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Sitzungen und Erweiterungspläne banden Brad für ein paar Tage an HomeMakers. Er konnte sich nicht beschweren, schließlich war es seine Idee gewesen, nach Pleasant Valley zurückzukommen, um seine Geschäfte von hier aus zu führen und das nordöstliche Viertel des Familienunternehmens vom Valley aus zu leiten. Deshalb musste der Laden hier jetzt allerdings auch beträchtlich erweitert werden.
Das bedeutete Papierkram, Konferenzschaltungen, neue Stellen, Besprechungen mit Architekten und Bauunternehmern und Diskussionen mit Zulieferern.
Es fiel ihm nicht schwer. Er war von Kindesbeinen an daran gewöhnt, und die letzten sieben Jahre in der New Yorker Niederlassung von HomeMakers hatten ihn zu einem Topmanager werden lassen.
Er war ein Vane, die dritte Generation der Vanes mit der größten Baumarktkette im Land. Und er hatte nicht die Absicht, das Geschäft aufzugeben. Im Gegenteil, er wollte aus dem ersten, ursprünglichen Laden den größten und prächtigsten von allen machen.
Sein Vater war von seiner Entscheidung nicht begeistert gewesen. B.C. Vane III. hielt sie für sentimental. Und da hatte er natürlich in gewisser Weise Recht, dachte Bradley. Aber warum eigentlich nicht? Sein Großvater hatte diesen kleinen Laden aufgebaut und ihn dann mit großem Einsatz zu einem erfolgreichen, kundenfreundlichen Baumarkt weiterentwickelt.
Seinem Instinkt und seinen Visionen hatten sie es zu verdanken, dass daraus eine der größten Baumarktketten im Land geworden war. Sein Konterfei war sogar auf dem Titel von Time Magazine abgebildet worden.
Ja, es war sentimental, dass er wieder hierhin zurückgekehrt war, aber es hatte auch viel mit dem legendären Geschäftssinn der Vanes zu tun.
Während er durch die Stadt fuhr, betrachtete er seinen Heimatort. Auf eine ruhige, stetige Art florierte das Valley. Es gab einen gesunden Immobilienmarkt, denn die Leute, die sich hier Häuser kauften, lebten sich ein und blieben. Und zu dem überdurchschnittlichen Einkommen der Einwohner kamen noch die Dollars der Touristen.
Das Valley pflegte seine Kleinstadtkultur, aber die Nähe zu Pittsburgh verlieh ihm einen gewissen Glanz. Nach Brads Meinung war es ein guter Ort zum Wohnen und ein ebenso guter Ort, um Geschäfte zu machen.
Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, nach seiner Rückkehr in die Suche nach magischen Schlüsseln verwickelt zu sein. Und vor allem hatte er nicht erwartet, sich in eine allein erziehende Mutter und ihren unwiderstehlichen Sohn zu verlieben. Aber damit würde er fertig werden - er musste nur Prioritäten setzen und auf die Details achten, genau wie er es in seinem Unternehmen tat.
Und um sich um diese gewissen Details zu kümmern, parkte er nun seinen Wagen vor dem Valley Dispatch und ging hinein.
Er fand es großartig, dass sein Freund die Lokalzeitung leitete. Flynn mochte zwar nicht den Eindruck eines Mannes erwecken, der die Peitsche schwang, damit seine Redakteure die Abgabetermine einhielten, der sich um die Werbung kümmerte oder sich über den Papierpreis Gedanken machte. Aber genau das war der Grund, warum sein alter Kumpel seine Sache so gut machte, dachte Brad. Er hatte so eine subtile, unauffällige Art, seine Mitarbeiter zu motivieren. Deshalb arbeitete jeder gerne für ihn.
Brad schlängelte sich an den Schreibtischen vorbei durch das Großraumbüro. Um ihn herum war eine Kakophonie von Geräuschen, die Stimmen der Reporter am Telefon und das Klappern der Tastaturen. Es roch nach Kaffee und Backwaren.
Flynn saß in seinem mit Glaswänden abgetrennten Chefredakteursbüro auf der Schreibtischkante. Er trug ein gestreiftes Hemd, dazu Jeans und abgetragene Nikes und telefonierte.
