Wandlung
Kapitel 14
Das Haus in Blue Ridge lag völlig im Dunklen, als Ruben
und Jôrek aus Downtown eintrafen. Kein Stern erhellte die Nacht,
selbst der Mond versteckte sich hinter tief hängenden Wolken.
Geräuschlos glitt das Garagentor auf, und nachdem Ruben den SUV
geparkt hatte, genauso leise wieder zu. Im Besprechungsraum trafen
sie auf Maroush, der es sich dort gemütlich gemacht hatte. Bequem
hatte er seine Beine auf den Tisch gelegt und wippte mit seinem
Stuhl hin und her, während er sein Schwert
schärfte.
»Bruder«, grüßte Ruben ihn und stieß seine
Faust gegen die von Maroush. Maroush erwiderte den Gruß mit einem
Kopfnicken. »Wo sind die anderen?«, Jôrek sah in die
Runde.
»Aragón ist noch nicht da, und unsere Paare
haben sich wohl auf ihre Zimmer zurückgezogen«, meinte Maroush mit
einem breiten Grinsen.
»Aragón ist noch nicht zurück? Wir dachten,
er wäre mit dir gefahren?« Ruben hob fragend die
Augenbrauen.
Maroush schüttelte den Kopf. »Nein, ich
wollte ihn mitnehmen, aber er bestand darauf, sich noch etwas
umzusehen und dann mit euch zurückzukommen.« Maroush griff nach
seinem Handy und wählte Aragóns Nummer an, doch der Ruf ging ins
Leere. »Er geht nicht ran, da stimmt etwas nicht.« Besorgt blickten
die drei Krieger sich an.
»Was stimmt nicht?« Shia trat durch die
gläserne Tür des Besprechungsraums.
»Aragón ist noch nicht zurück«, riefen die
drei unisono.
»Wer hat ihn zuletzt
gesehen?«
»Er war mit Channing und Sara im Club
unterwegs. Als ich ihn traf, wollte er auf Jôrek und Ruben warten,
dann bin ich gefahren.«
Durch die Tür sahen sie Channing mit Sara
auf den Raum zukommen. »Was ist passiert?«, fragte Sara, bevor sich
die Tür richtig geöffnet hatte. Ein inneres Gefühl hatte ihr
gesagt, dass etwas nicht stimmte, und sie war sofort mit Channing
zum Besprechungsraum geeilt.
»Aragón ist noch nicht da, und er geht
nicht an sein Handy!«, informierte Maroush die
beiden.
»Er hatte mich gebeten, Sara nach Hause zu
bringen, als sie im Club von Fans erkannt wurde.« Channing fuhr
sich durch das Haar. Sara zückte ihr Handy, und vor Aufregung glitt
es ihr aus der Hand.
Reflexartig fing Channing es auf und gab es
ihr wieder. »Ganz ruhig, wir werden ihn schon finden.«
Beschwichtigend strich er Sara über die Hand.
Auch ihr Versuch, Aragón per Handy zu
erreichen, schlug fehl.
»Vielleicht kann er im Moment nicht
telefonieren.« Channing versuchte, alle Möglichkeiten auf ihre
Logik zu analysieren.
»Davon kannst du ausgehen«, erwiderte Shia,
»wir benutzen die Handys nicht, um mal kurz Hallo zu sagen, wenn
dein Handy klingelt, dann ist es wichtig.« Er warf ihm ein kleines
schwarzes Gerät zu. »Verlier es nicht. Unsere Nummern erreichst du
unter den Kurzwahltasten, die von Sara ist die Eins.« Channing
nickte und steckte das Handy in seine Hosentasche.
»Was sollen wir tun?«, fragte Ruben in die
Runde, um das Gespräch wieder auf Aragón zu
lenken.
»Wir müssen zurück zum Club«, rief Sara
aufgebracht und machte Anstalten, den Raum zu
verlassen.
»Halt, es hat keinen Sinn, überstürzt dort
aufzukreuzen. Es würde uns alle nur in Gefahr bringen.« Channing
hielt sie am Arm zurück. Shia nickte zustimmend.
»Channing hat recht, jetzt bei
Sonnenaufgang, wird ohnehin keiner der Vampire dort sein, und nur
die Jäger der Dunkelheit sind in der Lage, Aragón festzuhalten,
einem Menschen würde das niemals gelingen.«
»Aber vielleicht könnten wir uns dort noch
einmal nach Spuren von ihm umsehen«, warf Channing ein. Er blickte
in Shias Richtung. »Und eventuell kann die Polizei helfen, immerhin
hat es dort zwei Morde gegeben.«
»Du denkst an Ewa?«
Channing nickte.
»Ich möchte sie da nicht mit hineinziehen.«
Shia schüttelte den Kopf.
»Ich finde, ich stecke bereits schon zu
tief drin, um noch zurückzukönnen«, kam es von der Tür. Ewa stand
dort schon eine Weile, unbemerkt von den anderen.
»Ich bin aufgewacht, weil ich unruhig war
und Shia nicht mehr neben mir lag. Ich habe gehört, dass ihr Aragón
vermisst. Wenn ihr wollt, gebe ich eine Vermisstenmeldung nach ihm
raus.«
Shia schüttelte abermals den
Kopf.
»Nein, das geht nicht, wir können nicht
sagen, was uns erwartet. Du kannst uns mehr helfen, wenn du im
Department bist und die Augen offen hältst.«
»Dort ist es auch sicherer für dich.« Sara
schaute sie entschuldigend an.
