DER STEIN

Mik putzte die Zähne und sah sich dabei im Badezimmerspiegel an. Der Spiegel hatte einen Sprung, die eine Spiegelhälfte war ein wenig eingesunken. Vielleicht bloß einen Millimeter, verglichen mit der anderen Hälfte. Doch das genügte, um sein Gesicht in zwei verschobene Hälften zu teilen. Das Gesicht passte irgendwie nicht zusammen. Seine Ohren sahen so groß aus. Doch das lag nicht am Spiegel. Seine Ohren waren groß. Das war allerdings das Einzige, was an ihm groß war. Er war der Kleinste der Klasse. Vielleicht der kleinste Fünftklässler der ganzen Schule.

»Bei dir wachsen wohl nur die Ohren?«, hatte die Schulschwester so laut gesagt, dass alle andern es hörten.

Die ganze Klasse hatte aufgereiht dagestanden, um gewogen und gemessen zu werden, und ein Arzt mit kalten Händen hatte unten in den Unterhosen die Hoden der Jungs betastet.

»Bei dir wachsen wohl nur die Ohren?«

Bis dahin hatte kein Mensch auf seine Ohren geachtet. Danach hieß er nur noch Flatterohr. Das hatte Andreas sich ausgedacht und in Umlauf gebracht. Und wie komisch ist Flatterohr auf einer Skala von eins bis zehn?

Ploppy hatte nur einen Hoden. Das verlieh ihm eine gewisse Berühmtheit. Und Stefan, der im Sportunterricht immer blau wurde, hatte einen Herzfehler. Ein Loch zwischen den Kammern, durch welches das Blut hin und her flutschte. Jetzt brauchte er nie mehr am Sportunterricht teilzunehmen. Und Sara hatte über Nacht einen Riesenbusen bekommen.

»Bei dir wächst wohl bloß der Busen?«, sagte die Schulschwester nicht.

So was sagte man bloß über Ohren.

Ploppys Pimmel war auch groß geworden. Lächerlich groß. Das sagte man auch nicht. Und Andreas hatte Haare bekommen.

Der Rest der Klasse war völlig gesund.

Mik holte sein Handy heraus. Das Display war gesprungen und die Batterie schon lange tot. Aber das war egal. Er hatte keinen Vertrag und keine SIM-Karte. Aber wer konnte wissen, ob er echt telefonierte oder nur so tat, als ob? Mik hatte eine Geheimnummer und lieh sein Handy niemals aus, so war das. Er konnte Dracula anrufen, er konnte Tengil anrufen. Er konnte Gott anrufen. Er konnte anrufen, wen er wollte.

Vielleicht sollte er anrufen und sagen, er sei krank? Die Schule war nicht sein Ding. Die Hausaufgaben waren kein Problem, die machte er nämlich nicht. Das Problem waren die vielen Stunden, die man dort eingesperrt war. Sein Klassenzimmer lag im Erdgeschoss und hatte vergitterte Fenster. Weil schon dreimal die Computer der Schule gestohlen worden waren, darum. Das Klassenzimmer war ein Gefängnis. Im Unterricht zeichnete Mik die meiste Zeit. Ob in Mathe, Geografie oder Englisch, er zeichnete. Kein Wunder, dass seine Lehrerin sich Sorgen machte.

 

In den Pausen konnte man Hockey spielen oder in den Felsen oberhalb des stillgelegten Eisenbahntunnels herumklettern. Das durfte man nicht, weil dort eine Gruppe obdachloser Alkis in Zelten und unter aufgespannten Zeltplanen wohnte. Die Züge fuhren durch die neuen Tunnels jenseits des Industriegebietes. Die alte Tunnelmündung war mit einem Stahltor verriegelt, die Gleisanlage abgebaut, direkt davor war ein von außen nicht einsehbares Niemandsland entstanden. Eltern und Schulleitung hatten alles versucht, damit das Lager entfernt wurde. Die Polizei war mehrmals dort gewesen und hatte es abgerissen. Aber die Obdachlosen hatten es bald wieder aufgebaut. Eine dicke Alte gab es dort auch. In ihrem Unterkiefer fehlten die Zähne, und wenn ihr danach war, hockte sie sich vor aller Augen hin und pinkelte.

 

Es war Pause. Die Jungen standen auf dem Felsen oberhalb der Tunnelmündung und sahen auf das Lager der Obdachlosen hinab. Nur von dort oben konnte man es sehen. Kein Alki ließ sich blicken. Das Lager erinnerte stark an eine Müllhalde. Verdreckte Kleider hingen zum Trocknen an der rostigen Einzäunung, Dosen und Kochtöpfe in den Ästen. Kisten und Zeitungen. Halb verfaulte Zelte, ausgebleichte grüne Planen und ein paar alte Fahrräder.

»He!«, schrie Mik.

»He, ihr Alkis!«, schrie Andreas.

Ploppy und Stefan sammelten Munition, einen ansehnlichen Haufen aus scharfen wurftauglichen Sprengsteinen. Nichts geschah. Ein Windstoß brachte eine Persenning zum Flattern. Styroporstückchen stoben in die Luft. Eine leere Bierdose rollte davon und blieb vor einer Autobatterie liegen.

»Die schlafen wahrscheinlich«, sagte Ploppy.

»Es ist doch mitten am Tag«, sagte Stefan.

»Die vertragen keine Sonne«, sagte Mik. »Die sind nicht von dieser Welt.«

Er hob einen Stein auf und schrie: »Scheiß Höhlenmenschen!«

Dann warf er den Stein und traf ein Zelt. Keine Reaktion. Jetzt legten sie sich alle ins Zeug. Andreas wuchtete einen Riesenstein wie beim Kugelstoßen hinunter. Stefan warf, bis er blau wurde. Es regnete Steine.

Dann krachte ein Zelt zusammen.

»Zum Henker, hört endlich auf!«

Die Steine sausten durch die Luft, und die Menschen unten krabbelten aus ihren Behausungen, verdreckt, behaart, müde.

Für Mik waren das böse, unheimliche Wesen, keine Menschen. Schmierige, modrige Zombies, die aus ihrer Höhle gekrochen kamen und von der Sonne getroffen wurden. Sie hielten die Arme über den Kopf und versuchten zu entkommen. Ein Zelt nach dem andern brach zusammen, und eine Plane wurde zerfetzt.

Steine fielen vom Himmel.

»Ich hasse alle beschissenen Alkis!«, schrie Mik und warf weiter.

»Verfluchte Rotznasen, hört auf!«, schrien die unten, während sie Schutz suchten.

Die Alte quetschte ihre Fleischmassen unter einer Plane hervor und hockte sich zum Pinkeln hin, ohne sich um die Steine zu scheren, die ringsum niederprasselten.

»Ihr versoffenen Filzläuse!«, schrie Mik. »Verrrrreeckt doch!«

Er warf und warf und warf. Geriet in Rage. Drehte ganz und gar durch. Er hob einen großen, scharfkantigen Stein auf. Ploppy drückte seinen Arm nach unten.

»Es reicht. Komm, wir hauen ab. Das bringt’s doch nicht! Andreas und Stefan sind schon weg.«

Mik versuchte zu werfen, aber Ploppy hinderte ihn daran.

»Das reicht jetzt. Ich verschwinde hier.«

»Verrrreeckt doch!«, schrie Mik. »Sauft, bis ihr verreckt. Am besten gleich Hundertprozentigen!«

Jemand kam aus einem noch stehenden Zelt gekrochen. Ein struppiger Penner in einer schmutzigen babyblauen Steppjacke. Mik schleuderte seinen Stein und ließ den Arm ausgestreckt, als wollte er seinen Wurf ins Ziel lenken. Der Stein zischte durch die Luft. Beschrieb eine perfekte Bahn. Der Penner dort unten drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Mik sah gelbe, kranke Augen.

Klonk! Mitten auf die Stirn.

Der Mann fiel und blieb liegen.

»Au«, sagte Mik.

Dann rannte er los.

 

Frau Lind baute einen alten Projektor im Klassenzimmer auf.

»Wir werden uns Bilder vom früheren Hagalund anschauen«, erklärte sie. »Damit ihr wisst, wie es hier aussah, bevor alles abgerissen wurde und die blauen Hochhäuser gebaut wurden. Eine Geschichtsstunde über eure eigene Gegend. Über den Ort, wo ihr wohnt. Das ist sehr interessant.«

Andy meldete sich: »Können wir’s uns nicht lieber im Internet angucken?«

»Nein, und zwar, weil die neuen Computer noch nicht da sind. Seit dem letzten Einbruch ist der Computerraum leer. Die neuen kommen erst in drei Wochen.«

Åsas Handy klingelte.

Frau Lind deutete auf die ganze Klasse: »Jetzt sag ich es zum letzten Mal: Lasst die Handys ausgeschaltet, sonst müsst ihr sie morgens vor dem Unterricht abliefern! Ich werde mit dem Rektor sprechen. Keine Stunde vergeht mehr, ohne dass …«

Die Tür des Klassenzimmers flog auf, und der Rektor kam hereingestürzt. Alle starrten ihn verwundert an, und Frau Lind verlor den Faden.

»Wir wollten gerade …«

Der Rektor, ein dicker Mann in blauem Hemd und Krawatte, starrte mit irrem Blick in die Klasse. Unter seinen Armen zeichneten sich dunkle Schweißflecken ab, sein Gesicht leuchtete dunkelrot.

