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»Ich habe all meine Notizen mitgebracht«, begann sie, »für den Fall, dass wir sie noch einmal durchsehen müssen. Ich habe in der letzten Woche viel alleine nachgedacht und kaum mit euch geredet. Ich glaube, das war ein Fehler. Na ja, vielleicht nicht gerade ein Fehler, aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir gemeinsam darüber sprechen.«
Sie stieß die Luft aus. »Ich kann so etwas nicht gut, also sage ich einfach, was ich denke, und ihr könnt mich jederzeit unterbrechen.«
»Zoe?« Dana nahm eine Bierflasche vom Tisch und reichte sie ihr. »Entspann dich.«
»Das versuche ich gerade.« Zoe trank rasch einen Schluck. »Ich glaube, Kane hat bis jetzt noch nicht viel gegen mich unternommen, weil er nur die Oberfläche sieht. Wir wissen aus dem, was früher passiert ist, dass er nicht wirklich versteht, was in uns vorgeht. Ich glaube, deswegen hasst er uns auch. Er hasst uns«, murmelte sie, »weil er nicht sehen kann, was in uns los ist, und deswegen nicht exakt weiß, wo er ansetzen soll.«
»Gut erkannt«, sagte Jordan. Zoe entspannte sich sichtlich.
»Ich glaube, in mir sieht er lediglich eine Frau aus kleinen Verhältnissen. ›Arm‹ wäre das passendere Wort, aber das sagt man nicht gern. Ich habe keine besondere Ausbildung. Mit sechzehn wurde ich schwanger, und ich verdiente mir meinen Lebensunterhalt hauptsächlich als Friseuse und als Kellnerin. Ich habe nicht Malorys Klasse und Kultur.«
»Ach, wirklich, das ist doch …«
»Warte.« Zoe hob die Hand, als Malory heftig protestierte. »Lass mich ausreden. Es ist so, und ich habe nicht Danas Bildung und Selbstbewusstsein. Was ich jedoch habe, ist ein starker Rücken und einen Sohn, den ich liebe und großziehen werde. All das stimmt, aber letztendlich ist es nicht die ganze Wahrheit. Und deshalb versteht er auch einiges nicht.«
Sie trank einen Schluck, um ihre Kehle zu befeuchten. »Meine Entschlossenheit zum Beispiel. Ich habe mich nicht damit zufrieden gegeben, arm zu sein. Ich wollte mehr und suchte nach Wegen, mehr zu bekommen. Oder mein Versprechen. Ich habe an jenem Abend auf dem Peak mein Wort gegeben, und wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch. Und ich bin nicht feige. Kane hat sich bisher kaum um mich gekümmert, weil er das nicht sieht, und obwohl er lange Zeit gehabt hat, mich zu beobachten, glaubt er, ich hätte ein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein und hielte meine Chancen für gering, wenn er sich nur gleichgültig genug mir gegenüber verhält.«
Sie holte tief Luft. »Darin irrt er sich. Wenn er mir das Gefühl gibt, ich sei den Kampf nicht wert, dann wird er nicht gewinnen.«
»Du wirst ihm in den Hintern treten«, erklärte Dana.
