41
Am meisten fürchtete Christopher, er könnte im Schnee einschlafen und der Kälte erliegen. Er war bereits von der Reise nach Dorje-la erschöpft gewesen. Nun forderten die Erlebnisse der letzten Nacht ihren Tribut. Es war bitterkalt, und sein einziger Schutz war die Kleidung, die er trug. Mehrmals ertappte er sich bei einer Rast, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Er wusste, dass Samjatin und die anderen auch müde waren, aber nicht so sehr wie er selbst. Und sie hatten zwei Zelte, etwas Brennmaterial und Proviant. Seine einzige Hoffnung waren die Spuren, die ihm sagten, welche Richtung sie eingeschlagen hatten. Er wollte ihnen folgen, solange seine Kräfte reichten.
In der ersten Nacht fand er eine kleine Ausbuchtung in einer Felswand – nicht gerade eine Höhle, aber groß genug, um ihn ein wenig vor den beißenden Winden zu schützen. Seit dem Abend des vergangenen Tages hatte er nichts mehr gegessen.
Den ganzen nächsten Tag trottete er vor sich hin. Dabei geriet er tiefer und tiefer in die Bergwelt. An Umkehren war nicht zu denken. In beiden Richtungen gab es jetzt nur noch Schnee und Eis. Die Spuren zu seinen Füßen waren das Einzige, was in dieser Welt noch für ihn zählte. Alles andere schien ausgelöscht.
Träume plagten ihn. Sein erschöpftes Hirn malte seltsame Bilder auf den weißen Schnee. Einmal sah er eine Reihe verfallener Pyramiden, die von ihm fort bis zum dunklen Horizont liefen. Auf beiden Seiten flankierten sie Sphinxfiguren, in schwarze Seide gehüllt und mit Lorbeerkränzen gekrönt. Sein Schlafbedürfnis war überwältigend. Er wollte sich nur noch niederlegen und seinen Träumen hingeben. Jeder Schritt bedeutete Kampf, jeder Augenblick, den er wach blieb, war ein kleiner Sieg.
Am zweiten Abend hielt er sich munter, indem er die Pistole gegen sich selbst richtete und seinen Daumen an den Abzug legte. Wenn er zu weit nach vorn fiel, würde sie losgehen. Er sang laut in die Dunkelheit hinaus und übte Kopfrechnen.
Am dritten Morgen fand er in einem Felsen einen weiteren Unterschlupf, diesmal wesentlich geräumiger als der erste. Er kroch hinein und fiel sofort in tiefen Schlaf. Als er erwachte, war es heller Tag. Er fühlte sich immer noch schlapp, musste aber etwa vierundzwanzig Stunden geschlafen haben, so steif waren seine Glieder und so groß sein Hunger.
Er verließ die Höhle und fand sich in einer völlig veränderten Welt wieder. Offenbar hatte es, während er schlief, einen Schneesturm gegeben. Der hatte die Spuren verweht, denen er bisher gefolgt war. Beinahe hätte er aufgegeben. Für den schnellen Tod genügte eine kleine Kugel. Aber er entschied sich fürs Weitergehen und einen Weg in der allgemeinen Richtung, die Samjatin eingeschlagen haben musste – nach Norden.
Fünf Stunden später stieß er bei einem kleinen Bergsattel am Rande eines Gletschers auf Chindamani. Als Christopher sie fand, saß sie neben einem kleinen Zelt und betete leise immer wieder dieselbe Mantra. Sie erinnerte ihn an seinen Vater, der den Lobgesang des Simeon gebetet hatte.
Um sie nicht zu erschrecken, ließ er sich geräuschlos neben ihr nieder. Zunächst setzte sie ihr Gebet fort, in die Mantra vertieft und allem Irdischen entrückt. Dann wurde sie seiner gewahr und verstummte.
»Fahr nur fort«, sagte er. »Ich wollte dich nicht stören.«
Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn wortlos an. Bisher hatte er sie stets nur beim trüben Licht der Butterlampen oder als Silhouette im Mondschein gesehen. Jetzt, im harten Licht des Tages, wirkte sie bleich, abgespannt und ohne jede Wärme.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Schon lange.« Sie verstummte.
»Bist du gekommen, um mich zurückzuholen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Weg verloren«, sagte er. »Es hat einen Schneesturm gegeben. Der hat alle Spuren verwischt. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich dich nicht zurückbringen.«
Sie blickte ihn mit traurigen Augen an.
»Du bist erschöpft, Ka-ris To-feh. Warum bist du so müde?«
»Ich habe in den letzten drei, vier Tagen nichts gegessen und wenig geschlafen. Was ist passiert? Wie hat Samjatin euch gefunden?«
Sie sagte es ihm. Irgendwer hatte dem Russen von der Yama-Treppe erzählt, und er war durch einen anderen Geheimgang zum Pass hinausgegangen. Christopher war kaum eine halbe Stunde fort, da entdeckte Samjatin Chindamani und die Jungen. Er fesselte alle drei mit einem langen Seil und zwang sie, mit ihm fortzugehen.
»Welche Richtung hat er genommen?«
»Nach Norden. In die Mongolei. Er hat mich hier zurückgelassen, weil, wie er sagte, ich ihn nur aufhalten würde. Er hat mir ein Zelt und Proviant für eine Woche zurückgelassen.«
»Und den Jungen ist nichts geschehen?«
»Nein. Sie sind ein bisschen erschöpft und verängstigt, aber er hat ihnen nichts getan.«
Was ist mit …?, wollte er fragen.
Sie hob die Hand und strich ihm zärtlich über die Wange. »Keine Fragen mehr«, sagte sie. »Ich habe etwas zu essen im Zelt. Das ist jetzt wichtiger.«
Sie brachen noch am selben Nachmittag bei leichtem Schneefall auf, zwei weiße Schatten in einer weißen Landschaft, die sich langsam nordwärts bewegten. In dieser Nacht schlugen sie ihr Zelt im Schutz einer hohen Felswand auf, wo die scharfen Winde sie nicht erreichen konnten. Zum ersten Mal, seit er Dorje-la verlassen hatte, spürte Christopher, dass sein Körper sich wieder etwas erwärmte.
Der nächste Tag war wie der vorhergehende, und der übernächste ebenfalls. An einem Tag einige wenige Kilometer zurückzulegen, verlangte ihnen übermenschliche Anstrengungen ab. Christopher wollte über die unvorstellbare Länge eines Fußmarsches bis in die Mongolei gar nicht nachdenken. Vorerst waren sie Gefangene der Berge. Nach allem, was sie wussten, waren sie nicht auf dem richtigen Weg. Zwar versuchten sie das zu korrigieren, aber ihr Proviant reichte nur noch für wenige Tage. Wenn sie nicht bald einen Pass fanden, über den sie diese Bergwelt verlassen konnten, dann waren sie hier für immer gefangen. Christopher sagte Chindamani nichts von der Pistole. Sollte er sie als letzten Ausweg benutzen müssen, dann wollte er es tun, wenn sie im Schlaf lag.
In der dritten Nacht schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Bis dahin hatte sie sich von ihm ferngehalten und sich stets auf der anderen Seite des kleinen Zeltes niedergelegt. Sie träumte ihre Träume und wachte einsam wieder auf. Aber in dieser Nacht kam sie von selbst zu ihm, nicht nur auf sein Lager, sondern auch in seine Welt. Dabei ließ sie ihre eigene Existenz nicht ganz hinter sich, aber von diesem Augenblick an verblasste sie zusehends und verlor an Bedeutung.
Sie kam zu ihm, während er schlief, schweigend und unbemerkt, als sei sie Teil eines Traumes. Er wachte zuerst gar nicht auf. Ein einsamer Wind raste durch die Schlucht, in der sie kampierten, aber in dem kleinen Zelt aus Yakhaar war es warm. Sie lüftete ein wenig die schwere Decke, die auf ihm lag. Auf dem harten Untergrund zitterte ihr Körper, der wacher war als je zuvor. Behutsam wie ein Kind, das zu seinem Vater ins Bett schlüpft, ihn aber nicht wecken will, schmiegte sie sich an seinen Rücken, unsicher und angespannt.
Er erwachte aus einem Traum, in dem er ein Gemetzel erlebt hatte. Noch erfüllt von den düsteren Bildern, löste er sich nur langsam aus dem Schlaf. Vermummte Gestalten liefen durch enge, verlassene Straßen davon. Geier schwebten auf Engelsflügeln hernieder und reckten schon die scharfen Schnäbel, um sie in sein Fleisch zu schlagen.
In der Dunkelheit spürte er ihre Nähe. Als der Schlaf von ihm wich, hörte er sie atmen und fühlte ihren warmen Hauch in seinem Nacken. Bis auf den schweren Mantel und die Schuhe hatte er sich in allen Kleidern niedergelegt. Durch die dicke Hülle spürte er kaum, wie sie sich an ihn schmiegte.
Lange lag er so in der Dunkelheit, lauschte dem Wind, der um das kleine Zelt tanzte, und auf ihren Atem, der seinen Nacken berührte. Als träume er noch, drehte er sich wortlos um und sah in ihr Gesicht.
Mit einem Arm zog er sie zu sich heran, bis sie ihm ganz nahe war. Er streichelte sie sanft und traurig. Gegen seine erste ungeschickte Umarmung wehrte sie sich noch ein wenig, dann aber ließ sie es geschehen.
Keiner sprach ein Wort. Als sie näher an ihn heranrückte, spürte sie, wie Finsternis und Einsamkeit in ihr wieder wuchsen. Die körperliche Nähe zu ihm schien die Distanz zu verstärken, die immer noch in ihrem Kopf hockte.
Seine Stimme legte sich über sie wie eine verlangende Hand.
»Warum bist du gekommen?«, fragte er.
»Ist das wichtig?«
Er streichelte ihren Rücken.
»Hast du Angst?«, fragte er.
Sie sagte nichts, legte ihre Hand hinter seinen Kopf und zog sich näher an ihn heran. Sehr leise antwortete sie: »Ja.«
»Vor mir?«
»Nicht vor dir«, antwortete sie. »Vor der Lust auf dich. Vor dem Wunsch, mit dir so zu liegen wie jetzt. Mit dir Fleisch zu werden.«
»Fleisch zu werden?«
Sie hatte nicht »ein Fleisch«, sondern nur »Fleisch« gesagt.
»Mein Leben lang war ich ein Gefäß für den Geist. Ich glaubte, mein Körper sei ein Spiegel, und das Bild sei wichtig, nicht das Glas.« Sie hielt inne. »Ich möchte keine Rolle mehr spielen. Ich bin, was ich bin. Selbst wenn das Glas bricht, will ich mehr sein als nur ein Spiegel.«
Er küsste sie zärtlich auf die Stirn und ließ seine Lippen über ihr Gesicht gleiten. Es waren kleine Küsse, leicht wie fallende Schneeflocken. Sie erschauerte und drückte sich an ihn.
Jetzt strich er mit längeren, stärkeren Bewegungen über ihren Rücken. Sie trug ihre Tageskleidung aus dem Kloster – eine Hose, darüber eine Tunika aus Seide. Seine Hand fuhr über ihr schön geformtes Gesäß, und er spürte das Verlangen in sich aufsteigen. Das Verlangen ist gierig. Es wird dich verschlingen, hatte sein Vater gesagt. Aber wenn er schon verschlungen war? Von der Einsamkeit? Von der Unfähigkeit zu lieben?
Mit bebenden Händen entkleidete er sie. Ihr Körper fühlte sich jung und geschmeidig an, glatt wie Seide. Draußen hatte sich der Wind gelegt, und der Schnee fiel ungehindert herab. Er tauchte alles, was er berührte, in ein mildes Weiß. Christopher beugte sich über sie und küsste sie noch einmal auf die Stirn und auf beide Augen. Sie erschauerte und stöhnte leise. Seine Lippen brannten auf ihrer Haut. Sie glaubte, dass tief in ihr auch die Göttin erbebte.
»Ich liebe dich«, sagte sie. Es war das zweite Mal, dass sie diese Worte aussprach, aber sie schienen ihr immer noch fremd, ein Satz aus einer Liturgie, von der sie gehört, der sie aber noch nie beigewohnt hatte.