»Ich weiß, dass du dich nicht fürchtest,
aber wir haben es hier mit grausamen Kreaturen zu tun, die vor
nichts zurückschrecken, nicht einmal vor einem Krieger, und du bist
ein Mensch, sei mir nicht böse, Ewa, ich will nur nicht, dass dir
etwas passiert.«
Ewa nickte langsam. »Ich weiß, ich bin nur
ein armer kleiner Mensch.«
Kurz nach acht Uhr
erschien Esposito an seinem Schreibtisch im Department. Überrascht
schaute er Ewa an, die bereits mit einer Tasse dampfendem Kaffee
auf ihn wartete.
»Morgen!«, murmelte er mürrisch, »du schon
hier? Was ist los, hat dein Freund dich nicht schlafen
lassen?«
»Er ist nur ein Kollege, wann begreifst du
das endlich? Was gibt es Neues? Hast du schon etwas von den Fällen
aus dem Club in Downtown herausbekommen?«
Esposito holte eine Akte von seinem
Schreibtisch und warf sie Ewa auf den Tisch. »Leider nicht sehr
viel. Die beiden Toten waren zu ihren Lebzeiten noch nicht lange
dort angestellt. Es war ihr zweiter Arbeitstag.«
»Etwas über den Besitzer des Clubs?« Ewa
blätterte langsam die Akte durch. Esposito schüttelte den Kopf.
»Daran arbeiten wir noch. Es gibt da ein kompliziertes Geflecht von
Firmen und Firmenanteilen. Ich habe ein paar Leute darauf
angesetzt, dieses Netz zu entwirren. Der Geschäftsführer ist ein
Amerikaner griechischer Abstammung, ein gewisser Stavros Dimatros.
Er scheint nur ein Strohmann zu sein. Er führt den Club, hat aber
nicht besonders viel zu sagen.«
»Und wurde heute früh aus der Union Bay
gefischt.« Ewa fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Shia mit
ernstem Gesicht.
»Keane, woher haben Sie denn diese
Informationen?« Esposito starrte ihn verwirrt an, als plötzlich
sein Handy eine schrille Melodie von sich gab. Er nahm das Gespräch
an und nickte mehrfach.
»Ja, ich habe es gerade erfahren … das ist
ja jetzt egal, wir machen uns sofort auf den Weg.« Er beendete das
Telefonat schnell. »Das war der Chief. Er hat mich über Dimatros
Tod informiert. Wir sollen zur Fundstelle hinausfahren. Ihm macht
der Gouverneur die Hölle heiß, wegen der vielen Morde in der
letzten Zeit, er muss schnellstens Erfolge vorweisen, sonst kann er
seinen Job an den Nagel hängen und wir gleich mit. Mir ist echt
schleierhaft, woher Sie ihre Informationen haben. Komm, Ewa, wir
sollten uns sofort auf den Weg machen.« Ewa sah Shia mit
sorgenvollem Blick an und verfluchte die Tatsache, dass sie nicht
offen mit ihm sprechen konnte.
»Hier, Esposito, ich habe etwas für
Sie.«
Shia warf ihm ein kleines Päckchen zu, das
er geschickt auffing und direkt auspackte.
»Hey Keane, das ist eine Breitlinguhr, die
sieht aus wie Ihre!«, rief er ganz aus dem Häuschen und starrte auf
Shias Handgelenk, an der das gleiche Stück hing.
»Ja, sie hat Ihnen gestern doch so gut
gefallen, und ich besitze zwei, da dachte ich mir, es wäre zu
schade, wenn sie nur rumliegt.« Shia zuckte beiläufig mit den
Schultern.
»Oh Mann, ich fasse es nicht. Dafür haben
Sie was gut bei mir, Shia.« Er klopfte ihm kameradschaftlich auf
den Rücken und zog ihn zum Ausgang. »Wenn Sie Zeit haben, kommen
Sie doch mit Ewa und mir zum Tatort.«
»Gern, ich nehme Ewa in meinem Wagen mit,
fahren Sie doch schon mal vor.«
Kaum hatte Ewa die
Wagentür hinter sich geschlossen, kehrte sie die toughe Polizistin
raus. »Was machst du hier? Woher wusstest du von dem Mord, noch
bevor wir informiert waren?«
»Wir haben den Funk abgehört. Seine Daten
wurden durchgegeben, da bin ich direkt zu dir gefahren. Die anderen
sondieren die Lage am Club. Ich habe dir gesagt, dass ich dich
nicht mehr allein lasse.«
»Aber ich bin hier in Sicherheit. Was soll
mir passieren?«
Er sah ihr tief in die Augen und strich mit
dem Knöchel über ihre Wange. »Du hattest bisher Glück. Es war aber
gar nicht meine Idee, Sara hat mich zu dir geschickt. Sie hält die
Lage auch für sehr gefährlich. Wir können nicht vorsichtig genug
sein, jetzt, wo Aragón verschwunden ist. Vielleicht gibt es unter
deinen Leuten einen Maulwurf.«
»Trotzdem musstest du dir Espositos
Freundschaft nicht mit einem so teuren Geschenk erkaufen«, sagte
sie tadelnd.
Shia glitt ein Lächeln über die Lippen.
»Für dich ist mir nichts zu teuer, mein Schatz.« Er ließ den Motor
des R8 an, beugte sich zu ihr herüber und gab ihr einen schnellen
Kuss auf den Mund.