»Ich bin außer mir«, keuchte er. »Ich habe hier an der Schule zwar schon viel erlebt, aber das schlägt dem Fass den Boden aus …«

Die Schüler sahen einander an und begriffen gar nichts. Hatte er Åsas Handy gehört, oder was? Hatte er draußen an der Tür gehorcht?

Kaum.

Der Rektor ging wieder hinaus und kam mit einem Mann zurück, der eine babyblaue Steppjacke trug. Eine Steppjacke mit blutigen Streifen auf der Brust. Er hielt ein Handtuch gegen die Stirn gepresst. Auch das war blutig. Der Rektor wandte sich an Frau Lind: »Ihre Klasse war die einzige, die zwischen neun Uhr zwanzig und neun Uhr vierzig Pause hatte. In der Zeit ist das hier passiert.«

Schreckensstarr sah Mik den Mann an. Der hier? Wie war es möglich, dass der sich hierher, in diese Welt, verirrt hatte? Große schwarze Pupillen in gelben Augäpfeln. Sie sahen einander an. In Miks Kopf hämmerte es. Der struppige, bärtige Mann hielt das Handtuch an die Stirn gepresst, hob langsam den rechten Arm und deutete auf ihn.

»Der da hat den Stein geworfen.«

 

Nach Schulschluss musste Mik noch bleiben. Er saß in seiner Bank, Frau Lind nahm einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber.

»Die andern haben auch Steine geworfen«, sagte Mik mit gesenktem Kopf.

Er zeichnete etwas auf die Bank.

»Hör auf damit«, sagte Frau Lind.

Er zeichnete weiter und sagte: »Das war doch bloß so ein Alki.«

»Bloß so ein Alki? Wie kannst du so was sagen? Sieh mich an, Mik. Wie geht es dir eigentlich?«

»Gut«, antwortete er, den Blick auf die Bank geheftet.

»Ich meine, wirklich. Wie hast du’s zu Hause?«

»Gut.«

Frau Lind stand auf und ging zu Miks Schublade, in der seine Zeichnungen lagen. Sie nahm ein dickes Bündel heraus. Viel Blut, Sehnen, Arme, Beine, Köpfe. Und vereinzelt Augen, die aus den Höhlen gekullert waren.

»Du zeichnest nur abgehackte Körperteile. Die hast du gut getroffen. Zeichnen und malen, das kannst du. Aber die Motive … die … sind irgendwie krankhaft. Gibt es sonst nichts, was du zeichnen möchtest?«

Mik zuckte mit den Schultern und versuchte zu lächeln, sagte aber nichts. Frau Lind brachte das Bündel Zeichnungen mit, als sie sich wieder zu ihm setzte.

»Diese Zeichnung, was soll die darstellen?« Sie hielt ein blutiges Kunstwerk hoch. Fleisch, Sehnen und Knochen.

»Das ist eine abgehackte Hand.«

»Ja, das sehe ich. Aber warum?«

»Die Farben sind schön.«

Mik und Frau Lind schwiegen. Sie beugte sich über die Bank, um zu sehen, was er auf die Bank zeichnete. Ein langer, gewundener Bleistiftschnörkel. Striche und Kreise wanden sich ineinander und bildeten ein kompliziertes Muster. Es gab keine losen Enden, alles ringelte sich in endlosen Schleifen.

»Was soll das darstellen? Eine Schlange?«

»Weiß nicht«, sagte Mik. »Vielleicht Gedanken.«

»Das musst du ausradieren, bevor du gehst. Dann müssen wir überlegen, wie wir diese Sache klären sollen.«

Mik radierte, und alles wurde ein einziges schwarzes Geschmiere. Er hatte keine Ahnung, was da überhaupt geklärt werden sollte.

»Dein Vater ist nicht zum Elternabend gekommen.«

»Er war erkältet.«

 

Auf dem Heimweg blieb Mik mitten auf der Brücke stehen und sah auf die blauen Vorortzüge hinunter, die unter blitzenden Stromleitungen angesaust kamen. Die Züge wurden langsamer und hielten am Bahnhof Solna an. Leute quetschten sich aus den Türen und drängelten über den Bahnsteig, um als Erste bei den Bussen zu sein. Um rechtzeitig nach Hause zu kommen, bevor … ja.

Mik hatte es überhaupt nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er wollte, dass Tony vor ihm heimkam. Dann fühlte er sich wohler. Langsam ging er den Gehweg am Råsundavägen entlang. Ein großer Fernlaster donnerte vorbei und brachte den Boden zum Vibrieren. Ein Polizeiwagen kam mit Martinshorn und Blaulicht angefahren. Mik blieb kurz vor der Pizzeria stehen und sog den Duft ein. An der Ecke lag der Tabakwarenladen. Das Schaufenster war ganz braun vom Straßenverkehr. Mik rieb mit der Hand ein Stück Scheibe sauber, im Schaufenster lagen Pfeifen und aufgeklappte Zigarettenetuis auf einem Bett aus verblasstem grünen Samt. Ganz vorne im Fenster stand eine Reihe glänzender Feuerzeuge aus Silber und Gold neben einer offenen Pralinenschachtel voller staubiger Pralinen. Und mitten im Fenster lag ein kleines ausgestopftes Krokodil, aus dessen aufgeplatzter Bauchnaht Sägespäne herausquollen.

Was machte das Krokodil dort? Und wo kam es her? Aus Afrika, Südamerika oder Madagaskar? Vielleicht war es ein Nilkrokodil. Mik öffnete die Tür und trat in den Laden, um sich zu erkundigen. Vier Stufen führten in die Tiefe, in der Luft hing ein schwerer Duft nach Tabak, dunkel und feucht und gut. Hinter der Ladentheke waren Regale voller Zigarrenschachteln und Zigarettenstangen. Oben unter der Decke lagen Stapel von Pralinenschachteln und Schokolade in verschiedenen Fächern. Auf der Theke drängten sich Tabakdosen und Pfeifen. Eine große, blasse Frau mit schwarzen Haaren trat durch einen dunkelroten Vorhang hinter der Theke. Sie musterte ihn mit leuchtend grünen Augen und zündete sich eine Zigarette an.

»Kannst du schwimmen?«, fragte sie und blies ihm Rauch ins Gesicht.

Mik zögerte, die Frage kam ihm komisch vor.

»Kinder ertrinken so leicht. Also, kannst du jetzt schwimmen?«

»Ja.«

Sie streckte sich zum obersten Regal, holte zwei Tafeln Schokolade herunter und gab sie ihm. Die Packungen waren schief und krumm. Geschmolzene Schokolade, die wieder fest geworden war.

»Die lassen sich sowieso nicht mehr verkaufen. Der Karton stand zu lange in der Wärme, aber mit dem Geschmack ist noch alles in Ordnung.«

»Danke.«

Mik stieg die vier Stufen zur Tür hinauf, öffnete und trat hinaus. Er hatte Bitterschokolade bekommen. Die eine Tafel steckte er in die Tasche, von der anderen zog er die Alufolie ab. Die Stücke waren verformt und weiß geflammt.

Bitterschokolade schmeckte ihm nicht, aber er aß sie trotzdem. Sie war umsonst.

DER PIRAT

Tony war schon zu Hause, er saß in seinem Zimmer vor dem Computer, in dessen Gehäuse der Name der Schule eingebrannt war. Er besuchte die Kfz-Ausbildung, die es an der Schule gab, war fünf Jahre älter als Mik und würde bald siebzehn werden. Sein Zimmer war ein einziges Durcheinander aus schmutzigen Klamotten und Motorradteilen.

»Ist Papa da?«

»Nein. Hast du Hunger? Soll ich was kochen?«

»Was gibt’s?«

»Fleischwurst«, sagte Tony und klickte die Seite weg, auf der er gesurft hatte. »Fleischwurst und Makkaroni.«

»Was ist das da?« Mik deutete auf einen Stapel flacher Kartons mitten im Zimmer.

Tony lächelte. »DVD-Player mit Festplatte«, sagte er. »Hab ich billig bekommen. Einen hab ich dir ins Zimmer gestellt. Er ist schon an den Fernseher angeschlossen. Ich kann dir ein paar neue Filme leihen.«

»Horror?«

»Ja, zwei Zombiefilme, die werden dir gefallen.«

Tony war in Ordnung. Tony war genau so, wie ein großer Bruder sein sollte. Er hatte lange blonde Haare, blaue Augen und ein geheimes Lächeln nur für Mik. Ein Lächeln, zu dem man heimkommen konnte, wenn die ganze Welt beschissen war. Tony lächelte, und alles war gut. Als wüsste er etwas, was niemand sonst wusste. Mik war davon überzeugt, dass Tony alles wusste. Tony kochte, Tony sorgte für Geld, Tony bezahlte die Rechnungen. Ohne ihn würde alles zum Teufel gehen.

 

Der Flur war lang und eng. Am einen Ende die Wohnungstür und am anderen die Toilettentür. Tony stellte die Eieruhr auf zehn Minuten und zog die blauen Eishockeyhandschuhe an. Mik nahm seine roten.

»Keine Schläge ins Gesicht«, sagte Mik.

»Jedenfalls nicht mit Absicht. Nur Schultern und Bauch.«

Die Hockeyhandschuhe schützten die Hände. Das war gut. So traute man sich, fester zuzuschlagen, so fest es nur ging. Trotzdem fühlte sich jeder Schlag so hart an wie mit nackter Faust. Sie stellten sich mitten im Flur auf, unter der Lampe. Hüpften kurz auf der Stelle, schüttelten die Arme und schlugen die Handschuhe gegeneinander.

»Jetzt«, sagte Tony.

