Eine Liebesgeschichte
Es wurde einmal – unwichtig, wann, und im tapferen England ist es unwichtig, wo – eine wilde Schlacht geschlagen. Sie wurde geschlagen an einem langen Sommertag, als das wogende Gras grünte. So manche wilde Blume, von der Hand des Allmächtigen geschaffen, ein duftender Becher für den Tau zu sein, spürte, wie ihr Kelch sich an jenem Tag bis oben mit Blut füllte, und sank schaudernd zu Boden. So manches Insekt, das seine zarte Farbe von harmlosen Blättern und Kräutern erhielt, wurde an jenem Tag von sterbenden Männern aufs neue befleckt und bezeichnete seinen ängstlichen Weg mit einer unnatürlichen Spur. Der farbenfrohe Schmetterling trug an seinen Flügelrändern Blut in die Lüfte. Es floß ein roter Strom. Der ausgetretene Boden wurde zum Morast, aus dessen trüben Pfützen, die sich in den Abdrücken von Füßen und Pferdehufen gebildet hatten, die eine, alles beherrschende Farbe noch in der Sonne düster flammte und schimmerte.
Der Himmel bewahre uns vor dem Schauspiel, das sich dem Mond auf jenem Feld bot, als er über der schwarzen Linie der fernen Anhöhe auftauchte, deren Silhouette durch Bäume verschwommen und undeutlich war, zum Himmel aufstieg und auf die Ebene schaute, die mit aufwärts gerichteten Gesichtern übersät war, die einst an der Mutter Brust den Blick der Mutter gesucht oder glücklich geschlummert hatten. Der Himmel bewahre uns vor der Kenntnis der stillen Gebete, geflüstert in den verpesteten Wind, der über den Schauplatz jenes Tagewerks und jenes nächtlichen Sterbens und Leidens wehte! Manch einsamer Mond schien hell über dem Schlachtfeld, manch ein Stern hielt trauervoll darüber Wache, und manch ein Wind aus allen Teilen der Erde wehte darüber hinweg, ehe die Spuren des Kampfes verwischt waren.
Lange Zeit hielten sie sich verborgen und zögerten noch, doch sie lebten in kleinen Dingen fort, denn die Natur, die weit stärker ist als die bösen Leidenschaften der Menschen, gewann bald ihre Heiterkeit zurück und lächelte über dem schuldbeladenen Schlachtfeld wie vorher, als es makellos war. Hoch über ihm sangen die Lerchen; die Schwalben glitten und huschten hin und her, stürzten nieder und schnellten in die Höhe; die Schatten der dahinfliegenden Wolken jagten sich über Gras und Getreide, Rübenfelder und Wälder, über Dächer und Kirchturmspitzen der zwischen Bäumen eingebetteten Stadt, hinaus in die leuchtende Ferne, wo Himmel und Erde zusammenstießen und wo der rote Sonnenuntergang verblaßte. Getreide wurde gesät, wuchs heran und wurde geerntet; der Bach, der blutrot gewesen war, trieb eine Mühle an; Männer pfiffen beim Pflügen; Ährenleser und Heumacher konnte man in Gruppen bei friedlicher Arbeit sehen; Schafe und Rinder weideten; Jungen schrien und brüllten auf den Feldern, um die Vögel zu verscheuchen; Rauch stieg aus den Schornsteinen der Landarbeiterhütten auf; sonntägliche Glocken läuteten feierlich; alte Männer lebten und starben; die ängstlichen Geschöpfe des Feldes und die schlichten Blumen in Gebüsch und Garten wuchsen und vergingen in ihrem vorherbestimmten Lauf; und alle auf dem wilden, blutigen Schlachtfeld, wo Tausende und aber Tausende in dem großen Kampf getötet worden waren.
Aber anfangs gab es im wachsenden Getreide dunkelgrüne Flächen, die die Menschen ehrfurchtsvoll betrachteten. Jahr für Jahr erschienen sie aufs neue. Und es war bekannt, daß unter solchen fruchtbaren Flecken wahllos unzählige Menschen und Pferde begraben lagen, die den Boden ertragreicher machten. Die Bauern, die jene Stellen pflügten, entsetzten sich vor den dort reichlich vorhandenen großen Würmern; und Garben, die sie dort einbrachten, wurden jahrelang Schlachtgarben genannt und beiseite gestellt, und keiner wußte, daß jemals eine Schlachtgarbe in der letzten Fuhre beim Erntefest gewesen war. Lange Zeit brachte jede Furche, die gezogen wurde, Überbleibsel vom Kampf zum Vorschein. Lange Zeit gab es verletzte Bäume auf dem Schlachtfeld und Reste von zerschlagenen und zerbrochenen Zäunen und Mauern, wo grausame Kämpfe stattgefunden hatten; und zertrampelte Flächen, auf denen kein Blatt oder Halm mehr wachsen würde. Lange Zeit wollte kein Mädchen aus dem Dorf ihr Haar oder ihre Brust mit den lieblich duftenden Blumen von jenem Todesfeld schmücken; und noch nachdem so manches Jahr vergangen war, glaubte man, daß die dort wachsenden Beeren an der Hand, die sie abpflückte, einen dunklen Fleck hinterlassen würden.
Doch die Jahreszeiten in ihrem Lauf, obwohl sie selbst so leicht wie die Sommerwolken vorbeizogen, verwischten mit der Zeit sogar diese Reste des alten Streites und milderten seine legendären Spuren, die in den Köpfen der, dort wohnenden Menschen hafteten, bis sie zu Altweibergeschichten zusammenschrumpften, an die man sich im Winter vorm Kamin schwach erinnerte und die jedes Jahr mehr verblaßten. Wo die wilden Blumen und Beeren so lange unberührt geblieben waren, entstanden Gärten, wurden Häuser gebaut und fochten Kinder auf dem Rasen ihre Kämpfe aus. Die verletzten Bäume waren längst zu Scheiten gemacht und zur Weihnachtszeit verbrannt worden. Die dunkelgrünen Flächen waren jetzt nicht frischer als die Erinnerung an jene, die tot unter der Erde lagen. Die Pflugschar brachte noch hin und wieder verrostetes Metall hervor, aber es war schwer zu sagen, welchem Zweck es jemals gedient hatte, und die, die es gefunden hatten, überlegten und stritten sich. Ein alter verbeulter Harnisch und ein Helm hingen schon so lange in der Kirche, daß derselbe schwache, halbblinde, alte Mann, der vergeblich versuchte, sie über dem weißgetünchten Bogen zu erkennen, sie schon als kleines Kind bestaunt hatte.
Wenn das Heer, das auf dem Feld geschlagen wurde, für einen Augenblick in der Gestalt hätte Wiedererstehen können, in der es fiel – jeder auf dem Fleckchen, das die Lagerstätte seines frühzeitigen Todes war –, so hätten einen leichenblasse Soldaten mit klaffenden Wunden zu Hunderten aus Haustüren und Fenstern angestarrt, wären auf die Herde friedlicher Heime gestiegen und zum aufgespeicherten Vorrat in Scheunen und Bodenkammern geworden, wären zwischen dem Wiegenkind und seinem Kindermädchen aufgetaucht und mit dem Bach geschwommen und um die Mühle gewirbelt, hätten sich im Obstgarten und auf der Wiese zusammengedrängt und den Hof mit sterbenden Männern vollgestapelt. So hatte sich das Schlachtfeld verändert, auf dem Tausende und aber Tausende in dem großen Kampf getötet worden waren.
Vielleicht nirgendwo stärker verändert als vor etwa hundert Jahren in einem kleinen Obstgarten, der sich an ein altes Steinhaus mit einer von Geißblatt bewachsenen Veranda anschloß, wo an einem strahlenden Herbstmorgen Musik und Gelächter zu vernehmen waren und zwei junge Mädchen fröhlich auf dem Rasen tanzten, während etwa ein halbes Dutzend Bauersfrauen, die auf Leitern standen und Äpfel von den Bäumen pflückten, in ihrer Arbeit innehielten, um herabzuschauen und an ihrem Vergnügen teilzuhaben. Es war ein angenehmes, belebendes Schauspiel: ein herrlicher Tag, ein abgelegener Ort und die beiden Mädchen, die völlig sorglos und ungezwungen nach Herzenslust tanzten.
Ich bin der Meinung – und ich hoffe, Sie stimmen mir zu –, daß wir es viel weiter brächten und eine entschieden liebenswürdigere Gesellschaft wären, wenn es auf der Welt nicht so etwas wie das Zurschaustellen gäbe. Es war bezaubernd, diese Mädchen tanzen zu sehen. Sie hatten keine anderen Zuschauer als die Apfelpflückerinnen auf den Leitern. Es machte ihnen Spaß, sie zu erfreuen, aber sie tanzten auch zum eigenen Vergnügen (oder zumindest hätte man den Eindruck haben können), und man konnte genausowenig umhin, sie zu bewundern, wie sie nicht umhinkonnten zu tanzen. Und wie sie tanzten!
Nicht wie Ballettänzer. Überhaupt nicht. Und nicht wie die ausgebildeten Schüler von Madam Soundso. Nicht im geringsten. Es war weder eine Quadrille noch ein Menuett oder ein Bauerntanz. Es war weder im alten noch im neuen, weder im französischen noch im englischen Stil, obwohl es durch Zufall eine Spur von spanischem Stil an sich hatte, der – wie mir gesagt wurde – leicht und fröhlich ist und einen köstlichen Hauch ungezwungener Begeisterung aus dem Klappern kleiner Kastagnetten erhält. Als sie unter den Obstbäumen und die Reihen entlang hin und her tanzten und sich gegenseitig flink herumwirbelten, schien sich ihre lebhafte Bewegung wie Ringe im Wasser auf dem sonnendurchfluteten Schauplatz auszubreiten. Ihr wallendes Haar und die flatternden Röcke, das weiche Gras unter ihren Füßen, die in der Morgenluft raschelnden Zweige, die aufleuchtenden Blätter, die gesprenkelten Schatten auf dem feuchten, grünen Boden, der linde Wind, der über die Landschaft strich und froh war, die Windmühle in der Ferne lustig zu drehen – alles zwischen den beiden Mädchen und dem Mann mit dem Gespann vor dem Pflug am fernen Horizont, die sich gegen den Himmel abhoben, als seien sie die letzten Dinge in der Welt: alles schien ebenfalls zu tanzen.
Schließlich warf sich die jüngere der tanzenden Schwestern atemlos und fröhlich lachend auf eine Bank, um sich auszuruhen. Die andere lehnte sich an einen Baum dicht daneben. Die Musik, eine wandernde Harfe und Geige, hörte mit Schwung auf, als ob sie mit ihrer Frische prahlen wollte. In Wahrheit jedoch hatten die Musikanten in solchem Tempo gespielt und sich selbst auf solch einen Höhepunkt bei ihrem Wettstreit mit den Tanzenden gebracht, daß sie keine Minute länger durchgehalten hätten. Die Apfelpflückerinnen auf den Leitern stimmten ein Summen und Murmeln der Anerkennung an und machten sich dann im Rhythmus der Melodie wieder bienenfleißig an die Arbeit.
Vielleicht um so eifriger, weil ein älterer Herr, kein anderer als Dr. Jeddler selbst – es waren Dr. Jeddlers Haus und Obstgarten, müssen Sie wissen, und Dr. Jeddlers Töchter –, herausgehastet kam, um zu sehen, was los sei und wer zum Teufel vor dem Frühstück auf seinem Grundstück Musik mache. Denn er war ein großer Philosoph, der Dr. Jeddler, doch nicht sehr musikalisch.
„Heute Musik und Tanz!“ sagte der Doktor, wobei er plötzlich stehenblieb und zu sich selbst sprach. „Ich dachte, sie fürchteten sich vor heute. Aber es ist eine Welt voller Widersprüche. Grace, Marion!“ fügte er laut hinzu, „warum ist die Welt heute morgen verrückter als sonst?“
„Übe Nachsicht, Vater, wenn es so sein sollte“, antwortete seine jüngere Tochter, Marion, ging nahe an ihn heran und schaute ihm ins Gesicht, „denn es hat jemand Geburtstag.“
„Es hat jemand Geburtstag, Kätzchen!“ antwortete der Doktor. „Weißt du nicht, daß immer jemand Geburtstag hat? Hast du nie gehört, wie viele neue Teilnehmer pro Minute in dieses – hahaha! es ist unmöglich, ernsthaft davon zu sprechen – unsinnige und lächerliche Unternehmen, das man Leben nennt, eintreten?“
„Nein, Vater!“
„Nein, du natürlich nicht; du bist eine Frau – beinahe“, sagte der Doktor.
„Übrigens nehme ich an“, und er schaute in das hübsche Gesicht dicht vor ihm, „daß du Geburtstag hast.“
„Nein, wirklich, Vater?“ rief seine Lieblingstochter und spitzte ihre roten Lippen, damit er sie küsse.
„Na, alles Liebe“, sagte der Doktor und drückte seine Lippen auf ihre, „und recht herzlichen Glückwunsch – was für eine Idee! Der Gedanke, zu solch einem Possenspiel Glück zu wünschen, ist gut“, sprach der Doktor zu sich selbst. „Hahaha!“
Dr. Jeddler war, wie ich schon sagte, ein großer Philosoph, und der Kern und das Geheimnis seiner Philosophie bestanden darin, die Welt praktisch als einen riesigen Spaß aufzufassen, als etwas viel zu Absurdes, als daß ein vernünftiger Mensch sie ernst nehmen könnte. Seine Überzeugung war am Anfang untrennbar mit jenem Schlachtfeld verbunden gewesen, auf dem er lebte, wie Sie bald begreifen werden.
„Nun, wie bist du zu der Musik gekommen?“ fragte der Doktor. „Natürlich Hühnerdiebe! Woher kamen denn die fahrenden Musikanten?“
„Alfred schickte die Musik her“, sagte seine Tochter Grace, wobei sie ein paar schlichte Blumen im Haar ihrer Schwester zurechtrückte, mit denen sie es in ihrer Bewunderung für diese jugendliche Schönheit geschmückt hatte und die beim Tanzen durcheinandergeraten waren.
„Oh! Alfred hat also die Musik geschickt?“ erwiderte der Doktor.
„Ja. Er traf sie, als sie die Stadt verließen und er früh hereinkam. Die Männer reisen zu Fuß und legten gestern abend dort eine Pause ein. Und da Marion Geburtstag hat und er dachte, es würde ihr gefallen, schickte er sie mit einer Notiz zu mir, daß sie ihr, falls ich einverstanden sei, ein Ständchen bringen sollten.“
„Oh, oh“, sagte der Doktor unbekümmert, „er richtet sich immer nach deiner Meinung.“
„Und da ich zustimmte“, sagte Grace aufgeräumt und hielt einen Augenblick inne, um den hübschen Kopf zu bewundern, den sie schmückte, wobei sie ihren in den Nacken warf, „und Marion in guter Stimmung war und zu tanzen begann, machte ich mit. Und so tanzten wir nach Alfreds Musik um so vergnügter, weil sie Alfred geschickt hatte. Nicht wahr, liebe Marion?“
„Ach, ich weiß nicht, Grace. Nun ziehst du mich auf wegen Alfred.“
„Dich aufziehen, wenn ich von deinem Liebsten spreche?“ sagte ihre Schwester.
„Ich mache mir wirklich nicht viel daraus, daß man von ihm spricht“, sagte die eigensinnige Schönheit, streifte die Blütenblätter von ein paar Blumen, die sie hielt, und verstreute sie auf dem Boden. „Ich bin es fast leid, von ihm zu hören, und was den Liebsten angeht …“
„Still! Sprich nicht so leichtfertig von einem aufrichtigen Herzen, das ganz dir gehört, Marion“, rief ihre Schwester. „Auch nicht im Scherz. Es gibt kein aufrichtigeres Herz auf der Welt als Alfreds.“
„Nein, nein“, sagte Marion, zog die Augenbrauen mit einer liebenswürdigen Miene leichter Gleichgültigkeit hoch, „vielleicht nicht. Aber ich sehe darin keinen großen Vorzug. Ich – ich will gar nicht, daß er so aufrichtig ist. Ich habe ihn nie darum gebeten. Wenn er erwartet, daß ich … Aber liebe Grace, warum müssen wir überhaupt gerade jetzt von ihm sprechen?“
Es war angenehm, die anmutigen Gestalten der blühenden Schwestern zu betrachten, wie sie umschlungen unter den Bäumen einhergingen und sich unterhielten, wobei Ernsthaftigkeit und Leichtfertigkeit aufeinandertrafen, doch Liebe zärtlich mit Liebe erwidert wurde. Und es war wirklich seltsam anzusehen, wie die Augen der jüngeren Schwester in Tränen schwammen und etwas inbrünstig und tief Empfundenes unter dem geäußerten Eigensinn durchbrach und mühsam damit rang.
Der Altersunterschied zwischen ihnen konnte höchstens vier Jahre betragen, doch Grace – wie das oft in solchen Fällen geschieht, wenn keine Mutter über beiden waltet (die Frau des Doktors war tot) – wirkte auf Grund der liebevollen Sorge um die jüngere Schwester und der ständigen Aufopferung für sie älter, als sie war, und sie schien im natürlichen Lauf der Dinge von jedem Wettstreit mit ihr oder der Beteiligung an ihren launischen Einfällen, außer durch ihre Anteilnahme und aufrichtige Liebe, weiter entfernt zu sein, als ihr Alter es rechtfertigte. Großartiger Charakter der Mutter, der selbst in seinem Schatten und seiner schwachen Widerspiegelung das Herz läutert und die erhabene Natur den Engeln näherbringt!
Die Überlegungen des Doktors, als er ihnen nachschaute und ihre Unterhaltung mit anhörte, waren zunächst auf gewisse heitere Betrachtungen über den Unsinn jeglicher Liebe und Zuneigung sowie auf die unnütze Täuschung beschränkt, der sich die jungen Leute hingaben, die einen Augenblick glaubten, daß an solchem Schwindel etwas Wahres sei, und immer eines Besseren belehrt wurden – immer!
Doch die den Haushalt verschönenden, selbstlosen Eigenschaften von Grace sowie ihre gutmütige, sanfte und zurückhaltende Veranlagung, die jedoch so viel Unerschrockenheit und Beständigkeit des Geistes einschlossen, schienen sich ihm in dem Gegensatz zwischen ihrer ruhigen und häuslichen Gestalt und der seines jüngeren und hübscheren Kindes zu zeigen, und es tat ihm um ihretwillen und um beider willen leid, daß das Leben ein so lächerliches Unternehmen sein sollte, wie es war.
Der Doktor dachte nicht im Traum daran, danach zu fragen, ob seine Kinder oder eins von beiden auf irgendeine Weise mithelfen könnten, diese Anschauung in eine ernsthafte zu verwandeln. Aber er war freilich ein Philosoph.
Er, von Natur aus ein freundlicher und großzügiger Mensch, war zufällig über jenen bekannten Stein der Weisen gestolpert (der viel leichter zu entdecken ist als der Gegenstand alchimistischer Untersuchungen, der manchmal freundliche und großzügige Menschen zu Fall bringt und die unangenehme Eigenschaft hat, Gold in Unrat zu verwandeln und aus jeder wertvollen Sache nur geringen Nutzen zu ziehen).
„Britain!“ rief der Doktor. „Hallo, Britain!“
Ein kleiner Mann mit einem ungewöhnlich griesgrämigen und unzufriedenen Gesicht kam aus dem Haus und antwortete auf diesen Ruf mit der zwanglosen Meldung „Nun also!“
„Wo ist der Frühstückstisch?“ fragte der Doktor.
„Im Haus“, erwiderte Britain.
„Stellen Sie ihn hier auf, wie Ihnen gestern gesagt wurde!“ sagte der Doktor. „Wissen Sie nicht, daß Herren kommen, daß heute morgen einiges zu erledigen ist, ehe die Kutsche vorfährt, daß dies ein besonderer Anlaß ist?“
„Ich konnte überhaupt nichts tun, Dr. Jeddler, solange die Frauen die Äpfel abnahmen“, sagte Britain, wobei seine Stimme bei der Argumentation anstieg, so daß sie zuletzt sehr laut war.
„Nun, sind Sie jetzt fertig?“ fragte der Doktor, sah auf seine Uhr und klatschte in die Hände. „Los! Beeilen Sie sich! Wo ist Clemency?“
„Hier bin ich, Herr“, sagte eine Stimme von einer der Leitern, die ein Paar plumpe Füße behende hinabkletterten. „Es ist jetzt alles fertig. Räumt weg, Mädels. In einer Minute soll alles für Sie bereit sein, Herr.“
Damit begann sie, äußerst geschäftig herumzuhantieren, und sie bot dabei einen Anblick, der es hinreichend rechtfertigt, sie mit ein paar Worten vorzustellen.
Sie war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein recht pausbäckiges und freundliches Gesicht, obwohl es einen seltsamen Ausdruck von Verschlossenheit trug, der es komisch wirken ließ. Doch die außergewöhnliche Schlichtheit ihres Ganges und ihres Benehmens hätten jedes andere Gesicht auf der Welt überflüssig gemacht. Die Behauptung, daß sie zwei linke Beine und die Arme von einem anderen hatte und daß alle vier Gliedmaßen ausgerenkt zu sein schienen und sich genau an der falschen Stelle bewegten, wenn sie in Gang gesetzt wurden, stellt die mildeste Beschreibung der Wirklichkeit dar. Die Behauptung, daß sie vollkommen zufrieden mit dieser Anordnung war und sie betrachtete, als habe sie nichts damit zu tun, und daß sie ihre Arme und Beine nahm, wie sie kamen, und sie über sich selbst verfügen ließ, wie es sich gerade ergab, spiegelt ihren Gleichmut nur schwach wider. Ihr Aufzug bestand aus einem erstaunlichen Paar eigenwilliger Schuhe, die niemals dahin gehen wollten, wohin ihre Füße liefen, aus blauen Strümpfen, einem Kleid, das in vielen Farben und mit dem häßlichsten Muster, was man für Geld auftreiben konnte, bedruckt war, und aus einer weißen Schürze. Sie trug stets kurze Ärmel und hatte durch ein oder das andere Ungeschick stets abgeschürfte Ellbogen, an denen sie so lebhaftes Interesse bekundete, daß sie ständig versuchte, sie herumzudrehen und einen Blick auf sie zu werfen. Im allgemeinen saß eine kleine Haube irgendwo auf ihrem Kopf, obwohl diese selten an der Stelle anzutreffen war, die normalerweise bei anderen Personen von diesem Kleidungsstück eingenommen wird. Doch von Kopf bis Fuß war sie peinlich sauber und bewahrte eine Art übertriebener Akkuratesse. Ihr lobenswertes Bestreben, sowohl vor dem eigenen Gewissen als auch in den Augen anderer ordentlich und wohlproportioniert zu sein, veranlaßte sie zu einem ihrer erschreckendsten Manöver, bei dem sie sich manchmal selbst mit einer Art Holzgriff (der ein Teil ihrer Kleidung war und gewöhnlich Korsettstäbchen genannt wurde) zu fassen bekam und mit ihrer Kleidung rang, bis sie symmetrisch angeordnet war.
Das war Clemency Newcome in ihrem äußeren Erscheinungsbild, die, wie man annahm, unbewußt ihren Vornamen Clementina entstellt hatte (doch keiner wußte es, denn die taube, alte Mutter – ein wahres Wunder an Alter –, die sie fast von Kindheit an unterstützt hatte, war tot, und andere Verwandte hatte sie nicht), die sich jetzt ganz dem Tischdecken hingab und dann und wann anhielt, ihre nackten, roten Arme verschränkte, sich die abgeschürften Ellbogen mit der jeweils anderen Hand rieb und sie gelassen betrachtete, bis ihr plötzlich etwas einfiel, das noch fehlte, und sie davontrottete, um es zu holen.
„Da kommen die beiden Rechtsanwälte, Herr!“ sagte Clemency in einem nicht gerade wohlwollenden Ton.
„Ah!“ rief der Doktor und lief zum Tor, um sie zu begrüßen. „Guten Morgen, guten Morgen! Grace, meine Liebe! Marion! Hier sind die Herren Snitchey und Craggs. Wo ist Alfred?“
„Er wird sicherlich gleich zurück sein, Vater“, sagte Grace. „Er hatte heute morgen so viel mit seinen Reisevorbereitungen zu tun, daß er vor Tagesanbruch auf und davon war. Guten Morgen, meine Herren.“
„Meine Damen“, sagte Mr. Snitchey, „von mir und Craggs“, der sich verbeugte, „einen guten Morgen! Miss“, an Marion gewandt, „ich küsse Ihre Hand.“ Was er auch tat. „Und ich wünsche Ihnen“ – was er tat oder vielleicht auch nicht, denn er sah auf den ersten Blick nicht wie ein Herr aus, der sich mit leidenschaftlichen Gefühlsergüssen um andere Leute kümmerte – „noch hundertmal glückliche Wiederkehr dieses glückverheißenden Ehrentages.“
„Hahaha!“ lachte der Doktor nachdenklich, die Hände in den Taschen. „Das große Possenspiel in hundert Aufzügen!“
„Gewiß würden Sie dieses große Possenspiel“, sagte Mr. Snitchey und stellte eine kleine, blaue Aktentasche gegen ein Tischbein, „wegen dieser Schauspielerin auf keinen Fall kürzen, Dr. Jeddler.“
„Nein“, erwiderte der Doktor, „Gottbewahre! Möge sie leben, damit sie darüber lacht, solange sie lachen kann, um dann mit dem französischen Wort zu sagen: ‚Das Spiel ist aus, der Vorgang falle.‘“
„Das französische Wort war falsch, Dr. Jeddler“, sagte Mr. Snitchey und linste verstohlen in seine blaue Mappe, „und Ihre Philosophie ist auch gänzlich falsch, wie ich Ihnen schon oft gesagt habe, verlassen Sie sich darauf. Nichts Ernstes im Leben! Was nennen Sie ein Gesetz?“
„Einen Witz“, antwortete der Doktor.
„Sind Sie jemals zu Gericht gegangen?“ fragte Snitchey und schaute von seiner blauen Mappe auf.
„Noch nie“, erwiderte der Doktor.
„Wenn Sie das jemals tun“, sagte Mr. Snitchey, „werden Sie vielleicht Ihre Meinung ändern.“
Craggs, der von Snitchey vertreten zu werden schien und sich wohl bewußt war, daß er nur wenig oder gar nicht selbständig existierte, aber eine besondere Persönlichkeit war, machte an dieser Stelle eine eigene Bemerkung. Sie enthielt den einzigen Gedanken, bei dem er nicht mit Snitchey eines Sinnes war; doch er hatte einige Partner unter den Weisen dieser Welt.
„Es wird viel zu leicht gemacht“, sagte Mr. Craggs.
„Das Gesetz?“ fragte der Doktor.
