Am Weltenriss
Die Erd-Alben waren inzwischen in den Felsspalten verschwunden und hatten offenbar auch keinen magischen Einfluss mehr auf die Dolche, die sie geschleudert hatten. Vielleicht lag das an den unheimlichen Kräften, die aus dem Weltenriss strömten.
Eine dumpfe Erschütterung ließ die gesamte Höhle erbeben. Die Irrlichter zogen sich so weit wie möglich zurück, denn aus irgendeinem Grund wollten sie nicht in den Weltenriss zurückkehren.
Das galt auch für die Dreiköpfige, die eilig am Ufer entlangkroch. »Folgt … mir …!«, zischelte sie, während sich der von gleißendem Licht erfüllte Schlund weiter öffnete. »Folgt … mir … zu … Freund!«
»Ich habe nicht geahnt, dass der Weltenriss bereits bis unmittelbar unter diese Höhle vorgedrungen ist!«, rief Saradul, und sein Gesicht drückte blankes Entsetzen aus.
»Das ist es, was ich gesehen habe!«, entfuhr es Olba.
Alle aus der Gruppe folgten der Dreiköpfigen und liefen am Seeufer entlang. Nicht mehr lange, und das gesamte schimmernde Wasser des unterirdischen Sees würde im grellen Schlund verschwunden sein.
Nur Tomli blieb schon nach wenigen Schritten stehen und blickte sich um. Er schützte die Augen mit der Hand vor dem gleißenden Licht. Es musste doch etwas getan werden, damit sich dieser Riss nicht noch weiter ausdehnte. Sie hatten keine Zeit, noch irgendwelche Amulette und andere magische Gegenstände mühevoll zu suchen!
Jetzt!, dachte Tomli. Jetzt musste etwas geschehen!
Das grelle Licht ließ die Höhle taghell erstrahlen. Tomli musste die Augen zusammenkneifen wie unter dem wolkenlosen Himmel der Wüste. Die letzten Erd-Alben, die noch in den Nischen und Spalten der Felswände verblieben waren, wurden von dem Licht angestrahlt und zogen sich unter schrillem Kreischen gänzlich zurück. Sie fürchteten offenbar nicht so sehr den Weltenriss selbst, sondern flohen vor dessen Helligkeit, die vermutlich genauso unangenehm für sie war wie das Licht der Sonne, das sie ebenfalls mieden.
»Tomli!«, rief Arro, als er merkte, dass der Freund stehen geblieben war. Er rannte zurück, doch in dem hellen Gleißen konnte er kaum etwas sehen, so sehr blendete es ihn.
Die anderen hielten ebenfalls an, und Saradul schimpfte: »Nur Ärger hat man mit diesem Lehrling!«
Tomli stand da wie angewurzelt. Aus irgendeinem Grund war er wie gelähmt. In der Rechten hielt er den Zauberstab, und die Gedanken rasten ihm nur so durch den Kopf, während ihm der Rand des gleißenden Schlunds immer näher kam.
Sollte er es wagen oder nicht?
Langsam hob er die Hand mit dem Zauberstab.
In dem Moment, als Arro ihn erreichte und an der Schulter packte, drang Olbas Stimme durch die Höhle. Der Hall verstärkte sie und ließ sie sehr gewaltig klingen.
»Lass ihn, Arro! Lass ihn! Er hat das Richtige vor!«
Tomli drehte sich kurz zu Olba um, während bereits wenige Schritte vor ihm das Gestein in großen Brocken abbrach und in den vom Licht erfüllten Abgrund stürzte.
Dann schrie er, den Zauberstab hoch erhoben, eine Formel, in die er all seine magische Kraft legte. Er hatte vielleicht noch nicht genug gelernt, um die verstärkende Wirkung des Zauberstabs genau abschätzen zu können, doch er war überzeugt davon, dass er in diesem besonderen Moment gar nicht genug Magie freisetzen konnte.
Ein rot glühender Strahl aus reiner Zwergenmagie schoss aus dem Zauberstab zur Höhlendecke und fraß sich in das Gestein. Dicke Brocken brachen heraus, stürzten hinunter, und dann schien die ganze Höhlendecke einzustürzen.
