.

 

„Sie haben doch nicht geglaubt, dass sie die Erste waren?

 

„Schatz …“ Er ließ den reglosen Radfahrer in Ruhe und trat dicht neben seine ebenfalls reglose Gattin. „Du hast ihr doch nicht etwa erzählt, dass sie die Erste ist, für die du derartige Gefühle hegst?“

 

Ich sah sie an und fragte mich, wer sie das Lügen gelehrt hatte und ob sie und ich denn in dieser Szene überhaupt keinen Text bekamen. Er fragte sich das nicht und redete weiter.

 

„Sehen Sie, Sie sollten das nicht persönlich nehmen. Ich tue das auch nicht. Ich sehe die Frauen, denen sie hinterherschaut. Ich übersehe die Frauen, mit denen sie schläft, und nutze die freien Nächte, so gut ich kann. Zum Glück machen ja nicht nur Lesben den Führerschein.“

 

Sie erwachte lange genug aus ihrer Starre, um ihr Gewicht wie eine Boxerin kurz von einem auf den anderen Fuß zu verlagern und auszuholen. Ich sah ihre Hand durch die Luft fegen und in seinem Gesicht landen. Wenn man bedachte, dass ich bis zu diesem Moment noch kein Wort gesagt hatte, war meine Mission schon jetzt ein großer Erfolg.

 

Er rieb sich überrascht die rote Wange und schnaubte: „Seit wann bist du denn so empfindlich?“

 

Sie schüttelte ihre Schlaghand und fand die Sprache wieder. „Seit wann bist du eigentlich so ein Arschloch? Ich frage mich, wie ich es so lange mit dir ausgehalten habe.“

 

Gleich und gleich gesellt sich gern, dachte ich, aber dann trafen meine Augen ihren wütenden Blick und meine Zellen träumten ohne Vorwarnung von sofortiger Osmose.

 

„Du hast recht“, sagte sie in diesem Augenblick zu ihrem Mann. „Sie ist nicht die Erste.“ Es schmerzte deutlich stärker, als ihre Stimme es bestätigte, stellte ich fest und überlegte, was ich sagen konnte, um ihr richtig weh zu tun, aber mir fiel nichts ein.

 

„Sie ist nicht die Erste, von der ich träume, sie ist nicht die Erste, nach der ich mich sehne …“

 

Diese Liebe zum Detail fand ich persönlich unnötig, und mir wurde zudem klar, dass ich keine Lust hatte, dem Zerfall dieser seltsamen Ehe weiter beizuwohnen. Ich drehte mich um und ging zur Tür.

 

„Warte!“, rief sie. „Willst du denn den Rest nicht hören? Deshalb bist du doch gekommen, oder?“

 

Ich schüttelte im Gehen den Kopf und mied ihren Blick.

 

„Sie ist jedoch die Erste, mit der ich geschlafen habe“, sagte sie deshalb lauter. „Und die Erste, die ich liebe.“ Sie wusste, dass ich mich umdrehen würde, und deshalb warteten ihre Augen schon auf mich, obwohl sie weiter zu ihrem Mann sprach.

 

„Ich wäre bei dir geblieben, weißt du? Wegen der Leute … aus Angst … aus Bequemlichkeit …“

 

In der winzigen Pause zwischen ihren Worten fanden unsere Blicke Zeit, alle weiteren Fragen, die uns betrafen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

 

„Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, warum ich geblieben wäre. Aber du machst mir die schwerste Entscheidung meines Lebens leicht.“

 

Sie stellte den kleinen Radfahrer wieder ordentlich auf den kleinen Radweg, trat zu mir und nahm meine Hand. Ich hatte bis dahin zwar wenig zur Konversation beigetragen, sah aber meine Chance auf das letzte Wort.

 

„Tschüs!“, sagte ich und zwinkerte dem kleinen Radfahrer aufmunternd zu.