9
»Ich habe all meine Notizen mitgebracht«, begann
sie, »für den Fall, dass wir sie noch einmal durchsehen müssen. Ich
habe in der letzten Woche viel alleine nachgedacht und kaum mit
euch geredet. Ich glaube, das war ein Fehler. Na ja, vielleicht
nicht gerade ein Fehler, aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir
gemeinsam darüber sprechen.«
Sie stieß die Luft aus. »Ich kann so etwas nicht
gut, also sage ich einfach, was ich denke, und ihr könnt mich
jederzeit unterbrechen.«
»Zoe?« Dana nahm eine Bierflasche vom Tisch und
reichte sie ihr. »Entspann dich.«
»Das versuche ich gerade.« Zoe trank rasch einen
Schluck. »Ich glaube, Kane hat bis jetzt noch nicht viel gegen mich
unternommen, weil er nur die Oberfläche sieht. Wir wissen aus dem,
was früher passiert ist, dass er nicht wirklich versteht, was in
uns vorgeht. Ich glaube, deswegen hasst er uns auch. Er hasst uns«,
murmelte sie, »weil er nicht sehen kann, was in uns los ist, und
deswegen nicht exakt weiß, wo er ansetzen soll.«
»Gut erkannt«, sagte Jordan. Zoe entspannte sich
sichtlich.
»Ich glaube, in mir sieht er lediglich eine Frau
aus kleinen Verhältnissen. ›Arm‹ wäre das passendere Wort, aber das
sagt man nicht gern. Ich habe keine besondere Ausbildung. Mit
sechzehn wurde ich schwanger, und ich verdiente mir meinen
Lebensunterhalt hauptsächlich als Friseuse und als Kellnerin. Ich
habe nicht Malorys Klasse und Kultur.«
»Ach, wirklich, das ist doch …«
»Warte.« Zoe hob die Hand, als Malory heftig
protestierte. »Lass mich ausreden. Es ist so, und ich habe nicht
Danas Bildung und Selbstbewusstsein. Was ich jedoch habe, ist ein
starker Rücken und einen Sohn, den ich liebe und großziehen werde.
All das stimmt, aber letztendlich ist es nicht die ganze Wahrheit.
Und deshalb versteht er auch einiges nicht.«
Sie trank einen Schluck, um ihre Kehle zu
befeuchten. »Meine Entschlossenheit zum Beispiel. Ich habe mich
nicht damit zufrieden gegeben, arm zu sein. Ich wollte mehr und
suchte nach Wegen, mehr zu bekommen. Oder mein Versprechen. Ich
habe an jenem Abend auf dem Peak mein Wort gegeben, und wenn ich
etwas verspreche, dann halte ich es auch. Und ich bin nicht feige.
Kane hat sich bisher kaum um mich gekümmert, weil er das nicht
sieht, und obwohl er lange Zeit gehabt hat, mich zu beobachten,
glaubt er, ich hätte ein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein und
hielte meine Chancen für gering, wenn er sich nur gleichgültig
genug mir gegenüber verhält.«
Sie holte tief Luft. »Darin irrt er sich. Wenn er
mir das Gefühl gibt, ich sei den Kampf nicht wert, dann wird er
nicht gewinnen.«
»Du wirst ihm in den Hintern treten«, erklärte
Dana.
Zoes Miene hellte sich auf, und ihr Lächeln war
kriegerisch, wenn es ihr auch nicht bewusst war. »Ja, das werde ich
tun, und dann werde ich ihm die Eier zerquetschen.«
Um sie zum Grinsen zu bringen, schlug Flynn
schützend die Beine übereinander. »Hast du da irgendeine besondere
Methode?«
»Ein paar. Dana und Malory mussten Schritte
unternehmen, Entscheidungen treffen und sogar Opfer bringen. Sie
haben über den Hinweis nachgedacht und …«, sie schaute zum Porträt,
»… und über die Göttin, für die sie standen. Also muss ich mir
Gedanken darüber machen, wie meine vergangenen oder zukünftigen
Handlungen meine Göttin widerspiegeln. Der Welpe und das Schwert.