Da sie seit dreißig Jahren miteinander befreundet waren, trat Brad einfach ein.
»Ich kümmere mich persönlich um die Sitzung, Herr Bürgermeister«, sagte Flynn gerade.
Brad steckte grinsend die Hände in die Taschen und wartete, bis Flynn sein Telefonat beendet hatte.
»Entschuldige, ich hatte gar nicht bemerkt, dass du telefonierst.«
»Und was führt so einen viel beschäftigten Geschäftsmann wie dich in mein unbedeutendes Büro?«, fragte Flynn.
»Ich bringe dir das Layout für die Anzeige nächste Woche vorbei.«
»Für einen Botenjungen bist du aber reichlich elegant angezogen«, zog Flynn ihn auf und betastete den feinen Wollstoff von Brads Anzug.
»Ich habe nachher noch einen Geschäftstermin in Pittsburgh.« Brad legte die Unterlagen auf Flynns Schreibtisch. »Und außerdem wollte ich mit dir über eine zehnseitige, vierfarbige Beilage für die Woche vor Thanksgiving sprechen. Ich möchte ganz groß herauskommen.«
»Da bin ich dabei. Sollen sich meine Leute mit deinen Leuten in Verbindung setzen? Ich sage so etwas gerne«, fügte Flynn hinzu. »Es klingt so nach Hollywood.«
»Genau das soll es, aber ich möchte es lieber hier vor Ort machen, statt vom Unternehmen aus. Es geht vor allem um den Laden hier im Valley. Die Werbebeilage soll vermitteln, dass er Klasse hat und etwas Besonderes ist. Und es soll exklusiv sein und im Dispatch an einem Tag erscheinen, an dem es keine anderen Werbeanzeigen gibt.«
»In der Woche vor Thanksgiving erscheint eine ganze Flut von Anzeigen«, wandte Flynn ein.
»Ich weiß. Exakt deswegen soll meine Beilage ja exklusiv sein, sonst geht sie unter.«
Flynn rieb sich die Hände. »Das wird dich eine Stange Geld kosten.«
»Wie viel?«
»Ich rede mit der Werbeabteilung, und wir überlegen uns einen Preis. Zehn Seiten, vierfarbig?« Flynn machte sich bereits Notizen. »Ich sage dir morgen Bescheid.«
»Gut.«
»Na, sieh mal einer an, wie wir zwei flott Geschäfte miteinander machen können. Möchtest du einen Kaffee?«
Brad blickte prüfend auf seine Armbanduhr. »Ja. Ich möchte auch noch über etwas anderes mit dir reden. Kann ich die Tür schließen?«
»Klar«, erwiderte Flynn achselzuckend. Er schenkte ihnen Kaffee ein und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Geht es um den Schlüssel?«
»Ich habe schon seit ein paar Tagen nichts mehr gehört. Als ich Zoe das letzte Mal gesehen habe, hatte ich den Eindruck, sie wolle nicht darüber sprechen, zumindest nicht mit mir.«
»Also willst du wissen, ob ich über Mal etwas erfahren habe. Auch nicht besonders viel«, erwiderte Flynn. »Malory meint, dass Zoe auf Kanes nächsten Schritt wartet.«
»Ich habe mir den Hinweis noch mal angesehen, und meiner Meinung nach muss Zoe etwas unternehmen. Ich sehe sie am Freitag, aber wir könnten uns vorher schon zusammensetzen und uns Gedanken machen.«
»Freitagabend?« Flynn trank einen Schluck Kaffee. »Ist das ein gesellschaftlicher Anlass?«
»Simon kommt zum Spielen.« Brad ging unruhig hin und her. »Er bringt seine Mutter mit.«
»Geschickt.«
»Man tut, was man kann. Der Junge ist prima und vor allem nicht so kompliziert wie seine Mutter.«
»Ich glaube, sie hat es schwer gehabt und deshalb eine Mauer um sich errichtet. Was uns direkt zum Motiv ihres Schlüssels führt.«
»Sie ist eine erstaunliche Frau.«
»Wie arg hat es dich eigentlich erwischt?«