Sie fühlte, wie ihr Verlangen nach ihm wuchs und sie überflutete wie Licht einen dunklen Raum. Seine Hände wanderten über ihren Körper, langsam und ruhig wie Flügel von Tauben, die durch die Luft gleiten. Sein Mund fand den ihren in der Dunkelheit wortlos und ohne ein Geräusch. Sie öffnete ihre Lippen für die seinen, ihr Atem mischte sich mit seinem, ihr Herz schlug an seinem. Sie berührte mit der Hand seine Wange. Er fühlte sich fremd für sie an. Blind irrten ihre Finger im dicken Gestrüpp seines Bartes umher.
Aber in beiden wuchs die Begierde und überflutete alles andere. Die Welt schrumpfte auf einen winzigen Punkt zusammen und verschwand schließlich ganz. Nur ihre Körper blieben, schwebend im Raum, einem eigenen Universum, in das weder Licht noch Klang, weder Gut noch Böse vordrangen.
Sie half ihm beim Ausziehen mit Fingern, die die Leidenschaft ungelenk machte. Warum hatte ihr nie jemand gesagt, dass der Körper eines Mannes schöner war als der eines Gottes, das peinliche Begehren befriedigender als das vollkommenste Ritual, ein Augenblick der Erfüllung mehr wert als lebenslange Jungfräulichkeit? Selbst die Götter vereinigten sich mit ihren himmlischen Gefährtinnen.
Seine Hände berührten sie jetzt mit der Leichtigkeit der Liebe, die an ihr Ziel gelangt war. Aus seiner Vergangenheit stiegen Erinnerungen auf, die seine Finger sicher über die unbekannten Regionen ihres Leibes führten. Er spürte, wie unsicher und zögernd sie gegenüber diesem merkwürdigen Neuen war. Sie besaß keine Erinnerungen, die sie führen konnten, nur den Instinkt und die Bilder ihrer leidenschaftlichen Gottheiten.
Als er in sie eindrang und sie sich diesem Tanz ganz hingaben, entdeckten sie eine wilde Harmonie, einen gemeinsamen Rhythmus, der ihre Körper und ihre Herzen ganz in Besitz nahm. Sie glitt unter ihn, leicht und weich ohne Schuld oder Scham in langsamen erotischen Bewegungen, wie keine Kunst und kein Kunstwerk sie darzustellen vermochten. Und auch er fand perfekt zu ihr, passte sich ihr an, suchte und fand sie in der Finsternis mit traumwandlerischer Sicherheit. Die Erinnerungen fielen von ihm ab, und es galt nur noch dieser Augenblick, nur noch Liebe für sie, die über die Vergangenheit hinausging, sie vertrieb und in ihrem Bild wiederherstellte.
Am Ende war Schweigen. Und die Dunkelheit, die ewig zu bestehen schien. Sie lagen beieinander, sich nur mit den Fingern berührend. Keiner sagte ein Wort.
Am Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Sie waren die einzigen Lebewesen in dieser weißen Unermesslichkeit, die kein Ende zu haben schien.
42
An diesem Mittag fanden sie einen Pass, der sie ins Tsangpo-Tal führte. Jenseits des Passes stießen sie auf eine Hütte, in der zwei Jäger hausten. Die Männer gaben sich anfangs ziemlich abweisend, aber als Chindamani ihnen sagte, wer sie war, hellten sich ihre Gesichter auf. Essen und Trinken erschienen wie aus dem Nichts. Christopher stellte fest, wie wenig er von ihr wusste. Hier war sie eine Art Königin, eine Heilige, der andere ohne Frage und ohne Zögern gehorchten. Solange sie in dieser Hütte waren, hielt er respektvollen Abstand zu ihr.
Die Jäger erklärten ihnen den Weg nach Gharoling, dem Kloster, wohin Tobchen Geshe mit Samdup hatte fliehen wollen. Dort kamen sie zwei Tage später an. Das Kloster stand nördlich der Bergkette, die sie überwunden hatten, im abgelegenen Tal eines Nebenflusses des Yarlong Tsangpo, des nördlichen Zuflusses des Brahmaputra. Shigatse, die Hauptstadt der Provinz Dsang, lag nur einige Tagesreisen in nordöstlicher Richtung.
Im Tal war bereits der Vorfrühling eingezogen. Gras spross an den Flussufern, gesprenkelt von blauen Blümchen, deren Namen beide nicht kannten. Es gab Bäume, auf denen Vögel sangen und an deren Ästen sich bereits grüne Knospen zeigten. Ein kleines Dorf schmiegte sich an die Berglehne unterhalb des Klosters, das auf einer Anhöhe am Eingang des Tales stand. Überall flatterten weiße Gebetsfahnen.
Sie standen vor dem Tal in ihren abgerissenen Reisekleidern, erschöpft und hungrig, und blickten auf das Bild vor sich wie verdammte Seelen auf das Paradies. Chindamanis Augen wurden vor Staunen immer größer. Sie hatte noch nie eine Welt gesehen, die nicht in den Fesseln des Winters gefangen war. Andere Jahreszeiten kannte sie nicht. Ungläubig berührte sie das grüne Gras, sog die warme Luft ein und sah den Vögeln zu, die Zweige für den Nestbau sammelten.
Christopher pflückte eine Blume und steckte sie ihr ins Haar.
»Die werde ich immer bei mir tragen, Ka-ris To-feh«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Sie wird bald verwelken. Aber wenn du sie in Wasser stellst, hält sie ein paar Tage länger. Danach stirbt sie trotzdem.«
Für einen Moment war sie enttäuscht, dann lächelte sie schon wieder.
»Vielleicht ist sie deshalb so schön«, sagte sie.
Er schaute sie an mit der Blume im Haar.
»Ja«, sagte er. Und dachte bei sich, wie schön sie war. Und dass auch sie einmal sterben würde.
Am ersten Tag nach ihrer Ankunft saß sie lange allein mit dem Abt, Chyongla Rinpoche, zusammen. Als sie an diesem Abend wieder zu Christopher kam, war sie sehr ernst. Ihm gelang es nicht, ihr auch nur ein kleines Lächeln zu entlocken. Sie sagte ihm nicht, worüber sie mit dem Abt gesprochen hatte.
Sie wohnten in getrennten Räumen. In dieser Nacht kam sie nicht zu ihm. Er wartete fast bis zum Morgengrauen, fand sich aber schließlich mit der Situation ab und schlief unruhig bis in den Vormittag hinein.
Eine Woche lang erholten sie sich und sammelten Kräfte für den Weg, der noch vor ihnen lag. Jeden Tag wanderten sie miteinander durch das grüne Tal oder saßen am Flussufer. Dorje-la schien Welten entfernt, ein Ort des Schreckens, unvorstellbar in dieser Umgebung. Sie waren Liebende in einer für die Liebe gemachten Welt. Alles andere erschien ihnen jetzt wie ein Alptraum oder eine Sinnestäuschung. Aber wenn Chindamani von den Gesprächen mit dem Abt zurückkehrte, waren ihre Augen von einer Trauer verdunkelt, die weder die Sonne noch seine Koseworte zerstreuen konnten.
»Liebst du mich wirklich, Ka-ris To-feh?«, fragte sie.
»Ja, kleine Drölma«, sagte er.
»Ich habe dich doch gebeten, mich nicht so zu nennen.« Ein Schatten fiel über ihr Gesicht.
»Warum nicht?«
»Darum.«
»Lebt sie immer noch in dir?«, fragte er.
Eine Wolke warf Schatten auf das Wasser.
»Ja«, sagte sie. »Was auch geschieht, sie wird immer in mir leben.«
»Gut, gut. Ich verspreche, dich nie wieder Drölma zu nennen, wenn du mich so nennst wie meine Freunde.«
»Wie denn?«
»Chris«, sagte er.
»Ka-ris.« Sie musste lachen. »Gut. Von jetzt an nenne ich dich nur noch Ka-ris.«
Er lächelte ihr zu.
»Und du?«, fragte er. »Liebst du mich auch wirklich?«
Sie beugte sich zu ihm hin und küsste ihn. Am Himmel kreiste ein Lämmergeier.
Sie sprachen über sein Leben: Indien, England, den Krieg. Alles war neu für sie, alles unvorstellbar. Wenn er ihr von Städten erzählte, sah sie gigantische Klöster, in denen es von Menschen wimmelte. Wenn er von den Schiffen sprach, die über das Meer von Indien bis in seine Heimat fuhren, dann dachte sie an eine endlose Ebene mit wogenden Schneewehen. Der Fluss, an dem sie sich ergingen, war das erste fließende Wasser, das sie sah. Der Ozean überstieg ihre Vorstellungsgabe. Wenn er ihr von Panzern und Flugzeugen erzählte, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf und schloss die Augen.
Einmal flatterte ein erster Schmetterling vorüber. Er hatte bunte Flügel und würde bei Nacht sterben. Er sah ihm nach, und Puccinis Oper Madame Butterfly fiel ihm ein, die Geschichte von der Frau, die Jahr um Jahr auf die Rückkehr Pinkertons wartete, ein Märchen von östlicher Treue und westlichem Verrat.
»Meine Butterfly«, murmelte er und strich ihr nachdenklich über die Wange.
Sie lächelte, schaute ihn an und dachte an die bunten Flügel, die gerade vorbeigeflattert waren. Er hatte die Bühne und eine Frau im Kimono vor sich, die vor Liebe starb, während sie auf eine Rauchfahne am fernen Horizont wartete.
In einer Höhle oberhalb des Klosters lebte ein alter Eremit, ein Gomchen, den man dort vor vierzig Jahren als Zwanzigjährigen eingemauert hatte. Die Höhle hatte weder Tür noch Fenster, aber drinnen entsprang eine Quelle und floss durch eine kleine Öffnung in der Wand zum Fluss hinab. Jeden Morgen schoben die Dorfbewohner etwas zu essen durch die Öffnung, und jeden Abend holten sie die leere Schüssel wieder ab. Sonst kam nichts in die Höhle – kein Licht, kein Ton, kein Duft. Sollte er sechs Tage lang das Essen nicht anrühren, dann würden sie die Mauer aufbrechen und den Leichnam des alten Mannes zur Bestattung holen.
Sie stiegen den Berg hinauf, um die Höhle zu besuchen.
»Worüber denkt er nach da drinnen?«, fragte Christopher.
»Wenn ich es wüsste, würde ich wie er eingemauert werden.«
»Du weißt es nicht? Verrät die Göttin Tara es dir nicht?«
Befremdet schüttelte sie den Kopf.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Sie teilt mir nichts mit. Ich bin nur ihr Gefäß. Und doch ist es etwas anders. Ich habe mir nicht ausgesucht, ein Trulku zu sein. Der Eremit hat sich auf eigenen Entschluss in die Höhle zurückgezogen. Er wird der Wiedergeburt durch eigene Anstrengungen entgehen. Die Göttin Tara wird dagegen immer wieder geboren, in mir und in anderen, die nach mir kommen.«
»Auch wir haben Heilige«, sagte er. »Aber sie lassen sich nicht auf diese Weise einmauern. Sie beten viel, aber nicht ständig. Sie fasten, aber nicht bis zum Exzess.«
»Dann können sie nicht sehr heilig sein«, bemerkte sie. »Vielleicht haben sie das Glück, als Gomchen wiedergeboren zu werden.«
»Ich stelle es mir schrecklich vor, so eingemauert zu sein. Ohne Licht, ohne Gesellschaft, ohne frische Luft, und das Jahr um Jahr. Das ist ja schlimmer als Gefängnis. Dabei kann ein Mensch den Verstand verlieren.«
»Diese Welt ist ein Gefängnis«, sagte sie. »Er will ihr entfliehen. Licht, frische Luft und das Gespräch sind nichts als Gitter und Wände. Wir sind dazu verdammt, darin wiedergeboren zu werden. In seiner Höhle ist er schon frei.«
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.
»Glaubst du wirklich an das alles?«, fragte er. »Glaubst du daran, wenn wir uns lieben, wenn ich bei dir liege? Glaubst du es jetzt, da wir beide hier im Sonnenschein sitzen?«
Sie wandte ihren Blick von ihm ab zu der Höhle, zu dem Rinnsal, das daraus hervorfloss, zu den Bergen.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, antwortete sie. Aus der Höhle kam kein Laut, nicht einmal die Stimme des alten Eremiten, der Gebete sprach.
Vor ihnen erstreckte sich das Tal bis zum Horizont. Rauch stieg aus den Schornsteinen der Hütten des Dorfes auf. Auf einem Feld weideten Yaks. Zu ihren Füßen glänzten die vergoldeten Dächer des Klosters.
»Ich erinnere mich an Bilder an den Wänden im Raum des Chöje«, sagte sie. Dann schwieg sie lange.
