Einsamer Spaziergang

 

Kapitel 2

 

Leichter Nieselregen fiel wie Puder auf den Boden und überzog ihn im Nu mit einem feuchten Film. Schwere Wolken hingen am Himmel und drückten auf die Stimmung. Aber was konnte man von einem faden Märztag auch anderes erwarten? Selbst in Paris blieb ein mieser Regentag ein mieser Regentag.
Sara schlenderte, bewaffnet mit einem alten Regenschirm und warmer Kleidung, an der Seine auf der Île de la Cité Richtung Notre-Dame entlang. Seit genau vierzehn Tagen war sie nun schon in Paris, und ihr Weg war immer derselbe. Von ihrer Wohnung in der Rue de Rivoli, zwischen Louvre und Centre Pompidou gelegen, in Richtung Pont Neuf, hinüber auf die Île de la Cité, zur Notre- Dame, und über die Pont L. Philippe wieder zurück.
Dieser immer gleiche Weg gab ihr Sicherheit und Geborgenheit. Dieselbe Geborgenheit, die sie in der fremden Wohnung empfand, die sie seit ihrer Ankunft bewohnte. Obwohl Sara die Räume niemals vorher betreten hatte, spürte sie gleich zu Beginn eine seltsame Vertrautheit, als sie durch die Tür trat – so, als würde jemand schützend die Arme um ihre Schultern legen.
Vielleicht war es auch das Gefühl des Unbekannten, des Verborgenen, das sie hier in Paris genießen konnte. Anders als in Seattle. Dort, wo jeder ihr Gesicht kannte, wo sie Abend für Abend im Scheinwerferlicht auf der Bühne des stadtbekannten Musicaltheaters stand. Nein, hier in Paris musste sie nicht befürchten, beim Einkaufen angesprochen zu werden und um ein Autogramm gebeten. An diesem Ort war sie sicher vor den Menschen, die ihre innere Ruhe störten und vielleicht durchschauten, wer sie in Wirklichkeit war.
 

Vor dem Haupteingang der Notre-Dame saß wie jeden Tag ein Maler unter seinem riesigen Regenschirm. Er hielt den Zeichenblock auf den Knien, die Finger schwarz von dem Kohlestift. Er lächelte leicht, als er Sara in der Ferne erblickte, die langsam auf ihn zuschlenderte. Auch er fand sich hier jeden Tag ein, um die Kirche und ihre Umgebung zu skizzieren.
Sara schenkte ihm ebenfalls ein scheues Lächeln und hielt einen Moment inne, unschlüssig, ihn anzusprechen. Gerne würde sie einen Blick auf seine Zeichnungen werfen, doch im nächsten Augenblick wandte sie sich um und schlenderte weiter.
»Kein guter Tag für einen Spaziergang.« Die Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sara blieb stehen, wieder unschlüssig, ob sie sich umdrehen sollte oder nicht.
Dann drehte sie sich doch um, lächelte freundlich und sagte, den Blick in die Wolken gerichtet: »Nun, zum Malen reicht das Wetter aber auch nicht.« Der Maler schüttelte den Kopf. »Nein, da haben Sie recht. Ich sollte mich auf kleinere Projekte konzentrieren. Möchten Sie mir nicht Modell stehen?«
Saras Augen weiteten sich erschrocken. »Ich meine natürlich nur Ihr Porträt. Nicht weit von hier gibt es ein Bistro, ich lade Sie zu einem Kaffee ein, und als Gegenleistung darf ich Sie malen, was halten Sie davon, Mademoiselle?«
Sara betrachtete sein freundliches Gesicht. Er war jung, Mitte bis Ende zwanzig, er hatte dunkle Haare, braune Augen, einen kleinen Kinnbart, war groß, aber nicht besonders kräftig. Feingliedrige Finger und offene Gesichtszüge, die Sara zum Lächeln brachten. »Ist das Ihre übliche Bezahlung für Ihre Modelle, Monsieur ...?«
»Mein Name ist Philippe«, sagte er und reichte ihr die Hand.
»Enchanté.«
Sie ergriff die hingereichte Hand zögerlich. »Sara«, erwiderte sie seinen Gruß.
»Madame oder Mademoiselle?«
Sie schenkte ihm ein charmantes Lächeln. »Nenn mich einfach Sara.«
»Also Sara, was ist nun mit dem Kaffee? Begleitest du mich, oder willst du dich weiter nass regnen lassen?«
 