»Restlos.« Brad lehnte sich gegen das Fensterbrett. »Das Problem ist nur, dass sie mir nicht traut. Ich mache allerdings Fortschritte. Zumindest erstarrt sie nicht mehr völlig, wenn ich in ihre Nähe komme oder sie nur anschaue. Manchmal jedoch sieht sie mich an, als käme ich von einem anderen Planeten, und das nicht in friedlicher Absicht.«
»Sie hat ein Kind, und wenn sie klug sind, müssen Frauen dann vorsichtiger agieren. Und Zoe ist klug.«
»Ich bin verrückt nach dem Jungen, ich könnte ständig mit ihm zusammen sein. Mich würde interessieren, wer sein Vater ist.«
Flynn schüttelte verneinend den Kopf, als Brad ihn fragend anblickte. »Tut mir Leid, aber meine Quellen sind äußerst zugeknöpft bei diesem Thema. Du könntest sie höchstens mal direkt fragen.«
Brad nickte. »Ach ja, noch was, bevor ich fahren muss. Schreibst du nun die Geschichte?«
»Die Glastöchter«, sagte Flynn laut und schaute gedankenverloren vor sich, als stünde die Schlagzeile in der Luft. »Pleasant Valley, Pennsylvania. Zwei keltische Götter statteten den Laurel Highlands einen Besuch ab, um drei Frauen aus dem Ort aufzufordern, die Schlüssel zum legendären Kasten der Seelen zu finden.« Leise lachend hob er seine Kaffeetasse. »Das wäre eine Wahnsinnsgeschichte. Abenteuer, Intrigen, Liebe, Geld, Gefahr, Triumph und die Macht der Götter. Und das alles hier in unserem stillen Heimatstädtchen. Ja, ich habe daran gedacht, die Story zu schreiben. Natürlich könnte es sein, dass man mich in die geschlossene Anstalt sperrt, aber das würde mich nicht davon abhalten.«
»Was dann?«
»Ich würde sie damit der Öffentlichkeit preisgeben. Manche Leute würden es glauben, viele nicht, aber alle würden Fragen stellen und Antworten und Erklärungen verlangen. Sie - nein, wir alle - würden danach kein normales Leben führen können.«
Achselzuckend blickte er auf seinen Kaffee. »Und darum geht es im Grunde genommen doch nur. Wir wollen alle so leben, wie wir es uns vorstellen. Wenn Jordan darüber schreibt, ist es etwas anderes. Er macht ein Buch daraus, und dann ist es Fiktion. Aber für die Zeitung möchte ich es nicht schreiben.«
»Du warst immer der Beste von uns.«
Flynn blickte ihn verblüfft an. »Hä?«
»Du hast Dinge immer am klarsten gesehen. Deshalb bist du auch im Valley geblieben, obwohl du eigentlich weg wolltest. Vielleicht konnten Jordan und ich ja deshalb gehen, weil wir wussten, du würdest da sein, wenn wir zurückkommen.«
Flynn war selten verlegen, aber jetzt hatte er glatt einen Kloß im Hals. »Hmm«, war alles, was er herausbrachte. »Ich muss nach Pittsburgh.« Brad stellte seine Kaffeetasse ab und stand auf. »Ruf mich auf dem Handy an, wenn in der Zwischenzeit irgendetwas passiert.«
Nach wie vor sprachlos nickte Flynn nur.
 
Zoe mischte die einzelnen Zutaten zu Mrs. Hansons Farbe. Ihre Nachbarin liebte kräftige rote Strähnen in ihren braunen Haaren. Zoe war es gelungen, eine Kombination von Farbtönen zu finden, die ihnen beiden gefiel, und jetzt schnitt und färbte sie Mrs. Hansons Haare schon seit drei Jahren einmal im Monat.
Sie war die einzige Kundin, die Zoe zu Hause frisierte. In Erinnerung an die Haare auf dem Boden und den ständigen Geruch nach Chemikalien in ihrer Kindheit hatte sie sich geschworen, ihren Beruf nie zu sich nach Hause zu holen.