»Sprich weiter«, sagte er.
»Sie waren bunt und farbenprächtig. Ich glaubte, sie zeigten Szenen aus der nächsten Welt, der Hölle. Auf einem war ein Mann zusammen mit mehreren Mönchen zu sehen. Er war an Armen und Beinen gefesselt, und sie hoben ihn hoch.«
Sie verstummte wieder. Jenseits des Tals ragten nackte Bergspitzen in den eisigen Himmel. Sie erschauerte.
»Und weiter?«
»Da war ein Loch. Sie hatten ihn hochgehoben, um ihn in das Loch hinunterzulassen.«
»Ich verstehe.«
»Auf dem nächsten Bild stand er unten in einem dunklen Raum. Ich glaube …« Sie schauderte. »Ich glaube, er hatte sich in einem Spinnennetz verfangen.«
»Gab es dort noch mehr Bilder?«
Sie nickte.
»Noch eins«, sagte sie. »Darauf lag der Mann am Boden. Vielleicht war es gar kein Mann, sondern ein Junge. Er wirkte sehr klein. Und Dämonen mit mehreren Armen fielen über ihn her. Ich sagte schon, ich habe geglaubt, das sei die Hölle.«
»Ja«, sagte er. »Es war die Hölle.«
Dabei fielen ihm – er wusste selbst nicht, warum – die Fotos ein, die er in Cormacs Schreibtisch gefunden hatte. »Simon, Dorje-la?, 1916«, »Matthew, Dorje-la?, 1918«, »Gordon, Dorje-la?, 1919«, hatte darauf gestanden.
»Ich denke«, fuhr sie fort, »sie müssen die Opfer einige Tage vor dem Zeitpunkt hinuntergelassen haben, wenn sie in die erste Kammer hinabsteigen wollten, um die Gerätschaften des Chöje zu holen. Der Schatz wurde von diesen Kreaturen bewacht, aber wenn sie ihn brauchten, dann waren sie alle fort und fraßen sich am anderen Ende des Ganges satt.«
Bei der Vorstellung schauderte er. Wusste sein Vater, was da vorging? Hatte Carpenter gewusst, wozu die Jungen gebraucht wurden?
»Wann ist das Orakel das letzte Mal aufgetreten?«, fragte er.
Sie dachte kurz nach.
»Etwa … eine Woche bevor du in Dorje-la angekommen bist«, antwortete sie. Nun sagte er gar nichts mehr. Es passte genau. Der frische Leichnam. Und keine Spur von Spinnen in der Schatzkammer.
»Ich denke, wir sollten jetzt zum Fluss hinuntergehen«, schlug er vor.
Am vierten Tag ihres Aufenthaltes ließ der Abt Christopher zu sich rufen. Chindamani geleitete ihn zu ihm und ging dann wieder. Der Abt war alt und sehr ernst, aber Christopher spürte, dass zumindest einige der Furchen um seine Augen Lachfältchen sein mussten. Zu anderer Zeit und unter anderen Umständen hätte er vielleicht weniger streng dreingeschaut.
»Sie sind der Sohn des Dorje Lama?«, fragte der Abt, nachdem der Tee serviert war.
»Ich bin der Sohn eines Mannes, der früher Arthur Wylam hieß«, antwortete Christopher. »In meiner Welt ist er gestorben. In Ihrer wurde er der Abt eines Klosters. Das alles verstehe ich nicht. Ich kann es mir nicht erklären. Ich versuche es auch nicht mehr.«
»Das ist vernünftig von Ihnen. Es gibt keine Erklärung, die Sie verstehen könnten. Sie sagen, Sie haben geglaubt, Ihr Vater sei gestorben. Vielleicht sollten Sie das auch weiter glauben.«
Der Abt hielt einen Augenblick inne und sah Christopher dann voll an.
»Erzählen Sie mir von Sam-ja-ting, dem Burjaten.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Die Wahrheit. Wie Sie sie sehen. Wer er ist. Was er mit Dorje Samdup und Ihrem Sohn vorhat.«
Christopher sagte ihm, wie er die Dinge sah. Wenn sich bei ihm persönliche Empfindungen zu sehr mit den Tatsachen vermischten, dann blickte ihn Chyongla Rinpoche in einer Weise an, die ihn sofort wieder ernüchterte. Das war ihm zunächst nicht bewusst. Aber nach dem Gespräch fiel es ihm wieder ein.
Als er fertig war, nickte der Abt und goss Christopher frischen Tee nach. Erst jetzt bemerkte der, dass sie aus Tuotai-Tassen tranken wie vor kurzem in Dorje-la.
»Und die Frau, Jebtsumna Chindamani«, fuhr der Abt fort. »Lieben Sie sie?«
»Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Ja. Und dass sie Sie liebt. Ist das wahr?«
Christopher spürte, dass er sich jetzt auf sehr dünnem Eis bewegte. Es knackte bereits unter seinen Füßen. Er war sich bewusst, dass er gegen ein grundlegendes Gesetz dieser von Ritualen besessenen Gesellschaft verstoßen hatte. Was passierte Sterblichen, die sich mit einer Gottheit paarten?
»Haben Sie mit ihr geschlafen?«
Christopher nickte wie unter Zwang. Er hoffte, dass der Tod, zu dem sie ihn verurteilten, schnell kommen werde.
»Sie müssen das nicht vor mir verbergen. Sie selbst hat es mir gesagt. Ich bin froh darüber.«
»Froh?« Christopher glaubte, sich verhört zu haben.
»Natürlich. Haben Sie gedacht, ich würde Ihnen zürnen? Wir legen großen Wert auf Enthaltsamkeit – schließlich sind wir hier in einem Kloster. Alle buddhistischen Mönche und Nonnen leben im Zölibat. Aber Jebtsumna Chindamani ist keine Nonne. Sie ist nicht durch einen Schwur an die Sangha gebunden. Es ist nur der Brauch, dass die Tara-Trulku in Dorje-la unverheiratet bleibt.«
»Aber ich bin kein …«
»… Gott? Das ist sie auch nicht. Nicht direkt. Ich nehme an, sie hat bereits versucht, Ihnen das zu erklären, aber vergeblich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihre Wahl eines Peelings als Geliebten billigen soll. Das mag unklug gewesen sein. Aber die Göttin Tara lebt in ihr. Und Sie sind der Sohn des Dorje Lama. Ich kann sie nicht kritisieren. Wenn sie Sie erwählt hat, dann hat es die Göttin Tara getan.«
Christopher fragte sich, ob er bei all dem überhaupt eine Rolle spielte. Er kam sich vor wie eine Marionette. Und er wusste genau, wessen Hände die Fäden zogen.
»Gehen Sie jetzt zu ihr«, sagte der Abt, »und sagen Sie ihr, dass ich sie noch einmal sehen möchte. Fragen Sie sie nicht, worüber sie mit mir gesprochen hat. Es gibt Dinge, die sollten Sie besser nicht wissen. Nehmen Sie ihr das nicht übel. Sie haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Sie sind dafür erwählt worden. Konzentrieren Sie sich darauf.«
43
In der letzten Nacht in Gharoling erschien sie bei ihm in einem chinesischen Kleid aus weißer Seide und kleinen bestickten Schuhen aus indischem Brokat. Sie brachte Tee, Gerstenkekse und Weihrauch mit, der nach Honig, Moschus und wilden Rosen roch. Da saßen sie nun, nippten an ihren winzigen Tässchen, umschwebt von Rauch, der ihnen als schwerer, berauschender Duft in die Nase stieg. Der Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit: die Kirche an hohen Festtagen; Frühlingsabende, die von heiligem Duft erfüllt waren; die weißen Hände des Priesters, der Brot in Fleisch und Wein in Blut verwandelte.
Aber hier standen kein Priester, kein Altar und kein dem Leben entsagender Gott zwischen ihm und seinen Gefühlen. Er genoss ihr Haar, ihre Augen und ihre Lippen, das einfache Wunder, dass sie bei ihm war. Er brauchte sie jetzt, und er fragte sich, wie er zuvor ohne sie hatte leben können.
»Lieben Männer Frauen dort, wo du herkommst, Ka-ris?«, fragte sie.
Er lächelte.
»Natürlich. Und Frauen lieben Männer.«
»Heiraten sie?«
»Ja.«
»Den Menschen, den sie lieben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht immer. Vielleicht sogar ziemlich selten. Sie heiraten wegen Geld oder Land, manchmal auch, um ihren Eltern zu Gefallen zu sein.«
»Kann eine Frau mehr als einen Mann haben?«
Er musste lachen.
»Nein«, sagte er. »Einer ist genug.«
»In Tibet kann eine Frau mehrere Brüder auf einmal heiraten. Wenn der älteste Bruder fort ist, muss sie mit dem nächsten schlafen. Sie ist nie allein.«
»Und wenn sie ihre Männer nicht liebt?«
Sie zuckte die Schultern.
»Vielleicht liebt sie einen. Was ist, wenn eine englische Frau ihren Ehemann nicht liebt? Kann sie sich dann einen anderen suchen?«
»Manchmal. Wenn sie reich ist.«
»Und eine arme Frau?«
»Die muss bei ihrem Mann bleiben.«
»Auch wenn er sie schlägt?«
»Auch wenn er sie schlägt.«
Sie dachte nach.
»Ich denke, die Menschen bei euch können sehr unglücklich sein.«
»Ja«, sagte er. »Manchmal sind sie es wohl.«
Chindamani seufzte.
»Ich verstehe nicht, warum eine so einfache Sache so viel Unglück bringen muss.« Sie überlegte. »Mache ich dich glücklich? Bist du glücklich, wenn du bei mir liegst?«
Er nickte. Sie war so schön.
»Wie sollte ich nicht glücklich sein? Ich wünsche mir nichts anderes.«
»Aber wenn ich dir einmal nicht mehr gefalle?«
»Das wird niemals geschehen.«
»Niemals ist eine sehr lange Zeit.«
»Selbst dann.«
Sie saß da, blickte ihn an, schob mit ihren kleinen weißen Zähnen die Oberlippe hoch und sog die Düfte des Frühlings ein.
»Gefällt dir mein Körper?«, fragte sie. »Ich habe vor dir noch nie mit einem Mann geschlafen. Ich finde alles an dir wundervoll. Aber du kennst andere Frauen. Gefällt dir mein Körper im Bett?«
»Ja«, sagte er. »Sehr.«
Sie erhob sich, knöpfte das weiße Kleid auf und ließ es zu Boden fallen. Sie war nackt. Nur Schwaden von Weihrauch umhüllten sie. Zum ersten Mal sah er sie so. Wenn sie sich bisher auf der Reise geliebt hatten, war das immer im dunklen Zelt geschehen.
»Gefällt dir das?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er. »Ja.«
Später wirkte sie traurig und ein wenig in sich gekehrt. Sie war wieder ernst geworden, so wie sie von dem Gespräch mit dem Abt zurückgekommen war.
Sie stand auf und ging zu der Tür, die auf eine kleine Terrasse führte. Sie öffnete sie und trat hinaus. Sie trug wieder ihr weißes Kleid. Die Nachtluft war kalt. Er trat zu ihr und nahm ihre Hand.
Sie schaute in die Dunkelheit hinaus. Die Sterne schienen so weit weg, die Finsternis so nah und unmittelbar.
»Glaube nicht, dass ich dir für immer gehören kann«, sagte sie. »Das darfst du nicht denken.«
Er antwortete nicht. Weit unten im Tal waren Lichter zu sehen, kleine Lichter, die funkelten, als seien sie vom Himmel gefallen.
»Was soll ich dann denken?«, fragte er schließlich.
Sie wandte sich zu ihm um, und er sah Tränen in ihren Augen.
»Dass ich sterben werde, dass ich einmal tot sein werde, dass ich dann wiedergeboren werde, wo mich niemand erreichen kann – du nicht, die Göttin Tara nicht, nicht einmal die Finsternis.«
»Bitte«, sagte er. »Sprich nicht in Rätseln zu mir. Du weißt, dass ich sie nicht verstehe. Wenn du so mit mir redest, machst du mir Angst.« Er hielt inne und erschauerte. »Du sagst, wir werden alle wiedergeboren. Gut, wenn du vorhast, zu sterben und zurückzukommen, warum kann ich nicht das Gleiche tun? Was hindert mich daran?«
Ihre Wangen röteten sich im Zorn.