Der Kampf begann, und Tony landete einen schnellen Treffer auf Miks Brust. Das tat weh. Der nächste Schlag traf die Schulter. Die ersten Schläge waren die bösartigsten. Danach wurden die einmal getroffenen Stellen unempfindlich. Meistens stand Mik die volle Zeit durch. Das Einzige, was ihn umwerfen konnte, war ein Schlag auf den Solarplexus. Oder ein unerlaubter Schlag auf die Nase.

Bereits nach wenigen Sekunden stand Mik gegen die Toilettentür gedrängt. Er steckte einen Schlag nach dem andern ein, versuchte sich aber mit einer wilden Schlagfolge zu befreien. Tony zog sich tänzelnd zurück und lachte. Mik erreichte ihn nicht. Tony war einen Kopf größer und hatte wesentlich längere Arme. Mik wirbelte mit den Fäusten, Tony dagegen brauchte nur die Handschuhe auszustrecken. Dann landete er wieder ein paar harte Treffer. Mik parierte mit den Händen, ging rückwärts, wurde wieder gegen die Toilettentür gepresst und kassierte Treffer um Treffer.

»Ich geb auf.«

»Die Uhr hat noch nicht geläutet. Halt durch!«

»Nein.«

»Auf geht’s«, schrie Tony. »Los, boxen!«

Er federte nach hinten und schüttelte die Arme, gönnte Mik eine Pause und gab ihm die Chance zurückzuschlagen.

»Duck dich nicht wie ein Feigling! Schlag zu, verdammt noch mal!«

Mik wurde es rot vor den Augen. Er stürzte nach vorn und wirbelte wild mit den Fäusten.

»Gut«, schrie Tony. »Zeig’s mir!«

Aber Miks Schläge trafen nicht. Er schlug, bis er rot und schweißnass war, schließlich begann er sogar mit den Füßen nach Tony zu treten. Der nahm seinen kleinen Bruder einfach in den Schwitzkasten, aus dem Mik sich wimmernd herauszuwinden versuchte.

»Ich geb auf«, sagte Tony und hielt Mik so lange fest, bis er sich beruhigte. »Du darfst nicht wütend werden. Nicht wütend und nicht gereizt. Nichts persönlich nehmen, das ist wichtig. Nichts darf man persönlich nehmen. Sonst ist man geliefert. Und jetzt weiter!«

Sie boxten sich wieder heiß. Im Flur stieg die Temperatur. Der Schweiß floss. Mik wurde vermöbelt, aber er blieb aufrecht, stand gegen die Toilettentür gepresst, den ganzen Kampf hindurch blieb er dort.

Noch nie war es ihm gelungen, Tony zur Wohnungstür am anderen Ende des Flurs zu treiben. Mik steckte ein, wumm, wumm, wumm.

Die Eieruhr rasselte. Es war zu Ende.

Tony hingen nasse Strähnen ins Gesicht. Er lächelte und fuhr Mik mit dem Hockeyhandschuh durchs Haar.

»Du wirst immer besser.«

Mik sah zu ihm hoch, ohne eine Miene zu verziehen, ohne zu zeigen, dass sein ganzer Körper pochte und brannte.

»Ich hab die Zeit durchgehalten.«

Die Türklingel schellte. Tony schaute durchs Guckloch und hob die Hand, damit Mik sich still verhielt.

Es schellte noch einmal und dann ein drittes Mal. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Tony und Mik verharrten stumm und regungslos. Es läutete ein viertes Mal, dann waren Schritte zu hören, die sich treppabwärts entfernten. Tony drehte sich zu Mik um.

»Du öffnest keinem, den du nicht kennst. Wenn du allein daheim bist und verdächtige Leute vor der Tür stehen, darfst du nicht aufmachen, nie!«

»Versprochen.«

 

Mik probierte seinen DVD-Player aus, schob einen Film ein. Er hörte Tony draußen in der Küche Geschirr abwaschen. Es war beruhigend, das Geschirr klappern zu hören. Wir haben es gut, dachte er. Wir sind Brüder und haben es gut.

Jetzt verhielt die Schlange sich ruhig.

Mik betastete seine Schultern, sie schmerzten empfindlich. Nach dem Kampf war das immer ein prima Gefühl.

Blaue Flecken vom großen Bruder.

Das Telefon klingelte. Mik hielt den Film an, und das Bild erstarrte mitten in der Explosion eines Zombiekopfs. Er wollte schon den Hörer abnehmen, als Tony aus der Küche kam und ihn daran hinderte.

Die Brüder sahen einander an. Sie wusssten, was für ein Anruf das war. Beim vierten Läuten nahm Tony den Hörer ab.

»Hallo!«

Er lauschte eine Zeit lang.

»Ja, wir kommen.«

Tony legte auf und sah den Hörer an, der in einem Pelz aus Seifenschaum steckte. Die Bläschen ploppten sachte auf, eins nach dem andern.

 

Ein schneidend kalter Wind strich die Söderlånggatan entlang. Überm Eingang schaukelte ein Schild an rostigen Ketten. Zum Piraten. Unter dem Schriftzug waren zwei gekreuzte Schwerter zu sehen. Tony öffnete die Tür. Mik folgte ihm. An den Tischen saßen Gäste, die aßen oder auf ihre Bestellung warteten. Die Bedienungen hetzten zwischen den Tischen hin und her. Sie trugen quer gestreifte Pullis und Schürzen. An der Decke hingen Segel und Taue. Es roch nach Essen und Bier.

Eine Bedienung kam ihnen entgegen. Ihr quer gestreifter Pulli spannte sich über den Brüsten.

»Er sitzt dort unten. Ihr kennt euch ja aus. Am üblichen Platz.«

Tony und Mik sagten nichts.

»Er ist ziemlich laut geworden. Der Chef wollte die Polizei anrufen. Aber inzwischen ist er friedlich.«

Sie zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder der Bedienung der Gäste. Die enge Wendeltreppe führte zwischen Wänden aus groben, unbehauenen Steinblöcken nach unten. Es war, als würde man in einen tiefen Brunnen hinabsteigen. Auf einem Regal oberhalb einer Treppenbiegung lagen drei Totenschädel, der erste hatte einen Seeräuberhut auf, der zweite war von einem Schwert gespalten, der dritte hatte eine schwarze Augenklappe, und in seinem Oberkiefer fehlten zwei Zähne. Jemand hatte einen Bierdeckel in die Zahnlücke geklemmt.

»Sind die echt?«, fragte Mik.

»Nein, alles Plastik«, sagte Tony.

Mik blieb stehen und schaute sie an.

»Die sehen echt aus, finde ich.«

»Vergiss den Quatsch und komm!«

Am Fuß der Treppe öffnete sich ein großer Gewölbekeller, in dem betrunkene Männer und heisere Frauen an grob gezimmerten Tischen saßen. An der Decke hing ein Piratenschiff, das auf verrücktem Geschrei und irrem Gelächter einherzusegeln schien. Die Bierkrüge schwappten über, und Mik stellte sich vor, dass die Menschen hier unten das Lokal nie verließen. Dass sie nie das Tageslicht zu sehen bekamen. Dass sie Tag und Nacht hier unten hockten und krakeelten, von irgendeinem Piratenkönig verurteilt. Bedienungen trugen laufend schäumende Bierkrüge herein und leere Gläser hinaus.

Tony bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch, sah sich suchend um. Mik folgte ihm dicht auf den Fersen. Ein Mann erhob sich und schrie, alle sollten das Maul halten. Doch der Lärm blieb unverändert.

»Ihr elenden Loser! Haltet’s Maul!«

Der Mann fuchtelte weit ausholend mit den Armen und schwankte.

»Verdammte Penner alle miteinander. Der Teufel soll euch holen!«

Damit klappte er über dem Tisch zusammen und blieb liegen.Der Mann war ihr Vater.

Tony schüttelte ihn, bis er wieder zu sich kam.

»Zeit zum Heimgehn.«

DER SCHWIMMTEST

Mik saß auf einem grünen Plastikstuhl, von dem er bereits einen schweißnassen Hintern hatte. Die Schulpsychologin hieß Lisa Nordahl. Sie hatte braune gerade Haare und braune freundliche Augen. Ihre Stimme war ruhig und angenehm, stellte aber komische Fragen. Mik hatte noch nie etwas so Seltsames erlebt wie das hier, seit er auf diesem grünen Plastikstuhl saß. Er kam sich vor, als wäre er in eine andere Dimension gebeamt worden. UFO-Zeit. Der PC summte, und der Bildschirmschoner hüpfte auf und ab. Das Zimmer roch nach Reinigungsmitteln.

Sie unterhielten sich über seine Zeichnungen. Lisa Nordahl sagte, die Zeichnungen ließen auf blockierte, unterdrückte Gefühle schließen. Und jetzt würden sie beide, Lisa Nordahl und Mik, versuchen, die wieder an die Oberfläche zu holen.

»Wen?«

»Die Gefühle. Vielleicht Angst. Oder Sehnsucht, Zorn.«

»Aber das sind doch bloß Horrorbilder«, sagte Mik. »Ich mag Horrorfilme und Horrorbücher und …«

Lisa Nordahl schenkte ihm ein Lächeln und blätterte in ihren Papieren. Mik lächelte zurück und fingerte an seinem Handy herum.

»Ist es ausgeschaltet?«

»Ja.«

»Wie gefällt es dir in der Schule?«

»Gut.«

Lisa Nordahl hatte jetzt ihre Papiere, die von Mik handelten, geordnet.

»Wir werden einander richtig gut kennenlernen, du wirst schon sehen.«

Sie schob sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr.