Der Fundort lag an
einem unwegsamen Gelände der Union Bay. Die Leiche hatte sich im
Gestrüpp des Flussufers verfangen. Fast bis zur Unkenntlichkeit war
das Gesicht geschunden und aufgequollen. Der amtliche
Leichenbeschauer hatte bereits seine Arbeit erledigt, als Ewa mit
Shia und Esposito eintraf.
»Tod durch Erdrosseln, so viel kann ich
jetzt schon sagen. Ich denke, er ist oberhalb der Bay ins Meer
geworfen worden. Seht mal hier die Abdrücke am Hals, rechts ein
dunkelblauer Daumenabdruck und auf der linken Seite die Abbildungen
der vier übrigen Finger. Es war ein Linkshänder, der ihm die Luft
abgedrückt hat, mit nur einer Hand. Quetschungen am Kehlkopf, es
muss eine sehr kräftige Person gewesen sein, der Größe der Abdrücke
nach zu urteilen ein Mann.«
»Todeszeitpunkt?« Ewa schaute auf die
Leiche hinunter und versuchte zu identifizieren, ob ihr das Gesicht
bekannt vorkam. Die Leiche war vom Wasser bereits so aufgetrieben,
dass ihr eine Identifizierung nicht gelang. Sie wandte sich wieder
ab.
»Das kann ich erst nach der genauen
Obduktion beantworten.«
Ewa nickte und hielt nach Shia Ausschau,
der etwas abseits stand und mit dem Polizisten sprach, der als
Erster am Fundort eingetroffen war. Der Coroner verabschiedete sich
und versprach, seinen Bericht noch am gleichen Tag
vorzulegen.
»Du hast ihn geküsst«, murmelte Esposito
leise, als er für kurze Zeit allein mit Ewa am Ufer stand, »ich
habe es genau gesehen. Also erzähl mir nicht, er wäre nicht dein
Freund. Was ist so schlimm daran, es zuzugeben? Er ist doch ein
toller Kerl.«
»Ja, und er ist noch viel besser, als du
dir vorstellen kannst«, meinte Ewa gedehnt.
»Ich gebe ja zu, er sieht etwas jung aus,
hat bestimmt gute Gene.«
»Was bist du jetzt Esposito,
Biologe?«
»Der Junge scheint ja Geld wie Heu zu
haben, ist bestimmt eine gute Partie. Den solltest du dir angeln,
Butler!«
»Werde ich tun, Esposito, bevor du ihn mir
noch vor der Nase wegschnappst. Lass uns zu diesem Club fahren,
vielleicht finden wir irgendwas Wichtiges.«
»Weshalb? Die Spurensicherung war doch vor
Ort und hat schon alles abgesucht.«
»Ich verlasse mich lieber auf mich selbst.
Wir treffen uns dort.«
Achselzuckend bahnte Esposito sich seinen
Weg durch das Dickicht und wich dabei ungeschickt dicken Ästen aus,
die ihm den Weg zur Straße versperrten.
»Hast du was entdecken
können?« Ewa sah Shia fragend an, als dieser seinen Wagen durch den
morgendlichen Verkehr von Seattle steuerte. Er fuhr auf eine rote
Ampel zu und hielt an.
»Ich bin mir sicher, dass ihn ein Vampir
umgebracht hat. Aber niemand hat von ihm getrunken. Man hat ihm die
Kehle zugedrückt. Hast du die großen Handabdrücke
gesehen?«
Ewa nickte. »Ja, aber wie kommst du auf die
Idee, dass es ausgerechnet ein Vampir gewesen sein
muss?«
»Welcher Mensch schafft es schon, jemandem
mit nur einer Hand die Kehle zu zerquetschen? Dann diese riesigen
Finger, das kann kein Mensch gewesen sein. Für mich sah es so aus,
als hätte man ihn an der Kehle gepackt und in die Luft gehoben.
Hast du dir die riesigen Fingerabdrücke
angesehen?«
»Meinst du, es könnte Aragón gewesen
sein?«
Shia schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das
halte ich für ausgeschlossen. Er ist ein Krieger. Natürlich müssen
wir oft Dinge tun, die für Menschen auf den ersten Blick
schrecklich erscheinen, aber das ist nicht Aragóns Art, zu kämpfen
und zu töten. Außerdem ist er Rechtshänder. Ihn können wir
ausschließen.«
Ewa atmete erleichtert aus. Sie mochte sich
erst gar nicht vorstellen, gegen einen der Krieger ermitteln zu
müsste. Aragón hatte sich gestern auf ihre Seite gestellt, als es
darum ging, sie an einem Einsatz zu beteiligen, und sie war ihm
dankbar dafür. Es wäre einfach unmöglich, sich jetzt gegen ihn zu
stellen. Ewa mochte sich die Situation gar nicht ausmalen, falls es
einmal dazu kommen sollte. Sie wollte sich nicht zwischen ihrem
Beruf und Shia entscheiden müssen, denn insgeheim wusste sie, wie
diese Wahl ausfallen würde.
Shia erkannte ihre Zerrissenheit und legte
sanft seine Hand auf die ihre. »Ich weiß, wie schwer das für dich
sein muss, und es tut mir leid, dass ich dir das alles zumute, aber
ich kann nicht mehr so einfach aus deinem Leben verschwinden,
selbst wenn ich es wollte. Du weißt inzwischen so viel, dass es für
uns und auch für dich zu gefährlich wäre. Das musst du
verstehen.«
Ewa nickte. Ganz zu schweigen davon, dass ich es nicht ertragen
könnte, dich zu verlassen, fügte sie
in Gedanken hinzu.