„Ja, alles“, sagte Mr. Craggs. „Alles scheint mir heutzutage viel zu leicht gemacht zu sein. Es ist die Verderbtheit unserer Zeit. Wenn die Welt ein Witz wäre (ich bin nicht bereit zu sagen, daß sie es nicht sei), sollte es sehr schwer gemacht werden, Witze zu reißen. Der Kampf, Sir, sollte so schwer wie möglich gemacht werden. Das ist das Ziel. Aber es wird viel zu leicht gemacht. Wir schmieren die Pforten des Lebens. Sie sollten rostig sein. Wir werden bald dafür sorgen, daß sie sich mit einem angenehmen Ton bewegen. Statt dessen sollten sie in ihren Angeln knirschen, Sir.“
Craggs schien geradezu selbst in den Angeln zu knirschen, als er diese Meinung äußerte, der er eine ungeheure Wirkung beimaß, da er ein gefühlloser, strenger, humorloser Mensch war, der wie ein Feuerstein in Grau und Weiß gekleidet ging und in dessen Augen es blitzte, als ob jemand Funken daraus schlüge. Die drei Naturreiche hatten wahrhaftig jedes einen seltsamen Vertreter in dieser Bruderschaft der Streitenden, denn Snitchey sah wie eine Elster oder ein Rabe aus (nur nicht so glänzend), und der Doktor hatte das geäderte Gesicht eines Winterapfels, mit einem Grübchen hier und da, das das Auspicken der Vögel andeutete, und hinten mit einem sehr kleinen Zopf, der den Stiel darstellte.
Als die behende Gestalt eines gutaussehenden jungen Mannes in Reisekleidern, der von einem Dienstmann mit verschiedenen Paketen und Körben begleitet wurde, schnellen Schrittes und mit einer frohen und hoffnungsvollen Miene, die gut zu diesem Morgen paßte, den Obstgarten betrat, versammelten sich die drei wie die äußerst wirkungsvoll verkleideten Brüder der Schicksalsschwestern oder wie die Grazien oder die drei Wahrsagerinnen auf der Heide und begrüßten ihn.
„Herzlichen Glückwunsch, Alfred!“ sagte der Doktor leichthin.
„Recht, recht herzlichen Glückwunsch zu diesem glückverheißenden Tag, Mr. Heathfield!“ sagte Snitchey und verbeugte sich tief.
„Glückwunsch!“ murmelte Craggs mit tiefer Stimme für sich.
„Na, was für ein Angriff!“ rief Alfred aus und hielt plötzlich inne. „Eins – zwei – drei – alles unheilbringende Wahrsager in der großen See vor mir. Ich bin froh, daß Sie mir heute morgen nicht als erste begegnet sind; ich hätte es als schlechtes Omen angesehen. Aber Grace war die erste – die süße, liebenswürdige Grace, und so fordere ich Sie heraus!“
„Wenn Sie gestatten, Herr, ich war die erste, wie Sie wissen“, sagte Clemency Newcome. „Sie spazierte vor Sonnenaufgang hier draußen rum, wie Sie sich erinnern. Ich war im Haus.“
„Das stimmt! Clemency war die erste“, sagte Alfred. „So fordere ich Sie mit Clemency heraus.“
„Hahaha – mich und Craggs“, sagte Snitchey. „Was für eine Herausforderung.“
„Keine so schlechte, wie es vielleicht aussieht“, sagte Alfred und schüttelte dem Doktor und auch Snitchey und Craggs herzlich die Hände und schaute sich dann um. „Wo sind die – du lieber Himmel!“
Mit einem plötzlichen Aufschrecken, das einen Augenblick lang zu einer engeren Partnerschaft zwischen Jonathan Snitchey und Thomas Craggs führte, als die bestehenden Vertragsartikel auf jene Weise vorsahen, flüchtete er eilends dorthin, wo die Schwestern beieinanderstanden, und ich brauche wohl die Art, in der er zuerst Marion und danach Grace begrüßte, nicht näher zu erläutern als mit der Andeutung, daß sie Mr. Craggs möglicherweise als „zu leicht“ betrachtet hätte.
Vielleicht, um das Thema zu wechseln, brach Dr. Jeddler eilig zum Frühstück auf, und alle setzten sich zu Tisch. Grace präsidierte und postierte sich so geschickt, daß sie ihre Schwester und Alfred von der übrigen Gesellschaft abschnitt. Snitchey und Craggs saßen an gegenüberliegenden Seiten, sicherheitshalber die blaue Mappe zwischen sich. Der Doktor nahm seinen üblichen Platz, Grace gegenüber, ein. Clemency schwebte als Serviererin um den Tisch, und der melancholische Britain wirkte an einem kleineren Tisch als großer Tranchierer eines Rinderbratens und eines Schinkens.
„Fleisch?“ fragte Britain, indem er sich Mr. Snitchey mit dem Tranchiermesser und der Gabel näherte und ihm die Frage wie ein Geschoß an den Kopf schleuderte.
„Gewiß“, erwiderte der Rechtsanwalt.
„Wollen Sie etwas?“ zu Craggs.
„Mager und schön gar“, entgegnete jener Herr. Nachdem er diesen Aufträgen nachgekommen war und den Doktor angemessen versorgt hatte (er schien zu wissen, daß sonst niemand etwas zu essen wünschte), hielt er sich so nahe, wie es der Anstand zuließ, in der Nähe der Firma auf und beobachtete mit strengem Blick, wie sie die Speisen verzehrten. Er milderte nur einmal seinen finsteren Gesichtsausdruck, und zwar bei der Gelegenheit, da Mr. Craggs, dessen Zähne nicht die besten waren, halb erstickte, als er mit großer Lebhaftigkeit ausrief: „Ich dachte, er wäre weg!“
„Nun, Alfred“, sagte der Doktor, „kurz auf ein Wort in geschäftlichen Dingen, während wir noch beim Frühstück sitzen.“
„Während wir noch beim Frühstück sitzen“, sagten Snitchey und Craggs, die gegenwärtig anscheinend nicht die Absicht hatten aufzuhören.
Obwohl Alfred nicht gefrühstückt hatte und gerade beschäftigt genug zu sein schien, antwortete er ehrerbietig:
„Wie Sie wünschen, Sir.“
„Wenn man etwas ernst nehmen könnte bei solch einem …“, begann der Doktor.
„Possenspiel, Sir“, half Alfred nach.
„Bei solch einem Possenspiel“, bemerkte der Doktor, „wäre es unmittelbar vor der Trennung die Wiederkehr eines Doppelgeburtstages, der für uns vier mit vielen lieben Erinnerungen und mit dem Gedanken an eine lange und freundschaftliche Verbindung verknüpft ist. Das gehört nicht zur Sache.“
„Ach ja, Dr. Jeddler“, sagte der junge Mann. „Es gehört zur Sache. Sehr sogar. Das kann mein Herz heute morgen bezeugen und Ihres auch, das weiß ich, falls Sie es sprechen lassen. Ich verlasse heute Ihr Haus. Ab heute bin ich nicht mehr Ihr Schützling. Wir trennen uns mit liebevollen Beziehungen, die wir weit hinter uns lassen und die niemals völlig wiederhergestellt werden können, und mit anderen, die noch vor uns liegen“, er schaute auf Marion neben sich herab, „und die solche Überlegungen mit sich bringen, von denen ich jetzt nicht zu sprechen wage. Nun, nun!“ munterte er seine Lebensgeister und den Doktor gleichzeitig auf, „es gibt ein Körnchen Ernsthaftigkeit in diesem großen, lächerlichen Haufen Staub, Doktor. Wollen wir heute einräumen, daß es eins gibt.“
„Heute!“ rief der Doktor. „Hört ihn euch an! Hahaha! Von all den lächerlichen Tagen des ganzen Jahres. Nun, an diesem Tag, an dem die große Schlacht auf diesem Boden geschlagen wurde. Auf diesem Boden, auf dem wir jetzt sitzen, wo ich meine beiden Mädchen heute morgen tanzen sah, wo das Obst für unsere Mahlzeit gerade von den Bäumen abgenommen wurde, deren Wurzeln in Menschen und nicht in Erde verankert sind. So viele Leben wurden gelassen, daß, wie ich mich erinnere, noch Generationen später unter unseren Füßen hier ein Friedhof voller Knochen, zu Staub zerfallener Knochen und Splitter von zerschmetterten Schädeln ausgegraben wurde. Doch keine hundert Menschen in jener Schlacht wußten, wofür oder warum sie kämpften; keine hundert der frohlockenden Sieger, warum sie sich freuten. Kein halbes Hundert hatte etwas von dem Gewinnen oder Verlieren. Kein halbes Dutzend Menschen sind sich bis zu dieser Stunde über Ursache oder Wert einig; kurzum, keiner wußte je etwas Genaueres darüber, nur die Hinterbliebenen der Toten. Ernst!“ sagte der Doktor lachend. „Solch ein System!“
„Aber das alles scheint mir sehr ernst zu sein“, sagte Alfred.
„Ernst!“ rief der Doktor. „Wenn man solche Dinge ernst nimmt, muß man verrückt werden oder sterben oder auf einen Berg steigen und Eremit werden.“
„Außerdem ist es lange her“, sagte Alfred.
„Lange her!“ erwiderte der Doktor. „Wissen Sie, was die Welt seitdem getan hat? Wissen Sie, was sie noch tut? Ich nicht!“
„Es ist ein wenig zu Gericht gegangen worden“, bemerkte Mr.Snitchey und rührte seinen Tee um.
„Obwohl der Ausgang immer zu leicht gemacht worden ist“, sagte sein Partner.
„Und Sie werden meine Äußerung entschuldigen, Doktor“, fuhr Mr. Snitchey fort, „daß ich schon tausendmal im Verlauf unserer Diskussionen zu der Ansicht gelangt bin, daß ich in dem Zu-Gericht-Gehen und im Rechtssystem überhaupt eine ernsthafte Seite sehe, ja etwas Greifbares und mit einem Zweck und einer Absicht …“
Clemency Newcome stieß ungeschickt gegen den Tisch und verursachte dabei ein geräuschvolles Klirren von Tassen und Untertassen.
„Nanu, was ist denn da los?“ rief der Doktor.
„Das ist die unheilbringende, blaue Tasche“, sagte Clemency, „die einem immer ein Bein stellt!“
„Mit einem Zweck und einer Absicht, sagte ich“, fuhr Snitchey fort, „die Achtung gebietet. Das Leben ein Possenspiel, Dr. Jeddler? Mit Gesetzen?“
Der Doktor lachte und sah Alfred an.
„Zugegeben, wenn Sie nichts dagegen haben, daß ein Krieg etwas Törichtes ist“, sagte Snitchey. „Dabei stimmen wir zu. Zum Beispiel. Das hier ist eine heitere Landschaft“, er wies mit seiner Gabel dahin, „in die Soldaten einst scharenweise einfielen – jeder einzelne von ihnen ein Rechtsverletzer – und sie mit Feuer und Schwert verwüsteten. Ha! Der Gedanke, daß sich jemand freiwillig Feuer und Schwert aussetzte! Dumm, verheerend, einfach lächerlich! Sie lachen über Ihre Mitmenschen, wenn Sie daran denken! Doch nehmen Sie mal diese heitere Landschaft, wie es gegenwärtig aussieht. Denken Sie an die Gesetze, die den unbeweglichen Besitz, die Hinterlassung unbeweglichen Besitzes, die Hypothek und den Rückkauf unbeweglichen Besitzes, das Pachtgut, den freien Grundbesitz oder das Zinslehen betreffen. Denken Sie“, sagte Snitchey in so großer Erregung, daß er tatsächlich schmatzte, „an die schwierigen Gesetze, die auf Besitzanspruch und seinen Nachweis Bezug nehmen, mit all den gegensätzlichen vorangegangenen und zahlreichen Parlamentsbeschlüssen, und die damit in Verbindung stehen.
Denken Sie an die ungeheure Anzahl klug erdachter und endloser Klagen vor dem Gericht des Lordkanzlers, die diese angenehme Aussicht verursacht haben kann, und geben Sie zu, Dr. Jeddler, daß sich ein grünes Fleckchen abzeichnet. Ich glaube“, sagte Mr. Snitchey und sah seinen Partner an, „daß ich für mich selbst und Craggs spreche?“
Da Mr. Craggs seine Zustimmung bekundete und Mr. Snitchey von seinen beredten Worten irgendwie aufgelebt war, äußerte er den Wunsch nach noch etwas Rindfleisch und einer Tasse Tee.
„Ich trete nicht unbedingt für das Leben schlechthin ein“, fügte er hinzu, rieb sich die Hände und lachte in sich hinein, „es ist voller Unsinnigkeiten und noch schlimmerer Dinge. Beteuerungen der Zuversicht, des Vertrauens und der Selbstlosigkeit und all diese Dinge! Pah! Wir sehen, was sie wert sind. Aber Sie dürfen nicht über das Leben lachen; Sie haben ein ernstes Spiel zu spielen, ein sehr ernstes sogar! Jeder spielt gegen Sie, und Sie spielen gegen die anderen. Oh, es ist eine sehr interessante Sache. Es gibt schwer verständliche Züge auf dem Schachbrett. Sie dürfen nur lachen, Dr. Jeddler, wenn Sie gewinnen, und dann auch nicht sehr. Hihihi! Und dann nicht sehr“, wiederholte Snitchey, wiegte den Kopf und blinzelte mit den Augen, als ob er hinzufügen wollte: „Sie können es trotzdem tun!“
„Nun, Alfred!“ rief der Doktor, „was sagen Sie jetzt?“
„Ich sage, Sir“, antwortete Alfred, „daß Sie mir und sich selbst den größten Gefallen tun könnten, glaube ich, wenn Sie manchmal versuchen würden, dieses Schlachtfeld und andere dieser Art über dem größeren Schlachtfeld des Lebens zu vergessen, auf das die Sonne täglich hinabschaut.“
„Ich fürchte nur, daß ihn dies in seinen Ansichten nicht weicher stimmen würde, Mr. Alfred“, sagte Snitchey. „Die Kämpfenden sind sehr verbissen und rauh in diesem Lebenskampf. Da wird ganz schön um sich geschlagen und rücksichtslos vorgegangen und den Leuten von hinten eine Kugel in den Kopf gejagt. Da wird niedergetrampelt und zu Boden getreten. Es ist ein übles Geschäft.“
„Ich glaube, Mr. Snitchey“, sagte Alfred, „daß es ganz im stillen Siege und Kämpfe gibt, daß große Opfer und edle Heldentaten (selbst bei den zahlreichen Fällen von scheinbarer Oberflächlichkeit und Widersprüchlichkeit), die nicht weniger schwer zu vollbringen sind, da sie von keiner irdischen Chronik aufgezeichnet werden und bei keinem irdischen Publikum Gehör finden, täglich in Ecken und Winkeln und kleinen Haushalten und in den Herzen von Männern und Frauen vollbracht werden, von denen jeder es fertigbringt, einen noch so grausamen Menschen mit dieser Welt auszusöhnen und ihn mit Glauben und Hoffnung zu erfüllen, obwohl die Hälfte der Menschheit im Krieg und ein Viertel vor Gericht war, und das ist eine tapfere Welt.“ Beide Schwestern hörten interessiert zu.
„Schon gut!“ sagte der Doktor, „ich bin zu alt, als daß ich von meinem Freund Snitchey oder meiner guten, unverheirateten Schwester Martha Jeddler bekehrt werden könnte, die schon vor einer Ewigkeit ihre häuslichen Anfechtungen – wie sie es nennt – hatte und seitdem mit allen Menschen ein Leben in Harmonie führt und die in einem solchen Maße Ihre Meinung teilt (nur daß sie als Frau weniger verständig und dafür eigensinniger ist), daß wir nicht Übereinkommen können und selten zusammenfinden. Ich wurde auf diesem Schlachtfeld geboren. Schon als Junge begann ich, meine Gedanken auf die wahre Geschichte eines Schlachtfeldes zu lenken. Sechzig Jahre sind ins Land gezogen, und ich habe keine christliche Welt kennengelernt. Weiß der Himmel, wie viele liebende Mütter und unbescholtene Mädchen wie die meinen hier alles andere als verrückt nach einem Schlachtfeld sind. Dieselben Gegensätze gewinnen bei allem die Oberhand. Man muß über solche gewaltigen Widersprüche entweder lachen oder weinen, und ich ziehe es vor zu lachen.“
Britain, der jedem Sprecher der Reihe nach äußerst nachdenklich und aufmerksam zugehört hatte, schien sich plötzlich für dieselbe Meinung zu entscheiden, falls ein tiefer, feierlicher Ton, der ihm entschlüpfte, als Beweis seiner Lachkunst ausgelegt werden kann. Sein Gesicht jedoch blieb vorher als auch nachher davon völlig unberührt, so daß, obwohl sich ein oder zwei Frühstücksgäste erschrocken nach dem geheimnisvollen Geräusch umblickten, keiner den Übeltäter damit in Verbindung brachte.
Nur seine Partnerin beim Bedienen, Clemency Newcome, fragte ihn mit vorwurfsvollem Flüstern, wobei sie ihn mit ihren Lieblingsgelenken, den Ellenbogen, aufschreckte, worüber er lache.
„Nicht über dich!“ sagte Britain.
„Über wen denn?“
„Über die Menschheit“, sagte Britain. „Das ist der Witz!“
„Zwischen dem Herrn und den Rechtsanwälten, er wird auch mit jedem Tag hohlköpfiger!“ rief Clemency und versetzte ihm mit dem anderen Ellbogen zur seelischen Aufmunterung einen Stoß. „Weißt du, wo du bist? Willst du eine Kündigung kriegen?“
„Ich weiß überhaupt nichts“, sagte Britain mit trübem Blick und unbewegtem Gesicht. „Ich kümmre mich um nichts. Ich stelle nichts fest. Ich glaube nichts, und ich will nichts.“
Obwohl diese traurige Einschätzung seiner allgemeinen Verfassung als eine Anwandlung von Verzweiflung überbewertet werden konnte, hatte Benjamin Britain – manchmal Little Britain genannt, um ihn von Great Britain zu unterscheiden, so wie wir Young England sagen, um einen eindeutigen Unterschied zu Old England auszudrücken – seinen wahren Zustand genauer umrissen, als man annehmen könnte.
Denn da er dem Doktor diente wie einst Miles dem Bruder Bacon und Tag für Tag zahllose Reden hörte, die der Doktor an verschiedene Leute richtete und die alle darauf hinausliefen zu zeigen, daß sein Leben bestenfalls ein Fehler und eine Sinnlosigkeit sei, war der unglückliche Diener in solch einen Abgrund verworrener und widersprüchlicher Vorstellungen von innen und außen gestürzt, daß die Wahrheit auf dem Grunde ihres Brunnens noch an der Oberfläche lag im Vergleich zu Britains tiefer Verwirrung. Der einzige Punkt, den er richtig verstand, war, daß das neue Element, was von Snitchey und Craggs gewöhnlich in diese Diskussion eingebracht wurde, sie nie verständlicher machte und dem Doktor stets einen Vorteil und eine Bestätigung zu geben schien. Deshalb betrachtete er die Firma als die unmittelbare Ursache seines Geisteszustandes und empfand demzufolge Abneigung gegen sie.
„Doch das ist nicht unsere Sache, Alfred“, sagte der Doktor. „Ab heute, wie du gesagt hast, bist du nicht mehr mein Schützling; und vollgestopft mit dem Wissen, das dir die Oberschule hier vermittelte und das deine Studien in London ergänzen konnten, und mit solch praktischen Kenntnissen, die ein so langweiliger, alter Landdoktor wie ich zu dem anderen hinzufügen konnte, ziehst du nun in die Welt hinaus. Nachdem die erste Probezeit, die von deinem armen Vater festgelegt worden war, abgelaufen ist, gehst du nun als dein eigner Herr fort, um seinen zweiten Wunsch zu erfüllen. Und lange bevor dein dreijähriger Aufenthalt an ausländischen medizinischen Fakultäten beendet ist, wirst du uns vergessen haben. Ach was, du hast uns schon nach einem halben Jahr vergessen!“
„Wenn ich das tue – aber Sie wissen, daß es nicht so sein wird; warum sollte ich Ihnen das sagen?“ antwortete Alfred lachend.
„Ich weiß nichts dergleichen“, erwiderte der Doktor. „Was meinst du, Marion?“
Marion, die mit ihrer Teetasse spielte, schien zu meinen doch sie sagte es nicht –, daß es ihm freistehe, sie zu vergessen, falls er es könne. Grace preßte das strahlende Gesicht an ihre Wange und lächelte.
„Ich war hoffentlich kein Unrechter Verwalter bei der Ausübung meiner Treuhandschaft“, fuhr der Doktor fort, „aber heute morgen soll ich unter allen Umständen davon entbunden werden, und hier sind unsere guten Freunde Snitchey und Craggs mit einer Tasche voller Papiere und Rechnungen und Dokumente, um die Überschreibung des Treuhandvermögens an dich zu erledigen (ich wünschte, es wäre schwieriger zu verwalten gewesen, Alfred, aber du mußt ein großer Mann werden und es ebenso groß machen) und andere Späße dieser Art, die unterschrieben, besiegelt und vollzogen werden müssen.“
„Und ordnungsgemäß beglaubigt, wie es das Gesetz vorschreibt“, sagte Snitchey, schob seinen Teller weg und holte die Papiere heraus, die sein Partner auf dem Tisch ausbreitete, „und da ich selbst und Craggs mit Ihnen gemeinsam, Doktor, Treuhänder waren, was das Guthaben betrifft, brauchen wir Ihre beiden Angestellten, um die Unterschriften zu beglaubigen. Können Sie lesen, Mrs. Newcome?“
„Ich bin nich verheiratet, Mister“, sagte Clemency.
„Oh, Verzeihung! Das hätte ich mir denken können“, kicherte Snitchey, wobei er seine Blicke über ihre außergewöhnliche Gestalt gleiten ließ.
„Sie können also lesen?“
„Etwas“, antwortete Clemency.
„Die Trauungsliturgie morgens und abends, wie?“ bemerkte der Rechtsanwalt scherzhaft.
„Nein“, sagte Clemency. „Zu schwer. Ich lese nur Fingerhut.“
„Einen Fingerhut lesen!“ wiederholte Snitchey. „Was sagen Sie da, junge Frau?“
Clemency nickte. „Und Muskatreibe.“
„Oh, sie ist ja wahnsinnig! Ein Fall für den Lordkanzler!“ sagte Snitchey und starrte sie an.
„Falls sie im Besitz irgendwelchen Eigentums ist“, legte Graggs fest.
Jedoch Grace mischte sich ein und erklärte, daß jeder der fraglichen Gegenstände einen gravierten Sinnspruch trug und somit die Taschenbücherei von Clemency Newcome bildete, die nicht gerade der Leseleidenschaft verfallen war.
„Ach, so ist das, Miss Grace!“ sagte Snitchey.
„Ja, ja. Hahaha! Ich hielt unsere Freundin für eine Idiotin. Sie sieht auch ganz so aus“, murmelte er mit einem verächtlichen Blick. „Und was sagt der Fingerhut, Mrs. Newcome?“
„Ich bin nich verheiratet, Mister“, bemerkte Clemency.
„Nun, Newcome. Ist es recht so?“ sagte der Anwalt. „Was sagt der Fingerhut, Newcome?“
Wie Clemency, ehe sie auf diese Frage antwortete, eine Tasche öffnete und in deren gähnende Tiefe hinein nach dem Fingerhut schaute, der nicht da war; und wie sie dann die andere Tasche öffnete – wobei sie ihn wie eine wertvolle Perle auf dem Meeresgrund zu erspähen schien – und solch plötzlich auftretende Hindernisse wie ein Taschentuch, einen Kerzenstummel, einen rotbackigen Apfel, eine Apfelsine, einen Glückspfennig, eine Krampe, ein Vorhängeschloß, eine Schere im Futteral, die besser als eine vielversprechende junge Schafsschere zu beschreiben wäre, eine Handvoll einzelner Perlen, etliche Knäuel Baumwollgarn, eine Nadeltasche, eine Sammlung Papierhaarwickel und einen Keks wegräumte und jeden einzelnen dieser Gegenstände höchst persönlich Britain zum Halten anvertraute – ist nicht von Bedeutung.
Auch nicht, wie sie in ihrem Bestreben, die Tasche an der Kehle zu packen und festzuhalten (denn sie hatte die Tendenz, hin und her zu schwanken und um die nächste Ecke zu entwischen), eine Stellung einnahm und gelassen beibehielt, die ganz offensichtlich nicht mit der menschlichen Anatomie und dem Gravitationsgesetz übereinstimmte. Es reicht, daß sie zum Schluß triumphierend den Fingerhut auf ihren Finger steckte und mit der Muskatreibe rasselte. Die Schrift auf diesen beiden Werkzeugen befand sich offenbar im Prozeß der Abnutzung durch übermäßige Reibung.
„Das ist der Fingerhut, nicht wahr, junge Frau?“ sagte Mr. Snitchey und amüsierte sich auf ihre Kosten. „Und was sagt der Fingerhut?“
„Er sagt“, erwiderte Clemency, wobei sie langsam um ihn herum las, als wäre er ein Turm, „vergiß und vergib.“ Snitchey und Craggs lachten herzhaft. „So neu!“ sagte Snitchey. „So leicht!“ sagte Craggs. „Welch eine Kenntnis der menschlichen Natur spricht daraus!“ sagte Snitchey. „So anwendbar in allen Lebenslagen!“ sagte Craggs.
„Und die Muskatreibe?“ fragte der Chef der Firma.
„Die Reibe sagt“, entgegnete Clemency, „tu, wie du willst, daß man dir tu.“
„Lege rein – oder du wirst selber reingelegt, meinen Sie“, sagte Mr. Snitchey.
„Ich versteh nicht“, gab Clemency zurück und schüttelte den Kopf unbestimmt. „Ich bin kein Rechtsanwalt.“
„Wenn sie einer wäre, Doktor“, sagte Mr. Snitchey, indem er sich plötzlich an ihn wandte, als wollte er einer Wirkung zuvorkommen, die möglicherweise die Folge dieser Antwort wäre, „würde sie diese goldene Regel bei der Hälfte ihrer Klienten feststellen, fürchte ich. In dieser Hinsicht sind sie durchaus ernst zu nehmen – so wunderlich ihre Welt auch ist – und schieben uns hinterher die Schuld in die Schuhe. Wir in unserem Beruf sind nichts anderes als Spiegel, Mr. Alfred, aber im allgemeinen werden wir von verärgerten und streitsüchtigen Menschen zu Rate gezogen, die nicht in bester Verfassung sind, und es ist ziemlich schwierig, sich mit uns zu streiten, wenn wir eine unfreundliche Miene widerspiegeln. Ich glaube“, sagte Mr. Snitchey, „daß ich für mich und Craggs spreche.“
„Zweifellos“, sagte Craggs.
„Und wenn nun Mr. Britain so freundlich ist, uns etwas Tinte zu bringen“, sagte Mr. Snitchey, sich wieder seinen Papieren zuwendend, „werden wir so schnell wie möglich unterschreiben, besiegeln und übergeben, sonst kommt noch die Kutsche vorbei, ehe wir es uns versehen.“
Seinem Aussehen nach zu urteilen, war es sehr wahrscheinlich, daß die Kutsche vorbeikam, ehe Mr. Britain es sich versah, denn er stand geistesabwesend da, wog in Gedanken den Doktor gegen die Rechtsanwälte und die Rechtsanwälte gegen den Doktor und die Klienten gegen beide ab, war mit dem hoffnungslosen Versuch beschäftigt, den Fingerhut und die Muskatreibe (ein neuer Begriff für ihn) mit irgendeinem philosophischen System in Einklang zu bringen, und verwirrte sich selbst so sehr, wie es einst sein großer Namensvetter mit Theorien und Lehren getan hatte. Doch Clemency, die sein guter Geist war, obwohl er nicht die geringste Meinung von ihrem Verstand hatte, weil sie selten abstrakte Betrachtungen anstellte und stets das Richtige im rechten Augenblick tat, hatte die Tinte im Nu herbeigeschafft und bot ihm ihre weiteren Dienste an, ihn mit Hilfe ihrer Ellbogen zu sich zu bringen, deren sanfte Klapse seinem Gedächtnis im wahrsten Sinne des Wortes nachhalfen, so daß er bald frisch und munter war.