»Wie läuft’s denn bei dir zu Hause?«

»Gut.«

»Schön. Aber ich frage mich doch … Dein Vater ist zu keinem einzigen der Elternabende oder Lehrergespräche gekommen. Er hat …«

»Viel zu tun«, sagte Mik.

»Was macht er gleich noch mal?«

»Gabelstapler fahren.«

»Da hat man viel zu tun.«

»Ja.«

Lisa Nordahls Augen flackerten kurz auf, sie schob einen Stift hin und her und berührte dabei die Maus, worauf der Bildschirmschoner erlosch: ein Bild von kleinen Kindern, die auf einer grünen Wiese mit einem Wasserschlauch spielten.

»Noch was zu deinem Vater?«

Mik sah zum Fenster hinaus. Seine Klasse hatte Pause und spielte Hockey. Ploppy stand im Tor. Andreas schrie ihm etwas zu, schlug mit dem Schläger gegen das Tor. Mik fiel ein, dass er seinen Vater nicht kannte. Wenn er an seinen Vater dachte, konnte er genauso gut an einen … Spaten denken.

Denk Spaten.

Denk Spaten.

Denk Spaten.

Mik zuckte mit den Schultern. Spaten. Was sollte er ihr sagen? Dass er entweder betrunken oder verkatert war oder beides gleichzeitig. Er schlägt uns nicht, weint aber viel. Genauso oft, wie er betrunken ist, verspricht er, mit dem Trinken aufzuhören. Das hebt sich gegenseitig auf. Versprechen aufzuhören – sich volllaufen lassen. Er sagt zum Beispiel: Jetzt ist Schluss, ich kann nicht mehr, es hat sich ausgesoffen. Hat wieder mal so viel getrunken, dass er nicht mehr kann. Er hat alles so satt, dass er … trinken muss. Klirrende Plastiktüten. Flaschen, überall Flaschen, offene Flaschen, umgekippte Flaschen, zerbrochene Flaschen, versteckte Flaschen. Höhnisches Grinsen und Flaschen. Geschrei und Flaschen. Tränen und Flaschen. Und dann die Flaschen im Keller. Die Tage sind zu lang, sagt Papa.

Die Tage sind zu lang. Die Flaschen verkürzen die Tage.

Flaschen. Buddeln.

Buddeln.

Buddeln mit dem Spaten.

Spaten.

Tony hasste ihren Papa.

»Ich bring das Schwein noch mal um«, sagte er manchmal.

Mik hasste ihn nicht. Einen Spaten kann man nicht hassen. Er spürte bloß die Einsamkeitsschlange mit ihren aufgerichteten Schuppen. Wenn die sich tief drinnen im Körper bewegte, dann tat es weh. Aber solange er »Spaten« dachte, verhielt sie sich ruhig.

Denk Spaten.

Der Computer summte. Der Bildschirmschoner war wieder da. Mik rutschte mit den Schenkeln auf dem grünen Plastiksitz hin und her. Sie klebten inzwischen am Stuhl.

»Vielleicht reden wir lieber über eine schöne Erinnerung«, sagte Lisa Nordahl.

»Von mir aus«, sagte Mik.

»Etwas, woran man sich festhalten kann. Eine wichtige Erinnerung, die … nun ja … wichtig ist. Die einen stark macht. Verstehst du, was ich meine? Wenn man etwas Schönes erzählt und es richtig deutlich in Erinnerung behält, dann fällt es leichter, hinterher über schwierige Dinge zu reden. Über Dinge, die wehtun, die nicht gut sind und traurig machen. Darum fangen wir mit etwas richtig Schönem an. Verstehst du?«

Es wurde still. Lisa Nordahl hatte die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände gestützt. Jetzt senkte sie den Kopf und hob die Augenbrauen.

»Was Schönes, ja«, sagte Mik.

Er dachte nach. Sah sich im Zimmer um. Hob den einen Schenkel an.

»Einmal, da bin ich morgens den Dalvägen runter zum Råstasee gegangen. Es war sehr früh, aber schon hell. Irgendwann im Frühling oder fast im Sommer. So um vier. Ich bin mitten auf der Straße gegangen. Es gab keine Autos, keine Menschen. Ich konnte auf dem Råsundavägen stehen bleiben und pinkeln. Und da, hinter dem Vintervägen, war auf dem Kiesplatz über Nacht ein Rummelplatz aus dem Boden gewachsen. Das war so seltsam, total unwirklich. Ich hatte einen Rummelplatz gefunden. Der stand einfach da. Ich hatte schon viel gefunden – Fahrräder, eine Kamera, eine kaputte Gitarre, aber einen Rummelplatz noch nie.«

»Toll«, sagte Lisa Nordahl. »Erzähl weiter.«

»Ich bin nach Hause gerannt, um Mama zu erzählen, was ich gefunden hatte. Etwas Unglaubliches, einen ganzen Rummelplatz. Sie hat gesagt, wir gehen hin und ich darf alles machen. Später am Tag sind wir dann hingegangen. Ich hatte schon Angst, der Rummelplatz könnte nicht mehr da sein, irgendwie einfach verschwunden. Aber er war noch da. Wir sind mit dem Wirbelwind gefahren und mit dem Kettenkarussell. Am schlimmsten war der Tintenfisch. Ich hab Zuckerwatte und Lose gekriegt und einen großen grünen Hund gewonnen. Aber auf dem Heimweg hat sie plötzlich Schmerzen in der Brust bekommen, und der Dalvägen ist ihr fast zu lang und zu steil geworden. Wir haben uns irgendwo aufs Geländer gesetzt und uns ausgeruht. Aber sie hat trotzdem gelacht, weil es auf dem Rummelplatz so viel Spaß gemacht hatte.«

»Das hast du gut erzählt«, sagte Lisa Nordahl. »Sehr schön.«

Mik sah zum Fenster hinaus, sah seine Klassenkameraden, die Hockey spielten.

»Ich glaube, das war das letzte Mal, dass sie gelacht hat. Bestimmt war es das letzte Mal, dass sie rausging.«

Die Schulpsychologin machte Anstalten, etwas zu notieren, tat es aber doch nicht. Sie schob die Haarsträhne zurück, die ihr wieder ins Gesicht gefallen war. Sie musste sie mehrere Male hinters Ohr schieben, bevor sie liegen blieb.

»Kann ich jetzt gehen?«

»Was?«

»Wir haben Schwimmen, und ich muss rechtzeitig dort sein.«

 

Der Weg von der Schule zur Schwimmhalle war weit. Ploppy hatte auf Mik gewartet. Sie würden zu spät kommen.

»Glückspilz. Du hast Englisch verpasst«, sagte Ploppy.

»Dafür hab ich einen nassen Hintern«, sagte Mik.

»Worüber habt ihr gesprochen?«

»Über nichts Besonderes.«

»Du hast nicht in Englisch müssen, bloß um über nichts Besonderes zu reden?«

»Sie wollte Geschichten hören.«

»Worüber?«

»Irgendwas.«

»Können wir dann heute zu dir?«, fragte Ploppy.

Mik wusste nicht, was er antworten sollte. In letzter Zeit waren sie immer nur bei Ploppy gewesen. Seine Eltern waren unheimlich nett. Seine Mutter hatte eine unglaubliche Lasagne gekocht. Und Ploppy hatte einen superschnellen Computer bekommen, den sein Vater zusammengebaut hatte, mit der neuesten Grafikkarte und einer sagenhaften Speicherkapazität. Man konnte die neuesten Spiele in Spitzenauflösung spielen.

»Wir sind immer bloß bei mir. Können wir nicht mal zu dir?«

»Nein, das geht nicht.«

»Warum, ist dein Papa schon wieder erkältet, oder was?«

»Nein, es geht nicht, weil wir Besuch kriegen.«

Als sie nach Vasalund kamen, blieben sie vor dem Zoogeschäft stehen. Ein Kaninchen hockte ängstlich zitternd in einer Ecke seines Käfigs. Ploppy klopfte ans Glas. Zwei gelbgrüne Vögel flatterten in ihrem winzigen Gefängnis umher, dass die Federn das Stahlgitter streiften. Eine weiße Ratte scharrte in den Sägespänen.

»Kannst du schwimmen?«, fragte Mik.

»Klaro. Tausend Meter lässig. Und du?«

»Schon, aber vielleicht keine tausend Meter. Ein paar Hundert oder so.«

»Das reicht«, sagte Ploppy.

»Hast du gewusst, dass der Weltrekord im Luftanhalten unter Wasser bei sechs Minuten und drei Sekunden liegt? Das hat Peter Hirvell geschafft, ein Deutscher.«

 

Die ganze Klasse saß bereits umgezogen und fertig am Schwimmerbecken unterm Sprungturm. Mik hatte eine blaue Badehose. Er spannte seine Armmuskeln, und Poppy lachte. Miks Muskeln waren nicht der Rede wert. Überhaupt war der ganze Mik nicht der Rede wert. Seine Haut spannte über den Rippen, Schultern und Hüften, als wäre das Knochengerüst von dünnem Papier überzogen.

Der Sportlehrer, der Ivan hieß und Iv genannt wurde, stand im grünen Trainingsanzug vor der Klasse, eine Stoppuhr in der Hand und eine Trillerpfeife um den Hals.

»So, so«, sagte er und schaute auf seine Armbanduhr. »Möchte bloß mal wissen, warum es so verflixt schwierig ist, pünktlich zu sein? Na gut, fangen wir also noch mal von vorne an. Heute machen wir einen Test. Ihr sollt fünfundzwanzig Meter schaffen, eine Bahn, das gibt dann eine Drei. Stellt euch hier an der dritten Bahn in einer Reihe auf.«

Dann pfiff er auf seiner Trillerpfeife.

