28
Der Raum, in den man Christopher jetzt führte, war größer als die Zelle, in der er vorher gewohnt hatte. Er war quadratisch und mit kostbaren Möbeln ausgestattet. Die hohen Wände trugen farbige Kacheln, die aus dem fernen Persien stammten. Pfaue stolzierten umher, und dunkeläugige Mädchen warfen verführerische Blicke über Schalen voller Wein. Die Silhouetten von Nachtigallen und Wiedehopfen zeichneten feine Muster wie Vogelgezwitscher an den blauen Himmel. Es war ein luxuriöser Ort, der so gar nicht in ein Kloster passen wollte. Aber hier saß Christopher ebenso gefangen wie in der kleinen Zelle weiter unten, wo er bisher gewesen war.
Er lag lange wach in tiefer Dunkelheit, die für ihn nach Kindheit roch. Seine Butterlampe war erloschen, und er durchlebte noch einmal seine Vergangenheit mit der plötzlichen Erkenntnis, dass sein Vater nie gestorben war. Während Christopher um ihn trauerte, war er hier in Dorje-la gewesen, vielleicht sogar in diesem Raum, und hatte eine neue Identität angenommen. Wurde dadurch etwas anders?, fragte er sich. Was geschehen war, konnte niemand mehr ändern. Er fiel in einen unruhigen Schlaf wie in jener fernen Nacht, als die Nachricht vom Tode seines Vaters ihn erreicht hatte.
Ein leises Geräusch weckte ihn. Ein Licht flackerte in seinem Raum. Jemand stand an seinem Bett und betrachtete ihn schweigend. Erst glaubte er, es sei der Vater, der über seinen Schlaf wache, aber dann erkannte er, dass die Gestalt mit dem Licht kleiner und nicht so gebeugt war wie er.
»Wer ist hier?«, rief er aus, obwohl er es schon wusste.
»Tschsch«, zischte der Eindringling. In diesem Augenblick wurde das Licht etwas höher gehoben, und er sah sie, von einem Leuchten umspielt. Wie lange hatte sie bereits im Halbdunkel gestanden und ihn betrachtet?
Geräuschlos trat sie näher.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«, flüsterte sie. Zum ersten Mal konnte er ihr Gesicht aus der Nähe betrachten. Er hatte nicht gedacht, dass sie so schön war. Aus dem Dunkel schaute sie ihn besorgt an.
»Ich wollte sehen, ob Sie wach sind«, flüsterte sie.
Er setzte sich auf. Obwohl er sich voll angekleidet niedergelegt hatte, war ihm kalt.
»Ich weiß nicht, ob ich lange geschlafen habe. Um die Wahrheit zu sagen, ich wäre lieber wach geblieben.«
Sie stellte ihre Lampe auf ein Tischchen und zog sich ins Dunkel zurück. Er spürte, dass sie Angst vor ihm hatte.
»Warum hat man Sie in diesen Raum gebracht?«, fragte sie. Er erklärte es ihr. Als er geendet hatte, wirkte sie sehr bedrückt.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, kam die Gegenfrage.
Sie zögerte.
»Meine alte Kinderfrau Sönam weiß alles, was in Dorje-la vorgeht«, sagte sie. »Sie hat es mir gesagt.«
»Aha. Und wie sind Sie hier hereingekommen? Der Mönch, der mich hergeführt hat, sagte, meine Tür werde die ganze Nacht bewacht.«
Er glaubte ein kleines Lächeln zu sehen.
»Dorje-la ist voller Geimnisse«, flüsterte sie.
»Und Sie?«, fragte er.
»Ich verstehe nicht.«
»Sind Sie eines dieser Geheimnisse?«
Sie schaute zu Boden. Als sie wieder aufblickte, wirkten ihre Augen dunkler, aber voller Sterne.
»Vielleicht«, antwortete sie leise.
Christopher schaute sie genauer an. Ihre Augen waren wie Seen, in denen ein Mann ertrinken konnte, wenn er sich nicht vorsah.
»Wie sind Sie in dieses Kloster gelangt?«, fragte er.
»Ich bin schon immer hier«, sagte sie einfach.
Er schaute sie ungläubig an. Es schien ihm unmöglich, dass an einem Ort wie diesem eine solche Schönheit leben konnte.
»Es hat immer eine Dame in Dorje-la gegeben«, fuhr sie fort.
»Eine Dame?«, wiederholte er verständnislos.
»Jemanden, der für die Göttin Tara steht«, antwortete sie. »Die Göttin Drölma, Avalokitas Gefährtin. Sie hat im Körper einer Frau immer hier in Dorje-la gelebt.«
Er starrte sie erschrocken an.
»Wollen Sie sagen, Sie seien eine Göttin? Und werden hier verehrt?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Die Göttin ist Tara. Oder Drölma, wenn Sie wollen. Sie hat viele Namen. Ich bin eine Frau. Sie findet ihre Inkarnation in mir, aber ich bin nicht sie, ich bin nicht die Göttin. Verstehen Sie?«
Er schüttelte den Kopf.
»Das ist doch ganz einfach«, sagte sie. »Wir alle sind Erscheinungen des ewigen Buddha. Meine Erscheinung ist Tara. Sie lässt sich in mir und durch mich sehen. Aber ich bin nicht Tara. Ich bin Chindamani. Ich bin nur eine äußere Hülle für Tara hier in Dorje-la. An anderen Orten hat sie andere Körper.«
Christopher schüttelte erneut den Kopf.