Zu erzählen, wie er unter der Auffassung zu leiden hatte – die Angehörige seines Standes, für die der Gebrauch von Feder und Tinte ein Ereignis ist, nicht selten vertreten –, daß er seinen Namen keinem Dokument, das nicht mit eigener Hand geschrieben ist, hinzusetzen kann, ohne sich in einer klaren Weise festzulegen oder unbestimmte, gewaltige Summen abzutreten; wie er sich den Urkunden unter Protest und dem Zwang des Doktors näherte und auf einer Pause beharrte, damit er sie sich vor dem Unterschreiben (mit verkrampfter Hand, ganz zu schweigen von der Ausdrucksweise, die Chinesisch für ihn war) ansehen und sie auch umdrehen konnte, ob auch nichts Betrügerisches auf der Unterseite stand; und wie er, nachdem er unterschrieben hatte, traurig wurde wie jemand, der für immer seinen Besitz und seine Rechte aufgegeben hatte, fehlt mir die Zeit. Ebenfalls dafür, wie die blaue Mappe, die seine Unterschrift enthielt, hinterher eine geheimnisvolle Macht auf ihn ausübte und er nicht von ihr loskam; auch wie Clemency Newcome, die bei dem Gedanken an ihre eigene Bedeutung und Würde einen Lachanfall erlitt, sich mit beiden Ellbogen wie ein fliegender Adler auf dem ganzen Tisch ausbreitete und den Kopf als Vorbereitung zur Gestaltung gewisser kabbalistischer Schriftzeichen auf den linken Arm stützte, was eine Menge Tinte und erdachte Kopien erforderte, die gleichzeitig mit der Zunge unterzeichnet wurden. Auch wie sie, nachdem sie einmal Tinte geleckt hatte, danach begierig wurde wie gezähmte Tiger nach einer anderen Flüssigkeit, und nun alles unterschreiben wollte und ihren Namen an alle möglichen Stellen setzen wollte. Kurzum, der Doktor wurde von seiner Treuhandschaft und allen Verpflichtungen entbunden, und Alfred, der sie selbst übernahm, wurde unter rechtmäßigen Bedingungen ins Leben geschickt.
„Britain!“ sagte der Doktor. „Laufen Sie zum Tor und halten Sie nach der Kutsche Ausschau. Die Zeit eilt, Alfred.“
„Ja, ja, Sir“, erwiderte der junge Mann hastig. „Liebe Grace, einen Augenblick! Marion – so jung und schön, so anziehend und so sehr bewundert, meinem Herzen so lieb wie sonst nichts auf der Welt – denke daran. Ich überlasse dir Marion!“
„Sie war mir stets ein teurer Schützling, Alfred. Nun ist sie es erst recht. Ich werde gewissenhaft meiner Pflicht nachkommen, glaube mir.“
„Das glaube ich, Grace. Ich weiß es wohl. Wer könnte dir ins Gesicht schauen und deine Stimme hören und wüßte das nicht! Ach, Grace! Wenn ich dein beherrschtes Herz und deine heitere Seele hätte, wie mutig würde ich heute diesen Ort verlassen!“
„Würdest du?“ antwortete sie, still lächelnd.
„Und doch, Grace – Schwester, das scheint mir das richtige Wort zu sein.“
„Gebrauche es“, sagte sie schnell. „Ich höre es gern. Nenn mich nicht anders.“
„Und doch, Schwester“, sagte Alfred, „ist es für Marion und mich besser, daß deine echten und beständigen Eigenschaften uns hier dienlich sind und uns beide glücklicher und besser machen. Ich würde sie nicht wegschaffen, um mir zu helfen, wenn ich könnte!“
„Kutsche auf dem Hügel!“ rief Britain.
„Die Zeit eilt, Alfred“, sagte der Doktor.
Marion hatte abseits gestanden, den Blick auf den Boden gerichtet. Doch als dieses Signal gegeben wurde, brachte sie ihr junger Liebhaber zärtlich dahin, wo ihre Schwester stand, und legte sie ihr in die Arme.
„Liebe Marion, ich habe Grace gesagt“, bemerkte er, „daß du ihr Schützling bist, mein wertvolles Pfand beim Abschied. Und wenn ich heimkehre und dich zurückfordere, Liebste, und unser gemeinsames Leben vor uns liegt, soll es unsere größte Freude sein, darüber nachzudenken, wie wir Grace glücklich machen können, wie wir ihren Wünschen entgegenkommen können, wie wir ihr unsere Dankbarkeit und Liebe beweisen können, wie wir etwas von der Schuld abtragen können, die auf uns lasten wird.“
Die jüngere Schwester hatte die eine Hand in seine gelegt, die andere lag auf dem Nacken der Schwester. Sie schaute in die Augen jener Schwester, die so ruhig, gelassen und heiter waren, mit einem Blick, in dem sich Liebe, Bewunderung, Sorge, Erstaunen, ja fast Ehrfurcht mischten. Sie schaute in das Gesicht jener Schwester, als wäre es das eines strahlenden Engels. Ruhig, gelassen und heiter schaute dieses Gesicht sie und ihren Liebhaber an.
„Und wenn eines Tages die Zeit kommt“, sagte Alfred, „– ich staune, daß sie noch nicht gekommen ist, aber Grace weiß das am besten, denn Grace hat immer recht –, daß sie einen Freund haben möchte, dem sie ihr Herz öffnet und der ihr etwas von dem ist, was sie uns bedeutet hat, wie aufrichtig werden wir uns dann erweisen, Marion, und wie froh werden wir sein zu wissen, daß sie, unsere liebe, gute Schwester, liebt und wiedergeliebt wird, wie wir es getan hätten!“
Noch immer schaute ihr die jüngere Schwester in die Augen und wandte sich nicht um – nicht einmal nach ihm. Und noch immer betrachteten diese ehrlichen Augen sie und ihren Liebhaber so ruhig, gelassen und heiter.
„Und wenn dies alles vorüber ist und wir alt geworden sind und zusammen leben (das müssen wir!) – dicht zusammen – und oft von früheren Zeiten sprechen“, sagte Alfred, „werden diese zu unseren schönsten zählen – der heutige Tag besonders; und wenn wir uns sagen, was wir beim Abschied dachten und fühlten, hofften und fürchteten und wie wir es nicht ertragen konnten, auf Wiedersehen zu sagen …“
„Kutsche kommt durch den Wald!“ rief Britain.
„Ja, ich bin bereit – und wenn wir uns trotz allem glücklich Wiedersehen, machen wir diesen Tag zum glücklichsten des Jahres und begehen ihn als dreifachen Geburtstag. Ja, mein Liebes?“
„Ja“, warf die ältere Schwester lebhaft und mit strahlendem Lächeln ein. „Ja! Säume nicht, Alfred. Es ist keine Zeit. Sag Marion auf Wiedersehen. Und Gott befohlen!“
Er preßte die jüngere Schwester ans Herz. Als sie aus seiner Umarmung befreit war, klammerte sie sich wieder an ihre Schwester, und ihre Augen mit demselben gemischten Ausdruck suchten erneut jene ruhigen, gelassenen und heiteren.
„Leb wohl, mein Junge!“ sagte der Doktor. „Über irgendeine ernsthafte Verbindung oder Neigung oder Verlobung und so weiter in solch einem – hahaha! – du weißt schon, was ich meine – zu sprechen, wäre natürlich blanker Unsinn. Alles, was ich sagen kann, ist dies: Sollten du und Marion auf derselben albernen Meinung beharren, werde ich nichts dagegen haben, wenn du eines Tages mein Schwiegersohn wirst.“
„Über die Brücke!“ rief Britain.
„Laß sie kommen“, sagte Alfred und drückte dem Doktor kräftig die Hand. „Mein alter Freund und Vormund, denken Sie manchmal an mich, so ernst Sie können! Adieu, Mr. Snitchey! Leben Sie wohl, Mr. Craggs!“
„Kommt die Straße hinunter!“ rief Britain.
„Ein Kuß für Clemency Newcome um unserer langen Bekanntschaft willen! Mach’s gut, Britain! Auf Wiedersehen, Marion, mein teures Herz! Schwester Grace, denk daran!“
Die ruhige, vertraute Gestalt und das in seiner Heiterkeit so schöne Gesicht hatten sich ihm als Erwiderung zugewandt; doch Marions Blick und Haltung blieben unverändert.
Die Kutsche stand am Tor. Es gab geschäftiges Treiben mit dem Gepäck. Die Kutsche fuhr ab. Marion rührte sich nicht.
„Er winkt dir mit dem Hut, meine Liebe“, sagte Grace. „Dein Auserwählter, Liebling. Schau!“
Die jüngere Schwester hob den Kopf und drehte ihn für einen Augenblick. Als sie sich wieder umdrehte und zum erstenmal voll jenen ruhigen Augen begegnete, warf sie sich ihr schluchzend an den Hals.
„O Grace, Gott sei mit dir! Aber ich kann es nicht mit ansehen, Grace! Es bricht mir das Herz.“
Zweiter Teil
Snitchey und Craggs besaßen ein nettes, kleines Büro auf dem ehemaligen Schlachtfeld, wo sie ein nettes, kleines Geschäft betrieben und sehr viele kleine Schlachten für sehr viele streitende Parteien schlugen. Obwohl man von diesen Konflikten nicht behaupten konnte, daß sie hitzige Kämpfe waren – denn in Wirklichkeit gingen sie im Schneckentempo vonstatten –, verdiente der Anteil, den die Firma daran hatte, insofern diese allgemeine Bezeichnung, als sie einmal auf diesen Kläger zielten und dann einen Hieb gegen jenen Beklagten richteten, einmal eine schwere Anklage gegen einen unter gerichtlicher Verwaltung stehenden Besitz und dann bei passender Gelegenheit ein leichtes Gefecht unter kleinen Schuldnern führten und der Feind sich selbst zeigte. Die Zeitung war ein wichtiger und nützlicher Bestandteil bei einigen ihrer Schlachten, so in Kämpfen von größerer Bedeutung, und nach den meisten ihrer Kampfhandlungen, bei denen sie ihre Strategie zeigten, wurde von den Streitenden festgestellt, daß sie große Schwierigkeiten gehabt hatten, sich infolge der enormen Rauchwolken, von denen sie umgeben waren, überhaupt zu erkennen beziehungsweise die leiseste Ahnung zu haben, was zu tun sie im Begriff waren.
Die Büroräume der Herren Snitchey und Craggs waren günstig am Marktplatz gelegen, und zwei flache Stufen führten zur offenen Tür hinab, so daß jeder zornige Bauer, der im Begriff war, sich mit jemandem anzulegen, sofort dort hineinstolpern konnte. Ihr besonderer Beratungsraum und Konferenzsaal war ein höher gelegenes Hinterzimmer mit einer niedrigen, dunklen Decke, die angesichts verzwickter rechtlicher Fragen traurig die Stirn zu runzeln schien. Es war mit einigen hochlehnigen Lederstühlen ausgestattet, die mit großen, glotzäugigen Messingknöpfen versehen waren, von denen hier und da zwei oder drei herausgefallen oder vielleicht von den unruhigen Daumen und Zeigefingern verwirrter Klienten herausgezogen worden waren. In einem Rahmen hing der Druck eines großen Richters, von dessen Perücke jede einzelne Locke in der Lage war, einem die Haare zu Berge stehen zu lassen. Berge von Papieren füllten die staubigen Wandschränke, Regale und Tische; und rundum an der Holztäfelung standen Reihen von feuersicheren und mit Schlössern versehenen Kassetten, auf die Namen von Leuten gemalt waren, die vorwärts und rückwärts zu buchstabieren und Anagramme zu bilden sich ängstliche Besucher wie durch einen grausamen Zauberbann verpflichtet fühlten, während sie dasaßen und Snitchey und Craggs zuzuhören schienen, ohne ein Wort von dem zu verstehen, was diese sagten.
Snitchey und Craggs hatten beide sowohl im privaten Bereich als auch im Berufsleben ihren eigenen Partner. Snitchey und Craggs waren die besten Freunde auf der Welt und hatten echtes Vertrauen zueinander, doch Mrs. Snitchey war durch eine Fügung, die in den Dingen des Lebens nicht ungewöhnlich ist, Mr. Craggs gegenüber grundsätzlich mißtrauisch, und Mrs. Craggs war Mr. Snitchey gegenüber grundsätzlich mißtrauisch. „Du mit deinen Snitcheys“, pflegte letztere Dame manchmal zu Mr. Craggs zu bemerken, wobei sie den scheinbaren Plural wie die Verunglimpfung anstößiger Pantalons oder anderer Gegenstände, die keinen Singular bilden, gebrauchte. „Ich für mein Teil verstehe nicht, was du mit diesen Snitcheys willst. Du vertraust deinen Snitcheys zu sehr, finde ich, und hoffentlich stellst du nicht einmal fest, wie recht ich habe.“ Mrs. Snitchey hingegen pflegte über Craggs zu sagen, daß jener ihn verleiten würde, wenn er je von einem Menschen verleitet würde, und daß sie, wenn sie je ein unaufrichtiges Vorhaben aus einem menschlichen Auge ablesen könne, es aus Craggs’ Augen ablese. Trotz alledem waren sie alle miteinander gute Freunde, und Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs hielten ein enges Bündnis gegen „das Büro“ aufrecht, das sie beide als Kammer der Unerfreulichkeiten und gemeinsamen Feind betrachteten, der gefährliche (weil unbekannte) Machenschaften betrieb.
Dessenungeachtet sammelten Snitchey und Craggs Honig für ihre Bienenkörbe. An schönen Abenden verweilten sie hier manchmal am Fenster ihres Beratungszimmers, von dem aus man das ehemalige Schlachtfeld überblickte, und wunderten sich (dies geschah aber zu Zeiten von Gerichtssitzungen, wenn die viele Arbeit sie rührselig stimmte) über den Wahnsinn der Menschheit, die nicht ständig in Frieden leben und sich ans Gesetz halten konnte. Hier gingen Tage und Wochen, Monate und Jahre über sie hinweg; ihr Kalender – die allmählich geringer werdende Zahl von Messingnägeln an den Lederstühlen und der zunehmende Umfang an Papieren auf den Tischen. Knapp drei Jahre waren seit dem Frühstück im Obstgarten vergangen und hatten den einen dünner und den anderen dicker werden lassen; als sie nun am Abend beisammensaßen und berieten.
Nicht allein, sondern mit einem Mann von etwa dreißig Jahren, der nachlässig, aber gut gekleidet war und etwas hager im Gesicht, doch gut gewachsen und gut aussehend. Er saß im Prunksessel, die eine Hand an der Brust, die andere im zerzausten Haar, und grübelte schwermütig vor sich hin. Die Herren Snitchey und Craggs saßen sich an einem danebenstehenden Tisch gegenüber. Eine der feuersicheren Kassetten stand ohne Vorhängeschloß und geöffnet darauf. Ein Teil ihres Inhalts lag auf dem Tisch verstreut, und der Rest ging durch Mr. Snitcheys Hände, der Dokument für Dokument an die Kerze hielt, jedes Papier einzeln betrachtete, wenn er es hervorholte, den Kopf schüttelte und es Mr. Craggs aushändigte. Dieser sah es ebenfalls sorgfältig durch, schüttelte den Kopf und legte es hin. Manchmal hielten sie inne, schüttelten gleichzeitig den Kopf und betrachteten den geistesabwesenden Klienten. Da der Name auf der Kassette Michael Warden, Esquire, lautete, können wir aus dem eben Erwähnten schließen, daß der Name und die Kassette ihm gehörten und daß es um die Angelegenheiten von Michael Warden, Esquire, schlecht stand.
„Das ist alles“, sagte Mr. Snitchey und drehte das letzte Dokument um. „Da gibt es wirklich keinen Ausweg. Keinen Ausweg.“
„Alles verloren, ausgegeben, verschwendet, verpfändet, geborgt und verkauft, wie?“ sagte der Klient und schaute hoch.
„Alles“, erwiderte Mr. Snitchey.
„Da ist nichts zu machen, sagen Sie?“
„Gar nichts.“
Der Klient kaute an den Nägeln und dachte wieder nach. „Und ich bin nicht einmal in England sicher? Bleiben Sie dabei?“
„In keinem Teil des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland“, erwiderte Mr. Snitchey.
„Ein verlorener Sohn, ohne einen Vater, zu dem er zurückkehren kann, ohne Schweine, die er hüten, ohne Treber, die er mit ihnen teilen kann, wie?“ fuhr der Klient fort, schlug das eine Bein über das andere und suchte den Boden mit seinen Augen ab.
Mr. Snitchey hustete, als wollte er den Verdacht von sich weisen, an irgendeiner bildlichen Veranschaulichung einer gesetzlichen Sachlage teilzuhaben. Mr. Craggs hustete ebenfalls, als wollte er seinen partnerschaftlichen Standpunkt zu diesem Thema ausdrücken.
„Mit dreißig ruiniert!“ sagte der Klient. „Hm!“
„Nicht ruiniert, Mr. Warden“, erwiderte Snitchey. „So schlimm steht es nicht. Sie haben zwar eine ganze Menge in dieser Richtung getan, muß ich sagen, aber ruiniert sind Sie nicht. Ein bißchen sparsam …“
„Ein bißchen zum Teufel“, sagte der Klient.
„Mr. Craggs“, sagte Snitchey, „würden Sie mir eine Prise Schnupftabak geben? Danke, Sir.“
Als der unerschütterliche Anwalt ihn mit offensichtlich großem Vergnügen seiner Nase darbrachte und völlig in diesen Vorgang versunken war, machte sich bei dem Klienten allmählich ein Lächeln breit, und aufblickend sagte er: „Sie sprechen von Sparsamkeit. Wie lange sparsam sein?“
„Wie lange sparsam sein?“ wiederholte Snitchey, wobei er den Schnupftabak von seinen Fingern wischte und in Gedanken einen Überschlag machte. „Bei Ihrem verwickelten Vermögen, Sir? In guten Händen? Sagen wir in Snitcheys und Craggs’? Sechs oder sieben Jahre!“
„Sechs oder sieben Jahre hungern!“ sagte der Klient, lachte ärgerlich und wechselte ungeduldig seine Stellung.
„Sechs oder sieben Jahre hungern, Mr. Warden“, sagte Snitchey, „wäre wirklich etwas ungewöhnlich. Sie könnten derweil ein anderes Auskommen erhalten, wenn Sie sich unterdessen der Öffentlichkeit zeigen. Doch wir glauben nicht, daß Sie es tun könnten – wenn ich für mich und Craggs spreche –, und raten Ihnen folglich auch nicht dazu.“
„Was raten Sie dann?“
„Sparsam sein, sage ich“, wiederholte Snitchey. „Ein paar Jahre sparsames Verwalten durch mich und Craggs würde die Sache wieder hochbringen. Damit wir aber Bedingungen aushandeln und sie einhalten und Sie dazu bewegen können, sich daran zu halten, müssen Sie fortgehen, müssen Sie im Ausland leben. Was das Verhungern betrifft, da könnten wir Ihnen, Mr. Warden, glaube ich, für den Anfang ein paar Hundert pro Jahr gewähren, um damit zu verhungern.“
„Ein paar Hundert“, sagte der Klient, „und ich habe Tausende ausgegeben!“
„Darüber“, erwiderte Mr. Snitchey und legte die Papiere langsam in die gußeiserne Kassette zurück, „besteht kein Zweifel. Kein – Zweifel“, wiederholte er für sich, als er gedankenvoll seine Tätigkeit fortsetzte.
Der Rechtsanwalt kannte wahrscheinlich seinen Mann; jedenfalls übte seine trockene, gerissene und schrullige Art einen günstigen Einfluß auf die schwermütige Verfassung des Klienten aus und veranlaßte ihn dazu, sich freier und offenherziger zu geben. Oder vielleicht kannte der Klient seinen Mann und hatte solch eine Aufmunterung, wie er sie erhielt, herausgelockt, um eine Absicht, die er gerade kundtun wollte, umso mehr zu verteidigen. Allmählich hob er den Kopf und betrachtete seinen unerschütterlichen Ratgeber mit einem Lächeln, das augenblicklich in ein Lachen überging.
„Nach alledem“, sagte er, „mein energischer Freund …“ Mr. Snitchey wies auf seinen Partner. „Ich und – Verzeihung – Craggs.“
„Verzeihung, Mr. Craggs“, sagte der Klient. „Nach alledem, meine energischen Freunde“, er beugte sich auf seinem Stuhl vor und senkte ein wenig die Stimme, „kennen Sie nicht einmal die Hälfte meines Unglücks.“
Mr. Snitchey hielt inne und starrte ihn an. Auch Mr. Craggs machte große Augen.
„Ich bin nicht nur hoffnungslos verschuldet“, sagte der Klient, „sondern hoffnungslos …“
„Doch nicht verliebt!“ rief Snitchey.
„Ja!“ sagte der Klient, sank in seinen Stuhl zurück und musterte mit den Händen in den Taschen die Firma. „Hoffnungslos verliebt.“
„Und in keine Erbin, Sir?“ fragte Snitchey.
„In keine Erbin.“
„Auch in keine reiche Dame?“
„Auch in keine reiche Dame, soweit ich weiß, nur reich an Schönheit und Vorzügen.“
„Eine ledige Dame, hoffe ich“, sagte Mr. Snitchey sehr nachdrücklich.
„Gewiß.“
„Es ist doch nicht etwa eine von Dr. Jeddlers Töchtern?“ fragte Snitchey, stützte plötzlich seine Ellbogen auf die Knie und schob das Gesicht mindestens einen halben Meter vor.
„Ja“, erwiderte der Klient.
„Nicht etwa seine jüngere Tochter?“ fragte Snitchey. „Ja“, erwiderte der Klient.
„Mr. Craggs“, sagte Snitchey sehr erleichtert, „würden Sie mir noch eine Prise Schnupftabak geben? Danke! Ich bin glücklich, sagen zu können, daß dies nichts zu bedeuten hat, Mr. Warden. Sie ist verlobt, Sir, sie ist vergeben. Mein Partner kann das bestätigen. Wir kennen die Tatsachen.“
„Wir kennen die Tatsachen“, wiederholte Craggs.
„Nun, ich vielleicht auch“, entgegnete der Klient gelassen. „Was ist denn schon dabei? Sind Sie Männer von Welt, und haben Sie noch nie von einer Frau gehört, die ihre Meinung geändert hat?“
„Es sind bestimmt Prozesse wegen Treubruchs sowohl gegen alleinstehende Frauen als auch gegen Witwen angestrengt worden“, sagte Mr. Snitchey, „doch in der Mehrzahl der Fälle …“
„Fälle!“ warf der Klient ungeduldig ein. „Sprechen Sie mir nicht von Fällen. Der übliche Präzedenzfall hat einen weit größeren Umfang als all Ihre Gesetzbücher. Außerdem, glauben Sie, ich habe sechs Wochen vergeblich im Hause des Doktors gewohnt?“
„Ich glaube, Sir“, bemerkte Mr. Snitchey, indem er sich ernst an seinen Partner wandte, „daß sich von all den Verlegenheiten, in die Mr. Warden früher einmal durch seine Pferde geraten ist – sie waren recht zahlreich und ziemlich kostspielig; das weiß keiner besser als er und Sie und ich –, die eine als die größte herausstellt – wenn er so erzählt –, als er an der Gartenmauer des Doktors mit drei gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Schlüsselbein und wer weiß wie vielen Beulen landete. Wir dachten zu der Zeit nicht so sehr daran, als wir wußten, daß es ihm unter des Doktors Händen und Dach gut ging. Doch jetzt sieht es schlimm aus, Sir. Schlimm? Sehr schlimm sieht es aus. Dr. Jeddler ist auch unser Klient, Mr. Craggs.“
„Mr. Alfred Heathfield ist auch eine Art Klient, Mr. Snitchey“, sagte Mr. Craggs.
„Mr. Michael Warden ist auch eine Art Klient“, sagte der unbekümmerte Besucher, „und kein schlechter, nachdem er zehn oder zwölf Jahre lang Possen getrieben hat. Doch Mr. Michael Warden hat sich die Hörner abgelaufen; in dieser Kassette da liegt das Ergebnis, und er meint es ernst damit, Reue zu zeigen und klüger zu werden. Und als Beweis dafür beabsichtigt Mr. Michael Warden – falls er kann –, Marion, die entzückende Tochter des Doktors, zu heiraten und sie mitzunehmen.“
„Wirklich, Mr. Craggs“, begann Snitchey.
„Wirklich, Mr. Snitchey und Mr. Craggs, Sie Partner“, unterbrach ihn der Klient, „Sie kennen Ihre Pflichten gegenüber Ihren Klienten, und Sie wissen nur zu gut, dessen bin ich sicher, daß es zu denen nicht gehört, sich in eine Liebesaffäre einzumischen, die ich Ihnen anzuvertrauen genötigt bin. Ich werde die junge Dame nicht ohne ihre Zustimmung entführen. Daran ist nichts Verbotenes. Ich war niemals Mr. Heathfields Busenfreund. Ich verletze sein Vertrauen nicht. Ich liebe, wo er liebt. Und ich will gewinnen, falls ich kann, wo er gewinnen wollte.“
„Er kann nicht, Mr. Craggs“, sagte Snitchey, offensichtlich besorgt und aus der Fassung gebracht. „Das kann er nicht, Sir. Sie schwärmt für Mr. Alfred.“
„Tut sie das?“ erwiderte der Klient.
„Mr. Craggs, sie schwärmt für ihn, Sir“, beharrte Snitchey. „Ich habe nicht umsonst vor ein paar Monaten sechs Wochen lang im Hause des Doktors gewohnt. Und bald habe ich meine Zweifel gehegt“, bemerkte der Klient. „Sie hätte für ihn geschwärmt, wenn es ihre Schwester zustande gebracht hätte, aber ich habe sie beobachtet. Marion vermied seinen Namen, vermied das Thema und wich mit sichtbarer Qual der geringsten Anspielung darauf aus.“
„Warum sollte sie, Mr. Craggs? Warum sollte sie, Sir?“ fragte Snitchey.