Andreas drängte sich vor, federte auf dem Startblock, schüttelte Arme und Beine und wärmte sich mit Hüpfen und Rumpfbeugen auf. Mik wurde irgendwo in der Mitte hinter Ploppy herumgeschubst. Vom Chlorgeruch wurde ihm übel. Er dachte an den Deutschen, Peter Hirvell.

Iv pfiff wieder auf seiner Pfeife.

»Alle, die wissen, dass sie nicht schwimmen können, treten bitte aus der Reihe! Ich zieh euch nicht aus dem Wasser. Wie ihr seht, hab ich mich nicht mal umgezogen.«

Iv lief die Reihe entlang und musterte sie wie ein Feldwebel.

»Also, alle, die wissen, dass sie keine ganze Bahn schaffen, begeben sich so lange zum warmen Kinderbecken.«

Es wurde gekichert und über die Schultern geschaut, aber niemand trat aus der Reihe. Iv blieb bei Mik stehen, packte mit kalten, rauen Riesenhänden seine Schultern und drehte ihn um.

»Was hast du gemacht? Woher hast du die blauen Flecken?«

Mik sah zu ihm hoch.

»Hab mich mit dem Fahrrad hingelegt.«

Andreas wandte sich oben auf dem Startblock um, zappelig und voller Ungeduld.

»Der hat doch gar kein Fahrrad. Fangen wir jetzt endlich an?«

Iv machte ein bekümmertes Gesicht. Er zupfte sich ein Haar aus der Nase, blies in die Pfeife und holte die Stoppuhr heraus.

»Ihr könnt einen Startsprung machen oder einfach so reinspringen. Ich stoppe die Zeit. Los geht’s!«

Andreas schoss kopfüber ins Wasser, legte die ganze Bahn kraulend zurück, hievte sich aus dem Becken und klatschte dann in die Hände, als hätte er eine olympische Goldmedaille gewonnen. Iv pfiff, und der Nächste sprang ins Wasser. Manche schwammen Brust, andere kraulten, und einige bewegten sich auf unbestimmbare Art und Weise durchs Wasser. Iv pfiff und verkündete die Zeiten. Keiner schaffte es, Andreas zu schlagen. Ploppy schwamm entspannt auf dem Rücken, kam vom Kurs ab und schwamm im Zickzack. Er schwamm eine miserable Zeit, wurde aber für seine gute, wenn auch etwas wacklige Technik gelobt.

Mik stieg auf den Block. Iv hatte die Trillerpfeife im Mund und wollte schon pfeifen, als Åsa ganz hinten in der Reihe zu weinen begann. Iv spuckte die Pfeife aus und ging zu ihr.

Mik wartete auf den Pfiff und schaute in das blaue Wasser, sah weit unten in der Tiefe die Kacheln wogen. Er ballte die Fäuste.

»Jetzt spring doch endlich!«, schrie Andreas.

»Mach voran!«, sagte jemand hinter ihm.

»Ein bisschen dalli!«

Åsa weinte.

»Macht schon mal weiter«, sagte Iv. »Ich stoppe eure Zeit.«

Dann blies er in die Trillerpfeife.

Mik stürzte sich vom Block.

»Ich glaub, ich hab … meine Tage gekriegt«, sagte Åsa.

 

Die Entfernung bis zur Wasseroberfläche war kurz. Aber der Sprung dauerte eine Ewigkeit. Glaubte er an ein Wunder? Oder an einen Weltrekord? Die Entscheidung für den Sprung war nicht schwer gewesen. Bei jedem Atemzug starb schließlich irgendwo ein Mensch. Zur Zeit des Schwarzen Todes war jeder Dritte gestorben. Er würde Tony vermissen, Tony war der Einzige, den er vermissen würde, ja, und Ploppy natürlich, aber vor allem Tony. Der beste Bruder der Welt. Es tat ihm leid. Zu dumm, aber trotzdem zögerte er nicht. Die Entscheidung zwischen dem Ertrinken und dem warmen Kinderbecken war hart, aber nicht schwer. Vielleicht stimmte ja die Geschichte von Nangijala aus Die Brüder Löwenherz. Aber wenn nicht – wo würde er dann landen?

 

Mik durchbrach die Oberfläche und sank in die Tiefe. Er wurde weich aufgefangen, von Blasen und wirbelndem Wasser eingehüllt. Es geschah kein Wunder, er zappelte mit Armen und Beinen, sank aber immer tiefer, bis auf den Beckengrund. Der Weltrekord im Luftanhalten unter Wasser lag bei sechs Minuten und drei Sekunden. Manche hatten es sogar noch länger ausgehalten. Aber die hatten dann vor dem Tauchen hyperventiliert oder reinen Sauerstoff eingeatmet. Das war Beschiss.

Sechs Minuten und drei Sekunden – würde er diesen Rekord brechen können?

Seine Trommelfelle schmerzten. Das Gesicht nach oben gewandt, blieb er auf den Kacheln des Beckenbodens liegen. Seine Haare wehten sachte hin und her wie dünnes Seegras, und weit oben sah er in einem schönen blauen Licht seltsam verzerrte Gestalten. Sie beugten sich über den Rand und schauten herab. Schaukelnde, gespenstische Gestalten. Unförmig.

Und falls er sechs Minuten und drei Sekunden schaffte, wer würde es dann erfahren? Nicht einmal er selbst würde es ja erfahren. Wenn man ertrank, war der Rekord nichts wert. Der Druck in der Brust nahm zu, breitete sich im ganzen Körper aus. Ein kräftiges Rauschen stieg in den Ohren auf. Das Herz pumpte, pumpte, schneller, immer schneller. Sein Blut schrie nach Sauerstoff, er brannte und hörte Gesang. Jemand sang. Ein rauschender Gesang. Wo kam der her? Sein Gesichtsfeld schrumpfte, die Ränder färbten sich rot, und der Gesang schwoll an. Töne ohne Melodie. Steigend, sinkend. Wie wenn jemand weint. Seltsam war das, und es wurde noch seltsamer. Er sah seine Mutter. Ihr Gesicht wiegte sich hinter Wellen, nahm aber keine richtige Form an. Sie hielt einen grünen Schirm.

Alles verschwand.

 

Mik wachte am Beckenrand auf und hustete Chlorwasser. Sein Körper schmerzte, als würde er von tausend glühend heißen Nadeln gestochen. In Nase und Brust brannte es so heftig, als wäre sein Inneres nach außen umgestülpt. Sein Herz schlug schnell und hart.

Iv hockte über Mik gebeugt. Seine Kleider waren durchnässt, seine Haare tropften. Die Trillerpfeife und die Stoppuhr baumelten über Miks Gesicht. Die Klasse stand in einem schweigenden Kreis um ihn herum. Er erbrach den Hackbraten, den es in der Schule zu Mittag gegeben hatte. Die Klassenkameraden wichen zurück.

»Wie geht’s?«, fragte Iv und strich seine nassen Haare zurück. »Bist du einigermaßen in Ordnung?«

Mik nickte.

»Niemand hat mir gesagt, dass du untergehst. Ich hab Åsa in die Umkleide gebracht. Ihr ging es … nicht gut. Ich hatte keine Ahnung, bis Ploppy angerannt kam. Die glaubten alle, du machst bloß Spaß.«

Mik nickte wieder.

»Fühlst du dich wirklich wieder okay?«

»Ja«, sagte Mik erschöpft. »Wie war meine Zeit?«

Iv hielt die Stoppuhr hoch.

»Die Uhr ist im Eimer, bei drei null fünf ist sie stehen geblieben. Wasser verträgt sie nicht.«

»Drei null fünf!«

»Geh rüber zum kleinen Becken«, sagte Iv. »Für heute bist du fertig.«

Mik erhob sich auf schwachen Beinen und machte ein paar schwankende Schritte. Iv pfiff, und der nächste Schüler kraulte los. Mik ließ sich in das warme Wasser des Kinderbeckens gleiten.

Drei null fünf.

DIE SCHLANGE EINSAMKEIT

Der Weg vom Hallenbad nach Hause wurde lang. Mik ging langsam, er hatte Kopfschmerzen. Ihm war schlecht. Vor dem Tabakwarenladen blieb er stehen. Das Krokodil lag immer noch im Schaufenster, und die Sägespäne rieselten immer noch aus ihm heraus. Ein trauriger Anblick. Irgendwann war es vielleicht im Wasser des Nils geschwommen, hatte kleine Fische gejagt und war dann satt und zufrieden auf einen Sandstrand hinaufgekrochen, um sich am Fuß eines Pharaonentempels in der Sonne auszuruhen. Und jetzt lag es hinter einem schmutzigen Schaufenster im Råsundavägen in Solna und ließ Sägespäne aus sich herausrieseln. Damit hatte es bestimmt nie gerechnet.

Die Tabaksfrau winkte ihm durchs Fenster, er solle reinkommen. Mik öffnete die Tür und stieg die vier Stufen nach unten. Seine Knie drohten nachzugeben.

»Du siehst krank aus«, sagte sie. »Wie fühlst du dich?«

»Wir haben Schwimmen gehabt. Das war anstrengend.«

»Ich hab noch mehr Schokolade, die ich nicht verkaufen kann. Aber sie ist in keiner Weise irgendwie schlecht, die kannst du ruhig essen.«

Sie reichte Mik ein paar Schokoladentafeln.