»Ja, natürlich, ich verstehe das sogar sehr
gut. Nur kann es so auch nicht mehr lange gutgehen. Cruz stellt
dauernd Fragen, und er ist nicht dumm.«
Shia nickte und parkte den R8 GT vor
dem Empire. Esposito erwartete sie bereits auf dem
Parkplatz.
»Hey, wie kommst du an dieses Auto?«,
fragte er neugierig.
Shia warf ihm einen unschuldigen Blick
zu.
»Der gehört mir nicht, der ist nur
geliehen.« Esposito schlug ihm laut lachend auf die Schulter.
»Davon hast du nicht zufällig auch noch einen in der Garage, den du
nicht brauchst?«
Philippe Orlandie
konnte seine Augen kaum öffnen. Sie fühlten sich an, als lägen
schwere Ziegelsteine darauf. Er musste Tage geschlafen haben, so
benommen und taub fühlte sich sein Körper an. Im ersten Moment
spürte er seine Hände und Füße gar nicht, doch dann durchfuhr ihn
ein Schmerz, der seinen ganzen Leib erzittern ließ. Er fühlte sich
wie ein Junkie, der dem nächsten Schuss entgegenfieberte. Er
versuchte zu erkennen, wo er sich befand, und drehte den Kopf.
Philippe erkannte ein fensterloses Zimmer, einen Schrank und das
Bett, auf dem er lag. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sunny schlich
sich in seine Gedanken, wie sie ihn geküsst hatte, und dann verließ
ihn sein Gedächtnis. Er konnte sich nur vage an den Biss in seinen
Hals und die langen Fangzähne aus Sunnys Mund
erinnern.
Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase
und schnürte ihm die Kehle zu. Ein weiterer Krampf schüttelte
seinen Körper und überzog ihn mit Schmerzen. Er hörte, wie sich die
Tür öffnete und jemand den Raum betrat.
»Hey Philippe, wie geht es
dir?«
Es war Sunny.
»Oh Gott, ich glaube ich sterbe, was hast
du mit mir gemacht?«, stöhnte er.
»Dir das ewige Leben geschenkt, du solltest
also etwas dankbarer sein. Die Schmerzen vergehen. Ich habe dir
einen Blutbeutel mitgebracht. Wenn du den getrunken hast, wird es
dir bessergehen, du wirst sehen.«
Angewidert starrte er auf den roten Beutel
in Sunnys Hand.
»Du hast wohl den Verstand verloren, wenn
du glaubst, dass ich das Zeug trinke. Ich bin doch nicht
verrückt.«
Sunny hob desinteressiert die Schultern.
»Es sind deine Schmerzen. Es zwingt dich niemand, ich wollte es dir
nur leichter machen.«
Sie ließ den Beutel auf sein Bett fallen
und verließ kommentarlos den Raum.
Mit einem höhnischen Grinsen schien der
dunkelrote Blutbeutel Philippe anzustarren. Er meinte, schon den
metallisch süßen Geschmack auf seinen Lippen zu schmecken, und sein
Speichel lief in seinem Mund zusammen.
Die Schmerzen in seinem Körper waren kaum
zu ertragen. Zögerlich richtete er sich auf und griff nach dem
Beutel. Kaum hielt er ihn in den Händen, hatte er ihn auch schon
mit seinen Zähnen aufgerissen und ließ gierig die rote Flüssigkeit
in seinen Mund laufen. Er war so zügellos, dass ein Teil des Blutes
von seinem Kinn auf sein Shirt tropfte. In einem Zug leerte er den
Beutel und wrang ihn mit einer Faust aus. Es gelüstete ihn nach
mehr. Gerne hätte er noch drei oder vier Beutel getrunken.
Erschöpft ließ er sich wieder auf sein Bett fallen und spürte
augenblicklich, wie die Schmerzen in seinem Körper nachließen. Erst
jetzt wurde ihm bewusst, was er da gerade getan hatte. Angewidert
schaute er auf den leeren Beutel, der noch vor einer Sekunde mit
dunkelrotem Blut gefüllt gewesen war.
Oh Gott, was hatte er nur getan. Er hatte
es die Kehle hinuntergestürzt, als wäre es erfrischender
Orangensaft. Nein, das konnte einfach nicht wahr sein. Was war mit
ihm passiert, was hatte man nur mit ihm angestellt?
Das ewige Leben geschenkt,
was auch immer das heißen mochte, es war
nicht das, was er gewollt hatte, doch es beschlich ihn das ungute
Gefühl, dass er daran nun nichts mehr ändern
konnte.
Channing schlich mit
langsamen Schritten zum Hintereingang des Empire, Maroush als
Deckung in seinem Rücken. Der Club lag im nebligen Morgengrauen
ruhig und verlassen da. Als Maroush die große alte Eiche erblickte,
auf der er heute früh gehockt hatte, fiel ihm wieder die junge Frau
ein, die ihn im Privatbereich fast umgerannt hatte. »Sunny«,
entfuhr es ihm leise. Überrascht schaute Channing
auf.
»Wer ist Sunny?«
Maroush hob die Schultern. »Ich weiß nicht
genau. Ich bin ihr gestern hier kurz begegnet, keine besonders
freundliche Person, aber sie scheint irgendwie zum Club zu gehören.
Sie hatte einen jungen Mann dabei, einen
Menschen.«
»Eine Vampirin mit kurzem schwarzen
Haar?«
Maroush nickte.