Aber bei Mrs. Hanson war es etwas anderes, und die gute Stunde, die sie einmal im Monat in ihrer Küche verbrachte, glich eher einem Besuch als Arbeit.
Sie dachte an den Tag, als sie in dieses Haus gezogen war. Mrs. Hanson, deren Haare damals noch pechschwarz gewesen waren - was ihr nicht stand -, war zu ihr gekommen, um sie und Simon als Nachbarn willkommen zu heißen. Sie hatte Schokoladenplätzchen mitgebracht und nach einem langen, prüfenden Blick auf Simon zustimmend genickt. Dann hatte sie ihre Dienste als Babysitter angeboten und erklärt, da ihre eigenen Söhne erwachsen seien, habe ihr ein Junge in der Nachbarschaft gefehlt.
Sie wurde Zoes erste Freundin im Valley und war nicht nur eine Ersatzgroßmutter für Simon, sondern für Zoe wie eine Mutter geworden.
»Ich habe kürzlich Ihren jungen Mann gesehen.« Mrs. Hansons blaue Augen funkelten in ihrem hübschen Gesicht.
»Ich habe keinen Mann, weder einen jungen noch einen alten.« Zoe teilte die Haare ab und betupfte die grauen Stellen mit Farbe.
»Ein gut aussehender junger Mann«, fuhr Mrs. Hanson unbeeindruckt fort. »Er sieht ein bisschen aus wie sein Vater, den ich recht gut gekannt habe, als er im selben Alter war. Die Rosen, die er Ihnen mitgebracht hat, halten sich gut. Sehen Sie nur, wie schön sie aufgegangen sind.«
Zoe nickte. »Ich habe die Stiele abgeschnitten und ihnen frisches Wasser gegeben.«
»Sie sehen aus wie ein Sonnenstrahl auf dem Tisch. Gelbe Rosen passen gut zu Ihnen, und das kann nur ein kluger Mann wissen. Simon redet pausenlos von Brad, Brad hier und Brad da. Offensichtlich kann er gut mit dem Jungen umgehen.«
»Ja, sie verstehen sich blendend.« Stirnrunzelnd arbeitete Zoe weiter. »Bradley scheint Simon sehr zu mögen.«
»Ich glaube, er mag auch Simons Mama sehr gerne.«
»Wir sind befreundet, oder vielmehr arbeite ich darauf hin. Er macht mich nervös.«
Mrs. Hanson lachte auf. »Männer, die so aussehen, machen eine Frau nahezu zwanghaft nervös.«
»Aber nicht so. Na ja, doch so.« Lachend gab Zoe mehr Farbe auf den Pinsel. »Aber er macht mich allgemein nervös.«
»Hat er Sie schon geküsst?« Als Zoe schwieg, gab Mrs. Hanson ein zufriedenes Kichern von sich. »Gut. Er kam mir auch nicht zögerlich vor. Wie war es?«
»Ich musste mich danach vergewissern, ob mein Kopf noch auf meinen Schultern saß, weil ich völlig neben mir stand.«
»Das wurde aber auch langsam Zeit. Ich habe mir ein bisschen Sorgen um Sie gemacht, Schätzchen. Sie haben ja Tag und Nacht nur gearbeitet und sich nie Zeit für sich genommen. Und es hat mir von Herzen gut getan, als ich letzthin beobachten konnte, dass diese netten Mädchen, mit denen Sie sich angefreundet haben, und Brad Vane Sie besuchen kamen.«
Sie griff nach hinten und tätschelte Zoes Hand. »Jetzt arbeiten Sie zwar immer noch Tag und Nacht, da Sie ja das Geschäft aufbauen wollen, aber es gefällt mir besser so.«
»Ohne dass Sie so oft nachmittags auf Simon aufpassen, könnte ich keinen eigenen Salon haben.«
Mrs. Hanson schnaubte abwehrend. »Sie wissen doch, dass ich den Jungen wirklich gerne bei mir habe. Er ist für mich wie ein eigenes Kind. Meine Enkelkinder bekomme ich ja kaum zu Gesicht, seit Jack nach Baltimore gezogen ist und Deke in Kalifornien lebt. Ich weiß nicht, was ich ohne Simon tun würde. Er bringt mir einfach Freude.«
»Er betrachtet Sie und Mr. Hanson als seine Großeltern, und Sie nehmen mir damit eine große Last von den Schultern.«
»Erzählen Sie mir doch, welche Fortschritte der Salon macht. Ich kann es kaum erwarten, dass Sie eröffnen und diese verknöcherte Carly grün vor Neid wird, wenn deren Kunden in Scharen zu Ihnen überlaufen. Ich habe von Sara Bennett gehört, dass das neue Mädchen, das sie für Sie eingestellt hat, nichts taugt.«
»So ein Pech aber auch«, sagte Zoe kichernd. »Ich wünsche ihr ja nichts Schlechtes, aber es war absolut unfair von ihr, dass sie mich unter dem Vorwand gefeuert hat, ich hätte Geld aus der Kasse genommen. Mich eine Diebin zu nennen«, fügte sie empört hinzu.