„Ich weiß nicht, warum sie es sollte, obwohl es viele glaubhafte Gründe gibt“, sagte der Klient, der über die Aufmerksamkeit und Verwirrung, die in Mr. Snitcheys leuchtendem Blick lag, sowie über seine vorsichtige Art, mit der er die Unterhaltung führte und sich über dieses Thema informierte, lächelte. „Doch ich weiß, daß sie es tut. Sie war sehr jung, als sie sich verlobte – falls man das so nennen kann, wessen ich mir nicht einmal sicher bin –, und hat es vielleicht bereut. Vielleicht – das zu sagen mag eitel wirken, aber ich meine es ganz bestimmt nicht so – hat sie sich ebenso in mich verliebt, wie ich mich in sie verliebt habe.“
„Hihi! Mr. Alfred, ihr alter Spielkamerad – Sie erinnern sich, Mr. Craggs –“, sagte Snitchey, verwirrt lachend, „hat sie fast als Baby gekannt!“
„Was die Sache um so wahrscheinlicher macht, daß sie seines Plans überdrüssig und nicht abgeneigt ist“, fuhr der Klient ruhig fort, „ihn gegen den neuen eines anderen Liebhabers einzutauschen, der sich unter romantischen Umständen vorstellt (oder von seinem Pferd vorgestellt wird) und den bei einem Mädchen vom Lande nicht ungünstigen Ruf genießt, sorglos und fröhlich gelebt zu haben, ohne jemandem etwas zuleide zu tun; und der in bezug auf seine Jugend, Erscheinung und so weiter – das mag wieder eitel wirken, ist aber ganz bestimmt nicht so gemeint – vielleicht neben Mr. Alfred bestehen könnte.“
Der letzte Satz war gewiß nicht zu bestreiten; und Mr. Snitchey, der ihn betrachtete, fand das auch. Eine natürliche Anmut und Liebenswürdigkeit lagen in seinem sehr sorglosen Gebaren. Es schien anzudeuten, daß sein schönes Gesicht und seine kräftige Gestalt noch weitaus besser sein könnten, wenn er es wollte, und daß er, wenn er einmal entflammt war und es ernst meinte (doch bisher hatte er es nie ernst gemeint), voller Leidenschaft und Entschlußkraft sein konnte. Eine gefährliche Sorte von Wüstling, dachte der gerissene Rechtsanwalt, der den Funken, den er sich wünscht, aus den Augen einer jungen Dame zu erlangen scheint.
„Nun passen Sie mal auf, Snitchey“, fuhr er fort, erhob sich und ergriff ihn, „und Craggs“ und nahm auch diesen am Kragen und stellte sich je einen Partner zur Seite, damit ihm keiner entwischen konnte. „Ich frage Sie nicht um Rat. Sie tun recht daran, sich in solch einer Angelegenheit, bei der sich kein ernsthafter Mensch wie Sie bei irgendeiner Partei einmischen würde, aus allem herauszuhalten. Ich werde kurz in wenigen Worten einen Überblick über meine Lage und Absicht geben und es dann Ihnen überlassen, in finanzieller Hinsicht Ihr Bestes für mich zu tun, wobei zu beachten ist, daß es im Moment belastender wäre, wenn ich mit der hübschen Tochter des Doktors davonliefe (ich hoffe, dies zu tun und unter ihrem günstigen Einfluß ein anderer Mensch zu werden), als wenn ich es allein täte. Doch bald werde ich alles in einem veränderten Leben wiedergutgemacht haben.“
„Ich finde, es ist besser, das nicht gehört zu haben, Mr. Craggs“, sagte Snitchey und schaute ihn an dem Klienten vorbei an.
„Ich finde nicht“, sagte Craggs. – Beide lauschten aufmerksam.
„Nun, Sie brauchen nicht zuzuhören“, antwortete der Klient. „Trotzdem werde ich es erwähnen. Ich habe nicht die Absicht, den Doktor um seine Einwilligung zu bitten, weil er sie mir nicht geben würde. Aber ich gedenke nicht, dem Doktor zu schaden oder ein Unrecht zuzufügen, weil ich hoffe (außerdem sind solche Kleinigkeiten nicht ernst zu nehmen, wie er sagt), sein Kind, meine Marion, vor etwas zu bewahren, was sie – wie ich sehe, wie ich weiß – fürchtet und schmerzlich erwartet: die Rückkehr ihres früheren Liebhabers. Wenn etwas auf der Welt wahr ist, dann dies: daß sie sich vor seiner Rückkehr fürchtet. Bis jetzt ist niemand geschädigt. Ich bin hier jetzt so ausgeplündert und gequält, daß ich das Leben eines fliegenden Fisches führe. Ich schleiche in der Dunkelheit umher, ich habe keinen Zutritt zu meinem eigenen Haus und werde von meinen Ländereien verwiesen; aber dieses Haus und diese Ländereien und noch viele Felder dazu werden eines Tages an mich zurückgehen, wie Sie wissen und behaupten; und Marion wird wahrscheinlich – Ihrer Behauptung zufolge, und Sie sind nie optimistisch – nach zehn Jahren Ehe mit mir reicher sein als als Ehefrau von Alfred Heathfield, vor dessen Rückkehr sie sich fürchtet (denken Sie daran) und der sowenig wie ein anderer Mann meine Leidenschaft übertreffen kann. Wer ist bis jetzt geschädigt? Es ist eine durchweg faire Angelegenheit. Ich habe das gleiche Recht wie er, falls Sie sich zu meinen Gunsten entscheiden sollten, und ich werde mein Recht bei ihr allein durchzusetzen versuchen. Sie werden nach alledem nicht mehr wissen wollen, und ich werde Ihnen auch nicht mehr erzählen. Nun kennen Sie mein Vorhaben und meine Bedürfnisse. Wann muß ich hier abreisen?“
„In einer Woche“, sagte Snitchey. „Mr. Craggs?“
„Noch etwas eher, würde ich sagen“, erwiderte Craggs. „In einem Monat“, sagte der Klient, nachdem er die beiden Gesichter aufmerksam beobachtet hatte. „Heute in einem Monat. Heute ist Donnerstag. Erfolg oder Niederlage, heute in einem Monat gehe ich.“
„Das ist eine viel zu lange Verzögerung“, sagte Snitchey, „viel zu lang. Aber soll’s sein. Ich dachte, er würde sich drei ausbedingen“, murmelte er vor sich hin. „Gehen Sie? Gute Nacht, Sir!“
„Gute Nacht!“ erwiderte der Klient und schüttelte der Firma die Hände. „Sie werden es noch erleben, wie ich die Reichen gut zu nutzen weiß. Von nun an wird Marion mein Schicksalsstern sein!“
„Achten Sie auf die Stufen, Sir“, gab Snitchey zurück, „denn dort leuchtet sie Ihnen nicht. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Beide standen mit zwei Kerzen aus dem Büro auf dem Treppenabsatz und paßten auf, bis er unten war. Als er gegangen war, standen sie da und sahen sich an.
„Was halten Sie von alledem, Mr. Craggs?“ fragte Snitchey.
Mr. Craggs schüttelte den Kopf.
„An dem Tag, als die Rechtsübertragung vollzogen wurde, waren wir der Ansicht, daß in dem Abschied des Paares etwas Seltsames lag, soweit ich mich erinnere“, sagte Snitchey.
„Ja“, sagte Mr. Craggs.
„Vielleicht gibt er sich völlig einer Täuschung hin“, fuhr Mr. Snitchey fort, verschloß die feuersichere Kassette und stellte sie weg, „und wenn nicht, ist ein bißchen Wankelmut und Treulosigkeit nichts Ungewöhnliches, Mr. Craggs. Und doch hatte ich dieses hübsche Gesicht für treu gehalten. Ich glaubte sogar bemerkt zu haben“, sagte Snitchey, der Mantel und Handschuhe anzog (denn es war sehr kalt) und eine Kerze auspustete, „wie ihr Charakter in der letzten Zeit stärker und entschlossener geworden war. Mehr wie der ihrer Schwester.“
„Mrs. Craggs war derselben Meinung“, entgegnete Craggs.
„Ich würde heute abend wirklich etwas ausgeben“, bemerkte Mr. Snitchey, der ein gutmütiger Mann war, „wenn ich glauben könnte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, doch leichtsinnig, launenhaft und schwankend, wie er ist, kennt er doch die Welt und die Menschen (sollte er zumindest, denn seine Erfahrung hat er teuer genug bezahlt), und ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Wir sollten uns lieber nicht einmischen. Wir können weiter nichts tun, Mr. Craggs, als uns ruhig verhalten.“
„Weiter nichts“, erwiderte Craggs.
„Unser Freund, der Doktor, macht sich nichts aus solchen Dingen“, sagte Mr. Snitchey kopfschüttelnd. „Hoffentlich benötigt er nicht seine Philosophie. Unser Freund Alfred spricht vom Lebenskampf“, wieder schüttelte er den Kopf, „hoffentlich wird er nicht früh am Tage niedergeschlagen. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich mache die andere Kerze aus.“
Da Mr. Craggs bejahte, setzte Mr. Snitchey das Wort in die Tat um, und sie tasteten sich aus dem Beratungszimmer, das jetzt so undurchsichtig wie das Thema oder das Gesetz im allgemeinen war.
Meine Geschichte wechselt in ein ruhiges, kleines Arbeitszimmer hinüber, wo an demselben Abend die Schwestern und der rüstige alte Doktor an einem freundlichen Kamin saßen. Grace war mit ihrer Handarbeit beschäftigt. Marion las laut aus einem Buch vor. Der Doktor, in Morgenrock und Pantoffeln, saß in seinen Sessel zurückgelehnt, wobei er die Füße auf dem warmen, kleinen Teppich ausgestreckt hatte, und lauschte dem Buch und betrachtete seine Töchter.
Sie waren hübsch anzusehen. Nie hatten zwei bessere Gesichter einen Kamin strahlend und heilig gemacht. In den drei Jahren hatte sich der Unterschied zwischen ihnen abgeschwächt; und auf der klaren Stirn der jüngeren Schwester drückte sich dasselbe ernste Wesen aus, das aus ihren Augen sprach und in ihrer Stimme mitschwang, das die eigene mutterlose Jugend schon vor langer Zeit in ihrer Schwester hatte heranreifen lassen. Aber noch immer wirkte sie sofort als die lieblichere und schwächere von beiden; sie schien noch immer den Kopf an die Brust der Schwester zu lehnen und ihr Vertrauen in sie zu setzen und in ihren Augen Rat und Trost zu suchen. In diesen zärtlichen Augen, die so ruhig, gelassen und heiter waren wie früher.
„Und als sie in ihrem Heim war“, las Marion aus dem Buch vor, „in ihrem Heim, das ihr durch diese Erinnerungen so überaus lieb war, begann sie nun zu fühlen, daß die große Versuchung ihres Herzens bald kommen müsse und nicht aufgeschoben werden könne. O Heim, unser Tröster und Freund, wenn andere treulos werden, sich von ihm zu trennen ist auf jeder Stufe zwischen der Wiege und dem Grabe …“
„Marion, mein Liebes!“ sagte Grace.
„Na, Kätzchen“, rief ihr Vater aus, „was ist los?“
Sie legte die Hand auf die, die ihr die Schwester entgegenstreckte, und las weiter. Ihre Stimme zitterte und bebte, obwohl sie versuchte, sie wieder zu beherrschen, nachdem sie so unterbrochen wurde.
„Sich von ihm zu trennen ist auf jeder Stufe zwischen der Wiege und dem Grabe schmerzlich. O Heim, das du so treu uns bist und als Dank so oft mißachtet wurdest, sei nachsichtig gegenüber denen, die sich von dir abwenden, und folge ihren in die Irre gehenden Schritten nicht zu vorwurfsvoll! Laß auf deinem geisterhaften Gesicht keine freundliche Miene sehen, kein Lächeln, an das man sich gut erinnert. Laß keinen Strahl von Liebe, Willkommen, Güte, Nachsicht und Herzlichkeit von deinem weißen Haupt leuchten. Laß kein früheres zärtliches Wort oder eine Stimmung im Urteil gegen deinen Treulosen aufkommen, aber wenn du unnachgiebig und streng blicken kannst, tue es aus Gnade gegen den Büßer!“
„Liebe Marion, lies heute abend nicht weiter“, sagte Grace, denn sie weinte.
„Ich kann nicht“, antwortete sie und schloß das Buch. „Die Worte scheinen alle zu brennen.“
Der Doktor amüsierte sich darüber und lachte, als er ihr über den Kopf strich.
„Was denn! Von einem Buch überwältigt!“ sagte Dr. Jeddler. „Druck und Papier! Nun, das ist alles eins. Es ist genauso vernünftig, Druck und Papier ernst zu nehmen wie alles andere. Aber trockne dir die Augen, Liebes, trockne dir die Augen. Ich glaube allerdings, daß die Heldin schon längst nach Hause gekommen ist und es überall hergerichtet hat, und wenn nicht, ein wirkliches Heim besteht nur aus vier Wänden und ein ausgedachtes bloß aus Fetzen und Tinte. Was ist denn nun los?“
„Ich bin’s nur, Mister“, sagte Clemency und steckte den Kopf zur Tür herein.
„Und was ist mit dir los?“ fragte der Doktor.
„Oh, gerechter Gott, nichts is mit mir los“, entgegnete Clemency, und das stimmte auch, nach ihrem gründlich geseiften Gesicht zu urteilen, das wie gewöhnlich wie die Inkarnation der guten Laune strahlte und sie trotz ihrer Plumpheit recht anziehend machte. Abschürfungen an den Ellbogen werden im allgemeinen nicht zu der Kategorie persönlicher Liebreize gezählt, die man Schönheitsfleckchen nennt. Doch es ist besser, durch die Welt zu gehen und sich die Arme aufzureiben anstelle des Gemütes, und das war so gesund und vollkommen wie das einer jeden Schönheit im Lande.
„Nichts is mit mir los“, sagte Clemency und trat ein, „aber – kommen Sie ein bißchen näher, Mister.“
Der Doktor war ziemlich verwundert, kam aber der Aufforderung nach.
„Sie sagten doch, ich soll Ihnen vor denen keinen geben, nich?“ sagte Clemency.
Ein Neuling in der Familie hätte wegen des außerordentlich koketten Blicks, als sie dies sagte, und der seltsamen Erregung und Verzückung, die auf ihre Ellbogen Übergriff, als wollte sie sich selbst umarmen, annehmen können, daß „keinen“ in seiner günstigsten Auslegung einen keuschen Kuß bedeutete. Der Doktor schien im Augenblick tatsächlich beunruhigt zu sein, faßte sich aber schnell wieder, da Clemency, nachdem sie in ihren Taschen gekramt hatte – wobei sie mit der richtigen begann, zur falschen überging und dann wieder auf die richtige zurückkam –, einen Brief vom Postamt hervorholte.
„Britain is bei einem Botengang vorbeigeritten“, kicherte sie und händigte ihn dem Doktor aus, „und hat gesehn, wie die Post kam, und drauf gewartet. Da in der Ecke steht A. H.! Mr. Alfred is auf der Heimreise, wett ich. Wir werden ’ne Hochzeit im Haus haben – heute morgen warn zwei Teelöffel auf meiner Untertasse. O Gott, wie langsam er ihn aufmacht!“
Dies alles äußerte sie in einer Art Selbstgespräch, und sie stellte sich in ihrer Ungeduld, die Nachricht zu erfahren, allmählich immer höher auf die Zehenspitzen und machte aus ihrer Schürze einen Korkenzieher und aus ihrem Mund eine Flasche. Schließlich, als die Spannung einen Höhepunkt erreichte und sie sah, daß der Doktor immer noch mit dem Lesen des Briefes beschäftigt war, stellte sie sich wieder auf die Fußsohlen und warf ihre Schürze aus reiner Verzweiflung und aus Unfähigkeit, es noch länger auszuhalten, wie einen Schleier über den Kopf.
„Hier, Mädchen!“ rief der Doktor. „Ich kann nicht anders, noch nie im Leben konnte ich ein Geheimnis für mich behalten. Es gibt auch nicht viele Geheimnisse, die zu hüten wert wären in dieser … nun, schon gut! Alfred kommt nach Hause, meine Lieben, auf schnellstem Wege.“
„Auf schnellstem Wege!“ rief Marion aus.
„Wie! Das Buch ist schnell vergessen!“ sagte der Doktor und kniff sie in die Wange. „Ich dachte, diese Nachricht würde deine Tränen trocknen. Ja. ‚Es soll eine Überraschung sein‘, schreibt er hier. Aber ich kann es keine Überraschung sein lassen. Er muß willkommen geheißen werden.“
„Auf schnellstem Wege!“ wiederholte Marion.
„Na, vielleicht nicht, was deine Ungeduld ‚auf schnellstem Wege‘ nennt“, erwiderte der Doktor, „aber ziemlich bald. Wir werden sehen. Heute ist Donnerstag, nicht wahr? Demnach verspricht er, heute in einem Monat hierzusein.“
„Heute in einem Monat!“ wiederholte Marion leise.
„Ein Freudentag und Feiertag für uns“, sagte die fröhliche Stimme ihrer Schwester Grace, die sie mit einem Kuß beglückwünschte. „Lange erwartet, Liebste, und schließlich gekommen.“
Sie antwortete mit einem Lächeln, einem traurigen Lächeln, doch mit schwesterlicher Zuneigung. Als sie ins Gesicht ihrer Schwester blickte und dem ruhigen Wohllaut ihrer Stimme lauschte, wie sie das Glück seiner Rückkehr ausmalte, erglühte ihr eigenes Gesicht vor Hoffnung und Freude.
Und vor etwas anderem. Etwas, das immer mehr durch alles andere hindurchschien, für das ich keinen Namen habe. Es war kein Jubel, Triumph, keine stolze Begeisterung. Diese zeigen sich nicht dermaßen gelassen. Es waren auch nicht nur Liebe und Dankbarkeit, obwohl Liebe und Dankbarkeit dazugehörten. Es rührte auch nicht von gemeinen Gedanken her, denn gemeine Gedanken hellen keine Stirn auf und schweben nicht auf den Lippen und bewegen den Geist nicht wie ein flackerndes Licht, bis die mitfühlende Gestalt zittert.
Dr. Jeddler konnte trotz seines philosophischen Systems – mit dem er stets im Widerspruch stand und das er in der Praxis verleugnete, aber das haben schon berühmtere Philosophen getan – nicht umhin, ein so lebhaftes Interesse an der Rückkehr seines ehemaligen Schützlings und Schülers zu zeigen, als handele es sich um ein ernstes Ereignis. So setzte er sich wieder in seinen Sessel, streckte noch einmal die Füße in den Pantoffeln aus, las den Brief viele Male von vorn bis hinten und sprach noch viel öfter darüber.
„Ah! Das war der Tag“, sagte der Doktor und blickte ins Feuer, „als du, Grace, und er in seiner Ferienzeit immer Arm in Arm wie zwei wandelnde Puppen spazierengingt. Erinnerst du dich?“
„Ich erinnere mich“, antwortete sie mit ihrem liebenswürdigen Lachen und führte emsig die Nadel.
„Heute in einem Monat, tatsächlich!“ sann der Doktor nach. „Dabei scheint kaum ein Jahr vergangen zu sein. Und wo war meine kleine Marion damals?“
„Nie weit weg von ihrer Schwester“, sagte Marion fröhlich, „wenn auch ein wenig. Grace hat mir alles bedeutet, sogar als sie selbst noch ein kleines Kind war.“
„Wahrhaftig, Kätzchen, wahrhaftig“, erwiderte der Doktor. „Sie war eine gesetzte, kleine Frau, die Grace, und eine gescheite Haushälterin und eine fleißige, ruhige und freundliche Person, die unsere Launen ertrug und unsere Wünsche erriet und stets bereit war, die eigenen zu vergessen, selbst in jenen Zeiten. Grace, mein Liebling, ich habe dich nie hartnäckig oder eigensinnig erlebt, nur auf einem Gebiet.“
„Ich fürchte, seitdem habe ich mich nicht zum Vorteil verändert“, lachte Grace, noch immer emsig bei der Arbeit. „Welches war das, Vater?“
„Natürlich Alfred“, sagte der Doktor. „Es half alles nichts, du mußtest Alfreds Frau genannt werden. So nannten wir dich Alfreds Frau, und ich glaube, das gefiel dir besser (so komisch es jetzt scheint), als wenn man dich Herzogin genannt hätte, wenn wir dich zu einer hätten machen können.“
„Wirklich?“ fragte Grace seelenruhig.
„Na, erinnerst du dich nicht?“ fragte der Doktor.
„Ich glaube, ein wenig erinnere ich mich noch, aber nicht sehr“, erwiderte sie. „Es ist so lange her.“ Und während sie bei der Arbeit saß, summte sie den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor liebte.
„Alfred wird bald eine aufrichtige Ehefrau finden“, sagte sie, das Lied abbrechend, „und das wird für uns alle eine glückliche Zeit werden. Meine dreijährige Aufsicht ist fast zu Ende, Marion. Sie war sehr leicht zu erfüllen. Ich werde Alfred erzählen, wenn ich dich ihm zurückgebe, daß du ihn die ganze Zeit über von Herzen geliebt hast und er nicht ein einziges Mal meine Dienste nötig hatte. Soll ich ihm das sagen, Liebes?“
„Sag ihm, liebe Grace“, antwortete Marion, „daß keine Aufsicht je großzügiger, edler und beständiger geführt wurde und daß ich dich die ganze Zeit über und von Tag zu Tag mehr geliebt habe und dich jetzt, oh, wie innig liebe!“
„Nein“, sagte ihre fröhliche Schwester, die sie ebenfalls umarmte, „das kann ich ihm kaum sagen. Wir werden meine Verdienste Alfreds Vorstellungskraft überlassen. Sie wird groß genug sein, liebe Marion, genau wie deine.“
Damit nahm sie die Arbeit, die sie für einen Moment hingelegt hatte, als ihre Schwester so leidenschaftlich sprach, wieder auf und gleichzeitig das alte Lied, das der Doktor gern hörte. Und der Doktor, noch in seinem Sessel und die in Pantoffeln steckenden Füße vor sich auf dem Teppich ausgestreckt, lauschte der Melodie, schlug mit Alfreds Brief den Takt auf seinen Knien, betrachtete seine Töchter und fand, daß unter den vielen Lappalien dieser oberflächlichen Welt diese Lappalien noch annehmbar waren.
In der Zwischenzeit verschwand Clemency Newcome, nachdem sie ihre Mission erfüllt und sich im Zimmer herumgedrückt hatte, bis sie die Neuigkeit erfahren hatte, in der Küche, wo ihr Mitarbeiter, Mr. Britain, es sich nach dem Abendessen bequem machte, von solch einer reichhaltigen Sammlung glänzender Topfdeckel, blank geputzter Kochtöpfe, polierter Warmhalteschüsseln, funkelnder Kessel und anderer Zeichen ihrer gewohnheitsmäßigen Betriebsamkeit umgeben, die an den Wänden und in den Regalen aufgebaut waren, daß er wie in der Mitte eines Spiegelsaales saß. Die meisten zeigten keine sehr schmeichelhaften Porträts von ihm, auch waren die Spiegelbilder keineswegs einheitlich, da ihm die einen ein langes, die anderen ein breites Gesicht verliehen; einige ihn ziemlich gutaussehend, andere ihn ungeheuer häßlich machten, je nach den unterschiedlichen Arten ihrer Widerspiegelung, die angesichts einer Sache so verschieden waren wie die Typen der Menschen. Doch sie alle stimmten darin überein, daß in der Mitte ganz gemütlich ein einzelner Mensch saß, mit einer Pfeife im Mund und einem Krug Bier zur Seite, der Clemency leutselig zunickte, als sie an demselben Tisch ihren Platz einnahm.
„Na, Clemmy“, sagte Britain, „wie ist es dir unterdessen ergangen, und was gibt’s Neues?“
Clemency berichtete ihm die Neuigkeit, die er sehr gnädig aufnahm. Eine glückliche Verwandlung war bei Britain von Kopf bis Fuß vor sich gegangen. Er wirkte in jeder Hinsicht viel breiter, geröteter, heiterer und fröhlicher. Es schien, als ob sein Gesicht zuvor zu einem Knoten zusammengebunden und nun gelöst und geglättet worden war.
„Das gibt einen neuen Auftrag für Snitchey und Craggs, nehme ich an“, bemerkte er und paffte bedächtig an seiner Pfeife. „Vielleicht müssen wir als Zeugen unterschreiben, Clemmy!“
„Ach Gott!“ entgegnete seine aufrichtige Gefährtin mit der von ihr bevorzugten Drehung ihres Lieblingsgelenks. „Ich wünschte, ich wär’s, Britain!“
„Was willst du sein?“
„Die, die heiratet“, sagte Clemency.
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte herzhaft. „Ja, du bist genau die Richtige dafür!“ sagte er. „Arme Clem!“
Clemency lachte ebenso herzhaft wie er und schien sich über diesen Gedanken nicht weniger zu amüsieren. „Ja“, pflichtete sie bei, „ich bin genau die Richtige dafür, was?“
„Du wirst niemals heiraten, weißt du“, sagte Britain und nahm die Pfeife wieder auf.
„Glaubst du nich, daß ich doch mal heirate?“ fragte Clemency in gutem Glauben.
Mr. Britain schüttelte den Kopf. „Keine Chance!“
„So, so!“ sagte Clemency. „Na, ich nehme an, Britain, du hast schon einen ganz bestimmten Tag im Auge, oder nich?“
Eine so plötzliche Frage von so großer Tragweite erforderte Überlegung. Nachdem er eine riesige Rauchwolke ausgestoßen und sie betrachtet hatte, wobei er den Kopf einmal nach links, dann nach rechts legte, als wäre sie die eigentliche Frage und als betrachte er sie von verschiedenen Seiten, antwortete Mr. Britain, daß er sich noch nicht im klaren darüber sei, aber ja, er glaubte, er würde schließlich noch dazu kommen.
„Ich wünsche ihr Glück, wer immer sie sein mag!“ rief Clemency.
„Oh, das wird sie haben“, sagte Benjamin, „ganz bestimmt.“
„Sie würde aber kein so frohes Leben führen, wie sie es jetzt führen wird, und hätte keinen so umgänglichen Mann, wie sie ihn nun haben wird“, sagte Clemency, die sich über den halben Tisch lehnte und zurückblickend in die Kerze starrte, „wenn nich ich – nich, daß ich es tun wollte, denn es war ganz sicher Zufall –, wenn nich ich gewesen wär, stimmt’s, Britain?“
„Gewiß“, erwiderte Mr. Britain, der unterdessen in jenes Stadium der Wertschätzung seiner Pfeife getreten war, in der ein Mann den Mund gerade noch einen Spalt zum Sprechen öffnen und, genießerisch unbeweglich auf dem Stuhl sitzend, nur noch die Blicke auf einen Gefährten richten kann, und das auch teilnahmslos und ernst. „Oh! Weißt du, ich bin dir sehr verpflichtet, Clem.“
„Ach Gott, wie schön is der Gedanke daran!“ sagte Clemency.
Da sie zur gleichen Zeit ihre Gedanken wie auch ihre Blicke auf das geschmolzene Wachs richtete und sich plötzlich an dessen heilende Wirkung als Salbe erinnerte, rieb sie ihren linken Ellbogen reichlich mit diesem Mittel ein.
„Siehst du, ich hab in meinem Leben ’ne ganze Menge Nachforschungen dieser und jener Art angestellt“, fuhr Mr. Britain mit der Tiefsinnigkeit eines Weisen fort, „ich war nämlich schon immer ein wißbegieriger Mensch, und ich hab ’ne ganze Menge Bücher über das Rechte und Unrechte von Dingen im allgemeinen gelesen, denn ich ging ins literarische Fach, als mein Leben begann.“
„Wirklich?“ rief Clemency bewundernd aus.