»Danke.«

»Wie geht’s deinem Vater?«

»Ist erkältet.«

»Aha.«

Sie lächelte mit ihrem bleichen Gesicht. Und ihre grünen Augen durchbohrten ihn. Grüner Laser. Was wusste sie über seinen Vater?

»Nichts ist vorausbestimmt«, sagte sie. »Es gibt immer eine Wahl, und du entscheidest.«

»Ich? Nein, ich entscheide gar nichts. Ich weiß nicht mal, wer überhaupt entscheidet. Tengil vielleicht.«

»Du existierst, also entscheidest du

Er überlegte kurz, spürte aber nicht einmal, dass er existierte.

Kunden betraten das Geschäft.

»So, jetzt nimm die Schokolade und geh!«

Mik zögerte ein paar Sekunden. Irgendwas hatte er noch fragen wollen, aber er hatte vergessen, was es war.

 

Mik steckte den Schlüssel ins Schloss, aber die Tür war schon offen. In der Wohnung war es still, doch der saure Geruch nach Rotwein stieg ihm in die Nase. Papa lag auf dem Küchenboden, er war vom Stuhl gefallen und hatte das Tischtuch und eine Weinflasche mitgezogen. Der Wein war in eine große rote Pfütze ausgelaufen. Mik schüttelte Papa. Nichts geschah. Papa sabberte. Die Wohnungstür schlug zu. Tony kam in die Küche.

»O nein! Scheiße!«

»Sollen wir ihn ins Bett bringen?«, fragte Mik. »Der Boden ist hart.«

»Soll ich dir was sagen«, schrie Tony, »von mir aus kann er auf einem Nagelbrett liegen!«

»Aber …«, wandte Mik ein.

»Der ist am Ende! Da läuft nichts mehr. Jetzt ist die Kacke endgültig am Dampfen!«

Tony tigerte in der Küche auf und ab. Riss die leeren Flaschen von der Spüle herunter. Mik wusste nicht, was er sagen sollte. Tony packte eine Flasche am Hals.

»Ich sollte ihm den Schädel einschlagen!«

Er schwang die Flasche durch die Luft. Versuchte sie an der Spüle zu zerschmettern. Doch sie blieb heil.

Mik holte die Hockeyhandschuhe und stellte die Eieruhr.

»Boxen wir?«

»Du willst boxen?«

»Ja. Das macht Spaß.«

Tony durchwühlte den Kühlschrank und die Speisekammer.

»Du willst also boxen. Und er liegt auf dem Boden. Versäuft die ganze Kohle. Wir haben nichts zu essen im Haus. Boxen. Du bist echt total durchgeknallt!«

»Ich hab Schokolade, willst du welche? Ich hab ein paar Tafeln.«

»Kapierst du denn nicht? Mensch, Miki, Kleiner, der Alte ist ein beschissener Säufer.«

Tony weinte.

»Wir können auch Monopoly spielen. Du kriegst die Schlossallee.«

»Ich hau ab«, sagte Tony. »Ich geh bei Dennis pennen.«

»Und ich? Was soll ich dann machen?«, fragte Mik. »So kann er doch nicht liegen bleiben.«

»Scheiß drauf, wie’s ihm geht. Guck irgendwas im Fernsehen. Lass ihn liegen. Guck dir einen Film an, oder setz dich an meinen Computer. Ich verdufte.«

Tony ging und schlug die Tür hinter sich zu.

Es wurde still.

Fernsehen.

Allein.

Allein in der Wohnung.

Allein mit Papa.

Das war mehr allein, als wenn man ganz allein war.

Fernsehen.

Die Einsamkeit brannte im Bauch. Die Einsamkeit war eine Schlange mit stachliger Haut, die sich mit scharfen, aufgerichteten Schuppen im Bauch wand. Mit scheuernden, raspelnden, schmerzenden Schuppen. Denk an was Gutes, denk an was Schönes! Denk an was richtig, richtig Gutes! Etwas Wichtiges und Gutes, hatte Lisa Nordahl gesagt. Wie was zum Beispiel? Konnte er jemanden anrufen? Wen? Und was sagte man dann? Konnte er Ploppy anrufen und fragen, ob er zu ihm kommen durfte?

Mik rief Ploppy an.

»Ihr habt doch Besuch?«, sagte Ploppy.

»Die haben abgesagt.«

»Dann kann ich ja zu dir kommen«, sagte Ploppy.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Wir sehn uns morgen.«

»Okay, bis morgen!«

Mik holte eine Wolldecke und breitete sie über Papa aus. Es sah aus, als wäre er gestürzt, aus großer Höhe abgestürzt. Seine Wange lag platt gegen den Boden gepresst. Mik holte eines der kleinen Sofakissen, hob den hilflosen Kopf seines Vaters an den Haaren hoch, schob das Kissen darunter und ließ den Kopf zurücksinken. Versuch an etwas Gutes und Wichtiges zu denken! Bring die Einsamkeitsschlange dazu, stillzuhalten und einzuschlafen!

Mik sank auf den Küchenboden und lehnte sich an den Kühlschrank. Ein paar Magneten fielen herunter, und unbezahlte Rechnungen segelten auf den Boden. Langsam wickelte er eine Schokoladentafel aus. Es war ganz still, nur das Ticken der Eieruhr und das schwache Brummen des Kühlschranks waren zu hören. Ganz schwach der Fernseher der Nachbarn. Lauter tote Geräusche, einsame Geräusche. Irgendwo eine Klospülung. Mein Papa, dachte Mik und schaute an die Decke. Mein Papa fährt tagsüber einen Gabelstapler und spart auf ein Fahrrad mit einundzwanzig Gängen, das er mir kaufen will. Oder auf einen PC, der noch schneller ist als der von Ploppy und eine Grafikkarte hat, die so gut ist, dass die Spiele wie richtige Filme aussehen. Abends baut er mit mir Schiffsmodelle. Und wir gehen oft angeln. Aber bloß im Sommer, wenn es schön warm ist. Seine Angelrute hat eine rote Rolle. Meine eine silberne. Und rudern darf immer ich.

Ja, so war das.

Und heute Abend würden sie wahrscheinlich mit dem Modell des deutschen Kriegsschiffes Bismarck weitermachen. Nur noch die Schornsteine waren übrig und ein paar Kleinigkeiten, die Rettungsboote zum Beispiel. Die waren ganz schön knifflig.

Mik steckte das letzte Stück Schokolade in den Mund. Es klingelte an der Tür. Der Ton ließ ihn vor Schreck erstarren. Plingplong direkt ins Herz. Wer kam da?

Und warum?

Hatte Tony seine Schlüssel vergessen?

Das Guckloch in der Tür zeigte eine Frau und einen Mann, die draußen im Treppenhaus standen. Fremde Leute. Fremden Leuten durfte er unter keinen Umständen die Tür öffnen. Das hatte Tony ihm verboten. Unbekannte Menschen wollten unbekannte Sachen. Der Mann hatte eine Glatze und einen goldenen Vorderzahn. Die Frau hatte lange blonde Haare und trug einen grünen Mantel. Sie holte ein Handy heraus, und gleich darauf läutete das Telefon im Flur hinter Mik. Der Mann streckte die Hand aus und klingelte noch einmal. Mik hielt den Atem an. Die Frau drückte das Ohr an die Tür, um zu horchen. Ihre Ohrringe hatten die Form von Papageien. Sie klingelten noch einmal, dann gingen sie.

Die Eieruhr auf der Spüle in der Küche rasselte los. Mik stürzte in sein Zimmer, schmiss sich aufs Bett und presste sich Kissen auf die Ohren.

FREMDE LEUTE

Die Klasse stand vor dem Eingang des riesengroßen Museums. Frau Lind versuchte, die Schüler einzusammeln und sie ordentlich aufzustellen. Andreas und Stefan rannten herum und schubsten die Mädchen. Stefan verfärbte sich und wurde blau im Gesicht. Ploppy balancierte auf der Mauer.

»Hört auf!«, schrie Frau Lind. »Und du, komm von der Mauer runter!«

Mik stand da, den Kopf nach hinten gebeugt, und betrachtete die Fassade des Museums. Es war ein schönes Gebäude, sah aus wie ein Schloss, mit einer Kuppel mitten auf dem Dach und Türmen an den Giebeln. Ein Vogelschwarm ließ sich auf der Kuppel nieder. Waren das nun Dohlen oder Krähen? Letzten Sommer hatte er eine verletzte Dohle gepflegt, bis sie wieder gesund war und fliegen konnte. Als Haustier war sie nicht besonders geeignet, weil sie alles vollschiss.

Mik senkte den Blick. Die Klasse war verschwunden. Er öffnete die Tür und trat ein. Eine hohe, menschenleere Eingangshalle. Fernes Gelächter, Schreie und klappernde Absätze hallten schwach durch Treppen und Säle. Ein warmer, trockener Duft nach alten, leicht modrigen Dingen stieg ihm in die Nase. Direkt vor ihm standen zwei große vierbeinige Skelette. Riesige Schädel mit langen geschwungenen Stoßzähnen und leeren schwarzen Augenhöhlen. Elefantenskelette, das zeigten ihm die Stoßzähne. Links gab es einen gläsernen Schaukasten mit einem ausgestopften Tiger, der ein erlegtes Tier fraß. Der Tiger war staubig und verblasst. Nicht gelb-schwarz, sondern grau-schwarz. Auf einem goldenen kleinen Schild am Sockel des Schaukastens stand: Tiger mit Beute, 1927

Gläserne Schaukästen voller staubiger Tiere füllten den ganzen Saal. Ein aufgeplatztes Elefantenjunges hatte den Schwanz verloren. Erstaunte Gorillas glotzten durch die Glasscheiben. Affen kletterten in Bäumen herum. Im größten Schaukasten war eine ganze Savanne mit Straußenvögeln, zwei Zebras, Geiern und einer Giraffe zu sehen. Sämtliche Tiere waren unglaublich tot.