»Vorsichtig.«
»Oh, Entschuldigung.« Zoe hatte sich so in Rage geredet, dass sie Mrs. Hanson unwillkürlich an den Haaren gezogen hatte. »Ich sehe immer noch rot, wenn ich daran denke. Dabei habe ich echt gute Arbeit geleistet.«
»Sie waren sogar zu gut, weil zu viele Stammkunden nur noch von Ihnen bedient werden wollten. Das hat sie eifersüchtig gemacht.«
»Kennen Sie Marcie? Die bei ihr Maniküre macht? Ich habe sie vor ein paar Tagen angerufen, und sie wird für mich arbeiten.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Wir müssen es allerdings noch geheim halten, bis es so weit ist. Ich will nicht, dass Carly sie hinauswirft, bevor ich eröffne. Aber dann will sie sofort kündigen. Sie wiederum ist mit einer Friseurin, die in der Mall arbeitet, befreundet. Diese hat Anfang des Jahres geheiratet und möchte jetzt näher an der Stadt arbeiten. Marcie will sie fragen, ob sie sich bei mir vorstellen will. Sie soll sehr gut sein.«
»Das hört sich an, als ob sich alles ineinander fügt.«
»Ja, es fühlt sich einfach richtig an, wissen Sie? Chris ist zuständig für die Massagen und Körperbehandlungen. Und meine Freundin Dana hat doch diese Frau für ihre Buchhandlung eingestellt, und die hat eine Freundin, die gerade hierher gezogen ist und in Colorado in einem Spa gearbeitet hat. Mit ihr werde ich ebenfalls reden. Es ist alles so aufregend - solange ich nicht an die Personalkosten denke.«
»Es wird schon alles gut gehen. Nein, besser als gut.«
»Heute war der Installateur da und hat meine Waschbecken eingebaut. Strom habe ich, und die Bedienungsplätze sind fast fertig. Manchmal schaue ich mich um und denke, es ist alles nur ein Traum.«
»Träume erarbeitet man sich nicht, Zoe. Und Sie haben sich das erarbeitet.«
 
Ja, das war wohl tatsächlich so, dachte Zoe später, als sie die Färbepinsel und die Schüssel auswusch. Und doch kam es ihr manchmal wie ein Geschenk vor. Insgeheim gelobte sie sich, ihren Erfolg niemals als selbstverständlich zu betrachten.
Sie würde ihre Arbeit gut machen. Sie würde eine faire Geschäftspartnerin und Arbeitgeberin sein. Sie wusste schließlich, was es bedeutete, für jemanden zu arbeiten, dem das Auftragsbuch wichtiger war als seine Angestellten. Jemand, der vergessen hatte, wie es war, so lange auf den Beinen zu sein, bis sie brannten und bis man es vor Rückenschmerzen kaum noch aushielt.
Aber sie würde das nicht vergessen.
Als junges Mädchen hatte sie sich etwas anderes von ihrem Leben erträumt. Sie hatte hübsche Dinge haben, ein ruhiges Leben führen und ihr Geld mit Geistesarbeit verdienen wollen. Doch nun hatte sie diesen Weg eingeschlagen, und es sollte ein schöner Weg werden.