Zoes Miene hellte sich auf, und ihr Lächeln war kriegerisch, wenn es ihr auch nicht bewusst war. »Ja, das werde ich tun, und dann werde ich ihm die Eier zerquetschen.«
Um sie zum Grinsen zu bringen, schlug Flynn schützend die Beine übereinander. »Hast du da irgendeine besondere Methode?«
»Ein paar. Dana und Malory mussten Schritte unternehmen, Entscheidungen treffen und sogar Opfer bringen. Sie haben über den Hinweis nachgedacht und …«, sie schaute zum Porträt, »… und über die Göttin, für die sie standen. Also muss ich mir Gedanken darüber machen, wie meine vergangenen oder zukünftigen Handlungen meine Göttin widerspiegeln. Der Welpe und das Schwert. Das ist auf dem Gemälde, das auf dem Peak hängt. Vermutlich nährt und verteidigt sie, genau das, was ich seit mehr als neun Jahren für meinen Sohn tue.«
»Nicht nur für ihn«, warf Jordan ein. »Es liegt in deiner Natur, jeden zu nähren und zu verteidigen, an dem dir etwas liegt. Es ist sozusagen angeboren und eine deiner Stärken. Das ist nämlich ebenfalls etwas, was Kane nicht begreift. Du sorgst dich so sehr um die Frauen auf dem Bild, dass du für sie kämpfen würdest.«
»Freundschaft spielt eine Rolle«, fügte Brad hinzu und wies auf das Bild. »Ebenso wie Familie und die Erhaltung dieser Strukturen. Das sind wesentliche Elemente in deinem Leben.«
»Ja, so sehe ich es auch. Ich habe mir überlegt, dass eine der Grundlagen für die Suche bis jetzt war, dass man so lebt, wie man es wirklich möchte, und dazu die nötigen Schritte unternimmt und Opfer bringt.«
Es klang gut, wenn sie es laut aussprach, dachte Zoe. Es klang solide. »Für mich habe ich beschlossen, ein Kind zu haben. Viele Leute haben mich davor gewarnt, aber ich wusste tief in meinem Herzen, dass ich das Kind wollte. Ich ging von zu Hause fort, weil mir klar war, dass das für ihn keine passende Umgebung war. Ich hatte Angst, und es war schwer, aber es war das Richtige für mich und für Simon.«
»Du hast deinen Weg gewählt«, sagte Brad leise.
»Ja. Und es gab auf diesem Weg natürlich Verluste und Verzweiflung, wie Rowena es in dem Hinweis erwähnt hat. Du kannst nicht allein erziehende Mutter sein, ohne dass es dazu kommt. Aber du hast auch all die Freude, den Stolz und das Staunen alleine. Ich entschied mich dafür, ins Valley zu kommen, weil ich mit Simon hier leben wollte. Dann musste ich mich entscheiden, ob ich weiterhin als Angestellte arbeiten oder mein Glück selber in die Hand nehmen und etwas aus mir machen wollte. Das allerdings brauchte ich nicht mehr alleine in Angriff zu nehmen, weil meine anderen Entscheidungen mich trugen.«
Sie hockte sich hin und holte ein paar Unterlagen aus ihrem Rucksack. »Seht ihr? Ich habe es mal aufgezeichnet, wie eine Art Landkarte.«
Sie reichte sie zuerst Malory. »Hier bin ich aufgewachsen - na ja, ganz in der Nähe jedenfalls. Und da stehen die Namen meiner Familie und der Menschen, die in irgendeiner Hinsicht Einfluss auf mich gehabt haben. Das hier sind die anderen Orte, an denen ich gelebt und gearbeitet habe, und weitere Namen. Bis ich dann schließlich hier angekommen bin, mit euch allen. Wisst ihr, ich habe gedacht, im Grunde genommen geht es lediglich darum zu leben. Um das, was du tust, und was mit dir geschieht, während du es tust.«
Malory quietschte. »Du hast bei HomeMakers gearbeitet?«
»Nur Teilzeit. Drei Abende in der Woche und an den Sonntagnachmittagen. Das war ungefähr drei Monate vor Simons Geburt.« Sie wandte sich an Brad. »Ich habe bis vor kurzem nicht mal mehr daran gedacht.«
»In welchem Laden?«
»Außerhalb von Morgantown, neben dem Highway 68. Sie waren wirklich nett zu mir. Ich war im sechsten Monat, als ich mich dort nach einem Zusatzjob erkundigt habe. Ich saß an Registrierkasse Nummer vier, als die Wehen einsetzten. Es muss etwas zu bedeuten haben, dass ich Wehen bekam, als ich für dich arbeitete.«
Brad ergriff das Chart und musterte es prüfend. »Ich war damals im März in der Filiale, weil es Probleme gab.« Er tippte auf das Papier. »Ich erinnere mich daran, weil jemand zu spät in die Sitzung kam und sich damit entschuldigte, dass eine der Kassiererinnen Wehen bekommen und er sie ins Krankenhaus begleitet habe.«