Das ist auf dem Gemälde, das auf dem Peak hängt. Vermutlich nährt
und verteidigt sie, genau das, was ich seit mehr als neun Jahren
für meinen Sohn tue.«
»Nicht nur für ihn«, warf Jordan ein. »Es liegt in
deiner Natur, jeden zu nähren und zu verteidigen, an dem dir etwas
liegt. Es ist sozusagen angeboren und eine deiner Stärken. Das ist
nämlich ebenfalls etwas, was Kane nicht begreift. Du sorgst dich so
sehr um die Frauen auf dem Bild, dass du für sie kämpfen
würdest.«
»Freundschaft spielt eine Rolle«, fügte Brad hinzu
und wies auf das Bild. »Ebenso wie Familie und die Erhaltung dieser
Strukturen. Das sind wesentliche Elemente in deinem Leben.«
»Ja, so sehe ich es auch. Ich habe mir überlegt,
dass eine der Grundlagen für die Suche bis jetzt war, dass man so
lebt, wie man es wirklich möchte, und dazu die nötigen Schritte
unternimmt und Opfer bringt.«
Es klang gut, wenn sie es laut aussprach, dachte
Zoe. Es klang solide. »Für mich habe ich beschlossen, ein Kind zu
haben. Viele Leute haben mich davor gewarnt, aber ich wusste tief
in meinem Herzen, dass ich das Kind wollte. Ich ging von zu Hause
fort, weil mir klar war, dass das für ihn keine passende Umgebung
war. Ich hatte Angst, und es war schwer, aber es war das Richtige
für mich und für Simon.«
»Du hast deinen Weg gewählt«, sagte Brad
leise.
»Ja. Und es gab auf diesem Weg natürlich Verluste
und Verzweiflung, wie Rowena es in dem Hinweis erwähnt hat. Du
kannst nicht allein erziehende Mutter sein, ohne dass es dazu
kommt. Aber du hast auch all die Freude, den Stolz und das Staunen
alleine. Ich entschied mich dafür, ins Valley zu kommen, weil ich
mit Simon hier leben wollte. Dann musste ich mich entscheiden, ob
ich weiterhin als Angestellte arbeiten oder mein Glück selber in
die Hand nehmen und etwas aus mir machen wollte. Das allerdings
brauchte ich nicht mehr alleine in Angriff zu nehmen, weil meine
anderen Entscheidungen mich trugen.«
Sie hockte sich hin und holte ein paar Unterlagen
aus ihrem Rucksack. »Seht ihr? Ich habe es mal aufgezeichnet, wie
eine Art Landkarte.«
Sie reichte sie zuerst Malory. »Hier bin ich
aufgewachsen - na ja, ganz in der Nähe jedenfalls. Und da stehen
die Namen meiner Familie und der Menschen, die in irgendeiner
Hinsicht Einfluss auf mich gehabt haben. Das hier sind die anderen
Orte, an denen ich gelebt und gearbeitet habe, und weitere Namen.
Bis ich dann schließlich hier angekommen bin, mit euch allen. Wisst
ihr, ich habe gedacht, im Grunde genommen geht es lediglich darum
zu leben. Um das, was du tust, und was mit dir geschieht, während
du es tust.«
Malory quietschte. »Du hast bei HomeMakers
gearbeitet?«
»Nur Teilzeit. Drei Abende in der Woche und an den
Sonntagnachmittagen. Das war ungefähr drei Monate vor Simons
Geburt.« Sie wandte sich an Brad. »Ich habe bis vor kurzem nicht
mal mehr daran gedacht.«
»In welchem Laden?«
»Außerhalb von Morgantown, neben dem Highway 68.
Sie waren wirklich nett zu mir. Ich war im sechsten Monat, als ich
mich dort nach einem Zusatzjob erkundigt habe. Ich saß an
Registrierkasse Nummer vier, als die Wehen einsetzten. Es muss
etwas zu bedeuten haben, dass ich Wehen bekam, als ich für dich
arbeitete.«
Brad ergriff das Chart und musterte es prüfend.
»Ich war damals im März in der Filiale, weil es Probleme gab.« Er
tippte auf das Papier. »Ich erinnere mich daran, weil jemand zu
spät in die Sitzung kam und sich damit entschuldigte, dass eine der
Kassiererinnen Wehen bekommen und er sie ins Krankenhaus begleitet
habe.«
Es war keine Angst, die Zoe einen Schauer über den
Rücken jagte. Es war Erregung. »Du warst da.«
»Irgendwie unheimlich«, warf Dana ein. »Wohin führt
uns das?«
»Etwas davon macht Zoes und meinen Weg aus.« Brad
studierte wieder das Chart. »Danach hast du aber nicht mehr in
Morgantown gearbeitet.«
»Nein. Ich habe Überstunden in dem Salon gemacht,
in dem ich angestellt war, und sie erlaubten mir dafür, das Baby
mitzubringen. So freundlich sie auch bei HomeMakers waren, du
kannst nicht gut an der Kasse arbeiten, wenn darunter ein Säugling
liegt.«
Er war da gewesen, dachte Zoe wieder. Ihre Wege
hatten sich im wichtigsten Moment ihres Lebens gekreuzt. »Ich
wollte kein Geld für eine Tagesmutter ausgeben«, fuhr sie fort.