Mik merkte, dass er von einem Mann in blauem Hemd und schwarzen Hosen verfolgt wurde. Ein rätselhafter Mann, der genauso vertrocknet und verschrumpelt wirkte wie die staubigen Tiere. Mik wanderte von Saal zu Saal. Sah seltsame Fische, merkwürdige Vögel, einen Panda, ein Nilpferd, eine gigantische Landschildkröte und ein Krokodil, das sehr viel größer war als das der Tabaksfrau. Der Mann schlich hinterher und beobachtete ihn durch Glaskästen und über Schränke hinweg.

Es gab ein Kalb mit zwei Köpfen und einen ausgestorbenen Beutelwolf aus Tasmanien. Alle Tiere hatten kleine goldene Grabsteine, die mitteilten, wie sie hießen, woher sie kamen und wann sie gestorben waren.

Mik stieg eine Treppe hinauf. Hinter einer schweren Tür kam er auf eine Brücke hinaus, die sich hoch über einen großen Saal erstreckte. Die Luft war kalt und stickig. Verblüfft stand Mik inmitten von gigantischen Skeletten. Manche hingen an Drahtseilen von der Decke herab. Die größten lagen unten auf dem Boden. Lauter Wale: Bartenwal, Blauwal, Pottwal, Zahnwal. Rückenwirbel, groß wie Baumstümpfe, waren mit Eisenbeschlägen aneinander befestigt. Riesige Schädel und dann Rippen, die zum Schwanzende hin zusammengewachsen waren. Auf den größten Schädel hatte jemand mit schwarzer Tusche Ficken geschrieben.

Ein türloses Häuschen, ungefähr wie eine Telefonzelle, stand mitten auf der Brücke. Drinnen befanden sich ein Lautsprecher und ein Knopf, auf den Mik drückte. Walfischlaute ertönten. Lang gezogene, traurige Signale.

»Sie singen«, sagte jemand hinter Miks Rücken.

Es war der rätselhafte Mann. Vorne auf seinem Hemd steckte ein goldenes Schild, darauf stand: Aufseher. Die Walfischlaute endeten mit einem Kratzen im Lautsprecher.

Mik blieb schweigend in dem Häuschen stehen. Er sah den Aufseher an und erwartete, wegen irgendetwas gescholten zu werden. Weil er da war, weil jemand hässliche Ausdrücke auf das Skelett gemalt hatte. Oder weil er gewagt hatte, auf den Knopf zu drücken. Oder weil er überhaupt existierte.

»Die Wale stammen aus Gondwanaland«, sagte der Aufseher. »Ein vergessener Kontinent. Schwer zu glauben. Ihre Vorfahren lebten an Land. Aber das ist lange her. Sechzig Millionen Jahre.«

»An Land?«, sagte Mik.

»Ja, das sind keine Fische, falls du das geglaubt hast. Wale sind Säugetiere und haben die größten Lungen der Welt. Bevor sie ins Wasser stiegen und alle Landtiere hinter sich ließen, waren sie vierbeinige Tiere, eine Art Hunde.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wenn man den Penis des Wals anschaut, wird einem klar, dass der Wal einst ein Hund war.«

»Den Penis?«

»Ja.«

Der Aufseher streckte die Hand an Mik vorbei und drückte auf den Knopf für den Walgesang.

»Hör mal, sie singen einander vor. Sie singen in den Tiefen der Ozeane und halten damit die Herde zusammen. Sie können eine Stunde lang unter Wasser bleiben, ohne Luft zu holen. Aber ab und zu kommt es vor, dass sie ersticken.«

»Ertrinken sie dann?«

»Gewissermaßen, ja. Das passiert, wenn sie falsch schwimmen. Dann schwimmen sie an Land. Wale haben keine Brustknochen, darum ersticken sie an ihrem eigenen Gewicht, wenn sie gestrandet sind. Es kommt vor, dass ganze Herden gemeinsam ans Ufer schwimmen und sterben.«

»Warum denn?«

»Das weiß man nicht. Aber ich glaube, dann haben sie sich magnetisch verirrt.«

Der Walgesang ging zu Ende.

Mik drückte wieder auf den Knopf und sagte: »Vielleicht haben sie Heimweh und wollen wieder zurück aufs Land.«

Er drehte sich um, doch der Aufseher war verschwunden.

Die Klasse kam in den Walsaal hereingerast. Die Jungs tobten und schrien, dass es zwischen den Skeletten hallte. Stefan war blau im Gesicht. Åsa und die übrigen Mädchen hielten sich die Nasen zu und schnitten Gesichter, als müssten sie sich wegen des Geruchs übergeben. Frau Lind hatte eine schweißglänzende Stirn.

»Guck mal, da steht Ficken!«, schrie Andreas.

Ploppy und Stefan schubsten Mik aus dem Häuschen und drückten auf den Knopf, bis die Töne sich verhakten und die Wale nur noch heulten. Mik sah sich nach dem Aufseher um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

 

Frau Lind hatte die Klasse glücklich an Bord des Busses der Linie 509 nach Solna manövriert. Mik und Ploppy saßen nebeneinander. Der Bus fuhr los. Frau Lind stand im Mittelgang, hielt sich fest und versuchte, ihre Schüler unter Kontrolle zu halten.

»Du bist einfach verschwunden«, sagte Ploppy.

»Nein, bin ich gar nicht. Ihr seid verschwunden.«

»Wir haben einen Stein gesehen, der kam vom Mond. Ein kleiner Stein, den hat Amerika uns geschenkt. Die haben ihn mitgebracht, als sie auf dem Mond waren.«

»Den hab ich dann verpasst.«

»War bloß ein normaler Stein.«

»Hast du gewusst, dass die Wale mal Hunde waren?«

»Nein.« Ploppy machte ein dummes Gesicht. »Wale waren doch immer Wale.«

»Falsch. Vor sechzig Millionen Jahren waren sie Hunde.«

»Klar doch«, sagte Ploppy und bohrte sich in der Nase. »Und Godzilla wohnt in Brunnsviken.«

»Das sieht man am Penis«, sagte Mik.

An einer Haltestelle hielt der Bus besonders lang, weil ein Fahrgast, der zusteigen wollte, sich mit dem Busfahrer stritt.

»Wale können eine Stunde lang die Luft anhalten«, sagte Mik.

Aber Ploppy antwortete nicht. Er schaute nach vorn. Sara streckte den Zeigefinger aus und sagte: »Guckt mal, was für ein Idiot!«

Mik reckte sich und sah auch nach vorn. Ein stark betrunkener Mann stand schwankend in der Tür und schrie den Busfahrer an, der ruhig antwortete: »Sie dürfen nicht mitfahren. So ist das nun mal. Ich hab hier das Sagen. Entweder Sie steigen aus, oder ich rufe die Polizei.«

»Verdammter Dreckskerl. Scher dich doch zur Hölle mit deinem ganzen Scheißbus! Da steht man als anständiger Steuerzahler an der Haltestelle, und dann heißt es, man darf nicht mitfahren …«

Mik hatte aufgehört zu atmen. Er spürte einen Druck im Kopf. Sein Blut pulsierte, und seine Ohren glühten rot. Ein älterer Mann vor Mik wandte sich an die Dame, die neben ihm saß, und sagte: »Diese Trunkenbolde sind wirklich eine Plage. Und es werden immer mehr.«

Ein Typ in einer Lederjacke schrie: »Schmeiß ihn endlich raus, damit wir weiterfahren können!«

»Fahr endlich!«, riefen ein paar Mädchen von hinten.

Fluchend und zeternd stieg der Betrunkene schließlich aus. Die Türen schlossen sich, und der Bus fuhr weiter. Die ganze Klasse begann zu tuscheln und zwischen den Sitzen hin und her zu flüstern. Einzelne kicherten. Ein paar lachten laut.

»Was ist denn los mit euch?«, fragte Frau Lind und ließ den Blick von Schüler zu Schüler wandern.

Das Gelächter verstummte. Niemand antwortete, aber manche grinsten und rollten mit den Augen, dann wurde wieder geflüstert. Frau Lind schüttelte den Kopf und schaute fragend in die Runde.

»Was gibt’s da zu flüstern? Das war doch bloß ein Betrunkener.«

»Das war Miks Vater«, sagte Stefan.

 

Er hatte alles gehört, was gesagt und geflüstert wurde. Die Worte fuhren ihm wie Schreie durchs Gehirn, taumelten und prallten an die Schädelwand, sie weigerten sich anzuhalten, um sortiert zu werden. Es war, als hätte ihm jemand einen Quirl in den Kopf gerammt und gestartet. Sein Gehirn wurde zu rotem Matsch. Alles rotierte, bis er nur noch einen einzigen Heulton hörte. Und bis zur nächsten Haltestelle waren es tausend Jahre. Die Schlange rührte sich in seinen Eingeweiden. Der Bus hielt, die Türen gingen auf. Mik stürzte hinaus, und die Klasse presste die Nasen an die Scheiben.

 

Stundenlang wanderte er ziellos durch den Regen. Es hatte als Schnee angefangen, aber jetzt regnete es. Die Leuchtreklame der Läden spiegelte sich im nassen Asphalt, kalte blaue Farben, bösartige grüne und wütende rote.