Es war keine Angst, die Zoe einen Schauer über den Rücken jagte. Es war Erregung. »Du warst da.«
»Irgendwie unheimlich«, warf Dana ein. »Wohin führt uns das?«
»Etwas davon macht Zoes und meinen Weg aus.« Brad studierte wieder das Chart. »Danach hast du aber nicht mehr in Morgantown gearbeitet.«
»Nein. Ich habe Überstunden in dem Salon gemacht, in dem ich angestellt war, und sie erlaubten mir dafür, das Baby mitzubringen. So freundlich sie auch bei HomeMakers waren, du kannst nicht gut an der Kasse arbeiten, wenn darunter ein Säugling liegt.«
Er war da gewesen, dachte Zoe wieder. Ihre Wege hatten sich im wichtigsten Moment ihres Lebens gekreuzt. »Ich wollte kein Geld für eine Tagesmutter ausgeben«, fuhr sie fort. »Und ich war noch nicht bereit, ihn aus den Augen zu lassen.«
Brad betrachtete ihr Gesicht und versuchte, sich vorzustellen, wie sie an jenem Tag vor zehn Jahren ausgesehen hatte. »Wenn ich etwas früher durch die Verkaufsräume gegangen wäre, hätte ich dich gesehen und mit dir gesprochen. Aber ich beschloss, zuerst die Sitzungen zu erledigen. Eine dieser kleinen Entscheidungen, die für lange Zeit etwas verändern.«
»Ihr solltet euch damals noch nicht begegnen.« Malory schüttelte den Kopf. »Ich weiß, das klingt nach Schicksal und Vorsehung, aber man sollte es nicht außer Acht lassen, trotz all unserer Entscheidungen. Ihr wart dazu bestimmt, euch hier zu begegnen. Wege, Kreuzungen, Abzweigungen - Zoe hat sie alle auf ihrer Karte.«
Malory beugte sich vor und schaute mit Brad gemeinsam auf das Chart. »Du könntest deine Wege hinzufügen, Brad. Vom Valley nach Columbia, zurück zum Valley, nach New York, nach Morgantown, sonst wohin, und dann wieder zurück hierher. Danach könntest du auf einen Blick die Abzweigungen und Schnittpunkte sehen. Und sie haben euch beide hierhin geführt. Es ist nicht nur Geografie.«
»Nein.« Brad tippte mit dem Finger auf die Namen, die Zoe neben ihrem Heimatort aufgelistet hatte. »James Marshall. Ist das Simons Vater?«
»Technisch gesehen ja. Warum?«
»Ich kenne ihn. Unsere Familien hatten geschäftlich miteinander zu tun. Wir haben Grundstücke von seinem Vater gekauft, aber der Sohn hat die Geschäfte abgewickelt. Schönes Industriegelände in der Nähe von Wheeling. Ich habe den Vertrag gemacht, bevor ich New York verließ.«
»Du kennst James«, flüsterte Zoe.
»Ja, und ich habe genug Zeit mit ihm verbracht, um zu wissen, dass er weder dich noch Simon verdient hat. Ich brauche noch ein Bier.«
Eine Minute blieb Zoe noch sitzen, als er gegangen war, aber dann stand sie auf. »Ich schaue mal nach dem Chili. Es ist bestimmt gleich warm.«
Sie eilte in die Küche. »Bradley.«
Er öffnete gerade den Kühlschrank und holte sich eine Flasche Bier heraus. »Warst du deshalb so sauer, als ich dich abgeholt habe?«, wollte er wissen. »Weil du dein Chart gemacht und gesehen hattest, wie eng unsere Verbindung ist?«
»Ja, zum Teil.« Nervös verschränkte sie die Finger und löste sie gleich wieder. »Es ist wie ein weiterer Ziegelstein, Bradley, und ich weiß noch nicht genau, ob es ein Ziegel auf einem guten, soliden Weg ist oder ein Stein in einer Mauer, die sich immer enger um mich schließt.«
Er blinzelte sie fassungslos an. »Wer versucht denn, dich einzumauern? Das kannst du mir doch wahrhaftig nicht vorwerfen, Zoe.«
»Es geht nicht um dich. Es geht einzig und allein um mich. Um das, was ich denke, fühle und tue. Und verdammt noch mal, wenn es dich wütend macht, dass ich entscheiden muss, ob es nun ein Weg oder eine Mauer ist, dann kann ich dir nicht helfen.«
»Ein Weg oder eine Mauer«, wiederholte er und trank einen Schluck Bier. »Himmel, ich verstehe dich sogar. Mir wäre es allerdings lieber, ich würde es nicht verstehen.«
»Ich hatte das Gefühl, herumgeschubst zu werden, und das macht mich wahnsinnig. Du hast nichts damit zu tun, aber ich glaube, es ist genauso wenig meine Schuld. Vermutlich gefällt es mir nur nicht, mich mit etwas auseinander setzen zu müssen, das ich nicht verschuldet habe.«
»Es war verdammt dumm von ihm, dich gehen zu lassen.«