»Und ich war noch nicht bereit, ihn aus den Augen zu lassen.«
Brad betrachtete ihr Gesicht und versuchte, sich
vorzustellen, wie sie an jenem Tag vor zehn Jahren ausgesehen
hatte. »Wenn ich etwas früher durch die Verkaufsräume gegangen
wäre, hätte ich dich gesehen und mit dir gesprochen. Aber ich
beschloss, zuerst die Sitzungen zu erledigen. Eine dieser kleinen
Entscheidungen, die für lange Zeit etwas verändern.«
»Ihr solltet euch damals noch nicht begegnen.«
Malory schüttelte den Kopf. »Ich weiß, das klingt nach Schicksal
und Vorsehung, aber man sollte es nicht außer Acht lassen, trotz
all unserer Entscheidungen. Ihr wart dazu bestimmt, euch hier zu
begegnen. Wege, Kreuzungen, Abzweigungen - Zoe hat sie alle auf
ihrer Karte.«
Malory beugte sich vor und schaute mit Brad
gemeinsam auf das Chart. »Du könntest deine Wege hinzufügen, Brad.
Vom Valley nach Columbia, zurück zum Valley, nach New York, nach
Morgantown, sonst wohin, und dann wieder zurück hierher. Danach
könntest du auf einen Blick die Abzweigungen und Schnittpunkte
sehen. Und sie haben euch beide hierhin geführt. Es ist nicht nur
Geografie.«
»Nein.« Brad tippte mit dem Finger auf die Namen,
die Zoe neben ihrem Heimatort aufgelistet hatte. »James Marshall.
Ist das Simons Vater?«
»Technisch gesehen ja. Warum?«
»Ich kenne ihn. Unsere Familien hatten geschäftlich
miteinander zu tun. Wir haben Grundstücke von seinem Vater gekauft,
aber der Sohn hat die Geschäfte abgewickelt. Schönes
Industriegelände in der Nähe von Wheeling. Ich habe den Vertrag
gemacht, bevor ich New York verließ.«
»Du kennst James«, flüsterte Zoe.
»Ja, und ich habe genug Zeit mit ihm verbracht, um
zu wissen, dass er weder dich noch Simon verdient hat. Ich brauche
noch ein Bier.«
Eine Minute blieb Zoe noch sitzen, als er gegangen
war, aber dann stand sie auf. »Ich schaue mal nach dem Chili. Es
ist bestimmt gleich warm.«
Sie eilte in die Küche. »Bradley.«
Er öffnete gerade den Kühlschrank und holte sich
eine Flasche Bier heraus. »Warst du deshalb so sauer, als ich dich
abgeholt habe?«, wollte er wissen. »Weil du dein Chart gemacht und
gesehen hattest, wie eng unsere Verbindung ist?«
»Ja, zum Teil.« Nervös verschränkte sie die Finger
und löste sie gleich wieder. »Es ist wie ein weiterer Ziegelstein,
Bradley, und ich weiß noch nicht genau, ob es ein Ziegel auf einem
guten, soliden Weg ist oder ein Stein in einer Mauer, die sich
immer enger um mich schließt.«
Er blinzelte sie fassungslos an. »Wer versucht
denn, dich einzumauern? Das kannst du mir doch wahrhaftig nicht
vorwerfen, Zoe.«
»Es geht nicht um dich. Es geht einzig und allein
um mich. Um das, was ich denke, fühle und tue. Und verdammt noch
mal, wenn es dich wütend macht, dass ich entscheiden muss, ob es
nun ein Weg oder eine Mauer ist, dann kann ich dir nicht
helfen.«
»Ein Weg oder eine Mauer«, wiederholte er und trank
einen Schluck Bier. »Himmel, ich verstehe dich sogar. Mir wäre es
allerdings lieber, ich würde es nicht verstehen.«
»Ich hatte das Gefühl, herumgeschubst zu werden,
und das macht mich wahnsinnig. Du hast nichts damit zu tun, aber
ich glaube, es ist genauso wenig meine Schuld. Vermutlich gefällt
es mir nur nicht, mich mit etwas auseinander setzen zu müssen, das
ich nicht verschuldet habe.«