»Du könntest noch einmal zurück und alles anders machen.«
Als sie sich umdrehte, stand Kane da. Die Überraschung, der Schock und die Angst, die sie empfand, lagen wie unter einem dichten Nebel verborgen und kamen ihr nicht wirklich zu Bewusstsein.
Er war wunderschön in seiner dunklen Pracht. Die schwarzen Haare und die tief liegenden Augen, die scharf gemeißelten Knochen und die weiße Haut. Er war größer, als sie es sich vorgestellt hatte, aber nicht so kräftig gebaut wie Pitte, sondern eher anmutig und elegant. Vermutlich konnte er sich so rasch bewegen wie eine Schlange.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst.« Ihre Stimme klang hohl, als ob sich die Worte eher in ihrem Kopf formten.
»Ich habe dich beobachtet. Ein angenehmer Zeitvertreib.« Er trat näher und streichelte flüchtig über ihre Wange. »Du bist sehr hübsch. Viel zu hübsch, um so hart zu arbeiten. Zu hübsch, um dein Leben damit zu vergeuden, das Erscheinungsbild anderer zu verbessern. Du wolltest von jeher mehr, aber niemand hat dich verstanden.«
»Nein. Mama war wütend darüber. Es verletzte ihre Gefühle.«
»Sie hat dich nie verstanden. Sie hat dich wie eine Sklavin gehalten.«
»Sie brauchte Unterstützung, und sie hat stets ihr Bestes getan.«
»Und wenn du Hilfe brauchtest?« Seine Stimme war sanft und sein Gesichtsausdruck voller Mitgefühl. »Armes junges Ding. Missbraucht, betrogen, verlassen. Und ein Leben lang hast du für einen einzigen gedankenlosen Akt bezahlt. Wenn es nun nie geschehen wäre? Dein Leben wäre völlig anders verlaufen. Überlegst du dir das nicht manchmal?«
»Nein, ich …«
»Sieh her.« Er hielt eine Kristallkugel hoch. »Sieh dir an, was hätte sein können.«
Unwillkürlich blickte sie hin und wurde in die Szene hineingezogen.
Sie drehte sich in einem tiefen Ledersessel, um aus einem großen Eckfenster auf die Türme und Spitzen der Großstadt zu schauen. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck telefonierte sie.
»Nein, ich kann nicht. Ich fliege heute Abend nach Rom. Ein bisschen Geschäft und viel Vergnügen.« Sie blickte auf die schmale goldene Uhr an ihrem Handgelenk. »Das Vergnügen ist ein kleiner Bonus von oben, weil ich ihnen Quatermain als Kunden gebracht habe. Eine Woche im Hassler. Natürlich schicke ich dir eine Ansichtskarte.«
Lachend schwenkte sie wieder zu ihrem Schreibtisch zurück, weil ihre Assistentin gerade mit einer hohen Porzellantasse hereinkam. »Ich rufe dich an, wenn ich zurück bin. Ciao
»Ihre Latte, Ms. McCourt. Ihr Wagen fährt in einer Viertelstunde vor.«
»Danke. Die Akte Modesto?«
»Schon in Ihrem Aktenkoffer.«
»Sie sind die Beste. Sie wissen ja, wie ich zu erreichen bin. Aber ab Dienstag möchte ich nicht mehr gestört werden. Wenn es also nicht ganz dringend ist, tun Sie am besten so, als sei ich zur Venus geflogen.«
»Darauf können Sie sich verlassen. Niemand hat einen Urlaub mehr verdient als Sie. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Aufenthalt in Rom.«
»Danke, das habe ich vor.«
Sie trank einen Schluck von ihrer Latte und wandte sich ihrem Computer zu, um in einer Datei letzte Details zu überprüfen.
Sie liebte ihre Arbeit. Manche Menschen würden sagen, es handele sich doch nur um Zahlen, Buchhaltung, schwarze oder rote Tinte, aber für Zoe war es eine Herausforderung, ja sogar ein Abenteuer. Sie leitete das Controlling in einem der größten, komplexesten Unternehmen der Welt, und sie machte ihre Sache sehr gut.