Zoe stieß einen Seufzer aus. »Er hat mich nicht gehen lassen. Er hat nicht zu mir gehalten. Und vor langer Zeit konnte ich deswegen nicht mal wütend sein.« Sie trat zum Herd und nahm den Deckel von dem Chilitopf. »Es ist noch etwas anderes passiert. Beim Essen erzähle ich euch allen davon.«
»Zoe.« Er berührte sie an der Schulter, dann öffnete er einen Küchenschrank, um nach Tellern zu suchen. »Ich wollte noch was zu diesen Ziegelsteinen sagen. Eine Mauer kann man jederzeit einreißen und einen schönen haltbaren Weg daraus pflastern.«
 
Sie aßen in der Küche, zusammengedrängt um den kleinen Tisch, weil das Esszimmer noch nicht Malorys Standards entsprach. Bei Bier, Chili und aufgebackenem knusprigen Brot erzählte Zoe ihnen, was sie im beschlagenen Badezimmerspiegel und der Herdabdeckplatte gesehen hatte.
»Zuerst dachte ich, ich bilde es mir nur ein, weil es mir zu seltsam vorkam - und es dauerte nur ein paar Sekunden. Aber heute habe ich sie wirklich gesehen«, bestätigte Zoe. »Ich sah sie, wo eigentlich mein Spiegelbild hätte sein müssen.«
»Falls Kane einen anderen Ansatz ausprobiert«, begann Dana, »dann kann ich ihm nicht folgen.«
»Es war nicht Kane.« Zoe fixierte stirnrunzelnd ihren Teller. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich kann eigentlich nur sagen, dass ich ihn nicht gespürt habe, und dass ich ganz sicher war, es hatte nichts mit ihm zu tun. Wenn er einen berührt, dann hat man doch so ein bestimmtes Gefühl.«
Sie schaute Malory und Dana fragend an. »Vielleicht nicht gerade, wenn es passiert, aber auf jeden Fall danach. Es war nicht von ihm. Es war nämlich warm«, fuhr sie fort. »Es war beide Male warm.«
»Vielleicht bringen Rowena und Pitte ja noch ein paar Kunststückchen ins Spiel.« Flynn schaufelte sich erneut Chili auf den Teller. »Sie haben doch gesagt, dass Kane bei Dana die Regeln gebrochen hat und sie deshalb eingegriffen haben.«
»Obwohl es sie teuer zu stehen kommen könnte«, fügte Jordan hinzu.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte Bradley. »Wenn sie bei Zoes Suche schon wieder die Regeln brechen wollen, warum machen sie dann nicht irgendetwas Handfestes, Greifbares? Warum gehen sie so kryptisch vor?«
»Ich glaube nicht, dass es von ihnen kam.« Zoe stocherte unlustig auf ihrem Teller herum. »Ich glaube, es kam von ihr.«
»Von Kyna?« Fasziniert lehnte sich Malory zurück. »Wie soll sie das denn gemacht haben? Sie ist doch machtlos.«
»Vielleicht. Wir wissen zwar nicht, wie das alles funktioniert, aber gehen wir mal davon aus, dass sie machtlos ist. Ihre Eltern sind es jedoch nicht. Ich fing an, mir zu überlegen, was ich tun würde, wenn jemand Simon irgendwo festhielte. Ich würde wahrscheinlich durchdrehen, aber wenn es einen Weg gäbe, ihn herauszuholen, dann würde ich alle Hebel in Bewegung setzen.«
»Es ist jetzt dreitausend Jahre her«, wandte Flynn ein. »Warum sollten sie so lange warten?«
»Ich weiß.« Zoe nahm sich eine Scheibe Brot und brach etwas davon ab. »Aber sie haben auch einen anderen Zeitbegriff als wir, oder nicht? Hat Rowena das nicht erwähnt? Außerdem konnten sie eventuell gar nichts unternehmen, bevor Kane menschliches Blut vergossen und so alles verändert hat.«
»Mach weiter«, drängte Jordan, als sie abbrach. »Spuck es aus.«
»Na ja. Kane hat den Zauber verändert, indem er die Regeln gebrochen hat. Dadurch hat sich der Vorhang möglicherweise einen Spalt geöffnet. Würden liebende Eltern dann nicht versuchen, einen Lichtstrahl durch diesen Spalt zu schicken? Sie wollten, dass ich sie sehe, und zwar nicht nur gemalt, sondern höchstpersönlich.«
»Du solltest sie in dir selber sehen«, ergänzte Bradley. »In den Spiegel schauen und dich in ihr sehen.«
»Ja.« Zoe atmete erleichtert auf. »Ja, genauso empfinde ich es. Es ist, als ob sie mir durch sie etwas sagen wollten. Sie kann ja nicht einfach hingehen und sagen, oh, Zoe, der Schlüssel liegt unter dem Geranienkasten auf der Veranda. Aber es kommt mir so vor, als versuche sie mir zu zeigen, was ich tun oder wohin ich gehen muss.«
»Was hatte sie an?«
»Also, Jordan!« Dana versetzte ihm einen Stoß.