»Es war verdammt dumm von ihm, dich gehen zu
lassen.«
Zoe stieß einen Seufzer aus. »Er hat mich nicht
gehen lassen. Er hat nicht zu mir gehalten. Und vor langer Zeit
konnte ich deswegen nicht mal wütend sein.« Sie trat zum Herd und
nahm den Deckel von dem Chilitopf. »Es ist noch etwas anderes
passiert. Beim Essen erzähle ich euch allen davon.«
»Zoe.« Er berührte sie an der Schulter, dann
öffnete er einen Küchenschrank, um nach Tellern zu suchen. »Ich
wollte noch was zu diesen Ziegelsteinen sagen. Eine Mauer kann man
jederzeit einreißen und einen schönen haltbaren Weg daraus
pflastern.«
Sie aßen in der Küche, zusammengedrängt um den
kleinen Tisch, weil das Esszimmer noch nicht Malorys Standards
entsprach. Bei Bier, Chili und aufgebackenem knusprigen Brot
erzählte Zoe ihnen, was sie im beschlagenen Badezimmerspiegel und
der Herdabdeckplatte gesehen hatte.
»Zuerst dachte ich, ich bilde es mir nur ein, weil
es mir zu seltsam vorkam - und es dauerte nur ein paar Sekunden.
Aber heute habe ich sie wirklich gesehen«, bestätigte Zoe. »Ich sah
sie, wo eigentlich mein Spiegelbild hätte sein müssen.«
»Falls Kane einen anderen Ansatz ausprobiert«,
begann Dana, »dann kann ich ihm nicht folgen.«
»Es war nicht Kane.« Zoe fixierte stirnrunzelnd
ihren Teller. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich kann
eigentlich nur sagen, dass ich ihn nicht gespürt habe, und dass ich
ganz sicher war, es hatte nichts mit ihm zu tun. Wenn er einen
berührt, dann hat man doch so ein bestimmtes Gefühl.«
Sie schaute Malory und Dana fragend an. »Vielleicht
nicht gerade, wenn es passiert, aber auf jeden Fall danach. Es war
nicht von ihm. Es war nämlich warm«, fuhr sie fort. »Es war beide
Male warm.«
»Vielleicht bringen Rowena und Pitte ja noch ein
paar Kunststückchen ins Spiel.« Flynn schaufelte sich erneut Chili
auf den Teller. »Sie haben doch gesagt, dass Kane bei Dana die
Regeln gebrochen hat und sie deshalb eingegriffen haben.«
»Obwohl es sie teuer zu stehen kommen könnte«,
fügte Jordan hinzu.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte Bradley.
»Wenn sie bei Zoes Suche schon wieder die Regeln brechen wollen,
warum machen sie dann nicht irgendetwas Handfestes, Greifbares?
Warum gehen sie so kryptisch vor?«
»Ich glaube nicht, dass es von ihnen kam.« Zoe
stocherte unlustig auf ihrem Teller herum. »Ich glaube, es kam von
ihr.«
»Von Kyna?« Fasziniert lehnte sich Malory zurück.
»Wie soll sie das denn gemacht haben? Sie ist doch machtlos.«
»Vielleicht. Wir wissen zwar nicht, wie das alles
funktioniert, aber gehen wir mal davon aus, dass sie machtlos ist.
Ihre Eltern sind es jedoch nicht. Ich fing an, mir zu überlegen,
was ich tun würde, wenn jemand Simon irgendwo festhielte. Ich würde
wahrscheinlich durchdrehen, aber wenn es einen Weg gäbe, ihn
herauszuholen, dann würde ich alle Hebel in Bewegung setzen.«
»Es ist jetzt dreitausend Jahre her«, wandte Flynn
ein. »Warum sollten sie so lange warten?«
»Ich weiß.« Zoe nahm sich eine Scheibe Brot und
brach etwas davon ab. »Aber sie haben auch einen anderen
Zeitbegriff als wir, oder nicht? Hat Rowena das nicht erwähnt?
Außerdem konnten sie eventuell gar nichts unternehmen, bevor Kane
menschliches Blut vergossen und so alles verändert hat.«
»Mach weiter«, drängte Jordan, als sie abbrach.