„Ja“, sagte Mr. Britain. „Ich war fast zwei Jahre hinter einem Bücherstand versteckt und hielt mich bereit, hervorzustürzen, falls jemand einen Band einstecken wollte. Danach war ich Dienstmann bei einem Korsettmacher und Damenschneider. In dieser Eigenschaft hatte ich die Aufgabe, weiter nichts als Betrügereien in Wachstuchkörben umherzutragen, was meine Seele verbitterte und meinen Glauben an die menschliche Natur erschütterte. Und danach hörte ich eine Menge Diskussionen in diesem Haus, was meine Seele aufs neue verbitterte, und nach alldem bin ich der Meinung, daß als sicherer Seelentröster und angenehmer Begleiter durchs Leben nichts so geeignet ist wie eine Muskatreibe.“
Clemency war im Begriff, einen Vorschlag zu machen, doch er kam ihr zuvor.
„Zusammen“, fügte er feierlich hinzu, „mit einem Fingerhut.“
„‚Tu, was du willst‘ und so weiter, eh!“ bemerkte Clemency, verschränkte in ihrer Freude über diese Erklärung gemütlich die Arme und tätschelte die Ellbogen. „Eine ganz schön kurzgefaßte Sache, nich wahr?“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Mr. Britain, „das würde man als vernünftige Philosophie betrachten. Ich hab meine Zweifel, aber sie ist einfach und erspart viel Verwirrung, was bei einer ganzen Abhandlung nicht immer der Fall ist.“
„Sieh doch mal, wie du selbst vorangekommen bist!“ sagte Clemency.
„Ha!“ sagte Mr. Britain, „aber das Unverständlichste dabei ist, Clemmy, daß ich erleben mußte, durch dich umgestimmt zu werden. Das ist das Seltsamste daran. Durch dich! Na, dabei hast du wohl nicht den Schimmer eines Gedankens im Kopf.“
Clemency schüttelte ihn, ohne im mindesten beleidigt zu sein, lachte, liebkoste sich selbst und sagte: „Nein, habe ich vermutlich nich.“
„Da bin ich sicher“, sagte Mr. Britain.
„Oh! Da hast du allerdings recht“, sagte Clemency. „Ich täusche keine Gedanken vor und habe auch keine.“
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte, bis ihm die Tränen herunterrannen. „Was für ein Schwachkopf du bist, Clemmy!“ sagte er, schüttelte den Kopf mit einem grenzenlosen Vergnügen an dem Scherz und wischte sich die Augen. Ohne die geringste Neigung, dies zu bestreiten, tat Clemency dasselbe und lachte genauso herzlich wie er.
„Ich muß dich einfach gern haben“, sagte Mr. Britain. „Du bist ein richtig liebes Geschöpf, so laß uns die Hände schütteln, Clem. Was auch geschieht, ich werde mich immer um dich kümmern und dein Freund sein.“
„Wirst du?“ erwiderte Clemency. „Nun, das is sehr nett von dir!“
„Ja, ja“, sagte Mr. Britain und gab ihr seine Pfeife, damit sie die Asche ausklopfe. „Ich werde dir zur Seite stehn. Horch! Das is ein seltsames Geräusch!“
„Geräusch!“ wiederholte Clemency.
„Schritte draußen. Es klang, als ob jemand von der Mauer sprang“, sagte Britain. „Sind oben alle zu Bett?“
„Ja, inzwischen sind alle zu Bett“, antwortete sie.
„Hast du nichts gehört?“
„Nein.“
Beide lauschten, hörten aber nichts.
„Ich werd dir was sagen“, meinte Britain und nahm eine Laterne herunter. „Sicherheitshalber werd ich mich noch mal umsehn, ehe ich selbst zu Bett gehe. Mach die Tür auf, während ich diese anzünde, Clemmy.“
Clemency fügte sich schnell, bemerkte aber dabei, daß er seinen Spaziergang umsonst mache, daß alles Einbildung sei und so weiter. Mr. Britain sagte: „Wahrscheinlich“, machte sich trotzdem, mit dem Feuerhaken bewaffnet, auf den Weg und ließ das Laternenlicht nach allen Richtungen nah und fern scheinen.
„Es is so still wie auf ’m Friedhof“, sagte Clemency, ihm nachblickend, „und auch fast so gespenstisch!“
Als sie sich zur Küche umdrehte, schrie sie angstvoll auf, da sie plötzlich eine zarte Gestalt bemerkte. „Was is das!“
„Pst!“ flüsterte Marion aufgeregt. „Du hast mich doch immer liebgehabt, nicht wahr?“
„Dich liebgehabt, Kind! Da kannst du sicher sein.“
„Ich bin sicher. Und ich kann dir trauen, nicht wahr? Es gibt zur Zeit keinen anderen, dem ich trauen kann.“
„Ja“, sagte Clemency von ganzem Herzen.
„Da draußen ist jemand“, sie wies auf die Tür, „den ich heute abend sehen und sprechen muß. – Michael Warden, gehen Sie um Gottes willen zurück! Jetzt nicht!“
Clemency fuhr vor Überraschung und Verwirrung zusammen, als sie der Richtung von Marions Blicken folgte und eine dunkle Gestalt im Eingang stehen sah.
„Sie können im nächsten Augenblick entdeckt werden“, sagte Marion. „Jetzt nicht! Warten Sie, falls Sie können, in einem Versteck. Ich komme sofort.“
Er winkte ihr zu und verschwand.
„Geh nicht zu Bett. Warte hier auf mich!“ sagte Marion hastig. „Ich wollte schon seit einer Stunde mit dir reden. Oh, bleib mir treu!“
Indem sie ungeduldig ihre unruhige Hand ergriff und sie mit ihren beiden Händen an die Brust preßte – eine Geste, die in ihrer leidenschaftlichen Bitte ausdrucksvoller war als die beredtesten Worte –, entfernte sich Marion; als der Schein der zurückkehrenden Laterne im Zimmer aufflammte.
„Alles still und friedlich. Keiner da. Vermutlich Einbildung“, sagte Mr. Britain, als er die Tür schloß und verriegelte. „Das kommt von lebhafter Phantasie. Hallo, was ist denn los?“
Clemency, die ihre Bestürzung und Unruhe nicht verbergen konnte, saß blaß und am ganzen Leibe zitternd auf einem Stuhl.
„Was is los?“ wiederholte sie, rieb sich nervös die Hände und Ellbogen und schaute irgendwohin, nur nicht zu ihm. „Du bist gut, Britain! Versetzt einen mit Lärm und Laternen und was weiß ich alles in Angst und Schrecken. Was los is, ja!“
„Aber wenn dich eine Laterne in Angst und Schrecken versetzt, Clemmy“, sagte Mr. Britain, blies sie gelassen aus und hängte sie wieder an, „kann man dieses Gespenst schnell loswerden. Aber du bist doch sonst so mutig“, sagte er und blieb stehen, um sie zu betrachten. „Und du warst es auch noch nach dem Krach und der Laterne. Was ist dir in den Kopf gestiegen. Doch nicht ein Gedanke, wie?“
Aber da ihm Clemency in gewohnter Weise eine gute Nacht wünschte und herumzuhantieren begann, als wollte sie sofort zu Bett gehen, wünschte auch Little Britain ihr gute Nacht, nachdem er die originelle Bemerkung geäußert hatte, daß man aus den Launen der Frauen nicht schlau werde; nahm seine Kerze und trollte sich schlaftrunken zu Bett.
Als alles still war, kam Marion zurück.
„Öffne die Tür“, sagte sie, „und stelle dich dicht neben mich, während ich draußen mit ihm spreche.“
So zaghaft ihr Verhalten war, zeugte es doch von einer Unbeirrbarkeit und Entschlossenheit, der Clemency nicht widerstehen konnte. Leise schob sie den Riegel an der Tür zurück, doch ehe sie den Schlüssel umdrehte, sah sie sich zu dem jungen Geschöpf um, das darauf wartete, hinauszustürzen, wenn sie sie öffnen würde.
Das Gesicht war nicht abgewandt oder niedergeschlagen, sondern schaute sie im Selbstgefühl seiner Jugend und Schönheit voll an. Ein natürliches Gefühl für die Bedeutungslosigkeit des Hindernisses, das sich zwischen das glückliche Zuhause und die Liebe des unbescholtenen Mädchens stellte und das die Zerstörung jenes Zuhauses und den Untergang seines wertvollsten Schatzes bedeuten könnte, quälte Clemencys mitfühlendes Herz und ließ es vor Kummer und Mitleid überfließen, daß sie, in Tränen ausbrechend, ihre Arme um Marions Hals schlang.
„Ich weiß nur wenig, mein Schatz“, rief Clemency, „sehr wenig, aber ich weiß, daß das nich sein sollte. Überlege, was du tust!“
„Das habe ich viele Male“, sagte Marion sanft.
„Noch einmal“, bestürmte sie Clemency, „bis morgen.“ Marion schüttelte den Kopf.
„Um Mr. Alfreds willen“, sagte Clemency mit schlichtem Ernst. „Ihn, den du früher von Herzen geliebt hast!“
Sie verbarg augenblicklich das Gesicht in den Händen und wiederholte „früher!“, als zerreiße es ihr das Herz.
„Laß mich gehen“, sagte Clemency, sie beruhigend. „Ich werde ihm sagen, was du willst. Tritt heute abend nich über diese Schwelle. Ich bin sicher, daß nichts Gutes rauskommt. Oh, es war ein unglückseliger Tag, an dem Mr. Warden hergebracht wurde! Denk an deinen lieben Vater, Liebling, und an deine Schwester.“
„Das habe ich“, sagte Marion und hob ungestüm den Kopf. „Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß ihn sprechen. Du hast zu mir gesagt, daß du mein bester und treuster Freund auf der Welt bist, aber ich muß diesen Schritt unternehmen. Willst du mitkommen, Clemency“, sie küßte sie auf das freundliche Gesicht, „oder soll ich allein gehen?“ Besorgt und verwundert drehte Clemency den Schlüssel und öffnete die Tür. Marion huschte in die dunkle und ungewisse Nacht hinaus, die jenseits der Schwelle lag, und hielt sie bei der Hand.
In der finsteren Nacht gesellte er sich zu ihr, und sie sprachen ernst und lange miteinander; und die Hand, die Clemencys festhielt, zitterte und wurde kalt oder umklammerte und umschloß deren Hand in der starken Erregung, die das Gespräch unwillkürlich hervorrief. Als sie zurückkehrten, folgte er bis zur Tür und ergriff, während sie einen Augenblick verweilten, ihre andere Hand und preßte sie an seine Lippen. Dann stahl er sich davon.
Die Tür wurde wieder verriegelt und verschlossen, und noch einmal stand sie unter ihres Vaters Dach. Nicht von dem Geheimnis niedergedrückt, das sie mitbrachte, obwohl sie so jung war; sondern mit demselben Gesichtsausdruck, für den ich keinen Namen habe und der durch die Tränen hindurchschimmerte.
Immer wieder dankte sie ihrer ergebenen Freundin, und sie vertraute ihr ohne weiteres, wie sie sagte, voller Zuversicht. Als sie sicher ihr Schlafzimmer erreicht hatte, fiel sie auf die Knie, und mit dem belastenden Geheimnis auf dem Herzen konnte sie beten!
Nach den Gebeten konnte sie sich ruhig und heiter über ihre geliebte, schlummernde Schwester beugen, deren Gesicht betrachten und lächeln – wenn auch traurig –, und sie murmelte, als sie ihr die Stirn küßte, diese Grace sei stets wie eine Mutter zu ihr gewesen und sie habe sie wie ein Kind geliebt!
Sie konnte den widerstandslosen Arm um ihren Hals legen, als sie sich zur Ruhe begab – selbst im Schlaf schien er sich freiwillig beschützend und zärtlich darum zu schlingen –, und auf die geöffneten Lippen hauchen: „Gott segne sie!“
Sie konnte in einen friedlichen Schlaf sinken, bis auf den einen Traum, in dem sie mit ihrer reinen und rührenden Stimme aufschrie, daß sie ganz allein sei und alle sie vergessen hätten.
Ein Monat vergeht schnell, selbst wenn er sein langsamstes Tempo anschlägt. Der Monat, der zwischen jener Nacht und der Rückkehr verstreichen sollte, war schnell zu Fuß und verging wie im Fluge.
Der Tag kam heran. Ein stürmischer Wintertag, der manchmal an dem alten Haus rüttelte, daß es gleichsam im Wind erzitterte. Ein Tag, an dem man sich zu Hause doppelt wohl fühlte. An dem die Kaminecke neue Freuden spendete. An dem sich auf die Gesichter, die sich um den Herd scharten, ein stärkeres Glühen malte und an dem sich jede Gruppe am Kamin zu einem engeren und geselligeren Bund gegen die wütenden Elemente zusammenschloß. Es war solch ein stürmischer Wintertag, wie er am besten eine Nacht vorbereitet, die man nicht einläßt; verhängte Zimmer und fröhliche Blicke; Musik, Gelächter, Tanz, Licht und lustige Unterhaltung!
Dies alles hielt der Doktor zum Willkommen für Alfred bereit. Sie wußten, daß er vor dem Abend nicht kommen könnte, und sie würden die Nachtglocke läuten, sagte er, wenn er sich näherte. All seine alten Freunde sollten sich um ihn versammeln. Kein Gesicht, das er kannte und gern hatte, sollte er vermissen. Nein! Sie alle sollten dasein!
Deshalb wurden Gäste eingeladen und Musiker bestellt, Tische gedeckt und Fußböden auf fleißige Füße vorbereitet und großzügige Vorkehrungen für jegliche Art von Gastfreundschaft getroffen. Da es Weihnachtszeit war und seine Augen nicht mehr an die englische Stechpalme und ihr kräftiges Grün gewöhnt waren, wurde der Tanzsaal mit solchen Girlanden geschmückt, und die roten Beeren funkelten ihm aus den Blättern hervor einen englischen Willkommensgruß entgegen.
Es war für alle ein arbeitsreicher Tag; für keinen arbeitsreicher als für Grace, die geräuschlos überall die Aufsicht führte und der gute Geist der Vorbereitungen war. So manches Mal (wie schon viele Male im zurückliegenden, schnell vergangenen Monat) blickte Clemency Marion aufmerksam, ja beinahe ängstlich an. Sie fand sie vielleicht etwas blasser als sonst, doch auf ihrem Gesicht war eine wohltuende Gelassenheit, die es lieblicher denn je machte.
Als sie am Abend angekleidet war und auf dem Kopf einen Kranz trug, den Grace ihr stolz gewunden hatte – seine künstlichen Blumen waren Alfreds Lieblingsblumen, wie sich Grace erinnerte, als sie sie aussuchte –, lag auf ihrer Stirn wieder jener alte Ausdruck – nachdenklich, fast kummervoll und doch so innerlich, wild und mitreißend –, um ein Hundertfaches verstärkt.
„Der nächste Kranz, den ich diesem hübschen Kopf anpasse, wird ein Brautkranz sein“, sagte Grace, „oder ich bin kein wahrer Prophet, Liebes.“
Ihre Schwester lächelte und hielt sie im Arm.
„Einen Augenblick, Grace. Verlaß mich noch nicht. Bist du sicher, daß ich weiter nichts möchte?“
Sie machte sich darüber keine Sorgen. Es war das Gesicht der Schwester, über das sie nachdachte, und ihre Blicke waren zärtlich darauf gerichtet.
„Meine Kunst kann nicht weiter reichen“, sagte Grace, „auch deine Schönheit nicht, liebes Mädchen. Ich habe dich niemals so hübsch gesehen wie heute.“
„Ich bin nie so glücklich gewesen“, erwiderte sie.
„Gewiß, aber ein größeres Glück hält sich bereit. In einem Heim, das so freundlich und strahlend ist wie dieses“, sagte Grace, „werden Alfred und seine junge Frau bald wohnen.“
Wieder lächelte sie. „In deiner Vorstellung ist es ein glückliches Heim. Ich kann es in deinen Augen sehen. Ich weiß, es wird glücklich sein, Schatz. Wie froh bin ich, das zu wissen.“
„Nun“, rief der Doktor hereinstürmend. „Da seid ihr ja. Alles fertig für Alfred? Er kann nicht so bald hiersein – eine Stunde vor Mitternacht oder so –, da bleibt noch eine Menge Zeit zum Lustigsein, bis er kommt. Er soll uns nicht antreffen, ohne daß das Eis gebrochen ist. Lege das Feuer hier auf, Britain! Es soll die Stechpalme bescheinen, bis sie wieder blinkt. Es ist eine unsinnige Welt, Kätzchen; treue Liebhaber und all das andere – alles Unsinn! Aber wir werden mit den anderen albern sein und unserem treuen Liebhaber einen tollen Empfang bereiten. Auf mein Wort!“ sagte der alte Doktor und betrachtete stolz seine Töchter. „Ich bin heute abend bei den anderen Albernheiten nicht ganz klar; weiß nur, daß ich der Vater von zwei hübschen Mädchen bin.“
„Alles, was die eine davon je getan hat oder tun mag – tun mag, liebster Vater – ist, dir Schmerz und Kummer zu bereiten; verzeih ihr“, sagte Marion, „verzeih ihr jetzt, da ihr Herz voll ist. Sage, daß du ihr verzeihst. Daß du ihr verzeihen wirst. Daß sie stets deine Liebe genießen wird und …“, der Schluß blieb unausgesprochen, denn ihr Gesicht war an der Schulter des alten Mannes vergraben.
„Na, na, na!“ sagte der Doktor zärtlich. „Verzeihen! Was habe ich zu verzeihen? Oho, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkommen, um uns so zu verwirren, müssen wir sie weit entfernt halten, müssen wir Eilboten ausschicken, die sie auf der Straße aufhalten und sie nur eine oder zwei Meilen pro Tag voranbringen, bis wir richtig darauf vorbereitet sind, ihnen zu begegnen. Küß mich, Kätzchen. Verzeihen! Was für ein törichtes Kind du bist! Wenn du mich hundertmal am Tag belästigt und geärgert hättest, wie du es nicht ein einziges Mal getan hast, würde ich alles verzeihen bis auf diese Bitte. Küß mich noch einmal, Kätzchen. Da! Für die Vergangenheit und die Zukunft sind wir quitt miteinander. Legt das Feuer hier auf! Wollt ihr die Leute in dieser kalten Winternacht erfrieren lassen? Laßt uns sorglos, herzlich und fröhlich sein, oder ich vergebe einigen von euch nicht.“
So vergnügt nahm der alte Doktor es auf! Und das Feuer loderte, und die Lichter strahlten, und Gäste trafen ein, und ein Gemurmel lebhafter Stimmen setzte ein, und schon belebte eine angenehme Atmosphäre fröhlicher Erregung das ganze Haus.
Immer mehr Gäste strömten herein. Leuchtende Augen strahlten Marion an; lächelnde Lippen beglückwünschten sie zu seiner Rückkehr; kluge Mütter befächelten sich und hofften, sie möge nicht zu jung und unbeständig für den ruhigen häuslichen Alltag sein; ungestüme Väter fielen in Ungnade, weil sie allzu begeistert von ihrer Schönheit waren; Töchter beneideten sie; Söhne beneideten ihn; zahllose Liebespaare machten sich dieses Ereignis zunutze; alle waren interessiert, lebhaft und erwartungsvoll.
Mr. und Mrs. Craggs erschienen Arm in Arm, doch Mrs. Snitchey kam allein. „Nanu, was ist mit ihm geschehen?“ fragte der Doktor.
Die Feder des Paradiesvogels an Mrs. Snitcheys turbanähnlichem Hut zitterte, als wäre der Paradiesvogel wieder lebendig, als sie sagte, daß zweifellos Mr. Craggs Bescheid wüßte. Ihr werde nie etwas erzählt.
„Dieses ekelhafte Büro“, sagte Mrs. Craggs.
„Ich wünschte, es wäre abgebrannt“, sagte Mrs. Snitchey.
„Er ist – er ist, da ist noch eine geschäftliche Angelegenheit, die meinen Partner aufhält“, sagte Mr. Craggs und blickte unbehaglich um sich.
„Oh! Geschäfte. Erzählen Sie mir das nicht!“ sagte Mrs. Snitchey.
„Wir wissen, was Geschäfte heißt“, sagte Mrs. Craggs.
Daß sie aber nicht wußten, was es hieß, war vielleicht der Grund, warum Mrs. Snitcheys Paradiesvogelfeder so unheilvoll bebte und warum die Gehänge an Mrs. Craggs’ Ohrringen wie kleine Glocken schwangen.
„Ich staune, daß du Weggehen konntest, Mr. Craggs“, sagte seine Frau.
„Mr. Craggs hat Glück, wirklich“, sagte Mrs. Snitchey.
„Dieses Büro nimmt sie so in Anspruch“, sagte Mrs. Craggs.
„Ein Mensch mit einem Büro hat kein Recht, überhaupt zu heiraten“, sagte Mrs. Snitchey.
Dann sagte Mrs. Snitchey zu sich selbst, daß ihr Blick soeben Mr. Craggs’ Seele durchbohrt hatte und er es wußte; und Mrs. Craggs bemerkte Craggs gegenüber, daß ihn „seine Snitcheys“ hinter dem Rücken betrögen und er es entdecken würde, wenn es zu spät sei.
Noch immer sah Mr. Craggs, ohne diese Bemerkungen stark zu beachten, unbehaglich um sich, bis seine Blicke an Grace hängenblieben, die er sofort begrüßte.
„Guten Abend, Madam“, sagte Craggs. „Sie sehen bezaubernd aus. Ihre – Miss – Ihre Schwester, Miss Marion, ist …“
„Oh, es geht ihr sehr gut, Mr. Craggs.“
„Ja – ich – ist sie hier?“ fragte Craggs.
„Hier! Sehen Sie sie nicht da drüben zum Tanz gehen?“ fragte Grace.
Mr. Craggs setzte sich die Brille auf, um besser sehen zu können, betrachtete sie dadurch eine Weile, hustete und steckte sie mit zufriedener Miene ins Futteral und in seine Tasche zurück.
Nun setzte die Musik ein, und der Tanz begann.
Das helle Feuer prasselte und funkelte, flammte auf und fiel in sich zusammen, als ob es sich in echter Geselligkeit am Tanz beteiligte. Manchmal brauste es auf, als wollte es ebenfalls Musik machen. Manchmal blitzte und strahlte es, als wäre es der Mittelpunkt des alten Raumes; manchmal blinzelte es auch den jungen Flüsternden in den Ecken zu wie ein eingeweihter Patriarch. Manchmal zerstreute es sich mit den Zweigen der Stechpalme. Wenn es die Blätter von Zeit zu Zeit beleuchtete, verlieh es ihnen ein Aussehen, als wären sie wieder in der kalten Winternacht und zitterten im Wind. Manchmal wurde seine anregende Stimme ungebärdig und schoß über das Ziel hinaus, und dann sprühte es mit einem lauten Knall mitten unter die sich schnell bewegenden Füße einen harmlosen, kleinen Funkenregen, und in seiner Erregung sprang und hüpfte es wie toll in dem breiten, alten Kamin hoch.
Ein weiterer Tanz näherte sich dem Ende, als Mr. Snitchey seinen Partner, der zuschaute, am Arm berührte.
Mr. Craggs fuhr zusammen, als ob sein Vertrauter ein Gespenst sei. „Ist er weg!“ fragte er.
„Pst! Er war länger als drei Stunden bei mir“, sagte Snitchey. „Er hat alles durchgelesen. Er hat alle für ihn getroffenen Vereinbarungen geprüft und ist wirklich sehr genau dabei gewesen. Er – hm!“
Der Tanz war zu Ende. Marion ging dicht an ihm vorbei, als er sprach. Sie achtete weder auf ihn noch auf seinen Partner, sondern schaute über die Schulter hinweg zu ihrer entfernt stehenden Schwester, als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte und ihren Blicken entschwand.
„Sie sehen, alles sicher und in Ordnung“, sagte Mr. Craggs. „Er ist vermutlich nicht auf dieses Thema zurückgekommen?“
„Mit keinem Wort.“
„Und er ist wirklich weg? Ist er sicher fort?“
„Er hält Wort. Er gleitet mit dieser Nußschale von einem Boot mit der Flut den Fluß hinab und geht damit in dieser dunklen Nacht – ein Wagehals ist er ja – vor dem Wind auf See hinaus. Es gibt nirgends eine verlassenere Reede. Das ist die eine Sache. Die Flut kommt, wie er sagt, eine Stunde vor Mitternacht – also um diese Zeit. Ich bin froh, daß es vorbei ist.“ Mr. Snitchey wischte sich die Stirn, die erhitzt und besorgt aussah.
„Was denken Sie über …“, fragte Mr. Craggs.
„Pst!“ antwortete sein vorsichtiger Partner und blickte geradeaus. „Ich verstehe Sie. Nennen Sie keine Namen, und wir wollen nicht wie Geheimniskrämer wirken. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und ehrlich gesagt, ist es mir jetzt auch egal. Es ist eine große Erleichterung. Seine Eigenliebe hat ihn betrogen, nehme ich an. Vielleicht hat die junge Dame ein wenig mit ihm kokettiert. Das Beweismaterial würde dieses Verhalten unterstreichen. Alfred noch nicht hier?“
„Noch nicht“, sagte Mr. Craggs. „Wird jede Minute erwartet.“
„Gut.“ Mr. Snitchey wischte sich erneut die Stirn. „Es ist eine große Erleichterung. Seit wir als Partner zusammenarbeiten, bin ich nicht so nervös gewesen. Ich habe die Absicht, jetzt den Abend zu genießen, Mr. Craggs.“
Mrs. Craggs und Mrs. Snitchey schlossen sich ihnen an, als er diese Absicht verkündete. Der Paradiesvogel befand sich in einem Zustand heftigster Vibration, und die kleinen Glocken läuteten recht vernehmlich.
„Es war der Gegenstand allgemeiner Kritik, Mr. Snitchey“, sagte Mrs. Snitchey. „Ich hoffe, das Büro ist zufrieden.“
„Womit zufrieden, meine Liebe?“ fragte Mr. Snitchey. „Daß eine wehrlose Frau Spötteleien und Bemerkungen ausgeliefert ist“, erwiderte seine Frau. „Das ist ganz die Art des Büros, jawohl.“
„Ich selbst bin wirklich so lange daran gewöhnt“, sagte Mrs. Craggs, „das Büro mit allem in Verbindung zu bringen, was dem häuslichen Leben entgegensteht, daß ich froh bin, es als den anerkannten Feind meines Friedens zu verstehen. Auf alle Fälle liegt darin etwas Ehrliches.“
„Meine Liebe“, betonte Mr. Craggs, „deine gute Meinung ist unschätzbar, aber ich habe nie bekannt, daß das Büro der Feind deines Friedens ist.“
„Nein“, sagte Mrs. Craggs und läutete ein ganzes Glockenspiel mit ihren Glöckchen. „Du wirklich nicht. Du wärst des Büros nicht würdig, wenn du aufrichtig wärst.“
„Was meine Abwesenheit heute abend betrifft, meine Liebe“, sagte Mr. Snitchey und reichte ihr seinen Arm, „lag die Entbehrung wohl auf meiner Seite, aber wie Mr. Craggs weiß …“
Mrs. Snitchey schnitt diese Erläuterung ab, indem sie ihren Mann beiseite zerrte und ihn bat, diesen Mann anzusehen. Ihr den Gefallen zu tun, ihn anzusehen!
„Welchen Mann, meine Liebe?“ fragte Mr. Snitchey. „Deinen auserwählten Gefährten; ich bin nicht dein Gefährte, Mr. Snitchey.“
„Aber ja, das bist du, meine Liebe“, warf er ein.