»Nein, im Ernst, wir sollten auf die Details achten. War sie so wie auf den Bildern angezogen?«
»Ah, ich verstehe.« Zoe schürzte die Lippen. »Nein. Sie trug ein kurzes, dunkelgrünes Kleid.« Sie schloss die Augen, um sich zu erinnern. »Und Stiefel. Braune Stiefel bis zum Knie. Um den Hals trug sie die Kette mit dem Anhänger, den alle drei der Legende nach von ihrem Vater bekommen haben, und dann so einen goldenen Haarreif mit einem diamantenförmigen Juwel in der Mitte. Der Stein war dunkelgrün, wie das Kleid. Ach ja, und sie trug ein Schwert an der Hüfte.«
Zoe schlug die Augen wieder auf. »Sie hatte so einen …« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, weil ihr das Wort nicht sofort einfiel. »Köcher, so ein Ding für Pfeile. Und über die Schulter hatte sie einen Bogen geschnallt.«
»Hört sich ganz so an, als wollte sie auf die Jagd gehen«, warf Jordan ein.
»Sie ging in den Wald«, fuhr Zoe fort. »Sie nahm den Weg in den Wald, um auf die Jagd zu gehen. Und eine Jagd ist doch wie eine Suche.«
»Vielleicht müssen wir Wald wörtlicher nehmen, als wir dachten«, überlegte Dana. »Ich werde ein bisschen über Wälder - in Büchern und auf Gemälden und hier in der Umgebung - recherchieren. Womöglich finde ich ja was.«
»Wenn du mir die Szene noch mal beschreibst, kann ich sie vielleicht malen«, schlug Malory vor. »Es wäre für uns alle hilfreich, wenn wir sie so klar vor Augen hätten wie du.«
»Gut.« Zoe nickte entschlossen. »Das hört sich gut an. Mir läuft zwar die Zeit davon, aber so könnte es funktionieren. Sie hatte so traurige Augen«, fügte sie leise hinzu. »Ich weiß nicht, wie ich weiterleben sollte, wenn ich ihr nicht helfen kann.«
 
Tief in Gedanken versunken blickte Zoe auf den zunehmenden Mond, als Brad sie nach Hause fuhr. Es kam ihr vor, als könne sie zusehen, wie der Mond immer voller wurde und das Ende ihrer Zeit markierte.
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor auf die Mondphasen geachtet zu haben. Früher habe ich zum Himmel gesehen, und es war entweder Vollmond oder Halbmond, und ich wusste nie genau, ob er nun gerade zunimmt oder abnimmt. Aber jetzt werde ich ewig daran denken müssen, dazu brauche ich nicht mal zum Himmel zu blicken.«
»Ich habe kaum mehr als drei Wochen Zeit.«
»Du hast ein Chart, du hast eine Skizze. Und vor allem hast du eine Vision. Du kannst ein Puzzle nicht ohne die einzelnen Teile zusammenlegen, dazu musst du sie erst sammeln.«
»Ja, hoffentlich. Es war hilfreich, dass wir darüber geredet haben, aber jetzt schwirrt mir der Kopf. Ich finde meine Antworten nicht in Wörtern wie Dana, und ich kann keine Bilder malen, damit sie zu Antworten werden wie bei Malory. Ich muss, glaube ich, meine Hände darum legen können, aber es frustriert mich, dass ich nichts greifen kann.«
»Es hilft manchmal, etwas zurückzutreten und die einzelnen Teile aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen.«
Er bog in ihre Einfahrt ein. »Ich bleibe heute Nacht hier.«
»Was?«
»Ich lasse dich nicht allein im Haus, wenn nicht mal Simon da ist. Es könnte was passieren.« Er stieg aus und nahm ihren Topf vom Rücksitz. »Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Ich habe doch Moe«, erwiderte sie. Der Hund war bereits aus dem Auto gesprungen und raste auf die Tür zu.