»Was verstehst du davon?«, sagte sie scharf. »Glaubst du, das ist leicht? An Orten wie diesem verbringen Männer ihr ganzes Leben damit, um sich auf den Tod vorzubereiten. Sie studieren das wie einen Text, den man sich einprägen muss. Sie kennen sein Gesicht, als sei es das eines lieben Menschen, den Klang seiner Stimme, seinen Atem, die Berührung seiner Finger. Und doch können ihre Gedanken im letzten Augenblick in die Irre gehen, und sie scheitern. Glaubst du, der Tod ist eine so leichte Sache?«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Die Tränen waren auf ihren Wangen gefroren.
»Ja«, sagte er. »Ich liebe dich. Das genügt. Ich werde dir folgen, wohin du gehst. Das schwöre ich.«
Sie neigte den Kopf und schlang ihre Arme um ihn. Draußen in der Dunkelheit schwebte eine Eule tief über ein gefrorenes Feld und hielt nach Mäusen Ausschau. Am nächsten Tag verließen sie Gharoling auf Ponys, die der Abt ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Er wollte ihnen einen Mönch als Führer mitgeben, aber Chindamani lehnte das aus Gründen ab, die Christopher nicht durchschaute. Er war natürlich glücklich, mit ihr allein zu sein. Ihre Niedergeschlagenheit vom Abend zuvor war verflogen, und sie lächelte ihm zu, während sie die Ponys mit ihrer Ausrüstung beluden.
Der Abt geleitete sie persönlich bis zum Tor des Klosters. Christopher spürte bei ihm eine Ruhe und Selbstbeherrschung, wie er sie bisher bei einem Lama noch nicht erlebt hatte. Es war, als sollte jede seiner Gesten und jedes seiner Worte die einfache Botschaft vermitteln, dass alles vergänglich ist und selbst die größten Sorgen eines Tages bedeutungslos werden.
»Reisen Sie in mühelosen Etappen«, riet er ihnen. »Ruhen Sie aus, wenn Sie erschöpft sind. Treiben Sie die Tiere nicht an. Gehen Sie gut mit sich selber um, dann wird es der Weg mit Ihnen tun.«
Sie dankten ihm und nahmen Abschied. Als sie das Tor passiert hatten und den Berg hinabstiegen, kamen sie an einer kleinen Prozession von Mönchen vorbei, die etwas in ein weißes Tuch Gehülltes vorbeitrugen, das ein Mensch sein konnte.
»Was bedeutet das?«, fragte Christopher. »Ist das eine Bestattung?«
Chindamani nickte ernst.
»Es ist der Eremit«, sagte sie. »Sie haben ihn gestern Abend tot gefunden. Er hatte das Essen, das sie ihm brachten, sechs Tage lang nicht angerührt.« Sie verstummte. »Er ist einen Tag nach unserer Ankunft gestorben.«
Die Mönche zogen vorbei und sangen dabei ein langsames Klagelied. Ihr Ziel war ein hochgelegener Ort, wo sie die abgezehrten Überreste des Gomchen zerschneiden und den Geiern zum Fraß vorwerfen würden. Eine Wolke verdüsterte den Himmel und warf einen Schatten auf das Tal von Gharoling.
44
Sie durchquerten Tibet – Grasteppiche, kargen Boden und Felsen, der manchmal noch von Eisschichten bedeckt war, dazwischen kleine Bergflüsse. Manchmal ritten sie, dann wieder gingen sie zu Fuß und führten die Ponys am Zügel. Sie hatten sie Pip und Squeak getauft wie den kleinen Hund und den Pinguin, deren Abenteuer William jeden Tag im Daily Mirror verfolgt hatte. Für Chindamani, die nie eine Karikatur oder eine Zeitung, viel weniger noch einen Pinguin gesehen hatte, waren diese Namen nichts als ein weiterer Spleen dieser Pee-lings. Den Ponys waren Namen gleichgültig, ob nun englische oder tibetische. Sie gingen ihre Straße, ohne sich darum zu kümmern. Schließlich war das ihr Leben – gehen, fressen und schlafen.
Für die beiden Menschen war es nicht viel anders, nur dass sie selbst bestimmen konnten, wann sie rasten, essen oder schlafen und wann sie weiterziehen wollten. Sie mieden die großen Städte, damit Christophers Anwesenheit niemandem auffiel. Der Abt von Gharoling hatte Chindamani einen von ihm gesiegelten Brief mitgegeben, den sie von Zeit zu Zeit vorwiesen, um sich eine Unterkunft zu verschaffen. Meist nächtigten sie in Tasam-Häusern, Karawansereien, wo sie Futter für ihre Tiere und eine Unterkunft für sich selbst finden konnten, oder in kleinen Klöstern, wo Chindamanis Brief viel mehr bewirkte, als ihnen ein Nachtlager zu verschaffen.
Wohin sie auch kamen, Chindamani wurde überall mit Respekt, ja, mit Ehrerbietung empfangen. Christopher war ein Anhängsel ihrer Heiligkeit als Inkarnation der Göttin Tara. Da sie ihr Leben lang nichts außer Dorje-la gekannt hatte, konnte sie sich nicht bewegen, als sei sie eine gewöhnliche Sterbliche. Nur mit Christopher war sie sie selbst oder zumindest der Teil ihrer selbst, den sie vor anderen verbarg. Nach außen blieb sie stets die Inkarnation.
Sie zogen in nordöstlicher Richtung, um die Große Mauer an der Grenze zur Inneren Mongolei zu erreichen. Westlich von Shigatse folgten sie zunächst dem Lauf des Tsangpo. Zu ihrer Rechten, zu Füßen des Berges Dromari, lagen die roten Mauern und goldenen Dächer des Klosters Tashilhunpo, des Sitzes des Panchen Lama. Auf Chindamanis Wunsch umgingen sie diesen Ort.
Sechs Tage später kamen sie durch Yanbanchen, wo die Straße in östlicher Richtung nach Lhasa und zum Potala führt. Am Rande von Yanbanchen hielt sie ein Beamter an und wollte Christopher ausfragen. Aber Chindamani unterbrach ihn scharf. Als sie den Brief des Abtes vorwies, wurde der Mann merklich vorsichtiger. Sie rasteten erst, als Pip und Squeak keinen Schritt mehr gehen konnten und Yanbanchen weit hinter ihnen lag.
Seit Shigatse kamen sie nur schwer voran. Steile Bergketten, dunkle Schluchten und wilde Gebirgsflüsse versperrten wieder und wieder ihren Weg. Sie passierten zahlreiche Dörfer und Klöster, aber die Berge, die sie überqueren mussten, waren nackt und abweisend, zerklüftet von engen Schluchten, in die kein Sonnenstrahl fiel.
Für Chindamani erstand die Welt jeden Tag neu. Die einfachsten Dinge bestaunte sie, als seien es Wunder. Und irgendwie waren sie es auch, zumindest für sie. Aus einer Welt von ewigem Schnee und Eis gekommen, erlebte sie nun eine Landschaft, wo Sonne und Schatten über Gras, Felsen und schimmernden Seen komplizierte Spiele aufführten, wo plötzliche Öffnungen in den Bergen Ausblicke in kilometerweite Ebenen boten. Sie hatte noch nie so weit schauen können.
Auch Männer und Frauen musterte sie, als sähe sie sie zum ersten Mal. So viele Gesichter, so viele unterschiedliche Kleider und so viele Berufe. Sie hätte nie geglaubt, dass es diese bunte Vielfalt gab.
»Ist es in der ganzen Welt so wie hier, Ka-ris?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Jeder Teil von ihr ist anders. Dies ist nur ein kleiner Teil.«
Sie machte große Augen.
»Und wo du herkommst … Ist es da nicht so wie hier?«
Wieder musste er den Kopf schütteln. Wie sollte er ihr das erklären? Er dachte an die Londoner U-Bahn, die Autos und Eisenbahnzüge, die hohen Schornsteine der Fabriken. An das Gewimmel auf den Straßen und in den Bussen, an die vielen Menschen, die wie Bienen in einem Korb tausend verschiedenen Arten von Honig mit immer weniger Geschmack nachliefen. Von Kirchen, in denen Kriegsfahnen hingen und Grabmäler für tote Soldaten standen. Von vergifteten Flüssen und zerstörten Bergen, von schwarzen Rauchschwaden, die den Himmel verdüsterten. All das musste ihr wie eine schreckliche Art von Wahnsinn vorkommen. Und die tiefergehende Malaise, von der all das ausging, würde sie sicher nicht verstehen. Oder vielleicht doch, so glaubte er, wenn er länger nachdachte.
»Bei uns gibt es eine Gegend namens Schottland«, sagte er. »Ich bin einmal mit meiner Tante Tabitha in den Ferien dort gewesen. An einem See namens Kyle of Lochalsh. Dort sieht es ähnlich aus wie hier.«
Sie musste lächeln.
»Vielleicht gehen wir eines Tages dorthin«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte er. »Vielleicht.« Manchmal verging ein ganzer Tag, an dem sie schweigend dahinritten, jeder in seine Gedanken vertieft. Frühlingsstürme bliesen ohne Unterlass über die weiten Ebenen des Hochlandes. Sie mussten sich tief über die Mähnen der Ponys beugen, geblendet und durchgefroren bis auf die Knochen. Sie kamen an Seen und Flüssen vorüber, auf denen noch dickes, vom Wind zerfurchtes Eis lag. Dann senkte sich weißer, kalter und klebriger Nebel über das Land, in dem sie und ihre Ponys sich bewegten wie Gespenster. Chindamanis schwarzes Haar glitzerte von halbgefrorenen Wassertröpfchen. Christopher sah sie vor sich reiten, ein schwacher Schattenriss, der bald verschwand, bald wieder auftauchte.
Überall begegneten ihnen Zeichen des Glaubens, die sie an die Allgegenwart der Götter erinnerten: Gebetsfahnen und Chörten, lange Mani-Mauern und einmal auch zwei Pilger, die sich über den gefrorenen Boden vorwärtsbewegten, indem sie sich immer wieder der Länge lang auf die Erde warfen.
»Wo wollen sie hin?«, fragte Christopher.
»Zum Jokhang«, antwortete Chindamani. »Dem großen Tempel von Lhasa. Sie pilgern dorthin, um Jovo Rinpoche die Ehre zu erweisen.«
Christopher blickte verwundert drein.
»Das ist eine große Figur unseres Herrn Buddha, als er ein Kind war«, erklärte sie. »Es ist das heiligste Bildnis in ganz Tibet. Menschen aus aller Welt kommen dorthin, um es zu sehen. Manche reisen Hunderte Kilometer, indem sie die Erde mit ihren Körpern messen, so wie diese beiden. Das kann Monate oder Jahre dauern. Mitunter sterben sie auch, bevor sie die heilige Stadt erreicht haben. Das ist eine sehr gute Art zu sterben.«
»Warum tun sie das?«, fragte er.
»Um schlechtes Karma loszuwerden, das sie in früheren Leben angesammelt haben. Um gutes Karma für das nächste Leben zu erwerben. So dass sie in einem Zustand wiedergeboren werden, da sie dem Land Buddhas näher sind. Das kann jeder von uns tun.«
Er blickte sie an.
»Hat unsere Reise irgendeinen Wert?«, fragte er.
Sie nickte sehr ernst.
»Ja«, sagte sie. »Samdup ist der Maidari Buddha. Wir müssen ihn finden und zu seinem Volk bringen. Wir sind seine Werkzeuge. Du wirst sehen.«
»Glaubst du wirklich, dass wir ihn wiederfinden?«
Sie schaute ihn lange an, bevor sie reagierte.
»Was meinst du?«, erkundigte sie sich schließlich.
Christopher erwiderte nichts. Aber als sie weiterritten, fragte er sich, welches Karma er wohl erwerben würde, wenn er den Jungen aus Samjatins Händen rettete, nur um ihn als britische Marionette auf den Thron der Mongolei zu setzen.
Die erste Spur von Samjatin fanden sie in einem kleinen Dorf bei Nagchu Dzong, etwa 250 Kilometer von Lhasa entfernt. Die Wirtin des Rasthauses erinnerte sich an einen Mann und zwei Jungen, die etwa zehn Tage zuvor dort durchgereist waren. Sie ritten auf Ponys und mussten schon lange unterwegs sein. Samjatin war gezwungen, in dem Rasthaus einzukehren, weil er dringend Proviant und frische Ponys brauchte.