„Nein, nein, das bin ich nicht“, sagte Mrs. Snitchey mit majestätischem Lächeln. „Ich kenne meine Stellung. Willst du deinen auserwählten Gefährten ansehen, Mr. Snitchey, deinen Schiedsrichter, den Bewahrer deiner Geheimnisse, den Mann, dem du traust, kurz, dein eigenes Ich?“
Die gewohnheitsmäßige Gedankenverbindung von Ich mit Craggs veranlaßte Mr. Snitchey, in diese Richtung zu schauen.
„Wenn du diesem Mann heute abend in die Augen sehen kannst“, sagte Mrs. Snitchey, „und nicht weißt, daß du getäuscht wirst und daß ein Spiel mit dir getrieben wird, daß du durch einen seltsamen Zauber, der unerklärlich ist und gegen den meine Warnung ohne die geringste Wirkung bleibt, zum Opfer seiner Listen gemacht und seinem Willen unterworfen wirst, kann ich nur sagen: Du tust mir leid!“
Im selben Augenblick betätigte sich Mrs. Craggs als Weissagerin zu diesem leidigen Thema. War es möglich, fragte sie, daß Craggs „seinen Snitcheys“ gegenüber dermaßen die Augen verschließen konnte, daß er nicht seine wahre Stellung erkannte? Wollte er behaupten, daß er „seine Snitcheys“ den Raum betreten sah und nicht deutlich bemerkte, daß dieser Mann Vorbehalte hatte und verschlagen und verräterisch war? Wollte er ihr erzählen, daß seine Geste, als er sich die Stirn wischte und so verstohlen um sich blickte, nicht zeigte, daß etwas auf dem Gewissen des werten Snitchey lastete (falls er ein Gewissen hatte), das das Licht scheute? Erschien außer den Snitcheys jemand zu festlichen Gelegenheiten wie ein nächtlicher Einbrecher – was übrigens keine genaue Veranschaulichung des Falls war, da er freundlich zur Tür hereinspaziert kam. Und wollte er ihr noch am Mittag versichern (jetzt war es kurz vor Mitternacht), daß „seine Snitcheys“ unbedingt zu entschuldigen seien, entgegen allen Tatsachen, jeglicher Vernunft und Erfahrung?
Weder Snitchey noch Craggs unternahmen offen den Versuch, sich dem Strom, der eingesetzt hatte, entgegenzustemmen, sondern waren beide bereit, sich sanft damit forttragen zu lassen, bis seine Kraft nachließ. Dies geschah etwa zur gleichen Zeit, als man sich allgemein zu einem Kontertanz in Bewegung setzte und Mr. Snitchey sich als Partner für Mrs. Craggs vorschlug und Mr. Craggs sich galant Mrs. Snitchey anbot. Nach einigen schwachen Ausflüchten wie „Warum bitten Sie nicht jemand anderes?“ und „Ich weiß, Sie wären froh, wenn ich dankte“ und „Ich frage mich, ob Sie aus dem Büro heraustanzen können“ (dies nun aber scherzhaft) sagte jede Dame gnädig zu und nahm ihren Platz ein.
Es war bei ihnen wirklich eine alte Gewohnheit, so zu verfahren und bei festlichen Mahlzeiten in ähnlicher Anordnung paarweise zu gehen, denn sie waren die besten Freunde und auf vertrautem Fuße miteinander. Vielleicht waren der unaufrichtige Craggs und der niederträchtige Snitchey für die beiden Ehefrauen genau solche erdachten Personen, wie es Doe und Roe, die unablässig den Amtsbezirk auf und ab liefen, für die Ehemänner waren. Oder vielleicht hatten die Damen die beiden Anteile am Geschäft lieber eingesetzt und auf sich genommen, als daß sie gänzlich ausgeschlossen geblieben wären. Gewiß ist aber, daß jede Ehefrau ebenso ernst und beständig auf ihrem Gebiet tätig war wie ihr Mann auf seinem und es als unmöglich angesehen hätte, daß die Firma ohne ihre lobenswerten Anstrengungen eine erfolgreiche und angesehene Existenz geblieben wäre.
Doch jetzt konnte man den Paradiesvogel in der Mitte flattern sehen; und die kleinen Glocken begannen bei der Poussette zu hüpfen und zu bimmeln; und das rosige Gesicht des Doktors drehte sich im Kreise wie ein ausdrucksvoller, lackierter Kreisel; und der atemlose Mr. Craggs begann sich schon zu fragen, ob nicht der Kontertanz wie alles andere im Leben „zu leicht“ gemacht worden sei; und Mr. Snitchey tanzte ihn mit behenden Luftsprüngen für sich selbst und Craggs und ein halbes Dutzend andere.
Nun faßte auch das Feuer neuen Mut – begünstigt durch den frischen Wind, den der Tanz entfachte – und brannte mit heller und hoher Flamme. Es war der allgegenwärtige Genius des Raumes. Es leuchtete in den Augen der Menschen; es funkelte in den Geschmeiden an den schneeweißen Hälsen der Mädchen; es glitzerte an ihren Ohren, als wollte es ihnen verstohlen etwas zuflüstern; es blitzte an ihren Taillen auf; es flackerte auf dem Fußboden und färbte ihn rosenrot für ihre Füße; es erstrahlte an der Decke, daß sein Glühen ihre strahlenden Gesichter hervorheben mochte; und es verbreitete einen allgemeinen Glanz in Mrs. Craggs’ kleinem Glockenturm.
Die frische Luft, die es anfachte, wurde weniger sanft, da die Musik schneller spielte und der Tanz mit neuem Schwung weiterging. Eine Brise kam auf, die die Blätter und Beeren an der Wand tanzen ließ, wie sie es oft auf den Bäumen getan hatten, und der leise Wind rauschte im Raum, als ob eine unsichtbare Gesellschaft von Feen, die in die Fußstapfen der guten, wirklichen Nachtschwärmer traten, ihnen hinterherwirbelte. Jetzt konnte man auch keinen Ausdruck auf dem Gesicht des Doktors erkennen, als er sich drehte und drehte; und jetzt schien ein Dutzend Paradiesvögel unregelmäßig zu fliegen; und nun waren tausend Glöckchen tätig; und eine Flotte fliegender Röcke wurde von einem kleinen Sturm in Unruhe versetzt, als die Musik aufhörte und der Tanz vorüber war.
Erhitzt und atemlos, wie der Doktor war, erwartete er um so ungeduldiger Alfreds Kommen.
„Irgend etwas zu sehen, Britain? Irgend etwas zu hören?“
„Zu dunkel, um weit zu sehen, Sir. Zuviel Lärm im Haus, um etwas zu hören.“
„Das stimmt! Um so fröhlicher der Empfang für ihn. Wie spät ist es?“
„Grade zwölf, Sir. Er kann nicht mehr lange ausbleiben, Sir.“
„Schür das Feuer und leg noch einen Scheit auf“, sagte der Doktor. „Er soll sehen, wie sein Willkommensgruß in die Nacht aufflammt – der gute Junge! –, wenn er ankommt!“
Er sah es, jawohl! Als er um die Ecke bei der alten Kirche bog, erblickte er von der Kutsche aus Licht. Er kannte den Raum, aus dem es schien. Er sah die winterlich kahlen Zweige der alten Bäume zwischen dem Lichtschein und sich. Er wußte, daß einer dieser Bäume zur Sommerszeit vor Marions Schlafzimmerfenster melodisch rauschte.
Tränen standen ihm in den Augen. Sein Herz pochte so heftig, daß er kaum sein Glück ertragen konnte. Wie oft hatte er an diesen Augenblick gedacht, ihn sich in allen Einzelheiten ausgemalt und befürchtet, daß er nie eintreten könnte, und sich in weiter Ferne danach gesehnt.
Wieder das Licht! Deutlich sichtbar und rötlich; angezündet – das wußte er –, um ihn willkommen zu heißen und ihn zur Eile anzutreiben. Er winkte mit der Hand, schwenkte den Hut und jubelte laut und triumphierend, als ob sie das Licht wären und ihn sehen und hören könnten, wie er durch den Schmutz und Schlamm darauflosstürmte.
Halt! Er kannte den Doktor und begriff, was dieser getan hatte. Er wollte nicht zulassen, daß es eine Überraschung für sie war. Aber er konnte eine daraus machen, wenn er zu Fuß ginge. Wenn die Tür zum Obstgarten offenstünde, könnte er dort hineingehen, wenn nicht, war die Mauer leicht zu überwinden, wie er von früher wußte; und er würde im Nu unter ihnen sein.
Er stieg aus der Kutsche und lief, nachdem er den Kutscher gebeten hatte – selbst dies war bei seiner Aufregung nicht leicht –, ein paar Minuten zurückzubleiben und dann langsam zu folgen, mit außerordentlicher Schnelligkeit vorwärts, rüttelte am Tor, erklomm die Mauer, sprang auf der anderen Seite hinab und stand keuchend im alten Obstgarten.
Auf den Bäumen lag Rauhreif, der im schwachen Schein des wolkenverhangenen Mondes wie bewegungslose Girlanden in den kleineren Zweigen hing. Verwelkte Blätter knisterten und knackten unter seinen Füßen, als er leise zum Haus schlich. Die Trostlosigkeit einer Winternacht lastete über der Erde und in der Luft. Doch von den Fenstern her leuchtete ihm das rote Licht fröhlich entgegen, und das Summen und Murmeln von Stimmen grüßte lieblich sein Ohr.
Er lauschte und versuchte, während er vorwärts kroch, ihre Stimme aus den anderen herauszufinden, und als er beinahe glaubte, sie zu hören, hatte er fast die Tür erreicht, da wurde diese plötzlich geöffnet, und eine herauskommende Gestalt stieß mit ihm zusammen. Mit einem halb unterdrückten Schrei prallte sie sofort zurück.
„Clemency“, sagte er, „kennst du mich nicht?“
„Kommen Sie nich rein!“ antwortete sie und schob ihn zurück. „Gehen Sie. Fragen Sie mich nich, warum. Kommen Sie nich rein.“
„Was ist los?“ rief er.
„Ich weiß nich. Ich – ich fürchte mich zu denken. Gehen Sie zurück. Hören Sie!“
Plötzlich gab es einen Tumult im Haus. Sie hielt sich die Ohren zu. Ein wilder, durchdringender Schrei war zu hören, und Grace – Entsetzen in Blick und Gebärde – stürzte zur Tür hinaus.
„Grace!“ Er fing sie in seinen Armen auf. „Was ist los? Ist sie tot?“
Sie machte sich los, als wollte sie sein Gesicht erkennen, und sank ihm zu Füßen nieder.
Eine Menschenmenge kam aus dem Haus. Unter ihnen war ihr Vater mit einem Dokument in der Hand.
„Was ist das?“ rief Alfred, raufte sich die Haare und schaute in heftigem Schmerz von einem zum anderen, als er sich neben dem bewußtlosen Mädchen niederkniete. „Will mich niemand ansehen? Will niemand mit mir sprechen? Kennt mich keiner? Ist niemand unter euch, der mir erzählt, was los ist?“
Ein Gemurmel entstand unter ihnen. „Sie ist weg.“
„Weg!“ wiederholte er.
„Geflohen, mein lieber Alfred!“ sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Von ihrem Zuhause und von uns fort. Heute nacht. Sie schreibt, daß sie ihre unschuldige und nicht zu tadelnde Wahl getroffen hat; bittet darum, daß wir ihr verzeihen; fleht uns an, sie nicht zu vergessen, und ist fort!“
„Mit wem? Wohin?“
Er sprang auf, als wollte er die Verfolgung auf nehmen, doch als man ihm Platz machte, blickte er wild in die Runde, wankte zurück und sank in seiner früheren Haltung nieder und umschloß eine von Grace’ kalten Händen mit den seinen.
Es gab ein eiliges Hinundherrennen, Verwirrung, Lärm, Durcheinander und keinen Entschluß. Einige zerstreuten sich in den Straßen, einige nahmen sich ein Pferd, einige bekamen Lichter, und einige unterhielten sich und machten geltend, daß keine Spur zu verfolgen war. Etliche näherten sich ihm freundlich mit einem Blick, als wollten sie ihm Beileid wünschen. Etliche ermahnten ihn, daß Grace ins Haus gebracht werden müsse und daß er es verhindere. Er hörte sie nicht und rührte sich nicht.
Der Schnee fiel schnell in dichten Flocken. Einen Augenblick lang sah er in die Luft und dachte, daß diese weiße Asche, die auf seine Hoffnungen und sein Elend ausgestreut würde, gut zu ihnen paßte. Er schaute um sich auf die weiß werdende Erde und dachte daran, daß Marions Fußspuren, kaum eingedrückt, verwischt und gänzlich zugedeckt würden und selbst diese Erinnerung an sie ausgelöscht würde. Doch er spürte die Witterung nicht, und er regte sich nicht.
Dritter Teil
Seit jener Nacht der Rückkehr waren sechs Jahre ins Land gezogen. Es war ein warmer Herbstnachmittag, und es hatte stark geregnet. Die Sonne brach plötzlich hinter den Wolken hervor, und das alte Schlachtfeld, das bei ihrem Anblick als grüne Fläche hell und heiter funkelte, sendete blitzschnell einen Gegengruß, der sich über das Land ausbreitete, als ob ein fröhlicher Leuchtturm angezündet worden wäre und von tausend Orten her antwortete.
Wie herrlich die Landschaft in dem Licht aufflammte und wie sich jene üppig wachsende Macht ausdehnte und alles ringsum erhellte, als wäre ein himmlisches Wesen vorbeigezogen. Der Wald, der zuvor eine düstere Fläche gewesen war, zeigte seine verschiedenen Farbtöne von Gelb, Grün, Braun und Rot, die verschiedenen Formen seiner Bäume, auf deren Blättern Regentropfen glitzerten, die beim Herabfallen aufblitzten. Es schien, als wäre das leuchtend grüne Weideland noch vor einer Minute blind gewesen und hätte nun den Gesichtssinn entdeckt, um zum strahlenden Himmel aufzublicken. Getreidefelder, Hecken, Zäune, Gehöfte und mit Grasbüscheln bewachsene Dächer, der Kirchturm, der Bach, die Mühle; all das trat heiter aus der traurigen Finsternis hervor. Vögel sangen lieblich, Blumen hoben ihre hängenden Köpfe, süße Düfte stiegen aus dem gestärkten Boden auf; die blaue Weite droben dehnte sich aus und verbreitete sich; schon durchdrangen die schrägen Sonnenstrahlen todbringend die dunkle Wolkenbank, die in ihrem Flug langsam dahinzog, und ein Regenbogen, der Geist all der Farben, die die Erde und den Himmel verschönten, spannte seinen weiten Bogen mit triumphierendem Glanz.
Zu dieser Zeit grüßte ein kleines Wirtshaus an der Landstraße, das gemütlich hinter einer großen Ulme mit einer trefflichen Bank für Müßiggänger um ihren dicken Stamm versteckt lag, den Reisenden mit einer freundlichen Fassade, wie sie ein gastfreundliches Haus haben sollte, und lockte ihn durch zahlreiche stumme, doch vielsagende Versprechungen zu einer behaglichen Aufnahme. Das rötliche Aushängeschild im Baum beäugte mit seinen goldenen, in der Sonne flimmernden Buchstaben den Vorübergehenden zwischen den grünen Blättern hindurch wie ein lustiges Gesicht und versprach viel Vergnügen. Die Pferdetränke, die mit klarem, frischem Wasser gefüllt war, und der Boden unter ihr, auf dem duftendes Heu verstreut lag, ließen jedes vorbeikommende Pferd die Ohren spitzen. Die karmesinroten Vorhänge in den unteren Räumen und die blütenweißen Gardinen oben in den kleinen Schlafzimmern lockten bei jedem Lüftchen: „Kommt herein!“ Auf die leuchtend grünen Fensterläden waren goldene Inschriften über Bier und Ale und unverdünnte Weine und gute Betten geschrieben und ein rührendes Bild von einem braunen, überschäumenden Krug gemalt. Auf den Fenstersimsen standen blühende Pflanzen in leuchtend roten Töpfen, die sich lebhaft gegen die weiße Fassade abhoben; und in der Dunkelheit des Eingangs schimmerten Lichtstreifen, die von Flaschen und Deckelkannen zurückstrahlten.
Auf der Schwelle erschien ein Mann mit der für einen Gastwirt passenden Figur, denn obwohl klein, war er doch rundlich und breit und stand da, die Hände in den Taschen und die Beine genügend gespreizt, um Beruhigung bei dem Gedanken an seinen Keller und ein unbekümmertes Vertrauen – was zu gelassen und anständig war, als daß es in Prahlerei ausartete – in die allgemeine Finanzlage des Gasthofes auszudrücken. Die überreichliche Feuchtigkeit, die nach dem letzten Regen überall herabtröpfelte, ließ ihn gut abstechen. Nichts in seiner Nähe hatte Durst. Gewisse überlastige Dahlien, die über den Zaun seines hübschen, wohlgeordneten Gartens schauten, hatten, soviel sie konnten, in sich hineingesogen – vielleicht noch ein wenig mehr – und wären beinahe betrunken gewesen; doch die Rosen, der Goldlack, die Pflanzen an den Fenstern und die Blätter an dem alten Baum waren in der glänzenden Verfassung einer gemäßigten Gesellschaft, da sie nicht mehr zu sich genommen hatten, als ihnen guttat, was dazu beitrug, ihre besten Eigenschaften zu entfalten. Wie sie Tropfen um sich auf den Boden spritzten, schienen sie verschwenderisch unschuldige und sprühende Heiterkeit zu verbreiten, die wohltat, wo immer sie sich niederließ, indem sie vernachlässigte Ecken, die der Regen gewöhnlich nicht erreichte, weicher machte und dabei nichts verletzte.
Dieser Dorfkrug hatte bei seiner Gründung einen ungewöhnlichen Namen angenommen. Er wurde „Muskatreibe“ genannt. Unter diesem Alltagswort stand oben im Baum auf demselben leuchtenden Schild und mit denselben goldenen Buchstaben geschrieben: Inh. Benjamin Britain.
Bei näherem Hinsehen und einer genaueren Prüfung seines Gesichtes hätte man erkannt, daß niemand anderes als Benjamin Britain selbst auf der Schwelle stand – mit der Zeit recht verändert, doch zu seinem Vorteil. Wirklich ein sehr zufriedener Wirt.
„Mrs. Britain“, sagte Mr. Britain und sah die Straße hinab, „kommt ziemlich spät. Es ist Teezeit.“
Da keine Mrs. Britain kam, schlenderte er gemächlich auf die Straße und blickte sehr zufrieden am Haus hoch. „Das ist grade die Art Haus, bei der ich haltmachen würde, wenn es nicht mir gehörte.“
Dann bummelte er zum Gartenzaun hinüber und betrachtete die Dahlien. Sie sahen ihn mit hilflosen, schwerfällig hängenden Köpfen an, die sich wieder auf und ab bewegten, als die schweren Tropfen von ihnen abfielen.
„Man muß sich um euch kümmern“, sagte Benjamin. „Merke, nicht vergessen, es ihr zu sagen. Sie müßte längst kommen!“
Mr. Britains bessere Hälfte schien so sehr seine bessere Hälfte zu sein, daß seine eigene Hälfte ohne sie völlig verloren und hilflos war.
„Ich denke, sie hatte nicht so viel zu erledigen“, sagte Ben. „Da waren ein paar geschäftliche Dinge nach dem Markt, aber nicht viele. Oh! Endlich!“
Ein leichter zweirädriger Wagen, der von einem Jungen gelenkt wurde, kam die Straße entlanggeklappert. Darin saß auf einem Stuhl – einen großen, durchnäßten Schirm zum Trocknen hinter sich aufgespannt – die dralle Gestalt einer matronenhaften Frau. Die nackten Arme hatte sie über einen Korb, den sie auf den Knien hielt, gebreitet; verschiedene andere Körbe und Päckchen lagen dicht um sie herum; und ein gewisses freundlich gütiges Wesen drückte sich in ihrem Gesicht aus sowie eine zufriedene Unbeholfenheit in ihrem Benehmen, während sie im Rhythmus des Wagens, der selbst in der Ferne nach alten Zeiten aussah, hin und her geschüttelt wurde. Auch beim Näherkommen verringerte sich dieser Hauch längst vergangener Tage nicht, und als der Wagen vor der Tür der „Muskatreibe“ anhielt, entwischte ein Paar Schuhe, als es ausstieg, flink Mr. Britains offenen Armen und kam mit beträchtlichem Gewicht den Weg herunter. Diese Schuhe konnten kaum einem anderen gehören als Clemency Newcome.
Tatsächlich gehörten sie ihr, und sie stand in ihnen, und sie war eine rosige, zufrieden aussehende Seele mit ebensoviel Seife in ihrem glatten Gesicht wie in früheren Zeiten, jetzt aber mit unbeschädigten Ellbogen, die bei ihrer verbesserten Lage direkt Grübchen bekommen hatten.
„Du kommst spät, Clemmy“, sagte Mr. Britain.
„Ja, weißt du, Ben, ich hatte eine Menge zu tun!“ antwortete sie und sah nach ihrer sicheren Ankunft zu Hause geschäftig nach all den Päckchen und Körben. „Acht, neun, zehn, wo is elf? Oh! Mein Korb is elf. Schon gut. Versorg das Pferd, Harry, und wenn es wieder hustet, gib ihm heute abend warmes Futter. Acht, neun, zehn. Na, wo is elf? Ach, ich hab’s vergessen, schon gut. Wie geht’s den Kindern, Ben?“
„Sind gesund und munter, Clemmy.“
„Gesegnet seien ihre lieben Gesichter!“ sagte Mrs. Britain, befreite ihr eigenes rundes Antlitz von der Haube (denn sie und ihr Mann befanden sich inzwischen im Schankraum) und glättete das Haar mit ihren bloßen Händen. „Gib uns einen Kuß, Alter!“
Mr. Britain kam dem sofort nach.
„Ich denke“, sagte Mrs. Britain, wandte sich ihren Taschen zu und zog einen riesigen Berg dünner Bücher und zerknitterter Papiere hervor – ein wahrer Stall von Eselsohren –, „ich hab alles erledigt. Alle Rechnungen bezahlt, Rüben verkauft, das Konto des Brauers überprüft und bezahlt, Tabakspfeifen bestellt, siebzehn Pfund und vier Schilling bei der Bank eingezahlt, Dr. Heathfield die Kosten für die kleine Clem beglichen – schätze mal, wieviel das macht –, Dr. Heathfield will nichts mehr annehmen, Ben.“
„Ich glaube auch nicht“, erwiderte Ben.
„Nein. Er sagt, wie groß deine Familie auch sein wird, Ben, er wird dir nich ’n Sechser abnehmen. Nich mal, wenn du zwanzig hättst.“
Mr. Britains Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, und er sah angestrengt zur Wand hin.
„Isses nich nett von ihm?“ fragte Clemency.
„Sehr“, erwiderte Mr. Britain. „Das ist eine Art von Gefälligkeit, die ich auf keinen Fall mißbrauchen würde.“
„Nein“, gab Clemency zurück. „Natürlich nich. Dann is da das Pony – es hat acht Pfund zwei Schilling gebracht; das is nich schlecht, wie?“
„Das ist sehr gut“, sagte Ben.
„Ich freu mich, daß du zufrieden bist!“ rief seine Frau aus. „Ich dachte schon, du bist es nich. Ich glaube, das is alles und momentan nichts mehr von Ihrer und so weiter, Clemency Britain. Hahaha! Da! Nimm die Papiere und schließ sie weg. Oh! Einen Augenblick. Hier is ein gedruckter Anschlag zum Aufhängen. Noch feucht vom Drucker. Wie gut das riecht!“
„Was ist das?“ fragte Ben und las sich das Schriftstück durch.
„Ich weiß nich“, antwortete seine Frau. „Ich hab kein Wort davon gelesen.“
„Bei Auktion zu verkaufen“, las der Wirt der „Muskatreibe“, „wenn nicht vorher durch Privatvertrag veräußert.“
„So schreiben sie immer“, sagte Clemency.
„Ja, aber sie schreiben nicht immer das“, erwiderte er. „Sieh mal: Herrenhaus und so weiter, Büros und so weiter, Sträucher und so weiter, Umzäunung und so weiter, Firma Snitchey und Craggs und so weiter, Anteil des hypothekenfreien Besitzes von Esquire Michael Warden, der beabsichtigt, weiterhin im Ausland zu leben!“
„Beabsichtigt, weiterhin im Ausland zu leben!“ wiederholte Clemency.
„Hier ist es“, sagte Britain. „Sieh mal!“
„Und gerade heute hab ich’s am alten Haus flüstern hören, daß bessere und verständlichere Nachrichten von ihr halb zugesagt waren!“ sagte Clemency, schüttelte besorgt den Kopf und streichelte ihre Ellbogen, als ob die Erinnerung an die alten Zeiten unbewußt ihre alten Gewohnheiten wachrief. „Du meine Güte! Da drüben wird es schwere Herzen geben, Ben.“
Mr. Britain seufzte, schüttelte den Kopf und sagte, er könne daraus nicht klug werden und habe es schon lange aufgegeben. Mit dieser Bemerkung machte er sich daran, den Anschlag am Innenfenster des Schankraumes anzubringen. Nachdem sie ein paar Augenblicke schweigend gegrübelt hatte, raffte sich Clemency auf, glättete ihre sorgenvolle Stirn und hastete davon, um nach den Kindern zu sehen.
Obwohl der Wirt der „Muskatreibe“ seiner guten Ehefrau große Hochachtung entgegenbrachte, war diese doch von gönnerhafter Art, und sie belustigte ihn mächtig. Nichts hätte ihn so sehr in Erstaunen versetzt, wie von dritter Seite zu hören, daß sie es war, die das ganze Haus führte und ihn mit ihrer unkomplizierten, ehrlichen Wirtschaftlichkeit, ihrer guten Laune und Ehrlichkeit und mit ihrem Fleiß zu einem erfolgreichen Mann gemacht hatte. Es ist so leicht, auf jeder Stufe im Leben (wie sie die Welt sehr oft vorfindet) jene fröhlichen Naturen, die nie ihre Verdienste geltend machen, so zu beurteilen, wie sie sich in ihrer Bescheidenheit selbst einschätzen; und eine respektlose Zuneigung Menschen gegenüber wegen ihrer äußeren Eigenarten und Schrullen zu hegen, deren angeborener Wert – falls wir so weit sähen – uns bei einem Vergleich die Schamröte ins Gesicht triebe!
Für Mr. Britain war es angenehm, daran zu glauben, daß er sich herabließ, als er Clemency geheiratet hatte. Sie war für ihn der ständige Beweis seiner Herzensgüte und seiner wohlwollenden Charakterveranlagung, und er hatte das Gefühl, daß seine vortreffliche Ehefrau die Versinnbildlichung der alten Regel war, daß die Tugend ihr eigener Lohn ist.
Er hatte den Anschlag befestigt und die Belege für ihre Unternehmungen vom Tage im Schrank eingeschlossen – wobei er die ganze Zeit über ihre Geschäftstüchtigkeit kicherte –, als sie sich, mit der Nachricht zurückgekehrt, daß die beiden Master Britain im Wagenschuppen unter der Aufsicht einer gewissen Betsey spielten und daß die kleine Clem wie eine Puppe schliefe, zum Tee, der auf ihre Ankunft gewartet hatte, an einen kleinen Tisch setzte. Es war ein sehr ordentlicher, kleiner Schankraum mit der üblichen Ausstellung von Flaschen und Gläsern; mit einer Uhr, die auf die Minute genau ging (es war halb sechs); alles stand an seinem Platz, und alles war bis zum äußersten blank geputzt und poliert.