Es war ein langer Weg von Mamas Buchhaltung bis hierhin gewesen, dachte sie. Ein sehr langer Weg.
Sie hatte sich sehr angestrengt, um das Stipendium fürs College zu bekommen, hatte hart für ihr Examen gearbeitet und sich sofort eine Traineestelle an einer der angesehensten internationalen Banken in New York gesichert.
Und dann hatte sie sich hochgearbeitet. Bis in ein Eckbüro auf der fünfzehnten Etage, mit eigenen Angestellten, und das alles noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag.
Sie hatte eine wunderschöne Wohnung, ein aufregendes Leben und einen Beruf, der ihr Spaß machte. Und sie war an all die Orte gereist, von denen sie als Mädchen geträumt hatte.
Sie besaß das, was ihr ihre Familie niemals hatte geben können. Respekt.
Zufrieden fuhr sie den Computer herunter und trank den letzten Schluck ihrer Latte. Dann erhob sie sich, ergriff ihren Aktenkoffer und warf sich ihren Mantel über den Arm.
Rom wartete auf sie.
Zuerst würde sie natürlich ein bisschen arbeiten müssen, aber dann war es nur noch Vergnügen. Sie hatte sich vorgenommen, ausgiebig einzukaufen. Etwas aus Leder, etwas aus Gold. Ein Abstecher zu Armani oder zu Versace. Vielleicht auch zu beiden. Das hatte sie sich redlich verdient.
Sie ging auf die Tür zu, aber plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um. Etwas hielt sie zurück.
»Ihr Wagen ist da, Ms. McCourt.«
»Ja, ich komme.«
Wieder ging sie auf die Tür zu. Aber nein. Sie konnte nicht einfach wegfahren.
»Simon!« Sie musste sich an der Wand abstützen. »Wo ist Simon?«
Sie rannte durch die Tür und rief nach ihm. Und fiel durch Kristallglas auf ihren Küchenfußboden.
 
»Ich hatte keine Sekunde Angst«, sagte Zoe zu Malory und Dana. »Noch nicht einmal, als ich auf dem Boden landete. Ich dachte nur, hmm, was soll das denn?«
»Und mehr hat er nicht zu dir gesagt?«, fragte Dana.
»Nein. Er war sehr höflich«, erwiderte Zoe, die gerade einen ihrer Bedienungsplätze an der Wand befestigte. »Sehr mitfühlend. Und überhaupt nicht Angst einflößend.«
»Weil er dich verführen wollte«, erklärte Malory.
»Ja, das denke ich auch.« Zoe rüttelte prüfend an dem Platz und nickte. »›Sieh dir an, was hätte sein können.‹ Bei ihm klang es so, als ginge es nur darum, welchen Schritt man wohin macht.«
»Die Weggabelung.« Dana stemmte die Hände in die Hüften.
»Genau.« Dana setzte die letzte Schraube an und drehte sie fest. »Hier ist die Gelegenheit, eine hochkarätige Karriere zu haben, ein aufregendes Leben zu führen, für eine Woche nach Rom zu fliegen. Du musst nur eine Kleinigkeit beachten: Du darfst mit sechzehn nicht schwanger werden. Er hat gemerkt, dass er an Simon nicht herankommt, deshalb hat er ihn ausgeblendet.«
»Er unterschätzt dich.«
Zoe schnaubte. »O ja, das tut er. Nichts in der Kristallkugel kam dem gleich, was ich mit Simon habe. Und wisst ihr was? Es ist ebenso nicht mit dem zu vergleichen, was ich mit euch beiden hier tue.«
Grinsend stand sie auf. »Ich hatte allerdings echt tolle Schuhe an. Sie waren bestimmt von Manolo Blahnik, so wie die, die Sarah Jessica Parker zu tragen pflegt.«
»Hmm. Teure, sexy Schuhe oder ein neunjähriger Junge.« Dana tippte sich mit dem Finger ans Kinn. »Schwere Wahl.«
»Ich glaube, ich begnüge mich weitaus lieber mit Sonderangeboten.« Zoe trat einen Schritt zurück und begutachtete den Frisierplatz. »Er jagt mir keine Angst ein.« Lachend legte sie den Schraubenzieher weg. »Ich war mir so sicher, dass er mir Angst machen würde, aber es passierte nichts.«
»Werd bloß nicht unvorsichtig«, warnte Malory sie. »Mit einem einfachen ›Nein, danke‹ kommst du bei ihm nicht durch.«
»Aber etwas anderes wird er von mir nicht zu hören bekommen. Na ja, auf jeden Fall habe ich danach noch mal über den Hinweis nachgedacht. Entscheidungen. Du hast es den Moment der Wahrheit genannt, Malory. Ich habe vermutlich in der Nacht, als ich Simon empfangen habe oder als ich beschlossen habe, ihn zu bekommen, eine Entscheidung getroffen. Aber es muss noch eine andere geben, eine, die ich entweder schon getroffen habe oder die noch aussteht.«
»Wir können ja eine Liste machen«, setzte Malory an. Dana musste lachen.