»Moe kann weder telefonieren noch Auto fahren, und es könnte sein, dass du auf beides angewiesen bist.« Er blieb an der Tür stehen, bis sie aufgeschlossen hatte. »Du bleibst hier nicht allein. Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Es ist nicht …«
»Widersprich mir nicht.«
Zoe klimperte mit ihrem Schlüsselbund und spendierte ihm ihren finstersten Blick. »Vielleicht möchte ich dir aber widersprechen.«
»Es würde dir zwar nichts nützen, aber wenn du es wirklich willst, sollten wir lieber hineingehen. Es ist dunkel, es wird langsam kalt, und Moe scheint mir ein wenig zu interessiert an den Überresten in diesem Kochtopf zu sein.«
Zoe schloss die Tür auf und ging direkt in die Küche. »Stell den Topf da hin.« Sie holte einen kleinen Plastikbehälter aus dem Schrank, schlüpfte aus ihrem Mantel und warf ihn über einen Stuhl. »Es ist dir wohl gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich Simon deshalb bei einem Freund übernachten lasse, weil ich endlich mal allein sein möchte?«
»Doch, ist mir in den Sinn gekommen. Ich störe dich überhaupt nicht.« Er zog seinen Mantel aus und ergriff ihren. »Ich gehe mal die Mäntel aufhängen.«
Schweigend begann Zoe, das restliche Chili in den Behälter zu füllen.
Sie wusste, er meinte es gut. Und so schlimm fand sie es ja nun auch wieder nicht, einen starken Mann im Haus zu haben. Sie war nur nicht daran gewöhnt. Und außerdem sagte er ihr permanent, was sie tun sollte.
Das war Teil des Problems, überlegte sie, während sie den Behälter verschloss. Sie hatte so lange alles alleine geregelt, dass jeder, der ihr das Ruder aus der Hand nehmen wollte, und wenn es in noch so guter Absicht geschah, sie wütend machte.
Ein Teil des Problems, dachte sie noch einmal, als sie den Topf in die Spüle stellte, um ihn abzuwaschen. Der andere, größere Teil des Problems war, dass sie einen Mann im Haus hatte, zu dem sie sich hingezogen fühlte, obwohl es einen neunjährigen Puffer zwischen ihnen gab.
Und das, dachte sie, während sie Wasser in den Topf laufen ließ, war zu blöd.
Sie ging ins Wohnzimmer. Brad saß in einem Sessel und blätterte in einer ihrer Zeitschriften. Moe, der die Hoffnung auf das restliche Chili endgültig aufgegeben hatte, lagerte über seinen Füßen.