»Sie sind hier mit drei der elendesten Klepper angekommen, die ich je gesehen habe«, sagte die Frau. »Die lebten kaum noch. Sie hatten sie zuschanden geritten, würde ich sagen. Das war das Werk des Mongolen, das konnte man sehen. Er wollte sofort weiter. Er war nervös und kribbelig, die Sorte, mit der man sich besser nicht anlegt. Auch die armen Kinder waren völlig am Ende. Ich sagte zu ihm, sie sollten sich ein paar Tage ausruhen, aber er hat mich nur angefahren. Sie mussten gleich wieder los, nicht mal einen Tee haben sie getrunken.« Sie war empört über solch ungehöriges Benehmen.
»Ich habe ihnen neue Ponys verkauft, wollte ihnen aber nicht viel für die alten geben. Natürlich kann ich sie wieder rausfüttern. Das eine taugt jedoch gar nichts mehr. Es bekam kaum noch Luft, ich konnte es nur noch zum Schlächter bringen. Ich habe 500 Trangkas für die zwei verlangt, die ich ihm verkauft habe, und er hat sie anstandslos hingelegt. Das sind vierzig Liang in chinesischem Geld. Ich habe gleich zu meinem Mann gesagt, dass der nichts Gutes im Schilde führt. Am liebsten hätte ich ihm jemanden nachgeschickt, um zu sehen, ob es den kleinen Jungen gut geht. Aber mein Mann meinte, wir sollten uns da nicht einmischen. Vielleicht hatte er ja recht.«
»Hat einer der Jungen versucht, mit Ihnen zu sprechen?«, fragte Chindamani.
»Also, da Sie direkt danach fragen, glaube ich, einer wollte das tun. Aber der Mann hat es sofort unterbunden und ihn hinausgeschickt.«
»Haben Sie sich das gefallen lassen? Und nicht widersprochen?«
Die Wirtin maß Chindamani mit einem scharfen Blick.
»Wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie das verstehen. Mit dem wollte ich mich nicht anlegen. Vielleicht hätte ich es tun sollen, ich weiß nicht. Aber wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären … Oder kennen Sie ihn gar?«
Chindamani antwortete nicht.
»Waren die Ponys, die Sie ihm verkauft haben, gesund? Stark genug, um eine weite Reise zu überstehen?«, fragte Christopher.
Die alte Frau wirkte gekränkt.
»Natürlich waren sie das. Glauben Sie, ich verkaufe kranke Tiere? Für so einen beschwerlichen Weg?«
Christopher konnte sich vorstellen, dass sie das tat, und wenn möglich, sogar für einen saftigen Preis.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, entschuldigte er sich. »Aber Sie hatten ja gesehen, wie er die vorigen Pferde behandelt hatte. Vielleicht wollten Sie ihm nicht ihre besten Tiere anvertrauen.«
Etwas milder gestimmt, aber immer noch ärgerlich sagte sie: »Der Gedanke ist mir schon gekommen. Aber er hat sich meine ganze Herde angeschaut und drei für sich ausgewählt. Es waren die besten in meinem Stall und entsprechend teuer. Er wird sie auch nicht anders behandeln. Aber sie werden ihn weit tragen. Er ist jetzt bestimmt schon zwanzig Shasas oder noch mehr von hier entfernt.«
Ein Shasa war eine Tagesreise, für die man zwischen fünfzehn und dreißig Kilometer veranschlagte. Bei Samjatins Tempo waren sie ihnen bestimmt dreißig Shasas voraus.
»Jetzt werden wir sie wohl nicht mehr einholen, Ka-ris«, sagte Chindamani niedergeschlagen.
»Sie treffen ein paar Tage vor uns in Urga ein, das ist alles«, sagte er. Aber es war schon ein Nachteil, dass sein Rivale so schnell vorankam. »Wir werden sie eben dort ausfindig machen. Immer mit der Ruhe. Auch sie haben noch einen langen Weg vor sich. Und sie werden nicht immer frische Ponys bekommen, wenn sie sie brauchen. Außerdem müssen sie die Wüste Gobi durchqueren oder umgehen.«
»Wir auch«, sagte sie darauf.
Zunächst etwas entmutigt, setzten sie ihren Weg fort. Sie ritten jetzt schneller, rasteten seltener und standen jeden Tag schon vor dem Morgengrauen auf. Zumindest, so überlegte Christopher, waren sie bislang auf der richtigen Spur. Samjatin hatte mit den Jungen diesen Weg genommen. Welche Haken er auch schlagen mochte, er musste immer wieder auf die kürzeste Trasse zurückkehren. Und ihr Bestimmungsort war ohnehin derselbe.
Sie ritten durch die riesigen Steppen von Chang Tang, dem nordwestlichen Teil des tibetischen Hochlandes. Jenseits der nördlichen Zuflüsse des Jangtse kamen sie nach Amdo. Sie hielten Kurs nach Nordosten in Richtung Mongolei.
Täglich kamen sie an kleinen Nomadenlagern aus niedrigen schwarzen Zelten vorbei, die sich stark von den runden Jurten der Mongolen im Norden unterschieden. In den Tälern hüteten Hirten kleine Yakherden. Sie sahen zu, wie Christopher und Chindamani vorüberritten, dann wandten sie sich wieder ihrem endlosen Tagewerk zu.
Zehn Tage nach der Rast in Nagchu Dzong erreichten sie das Südufer des Kukunor, des größten Sees, der die Nordostgrenze Tibets bewacht. Einige Kilometer weiter lag bereits die chinesische Provinz Gansu.
Christopher wurde unruhig. Die Chinesen waren gereizt. Sie fühlten sich in der Mongolei bedrängt und spielten mit dem Gedanken, sich in Tibet schadlos zu halten, wenn man ihnen das Gebiet im Norden wieder aus den Händen riss. Sollten chinesische Soldaten Christopher als Engländer identifizieren, der in Gansu eingedrungen war, dann hatte er große Zweifel, ob sie sich an die diplomatischen Gepflogenheiten halten würden. Wahrscheinlicher war es, dass sein Kopf bald eine der scharfen Spitzen auf den Zinnen der Stadt Sining-fu zieren werde.
Es war die Zeit der Warlords, der großen Kriegsherren. In China tobte Bürgerkrieg, und keine Zentralregierung war in der Lage, wieder normale Zustände herzustellen. Die Dynastie der Mandschus hatte man verjagt, aber die Republik war kaum mehr als ein leeres Wort. In den Provinzen regierten Chaos und Blutvergießen. Bauernarmeen entstanden, zogen in die Schlacht und wurden ausgelöscht. An ihrer Stelle bildeten sich neue. Der Tod hielt reiche Ernte.
Sanft senkte sich die Steppe zu den dunklen Wassern des Sees hinab. Kleine Wellen kräuselten seine Oberfläche, und Christopher musste an das Meer zu Hause denken. Im Norden lief die Tsun-Ula-Kette von Ost nach West, bis sie hinter dem Horizont verschwand. Mehrere Gipfel trugen noch weiße Schneehauben.
In der Mitte des Sees lag eine Felseninsel mit einem kleinen Tempel darauf. Jetzt, da das Eis des Winters schmolz, war sie von aller Welt abgeschnitten. Lange Zeit saß Chindamani wie erstarrt in ihrem Sattel, schaute auf den kleinen Tempel, betrachtete das dunkle Wasser, das gegen die Felsen schlug und lauschte den Wellen nach, die leblos auf dem Strand ausrollten. Eine steife Brise, die plötzlich von den Bergen heranfegte, peitschte die Wellen auf. Wolken zogen sich am Himmel zusammen.
»Lass uns weiterreiten«, sagte Christopher.
Aber sie saß immer noch da und blickte bewegungslos auf die Insel. Die Brise fuhr in ihr Haar, stellte es wie eine dunkle Gebetsfahne auf und ließ es wieder sinken. Sie schien das alles nicht zu bemerken. Dann fuhr sie plötzlich zusammen und wandte sich nach ihm um.
»Hier bin ich schon einmal gewesen«, sagte sie. Wieder schaute sie zu dem Tempel hin. »Und hierher werde ich zurückkehren.«
45
An diesem Nachmittag stießen sie erneut auf Samjatins Spur. Als sie den See hinter sich gelassen hatten, hielten sie nach Osten auf die große Stadt Sining-fu zu. Trotz des Risikos hatte Christopher beschlossen, dort Proviant zu fassen und einen Führer durch die Gobi zu finden. Alles andere würde Selbstmord bedeuten. Kurz vor dem Hadda-Ulan-Pass stießen sie auf ein kleines Lager schwarzer Yakhaar-Zelte.
Dort war es merkwürdig still. Keine Hunde stürzten heraus, um sie anzuknurren und nach den Beinen der Ponys zu schnappen, wie es in Nomadenlagern normalerweise geschah. Kein Rauch eines Dungfeuers stieg auf. Keine Kinder lärmten. Nichts bewegte sich. Christopher zog den Revolver aus der Tasche und entsicherte ihn. Banditen waren in dieser Gegend häufig. Banditen und plötzlicher Tod.
Vor dem ersten Zelt erblickte er eine Leiche, oder was davon geblieben war. Die Geier hatten inzwischen ganze Arbeit geleistet. Nur bleiche Knochen und Stücke zerrissener Kleidung waren noch übrig. In der Nähe lag ein langes, schwarzes Gewehr, wie sie die Tanguten und Mongolen in dieser Region benutzten.
Ein zweites Skelett hob sich ein paar Meter weiter weiß und nackt von der Erde ab, daneben ein drittes, wahrscheinlich von einem fünf- oder sechsjährigen Kind. Der Wind spielte mit dem Haar auf den Schädeln, ließ es in wilder Bewegung flattern. Eine dünne Staubwolke tanzte verloren zwischen den schweigenden Zelten umher und löste sich auf.
Plötzlich ertönte in der Stille ein lautes Klatschen. Christopher fuhr herum und sah, wie ein einzelner Geier nur mit Mühe taumelnd aufflog. Er hatte sein Mahl noch nicht beendet. Wie immer gab es auch hier Gäste, die zu spät kamen.
Sie fanden ein halbes Dutzend Skelette außerhalb der Zelte und etwa zwanzig Leichen darin. Die in den Behausungen lagen, waren noch nicht gefressen worden, und die kalte tibetische Luft hatte ihren Verfall aufgehalten. Es waren meist Leichen von Frauen und Kindern, dazwischen nur wenige Männer. Sofort wurde klar, wie man sie umgebracht hatte – mit einer einzigen Kugel, zumeist in die Stirn oder die Schläfe geschossen. Warum sollten Banditen das getan haben?, fragte sich Christopher. War der chinesische Bürgerkrieg inzwischen bis nach Amdo gelangt?
Das Mädchen war im vierten Zelt hinter einer großen Truhe versteckt. Sie stießen zufällig auf sie, als Christopher ein Stück Stoff aufheben wollte, um eine der Leichen abzudecken. Sie war zehn oder elf Jahre alt, zitterte vor Hunger, Kälte und Todesangst.
Da Christopher sah, dass seine Anwesenheit das Kind nur noch mehr ängstigte, ließ er sie mit Chindamani allein und ging aus dem Zelt. Selbst in der klaren Luft hing der Geruch des Todes noch über diesem Ort. Christopher fragte sich, ob er ihn je wieder loswerden würde.
Hinter den Zelten lagen die Überreste mehrerer Pferde. Sie waren eindeutig gefesselt worden und erst vor ein, zwei Tagen verhungert. Eines lebte noch. Christopher gab ihm den Gnadenschuss. Als das getan war, entfernte er sich für eine Weile von den Zelten. Am Ende des Tals hatte jemand aus flachen Steinen einen Obo errichtet, um die lokalen Götter günstig zu stimmen. Stofffetzen flatterten darüber, von Reisenden gespendet. Schieferstücke mit tibetischen Inschriften hatte man ringsherum gelegt und vier obendrauf wie eine Art Dach angeordnet. Christopher entzifferte die mantrische Formel om mani padme hum, die sich auf den flachen, dunklen Steinen viele Male wiederholte. Am liebsten hätte er den Obo niedergerissen und die Steine in alle Winde verstreut. Was nützten Götter, wenn sie schliefen?
Als er zu dem kleinen Lager zurückkam, hatte Chindamani das Mädchen etwas beruhigt. Es war immer noch verstört, aber der Schrecken war stiller Trauer gewichen. Diesmal reagierte es nicht auf Christopher. Er setzte sich neben Chindamani nieder, während sie das Mädchen zu trösten versuchte.