»Das war Philippe, den sie da bei sich
hatte. Er ist Sara aus Paris gefolgt. Wo sind sie
hingegangen?«
Maroush schüttelte den Kopf. »Ich habe
keine Ahnung, er wollte noch seinen Rucksack holen, den er im Club
hatte liegen lassen, aber sie hatte es sehr eilig, es dämmerte
schon.«
Im Hinterhof waren alle Türen gut
verschlossen, ohne eine von ihnen aufzubrechen, kam man also nicht
hinein. Maroush versuchte, eine Witterung von Aragón aufzunehmen,
aber es gab keine Hinweise auf seine Anwesenheit.
»Wenn Aragón wirklich gefangen gehalten
wird, wie lange kommt er wohl ohne Blut aus?«, überlegte Channing
laut.
»Es kommt ganz darauf an, wann er das
letzte Mal getrunken hat, höchstens aber eine Woche, wenn er sich
gestern Abend genährt hat, wovon wir nicht ausgehen
können.«
Maroushs beunruhigter Blick traf den von
Channing. »Wir sind nun mal keine Halbvampire und brauchen daher
öfter Blut als ihr«, erklärte er und schaute auf sein Handy. Immer
noch keine Nachricht von Sara, die im Haus geblieben war, für den
Fall, das Aragón dort auftauchte und vielleicht sogar verletzt war.
Jôrek und Ruben nahmen sich die größere Umgebung des Clubs vor und
suchten dort nach Hinweisen.
Maroush zog sein Schwert aus der Scheide
und ließ es im fahlen Morgenlicht aufblitzen. »Was meinst du,
sollen wir hinein und nachsehen, ob er dort ist?« Channing zog
seine Waffe und entsicherte sie.
»Wenn wir schon mal hier sind, wäre es doch
eine Schande, uns den Laden nicht einmal bei Tageslicht
anzusehen.«
»Ganz meine Meinung.«
Die Reinigungsfirma
hatte gute Arbeit geleistet. Es gab nicht mehr den kleinsten
Hinweis darauf, dass der Club noch bis zum frühen Morgen geöffnet
gewesen war und Gäste beherbergt hatte. Alles war sauber und
blitzblank. Maroush hatte dank seiner mentalen Kräfte die Hintertür
dazu gebracht, sich selbst zu öffnen. Er war ein alter Vampir, und
seine Macht ging weit über das normale Maß hinaus. Nicht nur seine
körperliche Stärke, auch sein Geist war in all den Jahrhunderten
gewachsen. Channing folgte ihm mit Bewunderung, jedoch ohne große
Hoffnung, jemals diesen Status zu erreichen.
Der Club besaß keine Alarmanlage, ein
Hinweis auf die Überheblichkeit der Besitzer. Sie strichen mit
schnellen lautlosen Bewegungen durch die leicht zugänglichen Räume.
Kein Laut war zu vernehmen. Nach wenigen Minuten erreichten sie das
Hinterzimmer. Maroush wehte wieder dieser feine Zimtgeruch um die
Nase, den er bereits am Abend zuvor an Sunny wahrgenommen hatte.
Entweder war ihr Duft so intensiv, oder sie war vor kurzem noch
hier gewesen.
»Ich kann Aragón riechen«, flüsterte
Channing, »es ist nur ein schwacher Duft. Aber ich bin mir sicher,
dass er hier war.«
Maroush nickte zustimmend. »Das ist
erstaunlich, in welch kurzer Zeit es dir gelungen ist, Gerüche zu
unterscheiden. Normalerweise braucht man dazu Jahre. Es ist
wirklich außergewöhnlich.« Von draußen waren Motorengeräusche und
Stimmen zu hören.
»Verflucht, da kommt jemand.« Maroush hielt
nach einer offenen Tür Ausschau, um gegebenenfalls auf diesem Wege
fliehen zu können.
»Es ist Shia, ich spüre ihn, und wird von
zwei Menschen begleitet, eine davon ist Ewa«, meinte
Channing.
»Das kannst du also auch schon, wirklich
bemerkenswert.«
Um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu
lenken, machten es sich die beiden in einem Abstellraum bequem, wo
normalerweise nur das Putzzeug aufbewahrt wurde. Sie wollten dort
abwarten bis Shia mit den Menschen wieder abgezogen war. Sie
wollten nicht auffallen, um ihn und Ewa nicht in Erklärungsnot zu
bringen.
Channing starrte auf Maroushs angespannten
Körper.
»Wie alt bist du?«, fragte
er.
Ein kleines Lächeln huschte über Maroushs
Lippen. »Nun, ich bin schon fast so alt wie die Erde, könnte man
denken. Ich wurde so ungefähr um sechshundertsiebzig nach Christus
geboren und war schon immer ein Krieger.«
Die Kammer lag im Dunkeln, doch Channing
sah Maroushs stolzen Blick auf ihm ruhen, und während er
weitersprach, fixierte sein Blick einen Punkt, der in einer anderen
Welt zu liegen schien.
»Einst war ich Truppenführer und auch
Gouverneur von Tanger. Ich diente unter Musa ibn Nusayr, er war der
Stadthalter von Ifriqiya, das ist das heutige Gebiet von Tunesien
und Ost-Algerien. Ich eroberte mit meinen Männern das
Westgotenreich und besiegte König Roderich, mein Name ist Tariq
Sohn des Ziyad, und ich bin offiziell siebenhundertzwanzig Anno
Domini gestorben.«
Channing blickte ihn bewundernd an. Er saß
hier einem Mann gegenüber, der es bereits mehr als dreizehnhundert
Jahre lang geschafft hatte, seinen Kopf auf den Schultern zu
behalten, in welche Schlacht er auch gezogen war. Das musste sein
Verstand erst einmal verarbeiten.