»Wenn du was zu lesen möchtest«, sagte Zoe, »habe ich Besseres zu bieten als Frisurenmagazine.«
»Ist schon okay. Die Models sehen toll aus. Darf ich dich was fragen? Zunächst mal: Gibt es hier ein Kopfkissen und eine Decke?«
»So etwas habe ich zufällig vorrätig.«
»Gut. Die andere Frage kam mir in den Sinn, als ich diese Rothaarige hier gesehen habe … Wie soll ich es bloß formulieren?«
»Möchtest du auch einen Ring an der Augenbraue?«
»Nein. Nein. Natürlich nicht. Aber ich habe zufällig vor einiger Zeit … Du hattest eine Jeans an, die so auf der Hüfte saß, und dein T-Shirt war hochgerutscht, und ich habe diesen silbernen Stab … Ich habe gesehen, dass du ein Nabelpiercing hast.«
Zoe legte den Kopf schräg. »Das stimmt.«
»Ich habe mich gefragt, ob du es immer trägst.«
Sie bemühte sich, ernst zu bleiben. »Manchmal trage ich statt des Stabs auch einen kleinen Silberring.«
»Hmm.« Unwillkürlich blickte er auf ihren Bauch und stellte es sich vor. »Interessant.«
»Bevor ich ins Valley kam, habe ich nebenbei in einem Salon für Bodypiercing und Tätowierungen gearbeitet. Das Geld, das ich da verdient habe, habe ich für mein Haus auf die Seite gelegt, aber Piercings für Angestellte waren kostenlos. Außerdem half es beim Umgang mit den Kunden, wenn man eigene Erfahrungen hatte. Nein«, fügte sie hinzu, weil sie offenbar seine Gedanken lesen konnte, »die einzigen Körperteile, die ich mir durchstechen lassen wollte, waren mein Bauchnabel und meine Ohrläppchen. Möchtest du etwas trinken? Etwas zu knabbern?«
»Nein, danke.« Aber ihm lief das Wasser im Mund zusammen. »Hast du denn eine Tätowierung?«
Zoe lächelte ihn an, freundlich wie eine Sonntagsschullehrerin. »Ja, aber nur eine kleine.«
Ihr war klar, dass er sich jetzt fragte, wo sie sich befand, aber sie würde ihn noch ein wenig auf die Folter spannen. »Du brauchst nicht auf der Couch zu schlafen, Bradley.« Er funkelte sie aus zusammengekniffenen Augen forschend an, und sie spürte, wie er sich anspannte. »Das ist nicht nötig, schließlich sind nur wir beide im Haus.« Sie wartete eine Sekunde, bevor sie vollendete: »Du kannst Simons Bett nehmen.«
»Simons Bett«, echote er, als habe sie eine Fremdsprache gesprochen. »Ja. Ja. Gut.«
»Komm, wir gehen nach oben, und ich zeige dir, wo alles ist.«
»Ja, sicher.« Er legte die Zeitschrift beiseite, schob Moe weg und stand auf.
»Im Badezimmerschrank sind frische Handtücher«, sagte sie, als sie die Treppe hinaufging. Langsam begann ihr die Situation Spaß zu machen. »Dort ist auch eine neue Zahnbürste, die du benutzen kannst.«
Betont locker folgte er ihr, wobei er versuchte, nicht an Tätowierungen zu denken, aber es gelang ihm nicht. »Ich habe morgen früh um acht Uhr dreißig eine Personalversammlung, ich falle dir also nicht lange zur Last.«
»Ich stehe früh auf, du störst also ganz und gar nicht.«
Zoe öffnete die Tür zu Simons Zimmer. Er hatte ein Etagenbett mit marineblauer Tagesdecke und hellrote Vorhänge an den Fenstern. Die blauen Regale waren voller Dinge, die Jungen in dem Alter sammelten. Actionfiguren, Bücher, Steine und Modellautos. Vor dem Fenster stand ein roter Kinderschreibtisch mit einer Superman-Lampe. Darauf lagen Schulbücher.
Es war zwar aufgeräumt, wirkte jedoch nicht überordentlich. An einer Korktafel hingen Zeichnungen, Fotos und Bilder aus Zeitschriften, mitten im Zimmer lagen Simons Schuhe, seine Kappe hatte er achtlos auf einen Stuhl geworfen, und aus einer Tasche auf dem Boden quollen Bücher heraus. Und es roch nach kleinem Jungen.
»Das ist ein tolles Zimmer.«
»Wir halten es abwechselnd sauber. Letztes Mal war ich dran, deshalb ist es in recht gutem Zustand.«
Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. »Macht es dir etwas aus, hier zu schlafen?«
»Nein, es ist in Ordnung.«
»Es freut mich, dass du dich wie ein Gentleman benimmst und die Situation nicht ausnutzt.«
»Ich bleibe hier, weil ich dich nicht allein lassen möchte, nicht um irgendeine Situation auszunutzen.«
»Mmmh. Ich wollte mich nur noch mal vergewissern, und wo ich es jetzt getan habe, kann ich dir etwas sagen. Ich bin kein Gentleman.« Sie trat auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. »Und ich werde diese Situation ausnutzen.« Sie umfasste seinen Hintern und drückte ihn an sich. »Wie wirst du reagieren?«
Brads Puls schlug schneller. »Vor Dankbarkeit weinen?«
Lachend gab sie ihm einen Kuss. »Weinen kannst du später. Fass mich lieber an. Überall.«
Seine Hände glitten unter ihren Pullover. Als er ihre feste, glatte Haut berührte, beherrschte ihn nur noch ein Gedanke. Er wollte mehr.