»Woher wusste ich bloß, dass du das sagen würdest?«
»Eine Liste«, fuhr Malory fort und warf ihrer Freundin einen verweisenden Blick zu, »wichtiger Ereignisse und Entscheidungen, die Zoe getroffen hat. So wie sie sich das Valley als einen Wald mit vielen Wegen vorgestellt hat, nur dass dieses Mal ihr Leben der Wald ist. Wir suchen nach Abzweigungen, Verbindungen, danach, wie eins zum anderen führte und was es mit dem Schlüssel zu tun hat.«
»Damit habe ich schon herumgespielt, und ich habe mir gedacht …« Zoe stellte den nächsten Platz auf und zog ihr Maßband aus der Tasche. »Eure Entscheidungen, die euch zu den Schlüsseln geführt haben, hatten etwas mit Flynn und Jordan zu tun. Brad und ich sind als Einzige noch übrig, also schließe ich daraus, dass er wohl eng zu meiner Entscheidung gehört. Damit steht er mit mir zusammen in der Schusslinie.«
»Brad kann auf sich alleine aufpassen«, versicherte Dana ihr.
»Das weiß ich. Und ich kann ebenfalls auf mich aufpassen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich mit ihm klarkomme. Ich kann es mir nicht leisten, einen Fehler zu machen, weder bei dem Schlüssel noch in meinem und Simons Leben.«
»Hast du Angst, dass eine Beziehung zu Brad ein Fehler sein könnte?«, fragte Malory.
»Nein, eigentlich fürchte ich eher, dass es ein Fehler sein könnte, keine Beziehung mit ihm zu haben.«
»Ihr besucht ihn doch heute Abend«, sagte Malory. »Nimm dir einmal ein Beispiel an deinem Sohn und genieße es, mit jemandem zusammen zu sein, der dich offensichtlich so gern hat.«
»Ich werde es versuchen.« Zoe griff erneut nach dem Maßband. »Auf jeden Fall ist es gut, dass ich einen Aufpasser habe. Eigentlich sogar zwei, wenn man Moe mitzählt.«
»Früher oder später wird sich Brad auch mal allein mit dir treffen wollen, unabhängig davon, wie gern er Simon hat.«
Zoe reichte Malory das Maßband und ergriff den Schraubenzieher. »Darüber mache ich mir dann Gedanken, wenn es so weit ist.«
Was bald der Fall sein würde, dachte Zoe, als ihre Freundinnen gegangen waren.
Ihr war klar, dass Brad und sie sich körperlich so sehr anzogen, dass sie einfach zusammenkommen mussten. Aber sie würde den Zeitpunkt, den Ort und das Tempo bestimmen. Die Regeln. Regeln musste es geben, ebenso wie sie vor diesem intimen Schritt eine gemeinsame Basis finden mussten.
Wenn Bradley Vane tatsächlich eine ihrer Weggabelungen war, dann musste sie sich völlig sicher sein, dass keiner von ihnen verirrt, blutend und allein am Ende des Weges zurückblieb.