Sollte er nach Hause?

Das wollte er nicht.

Sollte er …?

Wohin sollte er, wenn nicht nach Hause? Alle gehen doch nach Hause.

Er blieb beim Tabakladen stehen, rieb das schmutzige Fenster mit dem Handschuh und sah das Krokodil an. Im Tod hatte es ein echt beschissenes Leben. Hier herumzuliegen und sich in Sägespäne aufzulösen, während Busse und Autos vorbeidonnerten.

Warum lag es überhaupt im Fenster? Das hatte er neulich schon fragen wollen.

Mik trat in den Laden. Die Tabaksfrau saß hinter der Ladentheke auf einem Stuhl und rauchte eine Zigarette, die in einem langen, komischen Mundstück steckte. Sie blies Rauch an die Decke und sagte: »Fang nie mit dem Rauchen an. Das ist teuer und ungesund.«

»Warum liegt das Krokodil im Schaufenster?«

»Warum?« Sie sah ihn erstaunt an. »Warum? Das weiß ich nicht.«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein, muss ich das? Muss man alles wissen?«

Darauf fiel Mik keine Antwort ein. Sie gab ihm ein paar Tafeln Schokolade, dann ging er.

 

Mik wartete im Hauseingang auf Tony, der mit dem Bus von der Schule kommen sollte. Das Treppenhauslicht war ausgegangen. Er drückte nicht auf den roten Knopf, sondern blieb in der Dunkelheit stehen und sah durch die Glasscheibe der Haustür hinaus. Aß Schokolade und sah zur Haltestelle hinüber. Er fror in seinen nassen Kleidern, versuchte sich am Heizkörper zu wärmen und dachte: Wenn man ein Krokodil im Fenster hat, muss man wissen, warum.

Busse kamen, und Leute stiegen eilig aus, um nach Hause zu hasten. Mik holte sein Handy heraus und überlegte, wen er anrufen sollte. Den Rektor vielleicht. Ihm sagen: Ich komm nicht mehr in die Schule, hab’s aufgesteckt. Oder den Mann in der babyblauen Steppjacke. Ihn um Entschuldigung bitten. Sagen, dass es keine Absicht war. Aber stimmte das so? War es tatsächlich keine Absicht gewesen? Wenn man jemandem einen großen, scharfen Stein an den Kopf wirft, muss man wissen, warum. Wusste er das? Mik dachte eine Weile darüber nach, den Blick immer auf die Bushaltestelle gerichtet. Er spürte die Kälte zwischen den einzelnen Rückenwirbeln und presste den Rücken noch fester an den Heizkörper. Befingerte die Tasten des Handys, hielt es ans Ohr: »Hallo, Entschuldigung!«

Ein Polizeiwagen parkte am Gehweg. Zwei Polizisten saßen in dem Auto, sie machten das Innenlicht an und durchblätterten Papiere, dann schrieb der eine etwas in einen Block. Der 515 hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und ein Strom aus Menschen eilte vom Bus zum Bahnhof.

Tony kam schräg über die Straße. Mik wurde froh. Sein großer Bruder. Sie würden zusammen kochen, Videospiele spielen, boxen.

Die Polizisten stiegen aus dem Auto und hielten Tony an. Sie sprachen kurz mit ihm, dann führten sie ihn zum Auto, öffneten die hintere Tür, drückten ihn hinein und fuhren davon. Mik rannte hinaus und sah den Wagen verschwinden. Sah, wie die roten Rücklichter sich mit all den übrigen roten Rücklichtern im Berufsverkehr vermischten.

Warum hatten sie ihn mitgenommen? Das begriff er nicht. Er wurde von Leuten herumgeschubst, die im Regen nach Hause hetzten, und begriff gar nichts.

 

Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Er lag auf dem Küchenboden. Auf dem Tisch standen eine leere Schnapsflasche und mehrere Bierdosen. Aus einer Wunde an der Schläfe sickerte Blut. Er hatte sich den Kopf am Fensterbrett angeschlagen und die Blumentöpfe und den Vorhang mitgerissen. Mik holte ein Kissen und eine Decke. Deckte ihn zu, hob seinen Kopf und schob das Kissen darunter. Sein Vater öffnete die Augen. Ein schwarzer Blick. Als wäre nichts dahinter, nur Schwärze und Leere.

»Du«, sagte er. »Hörst du die Musik?«

»Nein.«

»Das ist der Herd. Hörst du, wie er spielt?«

»Papa, da ist keine Musik. Der Herd kann keine Musik spielen.«

Mik bekam Angst. Er sah den Herd an, konnte aber nichts hören. Sein Vater zitterte, fröstelte unter der Decke.

Tony musste kommen. Tony wusste, was zu tun war. Sie mussten …

Die Türglocke läutete. Das ist Tony. Das muss Tony sein. Er hat die Schlüssel vergessen. Es muss … er hat … Mik stürzte zur Tür und riss sie auf, und draußen standen die fremden Leute. Die Frau mit den Papageiohrringen und der Mann mit dem Goldzahn.

»Hallo, bist du Mik?«

Er versuchte, die Tür zuzuziehen, doch der Goldzahn hielt den Türgriff fest.

»Wir kommen vom Sozialamt. Ich heiße Linda, und das hier ist Kent«, sagte die Frau mit den Papageiohrringen.

Mik sah sie an. Was wollten die?

»Ist dein Vater da?«

»Nein«, sagte Mik. »Er macht Überstunden.«

»Aber er ist doch arbeitslos.«

»Nein, er fährt einen Gabelstapler.«

Aus der Küche drang Geklapper. Ein Stuhl fiel um.

»Ich will keine Musik hören. Mach die Musik aus. Bitte, hilf mir! Mach sie aus …«

Die Papageienfrau trat in den Flur.

»Ist das dein Vater, der …«

»Er ist erkältet«, sagte Mik.

Die fremden Leute gingen in die Küche. Sein Vater kroch ein Stück weit über den Boden und sank dann zusammen.

»Noch erkälteter kann man kaum werden«, sagte der Goldzahn und ging neben Miks Vater in die Hocke.

Dann redeten sie abwechselnd auf Mik ein.

»Wir sind hier, um dir zu helfen.«

»Dein Vater erhält auch Hilfe, er ist sehr krank.«

Sie riefen einen Krankenwagen.

»Wir können dich schon jetzt in einem Heim unterbringen. Willst du das?«

»Nein«, sagte Mik. »Ich wohne hier.«

»Kannst du heute Nacht hier schlafen?«

»Ich hab schon immer hier geschlafen.«

Der Mann und die Frau sahen sich an.

»Aber du darfst gern mitkommen. Hier wird’s sonst … vielleicht ein bisschen einsam.«

»Nein, mein großer Bruder kommt bald, er ist fast siebzehn und …«

Der Krankenwagen war schnell zur Stelle. Zwei grün gekleidete Männer mit einer orangenen Trage. Sie hievten Miks Vater hinauf, brachten ihn in eine halb sitzende Stellung und deckten ihn mit einer gelben Decke zu, auf der Eigentum der Städt. Kliniken stand.

»Kommst du heute Abend auch ganz bestimmt klar?«

»Ja, Tony kommt bald.«

»Wo ist er denn jetzt?«

»Er … ist bestimmt beim Fußballtraining.«

Die Papageienfrau wollte Mik dann doch lieber gleich mitnehmen, aber er weigerte sich und schloss sich in seinem Zimmer ein. Sie schoben einen Zettel unter der Tür durch, mit einer Telefonnummer, die er anrufen konnte, wenn etwas sein sollte. Mik horchte an der Tür.

»Kommst du heute Abend wirklich zurecht? Hast du was zu essen im Haus?«

»Ich hab schon gegessen, und Tony ist bald da.«

»Deine Familie bekommt Hilfe. Alles wird gut. Das hier werden wir schnell geregelt haben.«

Sie gingen.

 

In der Wohnung wurde es still und leer. Mik machte alle Lichter an. Sogar die im Klo und im großen Wandschrank. Aber die Schlange war aufgewacht. Mik schaltete sowohl das Radio als auch den Fernseher ein.

Tony würde sich aufregen.

Er sollte keine fremden Leute in die Wohnung lassen. Aber genau das hatte er getan, und jetzt hatten sie Papa ins Krankenhaus gebracht. Er holte ein großes Kissen, legte sich vor den Fernseher und überlegte, ob das gut war oder schlecht. Jedenfalls war irgendwas Großes passiert, aber was, das wusste er nicht. Wen hatte er da reingelassen? Und was würde jetzt passieren?

Er wollte keinen von Tonys Horrorfilmen anschauen. Stattdessen legte er ein altes Video in den Recorder. Die Brüder Löwenherz, ein Film, den er bestimmt schon hundertmal angeguckt hatte. Die Geschichte kannte er auswendig. Das Video war abgenützt, das Bild verschwommen, mit flimmernden Rändern. Tengils Männer standen mit Schwertern und Speeren oben auf der Mauer. Schwarze Helme und flatternde Umhänge. Krümel und Jonathan. Mik schlief vor dem Fernseher ein.

 

»Mik. Wach auf!«

Tony schüttelte ihn.

»Mik, wo ist der Alte?«

»Ich hab sie reingelassen.«

»Wen?«

»Sie haben Papa mitgenommen.«

»Papa mitgenommen?«

»Mit dem Krankenwagen.«

Mik holte den Zettel, den er bekommen hatte, und reichte ihn Tony.

»Sozialamt Solna«, las Tony.

»Wir kriegen Hilfe.«