»Spuck es aus.«
»Na ja. Kane hat den Zauber verändert, indem er die
Regeln gebrochen hat. Dadurch hat sich der Vorhang möglicherweise
einen Spalt geöffnet. Würden liebende Eltern dann nicht versuchen,
einen Lichtstrahl durch diesen Spalt zu schicken? Sie wollten, dass
ich sie sehe, und zwar nicht nur gemalt, sondern
höchstpersönlich.«
»Du solltest sie in dir selber sehen«, ergänzte
Bradley. »In den Spiegel schauen und dich in ihr sehen.«
»Ja.« Zoe atmete erleichtert auf. »Ja, genauso
empfinde ich es. Es ist, als ob sie mir durch sie etwas sagen
wollten. Sie kann ja nicht einfach hingehen und sagen, oh, Zoe, der
Schlüssel liegt unter dem Geranienkasten auf der Veranda. Aber es
kommt mir so vor, als versuche sie mir zu zeigen, was ich tun oder
wohin ich gehen muss.«
»Was hatte sie an?«
»Also, Jordan!« Dana versetzte ihm einen
Stoß.
»Nein, im Ernst, wir sollten auf die Details
achten. War sie so wie auf den Bildern angezogen?«
»Ah, ich verstehe.« Zoe schürzte die Lippen. »Nein.
Sie trug ein kurzes, dunkelgrünes Kleid.« Sie schloss die Augen, um
sich zu erinnern. »Und Stiefel. Braune Stiefel bis zum Knie. Um den
Hals trug sie die Kette mit dem Anhänger, den alle drei der Legende
nach von ihrem Vater bekommen haben, und dann so einen goldenen
Haarreif mit einem diamantenförmigen Juwel in der Mitte. Der Stein
war dunkelgrün, wie das Kleid. Ach ja, und sie trug ein Schwert an
der Hüfte.«
Zoe schlug die Augen wieder auf. »Sie hatte so
einen …« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, weil ihr das
Wort nicht sofort einfiel. »Köcher, so ein Ding für Pfeile. Und
über die Schulter hatte sie einen Bogen geschnallt.«
»Hört sich ganz so an, als wollte sie auf die Jagd
gehen«, warf Jordan ein.
»Sie ging in den Wald«, fuhr Zoe fort. »Sie nahm
den Weg in den Wald, um auf die Jagd zu gehen. Und eine Jagd ist
doch wie eine Suche.«
»Vielleicht müssen wir Wald wörtlicher nehmen, als
wir dachten«, überlegte Dana. »Ich werde ein bisschen über Wälder -
in Büchern und auf Gemälden und hier in der Umgebung -
recherchieren. Womöglich finde ich ja was.«
»Wenn du mir die Szene noch mal beschreibst, kann
ich sie vielleicht malen«, schlug Malory vor. »Es wäre für uns alle
hilfreich, wenn wir sie so klar vor Augen hätten wie du.«
»Gut.« Zoe nickte entschlossen. »Das hört sich gut
an. Mir läuft zwar die Zeit davon, aber so könnte es funktionieren.
Sie hatte so traurige Augen«, fügte sie leise hinzu. »Ich weiß
nicht, wie ich weiterleben sollte, wenn ich ihr nicht helfen
kann.«
Tief in Gedanken versunken blickte Zoe auf den
zunehmenden Mond, als Brad sie nach Hause fuhr. Es kam ihr vor, als
könne sie zusehen, wie der Mond immer voller wurde und das Ende
ihrer Zeit markierte.
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor auf die
Mondphasen geachtet zu haben. Früher habe ich zum Himmel gesehen,
und es war entweder Vollmond oder Halbmond, und ich wusste nie
genau, ob er nun gerade zunimmt oder abnimmt. Aber jetzt werde ich
ewig daran denken müssen, dazu brauche ich nicht mal zum Himmel zu
blicken.«
»Ich habe kaum mehr als drei Wochen Zeit.«
»Du hast ein Chart, du hast eine Skizze. Und vor
allem hast du eine Vision. Du kannst ein Puzzle nicht ohne die
einzelnen Teile zusammenlegen, dazu musst du sie erst
sammeln.«
»Ja, hoffentlich. Es war hilfreich, dass wir
darüber geredet haben, aber jetzt schwirrt mir der Kopf. Ich finde
meine Antworten nicht in Wörtern wie Dana, und ich kann keine
Bilder malen, damit sie zu Antworten werden wie bei Malory. Ich
muss, glaube ich, meine Hände darum legen können, aber es
frustriert mich, dass ich nichts greifen kann.«
»Es hilft manchmal, etwas zurückzutreten und die
einzelnen Teile aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen.«
Er bog in ihre Einfahrt ein. »Ich bleibe heute
Nacht hier.«
»Was?«
»Ich lasse dich nicht allein im Haus, wenn nicht
mal Simon da ist. Es könnte was passieren.« Er stieg aus und nahm
ihren Topf vom Rücksitz. »Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Ich habe doch Moe«, erwiderte sie. Der Hund war
bereits aus dem Auto gesprungen und raste auf die Tür zu.