Wenig später fiel die Kleine in tiefen Schlaf, offenbar zum ersten Mal seit Tagen. Sie entschieden, dass sie wohl besser nicht in dem Lager oder seiner Umgebung aufwachen sollte. Christopher hob sie vorsichtig auf Pip und legte sie flach auf die Gepäckstücke, die das Pony trug. Als Nomadenkind war sie sicher von Geburt an gewohnt, auf einem Pferd zu schlafen.
Bevor sie den Ort verließen, legten sie die übrigen Leichen für die Geier ins Freie. Chindamani sprach ein paar leise Gebete. Dann ritten sie weiter, bevor das Kind erwachen und sich seines Kummers erinnern konnte, der durch den Anblick der offenen Bestattung sicher noch verstärkt worden wäre.
Die Nacht verbrachten sie in einem weiten Tal jenseits des Passes. Das Mädchen wachte nur einmal kurz auf. Es aß ein wenig und schlief sofort wieder ein. Christopher und Chindamani hielten abwechselnd Wache. Es war eine kalte Nacht, und die Sterne begleiteten sie bis zum Morgengrauen.
Beim Frühstück am nächsten Tag berichtete ihnen die Kleine, was geschehen war. Sie hieß Chödrön und meinte, sie sei zehn Jahre alt. Die Opfer waren ihre ganze Familie – Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Großmutter und Großvater, zwei Onkel, zwei Tanten und sechs Cousins.
Mehrere Tage zuvor – nach Christophers Berechnung musste es etwa eine Woche gewesen sein – war ein Mongole in ihr Lager gekommen. Zwei Jungen hatten ihn begleitet – ein Tangute oder Tibeter und einer, der aussah wie Christopher. Sie trugen feine Kleider, die inzwischen sehr schmutzig waren, aber sie sahen unglücklich aus. Das Mädchen war mit seiner Mutter aus dem Zelt gelaufen, um sich die Fremden anzuschauen.
Der Mann hatte die Ponys tauschen wollen. Er bot seines und die der Jungen für frische an und war bereit, noch eine Summe draufzulegen. Ihr Onkel hatte abgelehnt, weil die Männer jetzt im Frühling alle ihre Pferde brauchten und er nicht zwei abgekämpfte Tiere dabeihaben wollte. Der Mann trat grob und anmaßend auf, und sie glaubte, ihr Onkel habe vor allem deswegen sein Ansinnen abgelehnt.
Ein Wort gab das andere, dann fiel ein Schuss. Sie wusste nicht, ob ihr Onkel oder der Mongole zuerst gefeuert hatte. Aber mit seiner Schnellfeuerpistole war der Fremde den Männern mit ihren Musketen weit überlegen.
Das Massaker, das dann folgte, konnte sie weder erklären noch sich deutlich daran erinnern. Christopher und Chindamani wollten es ihr allerdings auch ersparen, diesen Wahnsinn noch einmal zu erleben. Irgendwie war es ihrer Mutter gelungen, sie in der Truhe zu verstecken, hinter der sie sie dann gefunden hatten. Dort hatte sie der Mongole übersehen. In der Truhe war kein Platz für ihre Mutter oder sonst jemanden gewesen.
Christopher beschrieb ihr Samjatin, obwohl er bereits wusste, wie ihre Antwort ausfallen würde. Sie erschauderte und sagte, der Mann sei es gewesen, kein anderer. Christopher fragte auch nach den Jungen, worauf sie antwortete, die hätten blass und unglücklich ausgesehen, seien aber unverletzt gewesen.
Am nächsten Tag ritten sie weiter nach Osten in Richtung Sining-fu. In Tsagan-tokko, einem Dörfchen aus Lehmhütten, erkundigten sie sich nach Samjatin. Weder er noch die Jungen waren hier gesichtet worden. Kaum hatten sie das Dorf hinter sich gelassen, da hörten sie Hufschläge hinter sich. Ein mongolischer Reiter sprengte heran und hielt neben ihnen. Er war ein hochgewachsener Mann, in Pelze gehüllt, und hatte einen Hinterlader über der Schulter hängen.
»Ich habe gehört, ihr sucht nach einem Burjaten, der mit zwei Jungen unterwegs ist«, sagte er.
Christopher nickte.
»Die habe ich vor fünf Tagen gesehen«, sagte der Reiter. »Im Tsun-Ula, der Bergkette nördlich des Kukunor. Wir haben kurz miteinander gesprochen. Ich fragte den Mann, wohin sein Weg führe. ›Wir müssen in zehn Tagen in Gandschou sein‹, hat er mir gesagt. Als ich ihn fragte, aus welchem Grund, erklärte er, er müsse dort jemanden treffen. Das ist alles. Der tibetische Junge hat versucht, mich anzusprechen, aber der Mann hat ihm sofort das Wort verboten.«
»Ist es denn möglich«, fragte Christopher, »so schnell nach Gandschou zu kommen? Müssen sie nicht durch das Nanshan-Gebirge?«
»Das ist richtig«, sagte der Mongole. »Aber wenn ihnen nichts dazwischenkommt, können sie es schaffen. Alle Pässe sind jetzt offen. Ich habe ihm den besten Weg beschrieben.«
Er rutschte unruhig in seinem Sattel hin und her.
»Der tibetische Junge«, sagte er. »Er war blass und voller Furcht. Heute Nacht habe ich von ihm geträumt. Er kam lächelnd auf mich zu. Er trug das Gewand eines Buddhas. Und er hatte einen Lichtschein um sich herum.« Er dachte eine Weile nach. »Wer ist er?«, fragte er dann.
Chindamani antwortete mit leiser Stimme, aber mit einer Autorität, die Christopher noch nie an ihr beobachtet hatte.
»Er ist der Maidari Buddha«, sagte sie.
Der Reiter blickte sie durchdringend an, erwiderte aber nichts. So verging eine halbe Minute. Dann lächelte er breit, wendete sein Pferd und galoppierte zurück in Richtung Tsagan-tokko.
An einem langen Nachmittag im April ritten sie nach China hinein wie Rinderdiebe oder Späher, die eine feindliche Armee ausgeschickt hatte – ungesehen, unerwartet und von niemandem behelligt. Hier gab es keine klare Grenze, wo man hätte sagen können: »Hier ist Tibet« und »dort ist China.« Es war ein allmählicher Übergang, zu erkennen an einem leicht veränderten Tonfall, an kaum erkennbaren Modulationen in Landschaft und Gesichtern. Die Nomadenwelt von Amdo schwand dahin, und allmählich trat man in eine neue Welt ein – die der Täler und hohen, befestigten Dörfer, der engen Schluchten und schnellen Wasserläufe, der vergoldeten Tempel, geschmückten Tore und schlanken hohen Pagoden, die sich über dicken Wällen aus gestampftem Lehm erhoben.
Die Menschen des Grenzlandes und der Salzseen des Tsaidam-Beckens – in Pelze gehüllt, schmutzig und von den ständigen Winden gegerbt – machten allmählich den Bewohnern der besiedelten Regionen innerhalb der Großen Mauer Platz – Händlern und Handwerkern, sesshaften Bauern und Kaufleuten, die sich hier nur kurz aufhielten und bald nach Peking oder Kanton zurückkehrten. Den größten Unterschied sah Christopher in den Augen. Die Nomaden und die Männer, die mit den langen Kamelkarawanen aus der mongolischen Steppe oder aus der Gegend von Urumchi kamen, blickten weit in die Ferne. Sie waren offene Horizonte gewohnt, die nicht von Stadtmauern verstellt waren, eine Welt, die von einem Tag zum anderen wechselte. Die Han-Chinesen von Gansu dagegen lebten zwischen engeren Horizonten, und Christopher konnte in ihren Augen die Mauern, Tore und mentalen Gitter sich spiegeln sehen, von denen sie umstellt waren.
Mandarine mit bleichen Gesichtern und müden Augen, viele noch mit der typischen Mandschu-Frisur – dem langen Zopf und der nackten Stirn –, ritten in Begleitung von muslimischen Soldaten des Hui-Volkes in Richtung Sining-fu und der Provinzhauptstadt Landschou an ihnen vorüber. Aber keiner nahm Notiz von Christopher und dessen Begleitung. Dem flüchtigen Betrachter fiel er nicht auf. Er wirkte wie ein Nomade, der mit Frau und Kind eine weite Reise machte – aus Gründen, die einen chinesischen Beamten nicht interessieren konnten. Sein Gesicht starrte vor Schmutz, sein Haar war wirr und ungekämmt; Wind, Eis und Schnee hatten alle Züge eines Ausländers aus seinem Gesicht getilgt.
Sining-fu empfing sie mit Gleichmut. Drei Reisende mehr oder weniger bedeuteten nichts für die Stadt und ihre Bewohner. Auf der hohen Stadtmauer patrouillierten Soldaten, beobachteten die ländliche Gegend außerhalb und das Mosaik von Dächern innerhalb – ein Wirrwarr von roten Ziegeln und Drachenschmuck. Die drei Neuankömmlinge gingen in der Menge unter.
Sie zogen die Hauptstraße entlang bis ins Zentrum der Stadt. Links und rechts lagen die Yamen der Beamten, niedrige, farbig gestrichene Häuser, von steinernen Löwen und Drachen bewacht. Jedes trug ein Schild mit chinesischen Schriftzeichen, das seinen Zweck bekanntgab. Auf Schritt und Tritt wurden sie angerempelt – von Mongolen, die ihre langhaarigen Kamele führten, wenn sie von Stand zu Stand zogen und Yakhaar oder Pelze gegen Töpfe, Pfannen und Küchenmesser tauschten; von Maultieren mit Kohle aus Shansi in großen Brocken; von Wagen, in denen chinesische Mädchen in leuchtend roten Gewändern, mit stark gefettetem Haar und winzigen gebundenen und davon verkrüppelten Füßen saßen.
In einer Nebenstraße unweit eines der großen Handelshäuser fanden sie ein kleines Deng, ein Rasthaus, wo sie über Nacht bleiben konnten. Die Herberge war schmutziger und überfüllter als die meisten, aber sie lag etwas abseits und wurde von Leuten besucht, die kein Interesse an anderen Gästen hatten. Sie beschwatzten die Wirtin, eine kleine, reservierte Frau von Mitte vierzig, ihnen ein eigenes Zimmer zu geben. Sie wollte erst nicht, aber die völlig erschöpfte und tieftraurige Chödrön rührte sie so sehr, dass sie sich ihr zuliebe erweichen ließ.
Dort zogen sie am frühen Abend ein. Die Wirtin gab ihnen etwas zu essen und einen Dreifuß, auf dem sie es zubereiten konnten – alles im Preis einbegriffen. Das Mädchen schlief nach dem Essen sofort ein. Chindamani und Christopher blieben noch auf, um miteinander zu reden. Sie hätten sich gerne geliebt, aber vor dem Kind genierten sie sich. Schließlich schliefen sie in enger Umarmung ein, nicht sicher, aber allein.
Mitten in der Nacht fuhr Christopher hoch, weil er ein leises Pochen an der Tür vernahm. Zuerst glaubte er, er habe sich geirrt, aber das Geräusch wiederholte sich, diesmal etwas lauter. Chindamani drehte sich um, wachte aber nicht auf.
Er stand auf und ging zur Tür. Der Holzfußboden war kalt für seine nackten Füße. Ein paar Schritte entfernt hüstelte jemand leicht. Dann verstummte er wieder. Es war stocksdunkel.
Christopher öffnete die Tür und spähte hinaus. Vor ihm stand ein Mann mit einer Laterne.
46
Der Schatten des Armes, der die Laterne hielt, lag auf dem Gesicht des Mannes.
»Ja?«, fragte Christopher verschlafen. »Was wollen Sie?« Er sprach Tibetisch und hoffte, dass der Mann ihn verstehen werde.
»Hello, Christopher«, sagte der Fremde. Er sprach Englisch, und seine Stimme war Christopher so vertraut, dass ihn ein kalter Schreck durchfuhr.
Als der Fremde seinen Arm bewegte, kam sein Gesicht ins Licht. Simon Winterpole hatte eine lange Reise hinter sich. Aber er war kein bisschen verändert.
Christopher trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür hinter sich. Winterpole trug europäische Kleidung, wirkte elegant wie eh und je. Er erschien Christopher wie eine Vision aus einer Welt, die er für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte.