Endlich ließ sich Tomli von Arro mitziehen. Sie stolperten davon, gerade noch rechtzeitig, denn einerseits brach dort, wo gerade noch ihre Füße gestanden hatten, der Untergrund weg und wurde von dem gleißenden Abgrund verschlungen, und andererseits stürzte von oben das Gestein in die Tiefe, und das in solchen Massen, dass man ganze Städte damit hätte errichten können.
Ein ohrenbetäubendes Grollen durchlief die Höhle und übertönte sogar den schrillen Chor der Irrlichter.
Tomli und Arro rannten davon, und die Irrlichter folgten ihnen, schwebten einfach durch das Chaos hindurch. Da sie keine körperliche Gestalt hatten, konnten die herabfallenden Gesteinsbrocken ihnen nichts anhaben.
Lirandil und Olfalas hatten den Ausgang des Höhlengewölbes erreicht, der durch die Tropfsteine, die in der Öffnung nach unten hingen, wie das Maul eines gewaltigen Monsters wirkte. Olba traf ein paar Augenblicke nach ihnen dort ein, und Saradul, der zwischenzeitlich ebenfalls stehen geblieben war, um zu sehen, was sich hinter ihm abspielte, folgte ihnen.
Die Dreiköpfige hatte den Höhlenausgang bereits passiert und drängte die Gefährten zischelnd, ihr zu folgen. »Schnell … zu … Freund!«
Endlich erreichten auch die beiden Zwergenjungen das Tropfsteintor. Tomli drehte sich noch einmal um und sah die Irrlichter, die ihnen gefolgt waren. Mindestens ein Dutzend waren es, aber genau war das nicht zu sagen, denn manchmal bildeten mehrere von ihnen ein größeres Gesicht, und im nächsten Augenblick teilten sie sich wieder auf.
In der Höhle hinter ihnen war es fast wieder ganz dunkel geworden. Es war so viel Gestein von der Decke gebrochen, dass der gleißende Weltenriss, den Tomli aus Versehen freigelegt hatte, erst einmal zugedeckt war. Riesige Gesteinsplatten lagen über der Öffnung, und noch immer regneten kleinere Felsstücke herab. Hier und dort schimmerte zwar noch etwas von dem gleißenden Licht durch die Lücken und Ritzen, aber auch die würden wohl in Kürze verschlossen sein – wenn auch sicherlich nicht für lange.
»Das war sehr riskant, Tomli«, tadelte Meister Saradul.
»Ich wusste, dass es gelingen würde«, ergriff Olba für den Zauberlehrling Partei, der im Augenblick nicht in der Lage war, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. »Ich habe es gesehen.«
»Und hast du vielleicht auch gesehen, was in Kürze passieren wird? Der Weltenriss ist sogar noch weitaus größer geworden, als ich dachte, und Tomli hat ihn nur für kurze Zeit abdecken können.«
»Ich weiß, dass das auf Dauer keine Lösung ist«, verteidigte Tomli sein Vorgehen. »Aber auf diese Weise habe ich uns wenigstens retten können. Ihr solltet mir eigentlich dankbar sein.«
Saradul sog scharf die Luft ein, um Tomli gehörig den Kopf zu waschen, doch Lirandil war schneller und sagte: »Das sind wir auch, Tomli. Allerdings werden wir uns wohl einen anderen Rückweg suchen müssen.«
Saradul nickte. »Ja, das müssen wir.«
Tomli warf einen letzten Blick in die Höhle, während alle anderen das Tropfsteintor durchschritten, und da erschrak er. Etwas – nein, jemand – raste so schnell auf ihn zu, dass es Tomli unmöglich gewesen wäre, ihm noch rechtzeitig auszuweichen.
Doch das war nicht nötig, denn dieser Jemand hielt nur einen Schritt von ihm entfernt abrupt an, und vor Tomli stand eine bleiche, kahlköpfige Gestalt mit spitzen Ohren, gekleidet in ein dunkles Gewand und mit einem schmalen Schwert aus Dunkelmetall in der Hand.
Die Augen schienen blind zu sein, die Haare an der Nase vibrierten, während das Wesen schnüffelte wie ein wildes Tier.
Tomli hatte einen Erd-Alb vor sich.