»Moe kann weder telefonieren noch Auto fahren, und
es könnte sein, dass du auf beides angewiesen bist.« Er blieb an
der Tür stehen, bis sie aufgeschlossen hatte. »Du bleibst hier
nicht allein. Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Es ist nicht …«
»Widersprich mir nicht.«
Zoe klimperte mit ihrem Schlüsselbund und
spendierte ihm ihren finstersten Blick. »Vielleicht möchte ich dir
aber widersprechen.«
»Es würde dir zwar nichts nützen, aber wenn du es
wirklich willst, sollten wir lieber hineingehen. Es ist dunkel, es
wird langsam kalt, und Moe scheint mir ein wenig zu interessiert an
den Überresten in diesem Kochtopf zu sein.«
Zoe schloss die Tür auf und ging direkt in die
Küche. »Stell den Topf da hin.« Sie holte einen kleinen
Plastikbehälter aus dem Schrank, schlüpfte aus ihrem Mantel und
warf ihn über einen Stuhl. »Es ist dir wohl gar nicht in den Sinn
gekommen, dass ich Simon deshalb bei einem Freund übernachten
lasse, weil ich endlich mal allein sein möchte?«
»Doch, ist mir in den Sinn gekommen. Ich störe dich
überhaupt nicht.« Er zog seinen Mantel aus und ergriff ihren. »Ich
gehe mal die Mäntel aufhängen.«
Schweigend begann Zoe, das restliche Chili in den
Behälter zu füllen.
Sie wusste, er meinte es gut. Und so schlimm fand
sie es ja nun auch wieder nicht, einen starken Mann im Haus zu
haben. Sie war nur nicht daran gewöhnt. Und außerdem sagte er ihr
permanent, was sie tun sollte.
Das war Teil des Problems, überlegte sie, während
sie den Behälter verschloss. Sie hatte so lange alles alleine
geregelt, dass jeder, der ihr das Ruder aus der Hand nehmen wollte,
und wenn es in noch so guter Absicht geschah, sie wütend
machte.
Ein Teil des Problems, dachte sie noch einmal, als
sie den Topf in die Spüle stellte, um ihn abzuwaschen. Der andere,
größere Teil des Problems war, dass sie einen Mann im Haus hatte,
zu dem sie sich hingezogen fühlte, obwohl es einen neunjährigen
Puffer zwischen ihnen gab.
Und das, dachte sie, während sie Wasser in den Topf
laufen ließ, war zu blöd.
Sie ging ins Wohnzimmer. Brad saß in einem Sessel
und blätterte in einer ihrer Zeitschriften. Moe, der die Hoffnung
auf das restliche Chili endgültig aufgegeben hatte, lagerte über
seinen Füßen.
»Wenn du was zu lesen möchtest«, sagte Zoe, »habe
ich Besseres zu bieten als Frisurenmagazine.«
»Ist schon okay. Die Models sehen toll aus. Darf
ich dich was fragen? Zunächst mal: Gibt es hier ein Kopfkissen und
eine Decke?«
»So etwas habe ich zufällig vorrätig.«
»Gut. Die andere Frage kam mir in den Sinn, als ich
diese Rothaarige hier gesehen habe … Wie soll ich es bloß
formulieren?«
»Möchtest du auch einen Ring an der
Augenbraue?«
»Nein. Nein. Natürlich nicht. Aber ich habe
zufällig vor einiger Zeit … Du hattest eine Jeans an, die so auf
der Hüfte saß, und dein T-Shirt war hochgerutscht, und ich habe
diesen silbernen Stab … Ich habe gesehen, dass du ein Nabelpiercing
hast.«
Zoe legte den Kopf schräg. »Das stimmt.«
»Ich habe mich gefragt, ob du es immer
trägst.«
Sie bemühte sich, ernst zu bleiben. »Manchmal trage
ich statt des Stabs auch einen kleinen Silberring.«
»Hmm.« Unwillkürlich blickte er auf ihren Bauch und
stellte es sich vor. »Interessant.«
»Bevor ich ins Valley kam, habe ich nebenbei in
einem Salon für Bodypiercing und Tätowierungen gearbeitet. Das
Geld, das ich da verdient habe, habe ich für mein Haus auf die
Seite gelegt, aber Piercings für Angestellte waren kostenlos.