„Wahrhaftig, das is das erste Mal, daß ich mich heute ruhig hinsetze“, sagte Mrs. Britain, holte tief Luft, als hätte sie sich für den Abend hingesetzt; doch sofort stand sie wieder auf, um ihrem Mann den Tee zu reichen und ihm sein Butterbrot zurechtzumachen. „Wie mich dieser Anschlag an frühere Zeiten erinnert!“
„Ach!“ sagte Mr. Britain, handhabte seine Tasse wie eine Auster und trank den Inhalt nach demselben Prinzip.
„Dieser nämliche Mr. Michael Warden“, sagte Clemency und schüttelte den Kopf bei der Verkaufsanzeige, „hat mich meine alte Stellung gekostet.“
„Und dir deinen Mann eingebracht“, sagte Mr. Britain. „Nun, das hat er!“ erwiderte Clemency, „und vielen Dank dafür.“
„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, sagte Mr. Britain und betrachtete sie über seine Tasse hinweg. „Irgendwie hatte ich mich an dich gewöhnt, Clem, und ich dachte, ohne dich könnte ich nicht auskommen. So wurden wir Mann und Frau. Haha! Wir! Wer hätte das gedacht!“
„Wer schon!“ rief Clemency. „Es war sehr lieb von dir, Ben.“
„Nein, nein“, antwortete Mr. Britain mit einer Miene der Selbstverleugnung. „Nicht der Rede wert.“
„O ja, das war’s, Ben“, sagte seine Frau mit großer Einfalt. „Ich denke, ja, und ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet. Ach!“ sie betrachtete wieder den Anschlag, „als bekannt wurde, daß sie weg und außer Reichweite war, das liebe Mädchen, konnte ich nicht anders, ich mußte um ihret- und der anderen willen erzählen, was ich wußte, nich?“
„Jedenfalls hast du es erzählt“, bemerkte ihr Mann. „Und Dr. Jeddler in seinem Kummer und Zorn“, fuhr Clemency fort, setzte ihre Teetasse ab und sah nachdenklich auf den Anschlag, „verjagte mich von Haus und Hof. Über nichts im Leben bin ich so froh wie darüber, daß ich nich mal damals ein böses Wort zu ihm gesagt oder häßliche Gefühle gegen ihn gehegt habe, denn hinterher hat er’s ehrlich bereut. Wie oft hat er hier gesessen und mir immer wieder gesagt, wie leid es ihm tut! Erst gestern wieder, als du weg warst. Wie oft hat er hier gesessen und sich Stunde um Stunde über das eine oder andre mit mir unterhalten, womit er zeigen wollte, daß er Anteil nimmt! Aber nur um der längst vergangenen Tage willen und weil er weiß, daß sie mich gern hatte, Ben.“
„Nun, wie hast du das je gemerkt, dem?“ fragte ihr Mann, der erstaunt war, daß sie eine klare Vorstellung von einer Tatsache hatte, die sich seinem Forschergeist nur langsam aufdrängte.
„Ich weiß es wirklich nich“, sagte Clemency, die ihren Tee kühler blies. „Selbst wenn du mir hundert Pfund anbietest, kann ich’s dir nich sagen.“
Er hätte wohl dieses abstrakte Thema weiterverfolgt, wenn sie nicht eine wirklich vorhandene Tatsache in Gestalt eines Herrn hinter ihm bemerkt hätte, der Trauerkleidung und dazu Stiefel und Mantel wie ein Reiter trug und der in der Tür zum Schankraum stand. Er schien aufmerksam ihrer Unterhaltung zuzuhören und durchaus nicht ungeduldig zu sein, sie zu unterbrechen.
Bei seinem Anblick erhob sich Clemency hastig. Mr. Britain stand ebenfalls auf und begrüßte den Gast. „Würden Sie bitte die Treppe hinaufgehen, Sir? Da oben ist ein sehr hübsches Zimmer, Sir.“
„Danke“, sagte der Fremde und betrachtete ernsthaft Mr. Britains Frau. „Darf ich hier hereinkommen?“
„Aber bitte sehr, wenn Sie möchten, Sir“, erwiderte Clemency und ließ ihn ein. „Was wünschen Sie, Sir?“
Der Anschlag hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er las ihn.
„Ausgezeichneter Besitz, Sir“, bemerkte Mr. Britain.
Er gab keine Antwort, sondern drehte sich um, nachdem er ihn durchgelesen hatte, und betrachtete Clemency mit derselben Neugier wie zuvor. „Sie fragten mich …“, sagte er, sie noch immer anschauend.
„Was Sie wünschen, Sir“, antwortete Clemency und wagte ihrerseits einen verstohlenen Blick.
„Wenn Sie mir einen Schluck Bier geben“, sagte er und ging auf einen Tisch am Fenster zu, „und es mich hier trinken lassen, ohne daß ich Ihre Mahlzeit unterbreche, bin ich Ihnen sehr dankbar.“
Während er das sagte, setzte er sich ohne weitere Diskussion hin und sah sich die Aussicht an. Er war ein unbefangener, kräftiger Mann in der Blüte des Lebens. Sein Gesicht war stark von der Sonne gebräunt und von dichtem, schwarzem Haar umrahmt, und er trug einen Schnurrbart. Als ihm das Bier vorgesetzt wurde, füllte er sich ein Glas ein und erhob es gutgelaunt auf das Haus, wobei er hinzufügte, als er das Glas wieder hinstellte:
„Es ist ein neues Haus, nicht wahr?“
„Nicht besonders neu, Sir“, antwortete Mr. Britain. „Etwa fünf, sechs Jahre alt“, sagte Clemency, die sehr entschieden sprach.
„Ich glaube, ich hörte Sie Dr. Jeddlers Namen erwähnen, als ich hereinkam“, forschte der Fremde. „Dieser Anschlag erinnert mich an ihn, denn zufällig weiß ich vom Hörensagen und durch gewisse persönliche Beziehungen einiges von dieser Geschichte. – Lebt der alte Mann noch?“
„Ja, er lebt noch, Sir“, sagte Clemency.
„Hat er sich sehr verändert?“
„Seit wann, Sir?“ erwiderte Clemency mit bemerkenswertem Nachdruck und Gefühl.
„Seit seine Tochter – weggegangen ist.“
„Ja! Seitdem hat er sich stark verändert“, sagte Clemency. „Er is alt und grau und ganz und gar nich mehr der alte, aber ich glaube, er is jetzt glücklich. Seit damals nimmt er sich seiner Schwester an und geht sie sehr oft besuchen. Das hat ihm direkt gutgetan. Zuerst war er furchtbar zusammengebrochen, und es konnte einem das Herz bluten, wenn man sah, wie er umherlief und auf die Welt schimpfte. Aber nach ein oder zwei Jahren trat eine große Wandlung zum Guten ein, und dann fing er an, gern über seine verlorne Tochter zu sprechen und sie zu loben, ja und die Welt dazu! Und er wurde nich müde, mit Tränen in den armen Augen zu sagen, wie schön und gut sie war. Er hat ihr dann verziehn. Das war ungefähr zu der Zeit, als Miss Grace heiratete. Erinnerst du dich, Britain?“
Mr. Britain erinnerte sich sehr gut.
„Die Schwester ist also verheiratet?“ entgegnete der Fremde. Er wartete einen Augenblick, ehe er fragte: „Mit wem?“
Clemency hätte in ihrer Erregung bei dieser Frage beinahe das Teetablett umgekippt.
„Haben Sie nie davon gehört?“ fragte sie.
„Ich würde gern davon hören“, antwortete er, als er das Glas erneut füllte und es an die Lippen führte.
„Ach, das is ’ne lange Geschichte, wenn man sie genau erzählt“, sagte Clemency, legte das Kinn in ihre linke Handfläche, stützte den Ellbogen auf die rechte Hand, als sie den Kopf schüttelte, und schaute auf die dazwischenliegenden Jahre zurück, als ob sie ins Feuer sähe. „Das wär ’ne lange Geschichte, ganz bestimmt.“
„Aber kurzgefaßt“, schlug der Fremde vor.
„Kurzgefaßt“, wiederholte Clemency in demselben nachdenklichen Ton und ohne sich eigentlich an ihn zu wenden oder sich bewußt zu sein, daß sie Zuhörer hatte. „Was wäre da zu sagen? Daß sie sich gemeinsam grämten und sich gemeinsam wie an eine Tote an sie erinnerten; daß sie so zartfühlend mit ihr waren, ihr niemals Vorwürfe machen würden, sie sich in Erinnerung riefen, wie sie immer gewesen war, und Entschuldigungen für sie fanden. Jeder weiß das. Ich bestimmt. Keiner besser“, fügte Clemency hinzu und fuhr sich über die Augen.
„Und so“, lenkte der Fremde ein.
„Und so“, fuhr Clemency mechanisch und ohne Änderung ihrer Haltung oder Verhaltensweise fort, „heirateten sie schließlich. Sie heirateten an ihrem Geburtstag – der morgen wiederkehrt –, sehr still, sehr bescheiden, aber sehr glücklich. Eines Abends, als sie im Obstgarten spazierengingen, fragte Mr. Alfred: ‚Grace, soll Marions Geburtstag unser Hochzeitstag sein?‘ Und er war’s.“
„Und sie leben glücklich miteinander?“ fragte der Fremde.
„Ja“, sagte Clemency, „wie zwei Menschen nicht glücklicher leben könnten. Sie hatten weiter keinen Kummer als diesen.“
Sie hob den Kopf, als schenke sie plötzlich den Umständen Beachtung, unter denen sie sich jene Ereignisse ins Gedächtnis zurückrief, und blickte den Fremden schnell an. Als sie sah, daß sich dieser dem Fenster zugewandt hatte und den Ausblick in sich aufzunehmen schien, gab sie ihrem Mann lebhafte Zeichen, wies auf den Anschlag hin und bewegte ihren Mund, als wiederholte sie immer wieder ein Wort oder einen Satz mit großem Nachdruck. Da sie keinen Ton von sich gab und ihre stummen Bewegungen wie die meisten ihrer Gesten von besonderer Art waren, brachte dieses unverständliche Verhalten Mr. Britain an den Rand der Verzweiflung. Er starrte den Tisch, den Fremden, die Löffel, seine Frau an, folgte ihrem Pantomimenspiel mit Blicken großer Verwunderung und Bestürzung und fragte in derselben Sprache, ob der Besitz in Gefahr sei, ob er in Gefahr sei oder sie; beantwortete ihre Signale mit anderen, die äußerste Not und Verwirrung ausdrückten; folgte den Bewegungen ihrer Lippen und rätselte halblaut „Milch und Wasser“, „Kündigung in einem Monat“, „Mäuse und Walnüsse“ und konnte ihrer Bedeutung nicht näherkommen.
Clemency gab dieses hoffnungslose Unterfangen schließlich auf. Während sie ihren Stuhl ganz allmählich etwas näher an den Fremden heranrückte, saß sie mit scheinbar niedergeschlagenen Augen da, warf ihm aber hin und wieder aufmerksame Blicke zu und wartete darauf, daß er weitere Fragen stellte. Sie brauchte nicht lange zu warten, denn nach kurzer Zeit sagte er:
„Und was wurde später aus der jungen Dame, die weggegangen war? Das ist bekannt, nehme ich an.“
Clemency schüttelte den Kopf. „Ich hab gehört“, sagte sie, „daß Dr. Jeddler wahrscheinlich mehr weiß, als er sagt. Miss Grace hat von ihrer Schwester Briefe bekommen, daß es ihr gut geht und sie glücklich is und daß es sie noch viel glücklicher macht, weil sie mit Mr. Alfred verheiratet is, und sie hat zurückgeschrieben. Über ihrem Leben und Schicksal liegt ein Geheimnis, das bis zu dieser Stunde nich gelüftet wurde und das …“
Hierbei zögerte sie und hielt inne.
„Und das …“, wiederholte der Fremde.
„Das nur eine andre Person klären könnte, glaub ich“, sagte Clemency und atmete schnell.
„Wer könnte das sein?“ fragte der Fremde.
„Mr. Michael Warden!“ antwortete Clemency fast mit einem Aufschrei und vermittelte augenblicklich ihrem Mann, was sie ihm vorher gern verständlich gemacht hätte, und ließ Michael Warden wissen, daß er erkannt war.
„Erinnern Sie sich an mich, Sir?“ fragte Clemency, vor Aufregung zitternd. „Ich hab das eben gemerkt! Sie erinnern sich an mich, an jenen Abend im Garten? Ich war bei ihr!“
„Ja“, sagte er.
„Ja, Sir“, entgegnete Clemency. „Ja, gewiß. Das is mein Mann, wenn’s recht is. Ben, mein lieber Ben! Bring sofort jemand her!“
„Bleiben Sie!“ sagte Michael Warden und stellte sich gelassen zwischen die Tür und Britain. „Was wollen Sie tun?“
„Sie sollen wissen, daß Sie hier sind, Sir“, antwortete Clemency und klatschte vor Aufregung in die Hände. „Sie sollen wissen, daß sie aus Ihrem Munde etwas über sie erfahren können; sie sollen wissen, daß sie nich ganz für sie verloren is, sondern wieder nach Hause kommen wird, um ihren Vater und ihre geliebte Schwester, sogar ihre alte Dienerin, sogar mich“, sie schlug sich mit beiden Händen an die Brust, „mit dem Anblick ihres süßen Gesichts zu beglücken. Lauf, Ben, lauf!“ Und noch immer drängte sie ihn zur Tür hin, und noch immer stand Mr. Warden mit ausgestreckten Händen davor, nicht ärgerlich, doch bekümmert.
„Oder vielleicht“, sagte Clemency, rannte an ihrem Mann vorbei und griff in ihrer Erregung nach Mr. Wardens Mantel, „vielleicht is sie jetzt hier; vielleicht is sie ganz in der Nähe. Nach Ihrem Verhalten nehm ich das an. Lassen Sie mich sie sehn, Sir, wenn’s recht is. Ich hab ihr gedient, als sie ’n kleines Kind war. Ich hab gesehn, wie sie zum Stolz der ganzen Gegend heranwuchs. Ich hab sie gekannt, als sie Mr. Alfred versprochen war. Ich hab versucht, sie zu warnen, als Sie sie weglockten. Ich weiß, wie ihr Zuhause aussah, als sie wie seine Seele war, und wie es sich veränderte, als sie weg und verloren war. Lassen Sie mich mit ihr sprechen, wenn’s recht is!“
Er betrachtete sie mitleidig und nicht ohne Verwunderung, machte aber keine zustimmende Geste.
„Ich glaube nich, daß sie wissen kann“, fuhr Clemency fort, „wie aufrichtig man ihr verzeiht, wie man sie liebt, welche Freude es für sie wäre, sie wiederzusehn. Vielleicht hat sie Angst, nach Hause zu gehn. Vielleicht faßt sie sich ’n Herz, wenn sie mich sieht. Sagen Sie mir nur ehrlich, Mr. Warden, is sie bei Ihnen?“
„Nein“, antwortete er kopfschüttelnd.
Diese Antwort und sein Benehmen, seine schwarze Kleidung, seine stille Rückkehr und seine angekündigte Absicht, weiterhin im Ausland zu leben, erklärten alles. Marion war tot.
Er widersprach ihr nicht; ja, sie war tot! Clemency setzte sich, verbarg ihr Gesicht auf dem Tisch und weinte.
In diesem Augenblick kam ein grauhaariger, alter Herr völlig atemlos hereingelaufen, und er keuchte so heftig, daß man seine Stimme kaum als die von Mr. Snitchey erkennen konnte.
„Du lieber Himmel, Mr. Warden!“ sagte der Rechtsanwalt und nahm ihn beiseite. „Welcher Wind – hat Sie –“ Er war selbst so getrieben, daß er nicht fortfahren konnte, sondern erst nach einer Pause schwach hinzufügte, „… hierhergetrieben?“
„Ich fürchte, ein unheilvoller. Wenn Sie hätten hören können, was gerade vorgefallen ist – wie ich dringend gebeten und angefleht worden bin, Unmögliches zu tun –, welchen Kummer und welche Verwirrung ich mit mir herumtrage!“
„Ich kann mir alles vorstellen. Aber warum sind Sie überhaupt hierhergekommen, mein guter Sir?“ entgegnete Snitchey.
„Gekommen! Woher sollte ich wissen, wer dieses Haus führt? Als ich meinen Diener zu Ihnen schickte, schlenderte ich hier hinein, weil mir dieser Ort neu war und weil ich von Natur aus auf alles Neue und Alte, auf diese alten Schauplätze neugierig bin und weil er außerhalb der Stadt lag. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen, bevor ich hinüber gehe. Ich wollte wissen, was die Leute zu mir sagen würden. Aus Ihrem Verhalten schließe ich, daß Sie mir davon erzählen können. Wenn es nicht wegen Ihrer verflixten Vorsicht wäre, besäße ich schon längst alles.“
„Unsere Vorsicht!“ wiederholte der Rechtsanwalt. „Wenn ich für mich und den verstorbenen Craggs spreche“, dabei schüttelte Mr. Snitchey, sein Hutband betrachtend, den Kopf, „wie können Sie uns ernsthaft Vorwürfe machen, Mr. Warden? Es war zwischen uns vereinbart, daß dieses Thema nie wieder berührt werden sollte und daß es sich um ein Thema handelte, bei dem ernsthafte und nüchtern denkende Menschen wie wir (ich machte mir zu Ihren Bemerkungen damals eine Notiz) nicht in Konflikt geraten könnten. Unsere Vorsicht! Sir, als Mr. Craggs in dem vollen Glauben ins Grab stieg …“
„Ich hatte ein feierliches Versprechen gegeben zu schweigen, bis ich wiederkehrte, ganz gleich, wann das sein würde“, unterbrach Mr. Warden, „und ich habe es gehalten.“
„Nun, Sir, und ich wiederhole es“, erwiderte Mr. Snitchey, „auch wir waren zum Schweigen verpflichtet. Wir waren in unserer Pflicht gegenüber uns und einer Reihe Klienten (Sie eingeschlossen), die stumm waren wie die Fische, zum Schweigen verpflichtet. Es war nicht unsere Aufgabe, zu solch einem heiklen Thema Erkundigungen über Sie einzuziehen. Ich hatte meine Bedenken, Sir, aber es ist keine sechs Monate her, seit ich die Wahrheit weiß und mir versichert wurde, daß Sie sie verloren haben.“
„Von wem?“ fragte sein Klient.
„Von Dr. Jeddler selbst, Sir, der mir von sich aus dieses Geheimnis anvertraute. Er und nur er hat Jahr um Jahr die ganze Wahrheit gekannt.“
„Und Sie kennen es?“ fragte der Klient.
„Ja, Sir“, erwiderte Snitchey, „und ich habe auch Grund zu der Annahme, daß es morgen abend ihrer Schwester enthüllt wird. Sie haben ihr dieses Versprechen gegeben. Bis dahin erweisen Sie mir vielleicht die Ehre, Gast in meinem Haus zu sein, da Sie in Ihrem nicht erwartet werden. Um aber nicht in noch mehr Schwierigkeiten solcher Art zu geraten, wie Sie sie hier hatten, falls man Sie erkennt – obwohl Sie sich erheblich verändert haben; ich glaube, ich selbst wäre an Ihnen vorbeigegangen, Mr. Warden –, sollten wir lieber hier essen und am Abend weitergehen. Man kann hier sehr gut speisen, Mr. Warden; nebenbei bemerkt, Ihr eignes Grundstück. Ich selbst und der verstorbene Craggs bestellten hier manchmal ein Schnitzel, und es wurde uns angenehm serviert. Mr. Craggs, Sir“, sagte Snitchey, schloß einen Augenblick fest die Augen und öffnete sie dann wieder, „wurde zu schnell von der Liste der Lebenden gestrichen.“
„Der Himmel möge mir verzeihen, daß ich Ihnen nicht mein Beileid ausgesprochen habe“, entgegnete Michael Warden und strich sich mit der Hand über die Stirn, „aber im Moment bin ich wie im Traum. Ich scheine meinen Verstand nicht beisammen zu haben. Mr. Craggs – ja – es tut mir sehr leid, daß wir Mr. Craggs verloren haben.“ Er sah aber Clemency an, als er dies sagte, und schien mit Ben Mitleid zu haben, der sie tröstete.
„Mr. Craggs, Sir“, bemerkte Snitchey, „fand es nicht so leicht, muß ich bedauerlicherweise sagen, das Leben zu bewältigen, wie seine Theorie behauptete, sonst würde er noch unter uns weilen. Für mich ist er ein großer Verlust. Er war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, das war Mr. Craggs. Ohne ihn bin ich wie gelähmt. Er vermachte seinen Geschäftsanteil Mrs. Craggs, ihren Testamentsvollstreckern, Nachlaß Verwaltern und Rechtsnachfolgern. Sein Name bleibt bis jetzt in der Firma. Auf kindische Art versuche ich manchmal, so zu tun, als lebte er noch. Sie haben vielleicht bemerkt, daß ich für mich selbst und den verstorbenen Craggs spreche, Sir – verstorben“, sagte der weichherzige Anwalt und wedelte mit dem Taschentuch.
Michael Warden, der noch immer Clemency beobachtete, wandte sich Mr. Snitchey zu, als dieser zu sprechen aufhörte, und flüsterte ihm ins Ohr.
„Ach, das arme Ding!“ sagte Snitchey kopfschüttelnd. „Ja, sie war Marion immer sehr treu. Sie hat sie immer sehr gern gehabt. Hübsche Marion. Arme Marion! Kopf hoch, Frau, Sie sind doch jetzt verheiratet, Clemency.“
Clemency seufzte nur und schüttelte den Kopf.
„Nur ruhig! Warten Sie bis morgen!“ sagte der Anwalt freundlich.
Das zu tun, versprach Clemency, während sie seine hingehaltene Hand schüttelte; und Britain, der beim Anblick seiner verzweifelten Frau furchtbar niedergeschlagen war (wie die Firma, die den Kopf hängenließ), sagte, das sei richtig; und Mr. Snitchey und Michael Warden gingen die Treppe hinauf, und dort waren sie bald in eine Unterhaltung vertieft, die so vorsichtig geführt wurde, daß kein Gemurmel zu hören war bei all dem Geklapper der Teller und Schüsseln, dem Zischen der Pfanne, dem Brodeln in den Kasserollen, dem tiefen, monotonen Geräusch des Bratenwenders – hin und wieder mit einem furchtbaren Klicken, als ob er an seinem Kopf in einem Schwindelanfall einen tödlichen Unfall erlitten hätte – und all den anderen Vorbereitungen für ihr Essen in der Küche.
Der nächste Tag war strahlend und friedlich und die Herbstfärbung nirgends schöner anzusehen als vom stillen Obstgarten am Hause des Doktors aus. Der Schnee vieler Winternächte war vom Boden weggeschmolzen, die verwelkten Blätter vieler Sommer hatten dort geraschelt, seit sie geflohen war. Die Veranda mit Geißblatt war wieder grün, die Bäume warfen reichlich wechselnde Schatten auf den Rasen, die Landschaft war heiter und ruhig wie stets, doch wo war sie!
Nicht da. Nicht da. Sie wäre jetzt ein ungewohnterer Anblick in ihrem alten Zuhause gewesen, als es zuerst ohne sie gewesen war. Doch eine Dame saß am vertrauten Platz, aus deren Herzen sie nie entschwunden war; in deren aufrichtiger Erinnerung sie unverändert, jugendlich und vor Erwartung und Hoffnung strahlend lebte; in deren Liebe – es war jetzt die einer Mutter, denn zu ihren Füßen spielte eine zärtlich geliebte, kleine Tochter – sie keinen Nebenbuhler, keinen Nachfolger hatte; auf deren zärtlichen Lippen ihr Name schwebte.
Der Geist des verlorenen Mädchens sprach aus jenen Augen. Jene Augen von Grace, ihrer Schwester, die mit ihrem Mann im Obstgarten saß. Es war ihr Hochzeitstag, sein und Marions Geburtstag.
Er war kein bedeutender Mann geworden, er war nicht reich geworden, er hatte die Erlebnisse und Freunde seiner Jugend nicht vergessen, er hatte keine der früheren Vorhersagen des Doktors erfüllt. Doch bei seinen nützlichen, geduldigen, ungenannten Besuchen bei den Armen und bei seinen Wachen an Krankenbetten; bei seiner täglichen Bekanntschaft mit der Güte und Tugend, die die Seitenwege dieser Welt mit Blumen bedecken und nicht von den schweren Schritten der Armut niedergetreten werden, sondern auf ihrem Pfad unverwüstlich sprießen und ihren Lauf verschönen, hatte er mit jedem Jahr die Wahrheit seines früheren Glaubens besser erkannt und nachgewiesen. Seine Lebensweise, wenn auch still und zurückgezogen, hatte ihm gezeigt, daß Menschen noch oft wie in alten Zeiten von Engeln besucht werden, ohne es zu wissen; und daß die unscheinbarsten Gestalten – selbst solche, die nach außen hin gemein und häßlich aussahen und ärmlich gekleidet waren – von Kummer, Not und Schmerz erleuchtet wurden und sich in hilfreiche Seelen mit einem Glorienschein verwandelten.
Er lebte vielleicht mit größerem Erfolg auf dem veränderten Schlachtfeld, als wenn er ruhelos auf einem ehrgeizigeren Kampfplatz gefochten hätte. Und er war glücklich mit seiner Frau, der lieben Grace.
Und Marion. Hatte er sie vergessen?
„Die Zeit ist seit damals verflogen, liebe Grace“, sagte er; sie hatten über jene Nacht gesprochen, „und doch scheint es lange, lange zurückzuliegen. Wir zählen innerlich nach Veränderungen und Ereignissen, nicht nach Jahren.“
„Wir müssen auch mit Jahren zählen, seit Marion bei uns war“, erwiderte Grace. „Sechsmal, mit heute abend gerechnet, mein lieber Mann, haben wir hier an ihrem Geburtstag gesessen und von dieser glücklichen Heimkehr gesprochen, die so heiß ersehnt wird und sich so lange hinausschiebt. Ach, wann wird das sein? Wann wird das sein?“
Ihr Mann beobachtete aufmerksam, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und indem er näher an sie heranrückte, sagte er:
„Aber Marion schrieb dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf deinem Tisch zurückließ, Liebste, und den du so oft gelesen hast, daß Jahre vergehen müßten, ehe es sein könnte. Nicht wahr?“
Sie nahm einen Brief von ihrer Brust, küßte ihn und sagte:
„Ja.“
„Daß sie sich in all den dazwischenliegenden Jahren, wie glücklich sie auch sein mögen, auf die Zeit freue, da ihr euch wiederseht und alles bereinigt werde, und daß sie dich voller Vertrauen und Hoffnung anflehe, dasselbe zu tun. Lautet der Brief nicht so, mein Schatz?“
„Ja, Alfred.“
„Und jeder andere auch, den sie seitdem geschrieben hat?“
„Mit Ausnahme des letzten, vor einigen Monaten, in dem sie von dir sprach und von dem, was du damals wußtest und was ich heute abend erfahren soll.“
Er schaute zur Sonne, die schnell unterging, und sagte, daß der Sonnenuntergang die vereinbarte Zeit war.