»Starren Sie mich um Gottes willen nicht so an, Christopher. Ich bin doch kein Gespenst.«
»Tut mir leid«, sagte Christopher. »Ich habe … Sie sind der Letzte, den ich hier erwartet hätte. Wie um alles in der Welt kommen Sie hierher? Und wie haben Sie mich gefunden?«
»Du meine Güte, Sie glauben doch nicht etwa, Sie seien unsichtbar?« Das Licht schwankte, als Winterpole seinen Arm bewegte. Schatten huschten wie Krabben über sein Gesicht. »Sie sind vor einigen Wochen bei Lhasa gesichtet worden. Danach haben wir Sie ständig im Auge behalten. Sie haben keine Vorstellung, wozu wir in der Lage sind. Ich bin letzte Woche von Peking hierhergekommen, um sie zu empfangen, wenn Sie hier eintreffen. Ich wusste, dass Sie über Sining-fu reisen werden. Sie und ich haben einiges zu besprechen und zu erledigen.«
»Da irren Sie sich. Wir zwei haben überhaupt nichts zu besprechen. Nicht mehr. Ich habe genug von alledem. Ich arbeite nicht mehr für Sie. Für niemanden.«
»Machen Sie keine Schwierigkeiten, Christopher. Das haben wir doch alles längst geklärt. Als ich bei Ihnen in Hexham war. Haben Sie das etwa vergessen?«
»Nein«, erwiderte Christopher in scharfem Ton. »Ich habe nichts vergessen. Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass ich nicht mehr Ihrem Dienst angehöre. Sie haben mir geholfen, meinen Sohn zu finden, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber ich bin nur seinetwegen hier. Das ist alles. Ich möchte nicht, dass Sie sich in Dinge einmischen, die Sie nichts angehen. Halten Sie sich da raus, Winterpole. Es hat mit Ihnen nichts zu tun.«
Im Korridor setzte das Husten wieder ein.
»Ich fürchte, schon«, sagte Winterpole. »Hören Sie, hier können wir nicht reden. Unten ist ein Raum, den ich benutzen kann. Kommen Sie mit und hören Sie mir zu. Ich bin so weit gereist, um mit Ihnen zu sprechen. Tun Sie mir den Gefallen. Bitte.«
Es war sinnlos, sich zu widersetzen, wie es bereits in jener Nacht in Hexham sinnlos gewesen war. Der dunkle Strom, der damals nach Christopher gegriffen hatte, packte ihn jetzt wieder und suchte ihn in die Tiefen eines kalten, lichtlosen Ozeans zu ziehen.
Der Raum, in den Winterpole Christopher führte, hatte eine tiefhängende Decke und wurde von ein paar Talglichtern erhellt. An niedrigen Tischen saßen zwei Gruppen von je vier Männern und spielten um geringe Beträge Mahjong. Vor jedem Spieler standen, ordentlich aufgereiht, kleine Elfenbein-Steine – Windsteine, Drachensteine, Blumensteine, Steine mit Schriftzeichen. Andere Männer rauchten Opium aus langen Pfeifen mit kleinen Köpfen aus altem Silber. Die braune Masse schmolz und schlug Blasen, wenn sie sie mit glühender Kohle aus langen Eisenbecken anzündeten. Sie schauten auf, als die beiden Fremden eintraten, und beäugten sie mit misstrauischen Blicken.
Winterpole genügte eine Minute, um sie alle aus dem Raum werfen zu lassen. Er führte einen Brief mit dem Siegel von Ma Qi, dem Daotai von Sining-fu, mit sich, einem Hui-Moslem, dessen Cousin, der Warlord Ma Hongkui, zur Zeit die Provinz Gansu beherrschte. Christopher wusste, dass Winterpole seinen Einfluss durchaus nutzen konnte, um einen Mann auspeitschen, foltern oder gar enthaupten zu lassen, wenn es seinen Zwecken diente. Diese Maßnahme passte ins Bild.
»Ich weiß, dass Sie Samjatin gefunden haben«, hub Winterpole an, als sich die Tür hinter den vertriebenen Gästen geschlossen hatte. »Ich weiß auch von dem tibetischen Jungen, den er nach Urga zu bringen versucht.«
»Von dem wussten Sie bereits, bevor Sie mich losgeschickt haben, stimmt’s?«, stellte Christopher fest.
Winterpole nickte.
»Nicht alles. Aber einiges schon. Wir mussten sichergehen, denn unsere Quellen waren nicht verlässlich. Wir dachten, es wäre ein Fehler, Ihnen zu viel zu sagen. Sie hätten dann vielleicht nach den falschen Dingen gesucht.
Natürlich hätten wir auf die Berichte hin, die uns zugingen, nicht allzu viel unternommen, wenn nicht Samjatin Ihren Jungen hätte entführen lassen. Ich verstehe den eigentlichen Zweck der ganzen Aktion bis heute nicht. Haben Sie etwas darüber erfahren können?«
Christopher starrte ihn an. Er fragte nicht: Haben Sie Ihren Sohn gefunden? Nicht: Geht es ihm gut? Sondern: Haben Sie etwas darüber erfahren können? Informationen – das war alles, was Winterpole interessierte. Den Rest hielt er für überflüssig.
»Ja«, antwortete Christopher. »Ich habe etwas erfahren.« Aber wie sollte er das einem Mann wie Winterpole erklären.
»Also? Was hat er vor? Wie ist Ihr Junge in seine Pläne geraten?«
»Als Faustpfand – das ist alles, was Sie wissen müssen. William war Teil eines Deals, den Samjatin geschlossen hat. Was er wirklich wollte, war der tibetische Junge. Er heißt Samdup. Dorje Samdup Rinpoche.«
»Und wer ist das genau? Eine Art Inkarnation? Ist Samjatin deshalb so hinter ihm her?«
»Ja. Der Junge ist der Maidari Buddha. Das heißt, er kann anstelle des gegenwärtigen Hutuktu zum Herrscher über die Mongolei ausgerufen werden. Deswegen reist Samjatin dorthin. Um den Jungen zu einem Gott zu machen.«
Winterpole schwieg. Er schien abzuwägen, was Christopher ihm da gesagt hatte und wie es in seine eigenen Pläne passte.
»So ist das also«, sagte er schließlich. »Jetzt wird die Sache klar. Nun müssen wir nur noch Samjatin finden.«
»Das ist leichter gesagt als getan. Ich habe die drei – Samjatin, William und Samdup – wieder verloren. Sie sind jetzt auf dem Weg nach Urga. Bevor sie noch jemand einholen kann, wird Samjatin Samdup von roten Soldaten umstellt und selbst ein gutes Ticket für die Krönungszeremonie in der Tasche haben.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
»Nein? Hören Sie zu. Ich habe sie alle drei am Hadda-Ulan verloren. Vor etwa drei Tagen hatte Samjatin ein Treffen mit jemandem in Gandschou. Jetzt muss er auf dem Weg nach Urga sein. Oder …« Er zögerte.
»Ja?«, drängte ihn Winterpole.
»Oder nach Moskau.«
»Nicht unbedingt«, sagte Winterpole. »Von Samjatins Treffen habe ich schon gehört. Er hat Kontakt mit einem Mann namens Udinski aufgenommen, einem Russen und Bolschewiken, der bis vor kurzem als Pelz- und Wollhändler in Urga tätig war. Er hat dort für ein dänisch-amerikanisches Unternehmen namens Anderson and Myer gearbeitet. Udinski hat in Gandschou über einen Monat lang auf Samjatin gewartet. Er soll Samjatin nach Urga bringen. Er hat einen starken LKW, der in wenigen Tagen die Gobi durchqueren kann. Sie müssten also jetzt bald in Urga sein, denke ich. Oder zumindest …«
Winterpole stockte, als ob die Quelle seiner Allwissenheit plötzlich versiegt wäre.
»Zumindest?«, wiederholte Christopher.
»Er wird sich vielleicht nicht sofort in die Stadt begeben. In der Mongolei hat sich einiges geändert, seit diese Aktion gestartet wurde. Die Chinesen sind inzwischen wieder vertrieben. Der entscheidende Mann ist jetzt ein weißgardistischer General namens Ungern-Sternberg. Baron Robert von Ungern-Sternberg, um genau zu sein. So viel kann ich Ihnen über ihn sagen: Ungern-Sternberg haben die Bolschewiken im vergangenen Jahr aus Sibirien hinausgeworfen. Er und seine Männer waren im Grunde die letzten russischen Weißgardisten. Sie haben sich in die Mongolei zurückgezogen und unterwegs Verstärkung rekrutiert. Anfang Februar haben sie Urga eingenommen. Ungern hat den Lebenden Buddha vor den Chinesen gerettet und wieder auf den Thron gesetzt. Aber der eigentliche Herrscher ist er.
Samjatin kann also nicht einfach in Urga aufkreuzen, ob nun mit oder ohne Inkarnation. Ungern-Sternberg ist nicht der Mann, der sich auf einen Deal mit den Bolschewiken einlässt. Und die Mongolei ist inzwischen zu einer Gegend geworden, von der sich vernünftige Leute lieber fernhalten. Wenn Samjatin seine fünf Sinne noch beisammenhat, dann wird er sich ein anderes Ziel suchen. Was meinen Sie? Ist er noch bei Trost?«
Christopher lehnte sich über den Tisch.
»Um Gottes willen, das ist kein Schachspiel! Samjatin glaubt, dass er mit diesem Jungen Asien in die Hand bekommen kann. Verstehen Sie? Um Vernunft geht es da nicht. Der Einsatz ist zu hoch.«
»Dann wird er nach Urga gehen. In diesem Fall muss er allerdings überaus vorsichtig sein. Ungern legt alle um, die ihm vor die Flinte kommen, ob nun Russen, Juden oder chinesische Deserteure. Jetzt ziehen sämtliche Reste der Weißen, die es noch in Sibirien gibt, nach Süden, um sich ihm anzuschließen. Kasagrandi ist in Uljassutai, Kasanzew hat Kobdo eingenommen, Kaigorodow soll im Altai aufgetaucht sein, und im Westen hat sich Bakitsch mit Dutow und Annenkow zusammengetan. Es ist das reine Irrenhaus, Christopher. Ungern-Sternberg glaubt, er sei eine Reinkarnation des mongolischen Kriegsgottes. Davon hat er bereits die Hälfte der Bevölkerung des Landes überzeugt. Das bedeutet, er fühlt sich niemandem verantwortlich.«
Winterpole hielt inne und zog ein Zigarettenetui aus seiner Manteltasche. Er öffnete es und bot Christopher eine Zigarette an.
»Nein, danke.«
Winterpole nahm sich selbst eine und zündete sie an.
»Da Ungern in Urga die Kontrolle ausübt, können also weder Samjatin noch Udinski riskieren, sich direkt dorthin zu begeben. Ich denke, Samjatin wird irgendwo außerhalb der Stadt Halt machen, um den Wagen und Udinski zu entsorgen. Dann kann er den Rest der Aktion mit den beiden Jungen allein durchziehen.«
Christopher fühlte, wie er innerlich zu Eis erstarrte. Könnte es dem Russen nicht auch einfallen, William gleich mit zu beseitigen?
»Warum sind Sie eigentlich hier, Winterpole?«
»Um ein Auge auf Sie zu haben natürlich.«
»Ich bin gerührt. Und ich nehme an, zugleich auch auf Samjatin.«
Winterpole stieß eine dünne Rauchwolke aus.
»Klar. Er muss gestoppt werden. Und Sie wollen doch immer noch Ihren Sohn finden, kann ich mir vorstellen. Bis jetzt haben Sie sich gut geschlagen, aber nun müssen wir den entscheidenden Schritt tun. Ich möchte vor Samjatin in Urga sein.«
»Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?«
»Auf die gleiche Weise wie Samjatin. Mit einem Auto. Auf mich wartet eins beim Daotai. Ich habe es in Kalgan von Dänen gekauft. Es ist ein Fiat, extra gebaut für eine Gegend wie diese. Damit kommen wir schneller nach Urga als Udinski mit seinem LKW.«
»Und wenn wir dort sind? Was dann?«
»Wir halten still und warten ab, bis Samjatin den ersten Zug macht. Ungern-Sternberg wird mit uns kooperieren. Samjatin im Austausch für Ihren Sohn. Und für den tibetischen Jungen natürlich. Ungern ist in prekärer Lage. Ein Versprechen britischer Hilfe kann er nicht einfach ausschlagen. Ich schicke ihm morgen über diplomatische Kanäle ein offizielles Telegramm. Darin kündige ich uns an und bitte ihn um seinen Schutz. Damit ist Samjatin ausmanövriert, Christoper. Er läuft geradewegs in eine Falle.«
Christopher schaute Winterpole an, als wäre der sehr weit weg. Sein ganzer Aufzug, seine Zigaretten, sein selbstsicheres Auftreten – all das kam ihm vor wie von einem anderen Stern. Er war ein Intrigant, aber er wusste sehr wenig von der Welt, für die er seine Intrigen spann.