Schnurrend bog sie sich ihm entgegen, als er seine Lippen auf ihren Hals presste. Und sein Bauch zog sich zusammen, als sie an seiner Gürtelschnalle zerrte.
»Bei mir ist es schon eine ganze Weile her«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Verzeih mir, wenn ich es so eilig habe.«
»Kein Problem.« Er drückte sie gegen die Wand. »Überhaupt kein Problem.«
Mit einer raschen Bewegung zog er ihr den Pullover über den Kopf, und seine Hände waren an ihren Brüsten, noch bevor das Kleidungsstück den Fußboden erreichte. Zoe knöpfte keuchend sein Hemd auf. O Gott, sie wollte ihn spüren. Ihr Herz pochte heftig, in einem berauschenden Rhythmus, den sie fast schon vergessen hatte.
Drängend schob sie seine Hand nach unten, zwischen ihre Beine. Sie warf den Kopf zurück und bot ihren Hals seinen Lippen und Zähnen dar, während sie zugleich ihre Hüften seiner Hand entgegendrückte.
Brad fieberte ihr mit jeder Faser seines Seins entgegen. Alles was er denken konnte, war nur Zoe, und sein Verlangen nach ihr überwältigte ihn.
Mit fliegenden Händen öffnete er den Knopf ihrer Jeans und zerrte die Hose herunter, um mit seinen Fingern in ihre Hitze zu tauchen.
»Hör nicht auf«, keuchte sie, während sie sich leidenschaftlich küssten. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Rücken. Sie presste sich an ihn, während die Lust ihre Hüften kreisen ließ, und schrie auf, als er die Finger tief in sie hineinstieß. Aber es war noch nicht genug. Vor Lust stöhnend und keuchend trieb er sie immer weiter, bis sie schließlich beide kamen.
Zoes Herz pochte heftig, als sie den Kopf an Brads Schulter sinken ließ. In pfeifenden Stößen rang sie nach Luft.
Verschwommen nahm sie wahr, dass sie nackt und schweißüberströmt an der Wand vor dem Zimmer ihres Sohnes lehnte. Eigentlich hätte sie entsetzt sein müssen. Aber sie war es nicht, dachte sie. Nein, sie war außer sich vor Freude.
»Bist du okay?«, fragte er mit den Lippen an ihren Haaren.
»Ich glaube, besser als okay. Es war fantastisch.«
»Du warst, nein, du bist fantastisch.« Er hatte sie einfach im Stehen genommen. Oder sie ihn. »Ich kann noch nicht klar denken«, gab er zu und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, damit er nicht zu Boden sank. »Heute trägst du den Ring.« Seine Hand glitt über ihren Bauch bis zu ihrem Nabel. »Ich hatte keine Ahnung, wie sexy so etwas ist.«
Als Zoe lachte, fügte er hinzu: »Es ist alles so schnell gegangen, dass ich die Tätowierung gar nicht gesehen habe.«
Fröhlich wuschelte sie ihm durch die Haare. »Du bist ein komischer Typ, Bradley Charles Vane, der Vierte. Machst dir ständig Gedanken über Bauchnabelpiercings und Tätowierungen.«
»Ich habe noch nie so darauf reagiert. Wo ist sie denn?«
»Ich zeige sie dir. Aber vorher muss ich dir ankündigen, dass ich noch nicht mit dir fertig bin.« Sie beugte sich vor und zog mit der Zunge eine feuchte Spur über seinen Hals. »In der nächsten Runde solltest du dich allerdings lieber hinlegen.«
»Stehe ich denn noch?«
Wieder lachte sie, dann löste sie sich von ihm und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Dabei tippte sie sich auf das linke Schulterblatt.
»Warte.« Er legte ihr die Hand auf den Arm und betrachtete das Tattoo. »Es ist eine Fee.«
»Ja, genau. Manchmal ist es eine gute Fee.« Zoe wandte den Kopf, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Manchmal ist sie böse. Willst du mir nicht in mein Schlafzimmer folgen, um herauszufinden, wie sie heute drauf ist?«