„Alfred!“ sagte Grace ernst und legte ihre Hand auf seine Schulter, „in diesem Brief, diesem alten Brief, den ich, wie du sagst, so oft gelesen habe, steht etwas, was ich dir nie erzählt habe. Doch heute abend, mein lieber Mann, da der Sonnenuntergang naht und unser Leben mit dem zu Ende gehenden Tag sanfter und ruhiger zu werden scheint, kann ich es nicht mehr verschweigen.“
„Was ist es, Liebling?“
„Als Marion wegging, schrieb sie mir hier, daß du sie mir einst anvertraut hattest und sie nun dich, Alfred, in meine Obhut gab, wobei sie mich inständig bat, da ich sie und dich liebte, die Zuneigung, die du ihrer Meinung nach (sie schrieb, sie wüßte es) auf mich übertragen würdest, sobald die frische Wunde verheilt sei, nicht zurückzuweisen, sondern sie zu bestärken und zu erwidern.“
„Und mich wieder zu einem stolzen und glücklichen Mann zu machen, Grace. Schrieb sie das?“
„Sie wollte mich glücklich und verehrt in deiner Liebe machen“, war die Antwort seiner Frau, als er sie in den Armen hielt.
„Hör mich an, mein Schatz!“ sagte er. – „Nein! Hör mich so an!“ Während er sprach, legte er zärtlich ihren Kopf, den sie erhoben hatte, wieder an seine Schulter. „Ich weiß, warum ich bis heute nie diesen Abschnitt aus dem Brief gehört habe. Ich weiß, warum in jener Zeit keine Spur davon aus deinen Worten oder Blicken zu entnehmen war. Ich weiß, warum Grace, obwohl sie mir ein treuer Freund gewesen, so schwer als meine Frau zu gewinnen war. Und da ich das weiß, mein Schatz, kenne ich den unschätzbaren Wert des Herzens, das ich mit meinen Armen umschließe, und danke Gott für den kostbaren Besitz!“
Sie weinte, jedoch nicht vor Kummer, als er sie an sein Herz drückte. Nach einer Weile blickte er auf das Kind hinunter, das zu ihren Füßen mit einem Blumenkörbchen spielte, und bat sie, das goldene Rot der Sonne zu betrachten.
„Alfred“, sagte Grace und hob bei diesen Worten schnell den Kopf. „Die Sonne geht unter. Du hast nicht vergessen, was ich wissen soll, ehe sie sinkt.“
„Du sollst die Wahrheit über Marions Geschichte erfahren, mein Liebling“, antwortete er.
„Die ganze Wahrheit“, sagte sie flehend. „Nichts mehr wird vor mir verschleiert. So lautet das Versprechen, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete er.
„Ehe die Sonne an Marions Geburtstag untergeht. Und du siehst sie, Alfred? Sie sinkt rasch.“
Er legte seinen Arm um ihre Taille und erwiderte, wobei er ihr fest in die Augen sah: „Diese Wahrheit zu erzählen ist nicht mir zugedacht, liebe Grace. Sie soll von anderen Lippen kommen.“
„Von anderen Lippen!“ wiederholte sie schwach.
„Ja. Ich kenne dein standhaftes Herz; ich weiß, wie tapfer du bist; ich weiß, daß dir ein Wort der Vorbereitung genügt. Du hast ganz richtig gesagt, daß die Zeit gekommen ist. Das ist sie. Sag mir, daß du genügend seelische Kraft besitzt, eine Prüfung, eine Überraschung, einen Schock zu ertragen: und der Bote wartet am Tor.“
„Was für ein Bote?“ fragte sie. „Und was für eine Nachricht bringt er?“
„Ich bin verpflichtet“, antwortete er und behielt seinen festen Blick, „nichts weiter zu sagen. Glaubst du, mich zu verstehen?“
„Ich fürchte, ja.“
In seinem Gesicht lag trotz seines festen Blickes jene Erregung, die sie erschreckte. Wieder barg sie zitternd ihr Gesicht an seiner Schulter und bat ihn, einen Augenblick zu warten.
„Mut, meine Frau! Wenn du entschlossen bist, den Boten zu empfangen, wartet der Bote am Tor. Die Sonne geht unter an Marions Geburtstag, Mut, nur Mut, Grace!“
Sie hob den Kopf, sah ihn an und sagte, sie sei bereit. Als sie da stand und ihn betrachtete, wie er davonging, ähnelte ihr Gesicht so dem Marions, wie es in ihrer letzten Zeit zu Hause gewesen, daß es wunderschön anzusehen war. Er nahm das Kind mit. Sie rief es zurück – es trug den Namen des verlorenen Mädchens – und preßte es an ihre Brust. Das kleine Wesen rannte ihm nach, als es wieder losgelassen wurde, und Grace blieb allein zurück.
Sie wußte nicht, was sie befürchtete oder hoffte, aber sie blieb dort regungslos und blickte zur Veranda, hinter der sie verschwunden waren.
Nanu, was war das, was aus dem Schatten hervortrat und auf der Schwelle stand! Diese Gestalt, deren weiße Kleider in der Abendluft raschelten, deren Kopf an ihres Vaters Brust ruhte und sich an sein liebendes Herz preßte! O Gott! War es ein Traumbild, das da aus den Armen des alten Mannes mit einem Aufschrei, mit den Händen winkend, in wilder Hast herbeistürzte und in seiner grenzenlosen Liebe in ihre Arme sank!
„O Marion, Marion! O meine Schwester! O meine Herzallerliebste! Oh, unsagbare Freude und Glückseligkeit, daß wir uns so Wiedersehen!“
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht heraufbeschworenes Trugbild, sondern Marion, die süße Marion! So schön, so glücklich, so ungetrübt von Sorge und Anfechtung, so erhaben und vornehm in ihrer Lieblichkeit, daß sie, als die untergehende Sonne ihr erhobenes Gesicht anstrahlte, ein Geist gewesen sein konnte, der die Erde in einer versöhnenden Mission aufsuchte.
Als sie sich an ihre Schwester schmiegte, die auf einen Stuhl gesunken war, und sich über sie gebeugt hatte und, unter Tränen lächelnd, dicht neben ihr kniete – beide Arme um sie geschlungen und nicht einen Augenblick von ihrem Gesicht abgewandt – und als sich der Schein der untergehenden Sonne auf ihrer Stirn zeigte und die Abendstille sie alle umfing, brach Marion endlich das Schweigen mit ihrer ruhigen, leisen, klaren, angenehmen und dem Zeitpunkt gut angepaßten Stimme.
„Als dies mein geliebtes Zuhause war, Grace, wie es jetzt wieder sein wird …“
„Warte, mein Liebling! Einen Augenblick! O Marion, dich wieder sprechen zu hören!“
Zunächst konnte sie die Stimme, die sie so liebte, nicht ertragen.
„Als dies mein geliebtes Zuhause war, Grace, wie es jetzt wieder sein wird, liebte ich ihn von ganzer Seele. Ich liebte ihn mit aller Hingabe. Obwohl ich so jung war, wäre ich für ihn gestorben. Nicht einen kurzen Augenblick habe ich seine Zuneigung in meinem Innersten für gering erachtet. Sie stand bei mir hoch über allem. Obwohl es so lange her und längst vorbei ist und obwohl sich alles geändert hat, könnte ich den Gedanken nicht ertragen, daß du, die ihn so liebte, glauben möchtest, ich hätte ihn einst nicht aufrichtig geliebt. Ich liebte ihn niemals stärker, Grace, als damals, als er an jenem Tage diese Gegend verließ. Ich liebte ihn niemals stärker, Schatz, als in jener Nacht, da ich von hier fortging.“
Ihre Schwester, die sich über sie beugte, konnte ihr ins Gesicht sehen und sie festhalten.
„Aber er hatte unbewußt ein anderes Herz erobert“, sagte Marion, sanft lächelnd, „ehe ich wußte, daß ich ihm eins zu schenken hatte. Dieses Herz – das deine, meine Schwester! – war mir mit all seiner übrigen Zärtlichkeit so ergeben, war so hingebungsvoll und edel, daß es seine Liebe beiseite schob und sein Geheimnis vor allen Augen verbarg, außer vor meinen – ach, welche anderen Augen wurden von solcher Zärtlichkeit und Dankbarkeit belebt –, und damit zufrieden war, sich für mich zu opfern. Doch ich kannte seine Weite. Ich wußte um den Kampf, den es ausfocht. Ich kannte seinen hohen, unschätzbaren Wert für ihn und die Hochachtung, die es bei ihm genoß, sosehr er mich lieben mochte. Ich wußte, was ich ihm schuldig war. Ich hatte sein großes Vorbild täglich vor Augen. Ich wußte, Grace, daß ich das für dich tun konnte, was du für mich getan hattest. Ich legte mein Haupt niemals nieder, ohne unter Tränen zu beten, daß ich es täte. Ich legte mein Haupt niemals nieder, ohne an Alfreds Worte am Tage seiner Abreise zu denken – und wie recht er hatte (denn ich wußte das, weil ich dich kannte) –, daß täglich in mit sich ringenden Herzen Siege errungen werden, gegen die jene auf diesen Schlachtfeldern verblaßten. Als ich mehr und mehr über das große Leiden nachdachte, das fröhlich ertragen wurde und nie bekannt war und um das man sich nicht kümmerte, was täglich und stündlich in diesem großen Kampf, von dem er sprach, sein mußte, schien mein Versuch leicht und einfach zu werden. Und Er, der unsere Herzen, mein Liebstes, in diesem Augenblick kennt und weiß, daß in meinem keine Spur von Bitterkeit oder Kummer ist – nur ungetrübtes Glück –, ließ mich zu dem Entschluß kommen, daß ich nie Alfreds Frau werden würde. Daß er mein Bruder und dein Mann sein sollte, falls der von mir verfolgte Weg zu einem glücklichen Ende führen sollte; daß ich jedoch niemals (Grace, ich liebte ihn damals von ganzem Herzen!) seine Frau sein würde!“
„O Marion, o Marion!“
„Ich hatte versucht, ihm gegenüber gleichgültig zu wirken“; sie preßte das Gesicht ihrer Schwester an das ihre, „aber das war schwer, und du warst stets sein treuer Verteidiger. Ich hatte versucht, dir von meinem Entschluß zu erzählen, doch du wolltest mir nicht zuhören, du wolltest mich nicht verstehen. Der Zeitpunkt seiner Heimkehr rückte näher. Ich spürte, daß ich handeln mußte, ehe der tägliche Umgang von neuem begann. Ich wußte, daß ein plötzlicher Schmerz, der damals durchzustehen war, allen ein Leiden ohne Ende ersparen würde. Ich wußte, daß dieses Ende kommen würde, falls ich wegginge, und es ist gekommen und hat uns alle glücklich gemacht, Grace! Ich schrieb an die gute Tante Martha, ob ich bei ihr wohnen könnte. Ich erzählte ihr nicht alles, doch einen Teil meiner Geschichte, und sie willigte großzügig ein. Während ich innerlich mit diesem Schritt und meiner Liebe zu dir und meinem Heim rang, wurde Mr. Warden, den ein Unfall hierherführte, eine Zeitlang unser Gefährte.“
„In den letzten Jahren habe ich manchmal befürchtet, daß es so gewesen sein mag“, rief ihre Schwester aus und wurde aschfahl. „Du hast ihn nie geliebt, und du hast ihn mir zuliebe geheiratet!“
„Er war damals im Begriff“, sagte Marion und zog die Schwester enger an sich, „heimlich für längere Zeit zu verschwinden. Er schrieb mir, nachdem er weggegangen war; erzählte mir, wie es um seine Verhältnisse und Aussichten wirklich stand, und bot mir seine Hand. Er sagte mir, er habe bemerkt, daß mich die Aussicht auf Alfreds Rückkehr nicht glücklich machte. Ich glaube, er dachte, mein Herz sei an diesem Versprechen nicht beteiligt gewesen. Vielleicht dachte er, ich hätte ihn einst geliebt und nun nicht mehr. Vielleicht dachte er, als ich gleichgültig wirken wollte, daß ich Gleichgültigkeit zu verbergen suchte – ich kann es nicht sagen. Aber ich wollte, daß ihr den Eindruck haben solltet, ich sei für Alfred verloren – unerreichbar für ihn – tot. Verstehst du mich, Liebling?“
Ihre Schwester blickte sie aufmerksam an. Sie schien zu zweifeln.
„Ich sah Mr. Warden, verließ mich auf sein Ehrgefühl, vertraute ihm am Vorabend seiner und meiner Abreise mein Geheimnis an. Er hütete es. Verstehst du mich, Schatz?“ Grace starrte sie verwirrt an. Sie schien kaum zu hören. „Mein Liebes, meine Schwester!“ sagte Marion. „Sammle deine Gedanken für einen Augenblick und höre mir zu. Sieh mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, Liebste, wo jene, die einer falschen Leidenschaft abschwören oder ein Gefühl in ihrem Herzen bekämpfen und besiegen wollen, in eine hoffnungslose Einsamkeit flüchten und sich gegen die Welt, gegen weltliche Liebe und Hoffnungen für immer verschließen. Wenn Frauen dies tun, nehmen sie den Namen an, der dir und mir so teuer ist, und nennen sich Schwestern. Es mag aber Schwestern geben, Grace, die draußen in der weiten Welt und unter freiem Himmel, an überfüllten Plätzen und mitten im tätigen Leben und bei dem Versuch, es zu unterstützen und aufzuheitern und Gutes zu tun, dieselbe Lektion lernen und mit Herzen, die noch jung und aufgeschlossen für das Glück und die Wege zum Glück sind, sagen können, daß die Schlacht vorbei und der Sieg längst errungen ist. Und so eine bin ich! Verstehst du mich jetzt?“
Sie blickte sie noch immer starr an und gab keine Antwort. „O Grace, liebe Grace“, sagte Marion und schmiegte sich noch zärtlicher und inniger an die Brust, von der sie so lange getrennt gewesen war, „wenn du keine glückliche Ehefrau und Mutter wärst – wenn ich hier keine kleine Namensschwester hätte – wenn nicht Alfred, mein gütiger Bruder, dein liebevoller Mann wäre – woher käme dann der Freudentaumel, in dem ich mich heute abend befinde! Doch wie ich weggegangen bin, bin ich zurückgekehrt. Ich habe mein Herz keinem anderen geschenkt und meine Hand keinem anderen versprochen. Ich bin noch deine jungfräuliche, unverheiratete, unverlobte Schwester, deine dich liebende alte Marion, in deren Liebe es nur dich allein und keinen anderen gibt, Grace!“
Nun verstand sie. Ihr Gesicht entspannte sich, befreiende Schluchzer lösten sich, und während sie ihr um den Hals fiel, weinte und weinte sie und liebkoste sie, als wäre sie wieder ihr Kind.
Als sie sich mehr gefaßt hatten, merkten sie, daß der Doktor und seine Schwester, die gute Tante Martha, mit Alfred ganz in der Nähe standen.
„Das ist ein schwerer Tag für mich“, sagte die gute Tante Martha, unter Tränen lächelnd, als sie ihre Nichten umarmte, „denn ich verliere meine liebe Gefährtin, indem ich euch alle glücklich mache. Und was könnt ihr mir als Ersatz für meine Marion geben?“
„Einen bekehrten Bruder“, sagte der Doktor.
„Das ist wirklich etwas“, entgegnete Tante Martha, „in solch einem Possenspiel …“
„Nein, bitte nicht“, sagte der Doktor zerknirscht.
„Nun, dann nicht“, antwortete Tante Martha. „Aber ich fühle mich schlecht behandelt. Ich weiß nicht, was aus mir ohne meine Marion werden soll, nachdem wir ein halbes Dutzend Jahre zusammen gelebt haben.“
„Dann mußt du eben hier bei uns wohnen“, antwortete der Doktor. „Wir werden uns jetzt nicht streiten, Martha.“
„Oder du mußt heiraten, Tante.“
„Wahrhaftig“, erwiderte die alte Dame, „ich glaube, es wäre ein gutes Unternehmen, wenn ich mir Mr. Warden angeln würde, der, wie ich höre, nach seiner Abwesenheit in jeder Hinsicht gebessert nach Hause gekommen ist. Weil ich ihn aber kannte, als er noch ein kleiner Junge und ich keine sehr junge Frau mehr war, würde er darauf möglicherweise nicht reagieren. So werde ich mich dazu entschließen, bei Marion zu leben, wenn sie heiratet, und bis dahin (es wird nicht mehr lange dauern, behaupte ich) allein bleiben. Was sagst du dazu, Bruder?“
„Ich habe nicht übel Lust zu sagen, daß dies eine völlig verrückte Welt ist und es nichts Ernsthaftes auf ihr gibt“, bemerkte der arme alte Doktor.
„Du könntest zwanzig eidesstattliche Erklärungen abgeben, Anthony“, sagte seine Schwester, „aber bei diesen Augen würde dir das keiner glauben.“
„Es ist eine Welt voller Liebe“, sagte der Doktor, wobei er seine jüngere Tochter liebkoste und sich über sie beugte, um Grace zu liebkosen, denn er konnte die Schwestern nicht trennen, „und eine ernste Welt bei all ihrer Torheit, sogar mit meiner gerechnet, die ausgereicht hätte, den Erdball zu überschwemmen. Und es ist eine Welt, auf der die Sonne niemals aufgeht, sondern auf tausend unblutige Schlachten herabsieht, die ein Ausgleich für das Elend und die Sündhaftigkeit von Schlachtfeldern sind. Und es ist eine Welt, in der wir darauf achten müssen, jedem gerecht zu werden – der Himmel verzeih uns –, und es ist eine Welt heiliger Rätsel, und nur ihr Schöpfer weiß, was unter der Oberfläche seines einfachsten Ebenbildes verborgen liegt!“
Meine taktlose Feder würde Sie nicht zufriedener machen, wenn ich vor Ihnen die Gemütsregungen dieser Familie, die lange getrennt und nun wieder vereint war, ausbreitete und analysierte. Darum will ich nicht dem armen Doktor in seinen demütigenden Erinnerungen an den Kummer folgen, den er hatte, als er Marion verlor. Auch will ich nicht erzählen, daß er erkannte, wie ernst diese Welt sein kann, in der tief verwurzelte Liebe das Schicksal aller menschlichen Geschöpfe ist; auch nicht, wie ihn solch eine Nichtigkeit wie das Fehlen eines kleinen Teils im großen, sinnlosen Bericht zu Boden streckte. Auch nicht, wie ihm seine Schwester aus Mitleid mit seinem Schmerz vor langer, langer Zeit ganz allmählich die Wahrheit enthüllte und ihn dazu brachte, das Herz seiner Tochter, die sich selbst verbannt hatte, und diese Seite an ihr kennenzulernen.
Auch nicht, wie Alfred Heathfield im Laufe des vergangenen Jahres die Wahrheit gesagt wurde und Marion ihn gesehen und ihm als ihrem Bruder versprochen hatte, daß Grace es am Abend ihres Geburtstages endlich aus ihrem Mund erfahren sollte.
„Entschuldigen Sie, Doktor“, sagte Mr. Snitchey und schaute in den Obstgarten, „darf ich näher treten?“
Ohne die Erlaubnis abzuwarten, kam er auf Marion zu und küßte ihr sehr erfreut die Hand.
„Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, würde er seine große Anteilnahme an diesem Ereignis zeigen. Es hätte ihn darauf hingewiesen, Mr. Alfred, daß unser Leben vielleicht doch nicht allzu leicht ist, daß es alles in allem vertragen kann, wenn wir es ein wenig angenehmer machen. Aber Mr. Craggs war ein Mann, der es ertragen hätte, überzeugt zu werden, Sir. Er ließ immer mit sich reden. Wenn er jetzt mit sich reden ließe, dann … das ist Schwachheit. Mrs. Snitchey, meine Liebe“ – bei seiner Aufforderung kam diese Dame hinter der Tür vor –, „du bist unter alten Freunden.“ Nachdem Mrs. Snitchey ihre Glückwünsche ausgesprochen hatte, nahm sie ihren Mann beiseite.
„Einen Augenblick, Mr. Snitchey“, sagte diese Dame. „Es ist nicht meine Art, in der Asche Verstorbener zu stochern.“
„Nein, meine Liebe“, erwiderte ihr Mann.
„Mr. Craggs ist …“
„Ja, meine Liebe, er ist tot.“
„Aber ich frage dich, ob du dich an jenen Ballabend erinnerst“, fuhr seine Frau fort. „Ich frage dich nur danach.
Falls du das tust und falls dein Gedächtnis nicht völlig versagt und falls du nicht total senil bist, bitte ich dich, diese Zeit mit jener in Verbindung zu bringen und dich daran zu erinnern, wie ich dich auf Knien gebeten und angefleht habe …“
„Auf Knien, meine Liebe?“ fragte Mr. Snitchey.
„Ja“, sagte Mrs. Snitchey überzeugt, „und du weißt es – dich vor diesem Mann zu hüten, auf seinen Blick zu achten –, und nun sage mir, ob ich recht hatte und ob er damals Geheimnisse kannte, die er nicht verraten wollte.“
„Mrs. Snitchey“, sagte ihr Mann ihr ins Ohr, „Madam. Hast du schon jemals etwas aus meinem Blick gelesen?“
„Nein“, sagte Mrs. Snitchey scharf. „Bilde dir nichts ein.“
„Weil wir beide an jenem Abend, Madam“, fuhr er fort und zupfte sie am Ärmel, „Geheimnisse kannten, die wir nicht erzählen wollten, und wir beide kannten sie von Berufs wegen. Und deshalb ist es um so besser, je weniger du sagst, Mrs. Snitchey. Und laß dir das als Mahnung gelten, ein anderes Mal klügere und nachsichtigere Augen zu haben. Miss Marion, ich habe eine Freundin mitgebracht. Hier! Mistress!“
Die arme Clemency kam, die Schürze vor den Augen, langsam herein, wobei ihr Mann sie geleitete. Letzterer verdrossen, in der bösen Vorahnung, daß es mit der „Muskatreibe“ vorbei sei, wenn sie sich erst einmal dem Schmerz hingab.
„Nun, Mistress“, sagte der Rechtsanwalt, hielt Marion auf, als sie auf sie zurannte, und stellte sich zwischen die beiden, „was ist los mit Ihnen?“
„Was los is!“ rief die arme Clemency. Als sie, verwundert und entrüstet und von Mr. Britains Gebrüll zusätzlich erregt, aufschaute und dieses süße Gesicht, an das sie sich so gut erinnerte, dicht vor sich sah, starrte sie sie an, schluchzte, lachte, weinte, schrie, umarmte sie, hielt sie fest, ließ sie los, fiel Mr. Snitchey an und umarmte ihn (sehr zu Mrs. Snitcheys Empörung), fiel den Doktor an und umarmte ihn, fiel Mr. Britain an und umarmte ihn und umarmte zum Schluß sich selbst, wobei sie sich die Schürze über den Kopf warf und darunter einen hysterischen Anfall bekam.
Nach Mr. Snitchey war ein Fremder in den Obstgarten gekommen und in der Nähe des Tors abseits stehengeblieben, ohne von einem in der Gruppe bemerkt worden zu sein, denn sie hatten nur wenig Aufmerksamkeit zu vergeben, und diese hatte ausschließlich Clemency mit ihrem Gefühlstaumel auf sich gelenkt. Er schien nicht den Wunsch zu haben, bemerkt zu werden, sondern stand mit gesenkten Blicken für sich allein. Ihn umgab ein Hauch von Schwermut (obwohl er eine stattliche Erscheinung war), die die allgemeine Glückseligkeit um so stärker hervorhob.
Niemand anderes als Tante Martha mit ihren scharfen Augen entdeckte ihn, doch fast ebenso rasch, wie sie ihn erspäht hatte, sprach sie ihn auch schon an. Sofort ging sie dorthin, wo Marion mit Grace und ihrer kleinen Namensschwester stand, flüsterte Marion etwas ins Ohr, worauf diese zusammenfuhr und überrascht zu sein schien; doch faßte sie sich schnell, näherte sich an Tante Marthas Seite schüchtern dem Fremden und beteiligte sich ebenfalls an der Unterhaltung mit ihm.
„Mr. Britain“, sagte der Rechtsanwalt, steckte die Hand in die Tasche und zog ein amtlich aussehendes Dokument hervor, während die Unterhaltung weiterging, „ich gratuliere Ihnen. Sie sind der einzige und alleinige Besitzer dieses freien Grundstücks, das von Ihnen zur Zeit als konzessioniertes Wirtshaus oder als Haus zur öffentlichen Unterhaltung geführt wird, gemeinhin mit dem Namen ‚Muskatreibe‘ bezeichnet oder als solche bekannt. Ihre Frau verlor durch meinen Klienten Michael Warden ein Haus und bekommt ‚und Fingerhut‘ ein; und ich werde die beiden Sinnsprüche eines schönen Tages für die Grafschaft zu werben.“
„Würde es bei der Wahl irgend etwas ausmachen, wenn ich das Zeichen ändere, Sir?“ fragte Britain.
„Nicht das geringste“, antwortete der Rechtsanwalt. „Dann seien Sie so gut“, sagte Mr. Britain und gab ihm die Übertragungsurkunde zurück, „und fügen Sie die Worte ‚und Fingerhut‘ ein; und ich werde die beiden Sinnsprüche im Gesellschaftszimmer anmalen lassen, da, wo das Bild meiner Frau hing.“
„Und lassen Sie mich“, sagte eine Stimme hinter ihnen – es war die des Fremden, Michael Warden –, „lassen Sie mich den Nutzen dieser Inschriften bekräftigen. Mr. Heathfield und Dr. Jeddler, ich hätte Ihnen beiden großes Unrecht tun können. Daß ich es nicht tat, ist nicht mein Verdienst. Ich will nicht behaupten, daß ich sechs Jahre klüger oder besser geworden bin. Auf jeden Fall habe ich den Begriff Selbstvorwurf kennengelernt. Ich kann keinen Grund anführen, warum Sie mich freundlich behandeln sollten. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft dieses Hauses und erfuhr durch meine eigenen Fehler mit einer Schmach, die ich nie vergesse, doch auch mit Gewinn, daß ich Hoffnung von einer erwartete“, er sah Marion an, „die ich demütig um Verzeihung gebeten hatte, als ich ihren Wert und meine Unwürdigkeit kannte. In wenigen Tagen werde ich diesen Ort für immer verlassen. Ich bitte um Verzeihung. ‚Tu, wie du willst, daß man dir tu.‘ Vergessen und vergeben Sie!“
Die Zeit, von der ich den letzteren Teil dieser Geschichte hatte und mit der ich das Vergnügen habe, sie über fünfunddreißig Jahre persönlich zu kennen, setzte mich davon in Kenntnis – wobei sie sich leicht auf ihre Sense lehnte –, daß Michael Warden nie wieder fortging und sein Haus nie verkaufte, sondern es erneut öffnete, herzliche Gastfreundschaft gewährte und eine Frau hatte – der Stolz und die Ehre jener Gegend -, die Marion hieß. Da ich aber festgestellt habe, daß die Zeit Tatsachen gelegentlich durcheinanderbringt, weiß ich kaum, welche Bedeutung ich ihr beimessen soll.