»Warum wurdest du für tot erklärt? Bitte
entschuldige meine Neugierde, aber diese Welt, die sich mir hier
eröffnet hat, ist so reizvoll, dass ich gar nicht genug
Informationen bekommen kann. Mir kommt es vor, als würde ich in
einem alten Buch blättern.«
Maroush nickte zustimmend. »Ich kann deine
Neugierde gut verstehen, mein Freund. Ich fiel in Ungnade, daher
war es besser, von der Bildfläche zu verschwinden, um den Kopf
nicht zu verlieren.«
Sein arabischer Akzent verlieh seinen
Worten etwas Geheimnisvolles, und seine Gesichtsmuskeln spannten
sich an. Channing glaubte, dass es besser war, keine weiteren
Fragen zu stellen.
»Deine Losung, wie lautet sie?«, fragte er,
um das Thema zu wechseln.
»Die Losung meines Daseins ist:
Ultima Ratio – Der letzte
Ausweg!«
Nachdem Shia und die
Menschen das Gebiet um das Empire ergebnislos
abgesucht hatten und wieder zum Department zurückfuhren, streiften
Channing und Maroush weiter durch den Club. Aber auch ihre Suche
blieb ohne Ergebnisse. Sie fanden im Hinterhof noch eine kleine
Spur, hier schien Aragón in ein Auto verfrachtet worden zu sein.
Außer ein paar Autospuren war das alles.
Im Department
herrschte große Betriebsamkeit, da es bei einer Hochzeit eine
Schießerei mit drei Toten gegeben hatte. Lautstark stritten die
verfeindeten Parteien, wer mit dem Schusswechsel angefangen
hatte.
Ewa ging dieser Terror gehörig auf die
Nerven, und sie brachte ihren Missmut lautstark zum
Ausdruck.
Danach beruhigten sich alle etwas, nur um
kurz darauf wieder von vorn anzufangen.
»So was gibt es bei euch in Kalifornien
bestimmt nicht, oder? Ihr seid da wesentlich kultivierter!«, rief
Esposito über den Lärm hinweg Shia zu. Dieser antwortete nur mit
einem kurzen Schulterzucken.
»Hey Shia, ist das nicht ein Zufall, dass
das Haus deiner Schwester genau in der Straße steht, in der auch
Ewa wohnt?«, versuchte Esposito den Faden wieder
aufzunehmen.
»Was glaubst du wohl, wie Ewa an das Haus
gekommen ist?«, war Shias Gegenfrage, um jeder weiteren Diskussion
aus dem Weg zu gehen.
Ewa knallte ihr Handy auf den Tisch, dass
es nur so schepperte.
»Ich halte diesen Lärm nicht mehr aus!«,
rief sie aufgebracht und zog ihre Jacke wieder an. »Cruz, ich werde
noch ein paar Informationen einholen, wollen doch mal sehen, ob wir
nicht herausbekommen, wem der Club gehört. Du hältst hier die
Stellung, ich nehme Shia mit!«
Ewa ließ einen verdutzten Esposito
zurück.
»Hey, ist das jetzt dein neuer Partner,
oder was?«, rief der ihnen aufgeregt hinterher, aber wegen des
Lärms konnten sie ihn nicht mehr hören.
Esposito starrte ihnen
mit düsterem Blick hinterher und betrachtete dann die Breitling,
die an seinem Handgelenk baumelte. Irgendetwas stimmte hier nicht,
er wusste zwar nicht, was, aber er würde es schon herausbekommen.
Zielsicher griff er zum Telefon und ließ sich mit der
Mordkommission in L.A. verbinden. Nach kurzer Zeit landete er in
der Zentrale.
»Lieutenant Keane bitte, hier spricht
Detektiv Esposito vom Seattle Police Department … Sind Sie sicher?
... Es gibt bei Ihnen keinen Lieutenant Keane, Shia Keane? Und
einen Detektiv Keane? Okay, danke für die Auskunft!« Mit einem
Lächeln legte er den Hörer aus der Hand.
»Das war knapp.
Esposito fängt an, unbequeme Fragen zu stellen, also wenn du nicht
noch dein Auto an ihn loswerden willst, solltest du in der nächsten
Zeit nicht mehr im Department auftauchen!«, fauchte
Ewa.
Sie nahm an, dass Shia zu seinem Haus
fahren würde, doch sie hatte sich geirrt. Er fuhr in die
entgegengesetzte südliche Richtung. North Beacon Hill war sein
Ziel, und er steuerte den Wagen auf den Parkplatz der Bank of
America. Ewa starrte das flache unscheinbare Gebäude
an.
»Was wollen wir hier?« Ihre Wut war noch
nicht ganz verraucht, wobei sie nicht einmal wusste, auf wen sie
eigentlich wütend war.
»Das wirst du gleich sehen.« Shia kam um
den Wagen herum und öffnete ihr die Autotür. Widerstrebend ließ sie
sich von ihm in das Gebäude führen.
Ein Angestellter kam mit einem breiten
Lächeln auf sie zu. »Mr Keane, ich freue mich sehr, Sie mal wieder
hier begrüßen zu dürfen.« Shia nickte dem Mann im grauen Anzug
zu.
»Ist sie da?«, ohne eine Antwort
abzuwarten, ging er mit Ewa an seiner Hand auf eine Wendeltreppe in
das Kellergeschoss zu.