»Das ergibt für mich keinen Sinn. Ich könnte glauben, dass Sie eine Göttin sind, das wäre nicht schwer. Sie sind schöner als jede Götterfigur, die ich je gesehen habe.«
Sie errötete und blickte zu Boden.
»Ich bin nur eine Frau«, murmelte sie. »Ich kenne nur dieses Leben und diesen Körper. Tara kennt alle meine anderen Körper. Wenn ich wiedergeboren werde, wird Tara einen anderen Körper haben. Aber Chindamani wird es nicht mehr geben.«
Draußen erhob sich ein kurzer Windstoß und legte sich wieder.
»Es tut mir leid, dass das so schwierig für Sie ist«, sagte sie.
»Mir tut es auch leid.«
Sie schaute ihn wieder an und lächelte.
»Sie sollten nicht so traurig sein.«
Aber die Trauer saß tief in ihm. Niemand konnte ihn jetzt davon befreien.
»Sagen Sie mir«, fuhr er fort, »was bedeutet der Name Chindamani? Sie sagten, Tara habe viele Namen. Ist das einer davon?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist ein Wort aus dem Sanskrit. Es bedeutet ›der Edelstein, der jeden Wunsch erfüllt‹. Darüber gibt es eine alte Legende. Wer diesen Edelstein findet, dem wird jeder Wunsch erfüllt. Hat man dort, wo Sie herkommen, auch solche Geschichten?«
»Ja«, antwortete Christopher. Bei sich aber dachte er, dass sie meist tragisch endeten.
»Sie haben mir noch nicht Ihren Namen genannt«, sagte sie.
»Ich heiße Christopher«, antwortete er. »Christopher.«
»Ka-ris To-feh. Was bedeutet das?«
»Das ist nicht ganz einfach zu erklären«, sagte er. »Ein Name des Gottes, den mein Volk verehrt, ist ›Christus‹. ›Christopher‹ ist der Name eines Mannes, der ihn auf seinen Schultern getragen hat, als er ein Kind war. Es bedeutet: ›der Christus getragen hat‹.« Er meinte, sie werfe ihm einen merkwürdigen Blick zu, als hätte er eine verborgene Saite in ihr zum Klingen gebracht. In Gedanken versunken, schwieg sie eine Weile. Er musterte ihr Gesicht und wünschte sich sehr, es wäre Tag, und er könnte sie besser sehen.
»Chindamani«, sagte er jetzt und wechselte das Thema. »Ich weiß, wer der Dorje Lama ist. Ich weiß auch, warum er meinen Sohn hierhergeholt hat und ihn hierbehalten will. Sie haben gesagt, Sie könnten mir helfen, William von hier fortzubringen. Sind Sie immer noch dazu bereit?«
Sie nickte.
»Aber warum?«, fragte er. »Weshalb wollen Sie mir helfen?«
Sie runzelte die Brauen.
»Weil ich auch Ihre Hilfe brauche«, antwortete sie. »Ich kann Ihnen und Ihrem Sohn einen Weg zeigen, wie Sie Dorje-la verlassen können. Aber wenn wir draußen sind, bin ich hilflos. Ich bin als kleines Mädchen hierher gebracht worden. Die Außenwelt ist für mich wie ein Traum. Ich brauche Sie, um mich dort zurechtzufinden.«
»Aber warum wollen Sie überhaupt von hier weg? Helfen Sie mir und William, von hier zu entkommen. Den Rest erledige ich allein.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass hier Gefahr droht«, erklärte sie mit Nachdruck. »Ich muss von hier fort.«
»Sie meinen, dass Sie in Gefahr sind?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Nein. Mir würde niemand etwas tun. Aber andere sind in Gefahr. Besonders einer. Ich muss ihm helfen, von hier zu fliehen. Und ich möchte, dass Sie mir dabei helfen.«
»Das verstehe ich nicht. Wer ist diese Person? Warum droht ihm Gefahr?«
Sie zauderte.
»Das ist nicht leicht zu erklären.«
»Versuchen Sie es doch, bitte.«
»Nein«, sagte sie. »Es ist wohl besser, wenn Sie sich selbst ein Bild machen. Kommen Sie mit mir. Aber verhalten Sie sich ruhig. Wenn wir entdeckt werden, kann ich Ihnen nicht helfen. Er wird Sie töten lassen.«
»Wer? Wer wird mich töten lassen?«
»Ein Mongole. Sie sagen, er kommt aus einem fernen Land namens Russland. Sein Name ist Samjatin.«
»Den kenne ich«, sagte Christopher. »Ist er die Quelle der Gefahr?«
»Ja. Samjatin und die ihn unterstützen. Er hat Anhänger hier im Kloster. Der Mann, der Sie hergebracht hat, Tsarong Rinpoche, ist einer von ihnen.«
Das klang immer noch recht verworren, aber langsam begann Christopher klarer zu sehen.
»Wohin gehen wir?«, fragte er.
Zum ersten Mal blickte sie ihm direkt ins Gesicht.
»Zu Ihrem Sohn«, sagte sie. »Ich habe Ihnen versprochen, dass ich Sie zu ihm bringe.«