Außerdem half es beim Umgang mit den Kunden, wenn man eigene
Erfahrungen hatte. Nein«, fügte sie hinzu, weil sie offenbar seine
Gedanken lesen konnte, »die einzigen Körperteile, die ich mir
durchstechen lassen wollte, waren mein Bauchnabel und meine
Ohrläppchen. Möchtest du etwas trinken? Etwas zu knabbern?«
»Nein, danke.« Aber ihm lief das Wasser im Mund
zusammen. »Hast du denn eine Tätowierung?«
Zoe lächelte ihn an, freundlich wie eine
Sonntagsschullehrerin. »Ja, aber nur eine kleine.«
Ihr war klar, dass er sich jetzt fragte, wo sie
sich befand, aber sie würde ihn noch ein wenig auf die Folter
spannen. »Du brauchst nicht auf der Couch zu schlafen, Bradley.« Er
funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen forschend an, und sie
spürte, wie er sich anspannte. »Das ist nicht nötig, schließlich
sind nur wir beide im Haus.« Sie wartete eine Sekunde, bevor sie
vollendete: »Du kannst Simons Bett nehmen.«
»Simons Bett«, echote er, als habe sie eine
Fremdsprache gesprochen. »Ja. Ja. Gut.«
»Komm, wir gehen nach oben, und ich zeige dir, wo
alles ist.«
»Ja, sicher.« Er legte die Zeitschrift beiseite,
schob Moe weg und stand auf.
»Im Badezimmerschrank sind frische Handtücher«,
sagte sie, als sie die Treppe hinaufging. Langsam begann ihr die
Situation Spaß zu machen. »Dort ist auch eine neue Zahnbürste, die
du benutzen kannst.«
Betont locker folgte er ihr, wobei er versuchte,
nicht an Tätowierungen zu denken, aber es gelang ihm nicht. »Ich
habe morgen früh um acht Uhr dreißig eine Personalversammlung, ich
falle dir also nicht lange zur Last.«
»Ich stehe früh auf, du störst also ganz und gar
nicht.«
Zoe öffnete die Tür zu Simons Zimmer. Er hatte ein
Etagenbett mit marineblauer Tagesdecke und hellrote Vorhänge an den
Fenstern. Die blauen Regale waren voller Dinge, die Jungen in dem
Alter sammelten. Actionfiguren, Bücher, Steine und Modellautos. Vor
dem Fenster stand ein roter Kinderschreibtisch mit einer
Superman-Lampe. Darauf lagen Schulbücher.
Es war zwar aufgeräumt, wirkte jedoch nicht
überordentlich. An einer Korktafel hingen Zeichnungen, Fotos und
Bilder aus Zeitschriften, mitten im Zimmer lagen Simons Schuhe,
seine Kappe hatte er achtlos auf einen Stuhl geworfen, und aus
einer Tasche auf dem Boden quollen Bücher heraus. Und es roch nach
kleinem Jungen.
»Das ist ein tolles Zimmer.«
»Wir halten es abwechselnd sauber. Letztes Mal war
ich dran, deshalb ist es in recht gutem Zustand.«
Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. »Macht es dir
etwas aus, hier zu schlafen?«
»Nein, es ist in Ordnung.«
»Es freut mich, dass du dich wie ein Gentleman
benimmst und die Situation nicht ausnutzt.«
»Ich bleibe hier, weil ich dich nicht allein lassen
möchte, nicht um irgendeine Situation auszunutzen.«
»Mmmh. Ich wollte mich nur noch mal vergewissern,
und wo ich es jetzt getan habe, kann ich dir etwas sagen. Ich bin
kein Gentleman.« Sie trat auf ihn zu und schmiegte sich an ihn.
»Und ich werde diese Situation ausnutzen.« Sie umfasste seinen
Hintern und drückte ihn an sich. »Wie wirst du reagieren?«
Brads Puls schlug schneller. »Vor Dankbarkeit
weinen?«
Lachend gab sie ihm einen Kuss. »Weinen kannst du
später. Fass mich lieber an. Überall.«
Seine Hände glitten unter ihren Pullover. Als er
ihre feste, glatte Haut berührte, beherrschte ihn nur noch ein
Gedanke. Er wollte mehr.