»Natürlich Mr Keane, wo sollte sie auch
sonst schon sein?«
Phoebe Edwards saß in
einem bequemen hochmodernen Schreibtischstuhl vor einer noch
moderneren Computertastatur und beobachtete das Eintreffen von Shia
und Ewa auf ihrem überdimensionalen Bildschirm, der als Hologramm
auf ihrem Schreibtisch erschien.
Noch bevor sich die mit kugelsicherem Stahl
versehene Tür öffnete, rief sie mit lauter Stimme: »Herein mit
euch, und bringt mir nur kein Sonnenlicht mit
hinein!«
Shia hielt Ewa die Tür auf und schloss sie
nach dem Eintreten vor der Nase des Bankangestellten. Er hatte
Phoebes Wink verstanden, denn sie hatte mit ihrer Bemerkung
keineswegs das Sonnenlicht gemeint, sondern Pete Brown, den etwas
unscheinbaren, aber umso aufdringlicheren
Bankangestellten.
Das Hologramm zeigte seinen missbilligenden
Gesichtsausdruck, als er der Tür den Rücken kehrte und die Treppe,
zurück zu seinem Arbeitsplatz, hochstieg.
»So benimmt er sich schon seit Tagen, es
wird mal wieder Zeit, ihm in den Hals zu beißen, um ihm seinen ihm
angemessenen Platz zuzuweisen … Shia, ich freue mich so, dich mal
wiederzusehen!«, rief sie euphorisch und umarmte ihn
stürmisch.
Shias erwiderte ihre Umarmung und drückte
ihr einen Kuss auf die Haare. »Danke, dass du mir die Breitling so
schnell besorgen konntest. Du hast uns damit einen großen Dienst
erwiesen.«
»So wie bei dem GT?« Sie
lachte.
Ewa beobachtete die Szene etwas abseits.
Sie befanden sich in einem spärlich möblierten rechteckigen Raum im
Kellergeschoss der Bank. Es gab keine Fenster, nur schmucklose
graue Wände. Das Zimmer wurde durch zwei indirekte Lichtquellen
erleuchtet, die auf den Arbeitsplatz gerichtet waren, der Rest des
Raumes lag im Dunkeln.
Diese vertraute Begrüßung und die intimen
Gesten ließen eine plötzliche Eifersucht in Ewa aufkeimen. Ätzendes
Gift und Galle spuckender Neid, der ihren Magen beißend
überzog.
Shia bemerkte ihren Stimmungswandel sofort,
sagte aber nichts, sondern trieb es nur noch mehr auf die Spitze,
indem er seinen Arm um Phoebe legte.
Ewa musterte die junge Frau eingehend. Sie
war dem Aussehen nach kaum älter als Shia, vielleicht Anfang
zwanzig, und wunderschön. Ihr kastanienbraunes glattes Haar trug
sie schulterlang, sie hatte geheimnisvolle dunkelblaue Augen, und
ihre Züge waren ebenmäßig.
Dann wandte sie sich neugierig zu Ewa um.
Eine hässliche tiefe Brandnarbe wurde auf ihrem Hals sichtbar, die
hinter ihrem Ohr hinab bis zu ihrer Schulter führte. Rot schuppig
wand sie sich an dem sonst so makellosen Körper, dass sie jedem
sofort ins Auge fallen musste. Mitleid flammte in Ewa auf und ein
schlechtes Gewissen, weil sie eifersüchtig war.
Als könnte Shia direkt in ihre Seele
blicken, nahm er all ihre Empfindungen wahr und blickte ihr
liebevoll in die Augen.
Phoebe boxte ihn spielerisch in die Seite.
»Shia Keane, du vergisst deine guten Manieren, willst du mich
deiner attraktiven Begleitung nicht vorstellen?«
Shia machte sich von ihr frei, nahm Ewas
Hand und zog sie an sich. »Ewa, das ist Phoebe Edwards, sie ist die
gute Seele unserer Bruderschaft. Sie managt die Finanzen, besorgt
dir alles, was du brauchst, und ist ein absolutes Computergenie. Es
gibt wohl kaum eine Information, die sie nicht
herausfindet.«
Phoebe winkte ab. »Er übertreibt
schamlos!«
»Phoebe, das ist Ewa Butler. Sie ist
Lieutenant beim S.P.D. und mein Glaubensgelöbnis.« Dass sie ein
Mensch war, erwähnte er gar nicht.
Phoebe reichte Ewa die Hand. »Es freut mich
ganz besonders, dich kennenzulernen, Ewa. Shias Glaubensgelöbnis,
darauf warte ich schon ein Jahrhundert«, grinste sie
frech.
Ewa ergriff ihre Hand und spürte die
angenehme Wärme, die von ihr ausging.
»Was kann ich für euch tun?« Phoebe ging
zurück zu ihrem Schreibtisch und ließ sich auf ihren Stuhl
fallen.
»Du musst ein Handy für uns orten. Aragón
ist verschwunden. Kriegst du das hin?«
Phoebe warf ihm einen vernichtenden Blick
zu. »Ist sein Handy denn noch angestellt?«
»Ja, allerdings wissen wir nicht, ob er es
bei sich trägt. Der Ruf geht raus, doch mehr tut sich
nicht.«
Sie blickte besorgt auf. »Das klingt nicht
gut.«
Es dauerte keine drei Sekunden, und ein
blinkendes Signal wurde auf dem Hologrammbildschirm an der
Stirnwand sichtbar.
»Das ist in Laurelhurst, an der äußersten
Spitze zur Union Bay. Hier ist die genaue Position.« Sie legte Shia
den Ausdruck aus dem Laserdrucker vor.