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte Christopher.
47
Getreu seiner Ankündigung schickte Winterpole am nächsten Morgen ein Telegramm ab. Das war ein kompliziertes Verfahren. Zunächst musste es über Landschou nach Peking gesandt und von dort nach Urga weitergeleitet werden, wo es in Ungern-Sternbergs prächtigem neuen Telegrafenamt ankommen sollte. Selbst zu besten Zeiten gab es bei solchen Aktionen stets unvermeidliche Verspätungen, Fehlübermittlungen oder unterbrochene Leitungen. Und dies waren nicht die besten Zeiten – weder in China noch in der Mongolei.
Hätte Winterpole einen Tag abgewartet, dann wäre er informiert worden, dass aufständische Truppen die Telegrafenleitung zwischen Yenan und Peking unterbrochen hatten und seine Depesche daher »auf unbestimmte Zeit« liegenbleiben musste. Aber kaum eine Stunde, nachdem er das Telegramm abgeschickt hatte, tauchte er bei Christopher auf und drängte zum Aufbruch. Wieder saßen sie in dem Raum des Rasthauses zu ebener Erde beisammen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mit Ihnen mitkommen soll«, sagte Christopher.
»Warum nicht?«
»Weil ich Ihnen nicht vertraue. Samjatin interessiert Sie doch gar nicht. Sie haben selber gesagt, er wird in eine Falle laufen. Sie könnten eigentlich an diesen Ungern-Sternberg telegrafieren und dann in aller Ruhe heimreisen. Aber Sie wollen persönlich in Urga sein. Sie brauchen den Jungen für sich selbst. Sie wollen ihn zu Ihrem Vorteil nutzen.«
Winterpole zückte ein Taschentuch aus weißem Leinen und schnäuzte sich sorgfältig die Nase. Ebenso exakt faltete er es wieder zusammen und steckte es weg.
»Zu unserem Vorteil, Christopher.«
»Nicht zu meinem.«
»Sie wollen doch Ihren Sohn finden, nicht wahr? Sie wollen ihn doch mit nach Hause nehmen.«
Darauf sagte Christopher nichts.
»Natürlich wollen Sie das. Dann kommen Sie mit mir nach Urga. Und das tibetische Mädchen nehmen Sie mit. Sie können sie nicht hier zurücklassen.«
Christopher glaubte zu wissen, was Winterpole im Schilde führte. Mit Chindamanis Hilfe hoffte er den nötigen Einfluss auf Samdup ausüben zu können. Aber in einem hatte er natürlich recht. Christopher würde sich nicht die letzte Chance entgehen lassen, William zu retten.
»Wer ist dieser Ungern-Sternberg?«, fragte Christopher.
Winterpole zuckte die Achseln.
»Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich lasse ihn seit über einem Jahr beobachten, aber ich bekomme nur widersprüchliche Berichte. Im Grunde wissen wir so gut wie nichts über ihn.«
Er verstummte und versank in Nachdenken.
»Was wir allerdings wissen …« Wieder stockte er. »… klingt nicht gerade angenehm. Ungern-Sternberg ist, wie die Psychologen sagen, wahrscheinlich ein Psychopath. Er scheint überhaupt nicht zu wissen, was Recht und was Unrecht ist.
Aber …«, erneut unterbrach er sich, »… er ist der Mann des Augenblicks. Der rechte Mann am rechten Ort. Gott weiß, wir wählen unsere Freunde nicht immer gut aus. Aber oft genug haben wir keine Wahl.
Ungern-Sternberg ist die Sorte Mann, die nur in Zeiten wie diesen nach oben kommt. Er ist dafür geschaffen, es liegt ihm im Blut. Und das ist schlecht genug. Seine Familie gehört zu den vier führenden des Baltikums: Das sind die Üxkülls, die Tiesenhausens, die Rosens und die Ungern-Sternbergs.
Die Ungern-Sternbergs stammen von einem alten Rittergeschlecht ab, das sich im 12. Jahrhundert auf den Kreuzzug gegen Russland begab. Sie machten Riga zu ihrer Festung. Sie waren ein brutaler Haufen, der ständig Händel anfing und immer mit den Taschen voller Beute nach Hause kam. Raufbolde, Piraten, Plünderer und Raubritter. Sie entwickelten Gewalt zu einer Kunst. Und hier haben wir ihren letzten Spross, einen Verrückten, der sich für den mongolischen Kriegsgott hält und entsprechend handelt.«
»Wie alt ist er?«, fragte Christopher.
»Etwa so alt wie Sie, Jahrgang 1887. Er hat in der russischen Kriegsmarine angefangen, nachdem er deren Kadettenschule in St. Petersburg abgeschlossen hatte. Aber das Seemannsleben scheint ihm nicht sehr behagt zu haben, obwohl er Piraten unter seinen Ahnen hatte. Vielleicht wollte ja auch die Marine ihn nicht haben. Jedenfalls nahm er dort seinen Abschied, zog nach Osten und landete schließlich bei den Argun-Kosaken in Transbaikalien. Dort ging es ihm hervorragend, so heißt es. Seine Hauptbeschäftigung sollen die Falknerei, Duelle und die Jagd gewesen sein. Aber am Ende haben ihn auch die Kosaken davongejagt: zu viele Raufereien, zu viel Insubordination.
Für eine Weile ist er unter die Banditen gegangen. Dann brach der Krieg aus, und er sah eine Chance für sich. Er schickte ein Gesuch an den Zaren persönlich und bat darum, wieder in die Armee aufgenommen zu werden. Der gab seine Zustimmung, und Ungern-Sternberg kam zu den Nertschinsker Kosaken unter Wrangel. Aber auch dort scheint er nicht beliebt gewesen zu sein. Soviel wir wissen, hielten die meisten Offiziere Abstand von ihm. Dabei kann Ungern-Sternberg kämpfen, das ist keine Frage. Er erhielt alle Auszeichnungen bis hinauf zum Georgskreuz. Er war so hochdekoriert, dass sie ihn zum Generalmajor befördern mussten. Dann brach die Revolution aus.«
Winterpole hielt einen Moment inne und leckte sich die Lippen. Gedankenverloren spielten seine Finger mit den Mahjong-Steinen, die noch auf dem Tisch herumlagen. Er sortierte sie in kleine Häufchen zu zwei und drei. Das Geräusch irritierte Christopher.
»Als Ungern-Sternberg merkte, woher der Wind wehte, verdrückte er sich von der deutschen Front und zog sich nach Transbaikalien zurück, wo er sich dem Ataman Semjonow anschloss. Bald war er dort wieder General und befehligte die Region Daurien.«
Winterpole blickte jetzt sehr ernst drein. Seine Hände lagen ruhig auf dem Tisch. Das Spiel mit den Steinen hatte aufgehört.
»Ich bin einmal in Daurien gewesen«, sagte er. »Wussten Sie das?«
Christopher schüttelte den Kopf. Aber er hatte davon gehört.
»Das war Anfang 1920. Unsere Truppen hatten Sibirien bereits verlassen. Die Generale der Weißen waren am Ende. Koltschak, Wrangel oder Kornilow – entweder tot oder im Exil. Nur die Japaner standen noch in Wladiwostok. Sie unterstützten Semjonow mit Waffen und Geld und versprachen ihm politische Anerkennung.
Ich wurde ausgeschickt, um ihn in seinem Hauptquartier in Tschita zu besuchen und herauszufinden, wo er stand. Das war die leichteste Mission meines Lebens. Ich sah sofort, dass Semjonow nur für sich selber sorgte. Ebenso seine Männer.
Nie habe ich eine brutalere Truppe erlebt. Vielleicht glaubten diese Leute, sie seien bereits tot und brauchten keine menschlichen Regungen mehr. Es wurde gehurt, gespielt und getrunken, aber nicht so, wie es Soldaten im Urlaub oder vor der Schlacht tun, sondern ständig und auf die wildeste Art. Die Offiziere trieben es noch schlimmer als die Soldaten. Barbarischer im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Bier und Schnaps blieb es nicht. Morphium, Kokain oder Opium mussten her. Und das Töten hörte nicht auf. Ich glaube, dass die Drogen sie in diesen Zustand versetzt haben. Es wurde ihnen zur Gewohnheit. Niemand stoppte sie, Strafen hatten sie nicht zu befürchten. Denn das Gesetz waren sie selbst. Sie legten jeden um, der ihnen nicht gefiel. Es spielte keine Rolle. Solange sie nicht gegen die eigenen Leute vorgingen, kümmerte sich niemand darum.«
Wieder verstummte er, und seine Finger begannen erneut das Spiel mit den Steinen. Erinnerungen übermannten ihn, die wohl noch nicht fern genug waren, um ihren Schrecken verloren zu haben.
»Wie Sie sicher wissen, fährt der internationale Express von Sibirien nach der Mandschurei durch Transbaikalien. Man schickte mich auf einen Trip längs der Eisenbahnstrecke, um zu sehen, wie Semjonow die Verbindungswege in der von ihm kontrollierten Region offenhielt. Die ganze Gegend war von »Todesstationen« übersät, wie Semjonow sie nannte. Dort wurden Leute wahllos aus den Zügen geholt – Juden, vermutete Bolschewiken, Kommissare oder reiche Kaufleute. Sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Wenn nachgefragt wurde, hieß es immer: ›Unterwegs vermisst‹. Und wer fragte damals nach?«
Er zögerte kurz, fuhr dann aber weiter fort.
»Einmal …« – hier verdüsterte sich sein Blick –, »einmal habe ich die seltsamste, schrecklichste Sache erlebt, die mir je vorgekommen ist. Ich stieß auf eine endlose Reihe von Zügen, die auf den Schienen festsaßen. Meilenweit nur Waggons und Lokomotiven, alle unbeweglich wie eine gigantische Schlange. Ein Seeungeheuer, groß genug, um eine ganze Flotte zu verschlingen.
Der vordersten Lok waren Brennmaterial und Wasser ausgegangen. Sie blieb stehen, bis sie an den Schienen festfror. Die Kälte verschweißte die Metallteile förmlich miteinander. Der zweite Zug, der folgte, versuchte, den ersten weiterzuschieben. Aber vergeblich. Auch er fror fest. Die ganze Zeit informierte niemand darüber, was dort vorging. Daher wurden weiter Züge geschickt. Zug auf Zug.
Wir gingen näher heran. Es war bitterkalt. Die Wagen waren mit Reif überzogen. Drinnen lagen zahllose Leichen von Passagieren, die hier erfroren waren. Aus Furcht vor der Kälte hatten sie ihre Abteile nicht verlassen, wussten nicht, was passiert war, und warteten auf Hilfe aus Moskau. Man sagte mir, damals seien dort fünfundvierzigtausend Menschen erfroren. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Aber ich habe viele Leichen gesehen. Alle wunderbar erhalten.«
Er hatte Mühe, weiterzusprechen.
»In einem Wagen saß eine wunderschöne Frau. Sie war in einen Zobelpelz gehüllt, und ihr Haar sah aus wie feinste Spitze. Im Tod war sie kaum verändert. Sie war leichenblass und steif gefroren, aber immer noch von vollkommener Schönheit. Sie wirkte wie eine Puppe, weiß, traurig und unberührbar. Ich wollte ein Fenster einschlagen und einsteigen, um sie aus der Nähe zu betrachten. Ich wollte sie küssen, nur um zu erfahren, wie das Eis auf ihren Lippen schmeckte. Ich glaubte fast, ich könnte sie auftauen, durch meine Wärme wieder zum Leben erwecken. Sie war so still, totenstill.«
Er verstummte, von Erinnerungen überwältigt, als er die überfrorenen Wagen der Transsibirischen Eisenbahn entlangging, bleiche Gesichter sah und die hölzernen Viehwagen, in denen die Leichen abtransportiert wurden.
Christopher überließ ihn seinen Gedanken und stieg wieder zu ihrem Zimmer hinauf. Sie würden bald aufbrechen müssen. Er hatte keine Wahl. Niemals hatte er eine Wahl gehabt.