Schnurrend bog sie sich ihm entgegen, als er seine
Lippen auf ihren Hals presste. Und sein Bauch zog sich zusammen,
als sie an seiner Gürtelschnalle zerrte.
»Bei mir ist es schon eine ganze Weile her«,
flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Verzeih mir, wenn ich es so
eilig habe.«
»Kein Problem.« Er drückte sie gegen die Wand.
»Überhaupt kein Problem.«
Mit einer raschen Bewegung zog er ihr den Pullover
über den Kopf, und seine Hände waren an ihren Brüsten, noch bevor
das Kleidungsstück den Fußboden erreichte. Zoe knöpfte keuchend
sein Hemd auf. O Gott, sie wollte ihn spüren. Ihr Herz pochte
heftig, in einem berauschenden Rhythmus, den sie fast schon
vergessen hatte.
Drängend schob sie seine Hand nach unten, zwischen
ihre Beine. Sie warf den Kopf zurück und bot ihren Hals seinen
Lippen und Zähnen dar, während sie zugleich ihre Hüften seiner Hand
entgegendrückte.
Brad fieberte ihr mit jeder Faser seines Seins
entgegen. Alles was er denken konnte, war nur Zoe, und sein
Verlangen nach ihr überwältigte ihn.
Mit fliegenden Händen öffnete er den Knopf ihrer
Jeans und zerrte die Hose herunter, um mit seinen Fingern in ihre
Hitze zu tauchen.
»Hör nicht auf«, keuchte sie, während sie sich
leidenschaftlich küssten. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Rücken.
Sie presste sich an ihn, während die Lust ihre Hüften kreisen ließ,
und schrie auf, als er die Finger tief in sie hineinstieß. Aber es
war noch nicht genug. Vor Lust stöhnend und keuchend trieb er sie
immer weiter, bis sie schließlich beide kamen.
Zoes Herz pochte heftig, als sie den Kopf an Brads
Schulter sinken ließ. In pfeifenden Stößen rang sie nach
Luft.
Verschwommen nahm sie wahr, dass sie nackt und
schweißüberströmt an der Wand vor dem Zimmer ihres Sohnes lehnte.
Eigentlich hätte sie entsetzt sein müssen. Aber sie war es nicht,
dachte sie. Nein, sie war außer sich vor Freude.
»Bist du okay?«, fragte er mit den Lippen an ihren
Haaren.
»Ich glaube, besser als okay. Es war
fantastisch.«
»Du warst, nein, du bist fantastisch.« Er hatte sie
einfach im Stehen genommen. Oder sie ihn. »Ich kann noch nicht klar
denken«, gab er zu und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab,
damit er nicht zu Boden sank. »Heute trägst du den Ring.« Seine
Hand glitt über ihren Bauch bis zu ihrem Nabel. »Ich hatte keine
Ahnung, wie sexy so etwas ist.«
Als Zoe lachte, fügte er hinzu: »Es ist alles so
schnell gegangen, dass ich die Tätowierung gar nicht gesehen
habe.«
Fröhlich wuschelte sie ihm durch die Haare. »Du
bist ein komischer Typ, Bradley Charles Vane, der Vierte. Machst
dir ständig Gedanken über Bauchnabelpiercings und
Tätowierungen.«
»Ich habe noch nie so darauf reagiert. Wo ist sie
denn?«
»Ich zeige sie dir. Aber vorher muss ich dir
ankündigen, dass ich noch nicht mit dir fertig bin.« Sie beugte
sich vor und zog mit der Zunge eine feuchte Spur über seinen Hals.
»In der nächsten Runde solltest du dich allerdings lieber
hinlegen.«
»Stehe ich denn noch?«
Wieder lachte sie, dann löste sie sich von ihm und
bedeutete ihm, ihr zu folgen. Dabei tippte sie sich auf das linke
Schulterblatt.
»Warte.« Er legte ihr die Hand auf den Arm und
betrachtete das Tattoo. »Es ist eine Fee.«
»Ja, genau. Manchmal ist es eine gute Fee.« Zoe
wandte den Kopf, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Manchmal ist sie böse. Willst du mir nicht in mein Schlafzimmer
folgen, um herauszufinden, wie sie heute drauf ist?«