»Das ist ganz in der Nähe, wo wir Dimatros'
Leiche gefunden haben«, gab Ewa zu bedenken. Shia nickte ihr zu und
starrte weiter auf den Bildschirm. »Gib mir das Satellitenbild auf
den Schirm«, wies er Phoebe an, die sofort auf die Tasten
trommelte. Nur wenige Sekunden später zoomte sie auf die genannte
Adresse.
Ein großes Grundstück wurde sichtbar, mit
einem u-förmigen Gebäude in der Mitte. Zur Union Bay gab es eine
Bootsanlegestelle.
»Okay, wir fahren zu Saras Haus, um die
anderen zu informieren. Ich danke dir, Phoebe. Kannst du bitte
überprüfen, wer der Besitzer des Empire ist? Das ist ein
neuer Club in Downtown. Ebenfalls brauche ich den Namen des
Eigentümers vom Grundstück, das du uns gerade gezeigt hast. Wir
benötigen auch noch Ausweise und Kreditkarten mit den Namen Dr.
Channing McArthur und Ewa Butler!«
Phoebe nickte ihm sorgenvoll zu. »Wird
erledigt«, und als sie sich zur Tür wandten, meinte Phoebe: »Hey
Shia, bring mir unsere Lordschaft mit Kopf
wieder!«
Pete Brown nickte den
beiden zu, griff zu seinem Handy und wählte die verschlüsselte
Nummer.
»Sie waren gerade hier. Ich weiß nicht, was
sie wollten, aber es scheint etwas im Gange zu sein. Ja, ich melde
mich, wenn ich Genaueres weiß.« Hastig ließ er sein Handy wieder in
der Hosentasche verschwinden und ging ins Kellergeschoss, um nach
Phoebe zu sehen.
Im Auto war Ewas Wut
verraucht. Sie blickte Shia an, der den Wagen sicher in den
fließenden Verkehr einfädelte. »Was ist mit Phoebe
passiert?«
»Säure«, gab er einsilbig
zurück.
»Aber ich dachte, Vampire heilen ihre
Wunden selbst.«
»Diese nicht. Wir konnten nicht
feststellen, mit welcher Säure sie verletzt wurde, doch es war
nicht viel, und du siehst ja, wie groß der Schaden
ist.«
»War sie mal deine
Freundin?«
Ein kleines Lachen kam tief aus Shias
Brust. »Nein, Ewa«, er warf ihr einen zärtlichen Blick zu und
schüttelte leicht den Kopf, »ich habe deine Eifersucht gespürt,
aber sie ist völlig unbegründet, und sie macht mich sehr
stolz.«
Ewa sah ihn verständnislos an. »Meine
Zweifel machen dich stolz?«, wiederholte sie
fragend.
»Wäre ich dir egal, würdest du nichts für
mich empfinden, hättest du nicht mit Eifersucht auf Phoebe
reagiert. Je eifersüchtiger du bist, umso mehr kann ich mir deiner
Liebe sicher sein.«
»Soso, du glaubst also zu wissen, dass ich
dich liebe?«
Shia wandte den Blick kurz vom
Straßenverkehr ab. »Dessen bin ich mir so sicher, wie man es nur
sein kann.«
Eine Zeitlang schwiegen sie, und Ewas
Gedanken wanderten wieder zu Phoebe.
»Warum arbeitet sie in einem Kellergeschoss
einer Bank, es gibt bestimmt wesentlich schönere Orte – auch ohne
eindringendes Tageslicht.«
»Phoebe arbeitet dort nicht nur, sie lebt
auch dort.«
»In der Bank?«
Shia nickte. »Du hast es richtig erkannt,
Phoebe ist keine Kriegerin des Glaubens, daher muss sie das
Tageslicht meiden, aber sie hat sich uns angeschlossen, nur leidet
sie an starker Anthropophobie.«
»Sie hat Angst vor
Menschen?«
»Ja, seit ihrem Überfall ist sie äußerst
menschenscheu und umgibt sich nur mit Leuten, die sie gut kennt.
Phoebe verlässt ihre Räume nie, und Pete Brown ist ihre einzige
Verbindung zur Außenwelt, auch wenn er ihr gehörig auf die Nerven
geht.«
»Aber er ist ein Mensch!«
Shia nickte abermals. »Ja, er ist über
unsere wahre Spezies nicht informiert. Er dient Phoebe, indem sie
von ihm trinkt, doch er weiß es nicht. Sie lässt ihn im Glauben,
dass sie auf ihn steht, vielleicht tut sie es auch ein wenig. Sie
ist ein wirkliches Finanzgenie, wir verfügen über unermessliche
Ressourcen dank ihrer Arbeit, was unsere Aktivitäten erheblich
erleichtert. Phoebe ist uns trotz ihrer Probleme von ungeheurem
Nutzen, wir können uns wirklich glücklich schätzen, sie in unserer
Mitte zu wissen.«
»Daher kannst du es dir auch leisten, ein
zweihunderttausend Dollar teures Auto zu fahren?«
Shia lächelte wie ein kleiner Junge. »Du
hast dich informiert!«
»Nein, Esposito hat es mir erzählt. Shia,
du solltest vorsichtiger sein, wir müssen besonnener handeln, du
erregst Aufsehen, und das ist riskant«, gab Ewa zu
bedenken.
Er parkte den Wagen in der Garage unter dem
Haus. »Seit über hundert Jahren lebe ich mit der Gefahr, aber das
wird mich nicht davon abhalten, etwas Spaß zu haben.«