Das Bistro war gut besucht, aber sie fanden in der hintersten Ecke noch einen kleinen freien Tisch. Der warme Kaffee roch verführerisch, obwohl Sara kaum daran nippte. Philippe stützte sein Kinn auf seinem Handrücken ab und betrachtete sie eingehend, während er in seiner Tasse rührte.
Sara war für eine Frau relativ groß. Das Auffallendste waren die langen roten Locken, die ihr zartes Gesicht einrahmten. Ihre flaschengrünen Augen leuchteten wie Smaragde. Philippe war kaum in der Lage, sich ihrer Anziehungskraft zu entziehen.
»Du hast einen süßen Akzent. Wo kommst du her? Ich tippe, aus den Staaten«, beantwortete er seine Frage gleich selbst.
»Richtig, ich bin erst seit zwei Wochen in Paris.«
»Und was treibst du so? Sorbonne?«
Sara schüttelte ihre roten Locken. »Nein, ich studiere nicht. Ich mache hier Urlaub. Einfach mal raus und abschalten.«
Philippe zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Ferien im März?«
Er nahm Skizzenblock und Kohlestift zur Hand.
»Ja«, nickte sie, »warum nicht? Und was machst du, wenn du nicht gerade im Regen malst?«
Er warf ihr über den Block hinweg ein charmantes Lächeln zu und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
»Ich studiere Kunstgeschichte und male in meiner Freizeit Porträts, meistens für Touristen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie lange bleibst du in Paris?«
Sara zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht genau. Voraussichtlich zwei Monate.«
»Das sind aber lange Ferien.«
»Nun, es kommt ganz darauf an, wie lange man vorhat zu leben.« Sara nippte wieder an ihrem Kaffee und hielt die wärmende Tasse zwischen ihren Händen.
»Wo lebst du? Amerika ist groß. New York? Washington?«
»Nein, im Nordwesten. Seattle.« Philippe nickte wissend, schaute aber nicht von seinem Zeichenblock auf. »Und wo wohnst du hier? Ich nehme mal an, dass es kein Hotel ist.«
Sara überlegte kurz, bevor sie antwortete. »Nein, ich habe mein Haus getauscht, für zwei Monate. Über das Internet. Ich wohne jetzt in seiner Wohnung und er in meiner.«
»Er? Das heißt, du kennst den Typen gar nicht, der bei dir wohnt?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Und du hast keine Angst, dass etwas passieren kann? Du bist ganz schön mutig.« Philippe redete, ohne Sara anzusehen.
»Warum sollte ich Angst haben? Er ist ein langweiliger Mitarbeiter eines Museums. Er ist auch Amerikaner und arbeitet nur hier in Paris. Er ist für zwei Monate auf Geschäftsreise in Seattle. Außerdem habe ich jemanden, der auf mein Haus aufpasst und nach dem Rechten sieht.«
Nun schaute Philippe doch von seiner Zeichnung auf. »Du willst sagen, du hast ein Haus gegen eine Wohnung eingetauscht?«
Sara lachte laut auf. »Aber nur für zwei Monate. Außerdem ist das Quartier, das ich bezogen habe, sehr schön. Der Besitzer hat einen guten Geschmack. Ich denke, es war eine ausgezeichnete Idee.« Sara gefiel es gar nicht, sich hier verteidigen zu müssen, und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Merde, darauf kommt es ja auch an. Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen. Einer meiner negativen Eigenschaften, immer die Klappe zu weit aufzureißen. Kannst du mir noch einmal verzeihen?« Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und schaute sie mit treuem Blick an.
»Oh Mann«, stöhnte Sara, »obwohl ich diesem Blick kaum widerstehen kann, muss ich jetzt leider los. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.« Bedauern lag in ihren Augen.
»Du weißt, wo ich zu finden bin, Sara.«
Sie nickte. »Salut, Philippe! Und danke für den Kaffee.« Ohne dass er etwas erwidern konnte, war sie auch schon aus dem Bistro verschwunden. Er blieb noch eine Weile sitzen, um das Porträt auf seinem Skizzenblock zu beenden, dann fiel sein Blick auf den Tisch. Sie hatte ihren Kaffee kaum angerührt.
 

Wütend stampfte Sara den Weg zur Wohnung zurück. Sie konnte sich gar nicht erklären, warum sie Philippe so viel über sich erzählt hatte. Er war ein Fremder, und Unbekannten gegenüber war sie immer äußerst misstrauisch. Doch hier hatte ihr Verstand ausgesetzt. Vielleicht lag es daran, dass es Sara guttat, einfache Touristin zu sein und nicht der gefeierte Bühnenstar.
Vielleicht lag es auch an Philippes wunderschönen Augen, seinem verführerischen Lächeln, seiner aufrichtigen Art. Dass er eine ehrliche Haut war, hatte Sara bereits gespürt, als er ihr die Hand reichte. Kein Funken von Hinterhalt oder etwas Verborgenem. Trotzdem hatte sie es für ratsam gehalten, das vertrauliche Gespräch abrupt zu beenden. Sie hatte schon zu viel verraten und wollte sich davor schützen, noch mehr von sich zu erzählen. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und Sara lief mit großen Schritten der Wohnung in der Rue de Rivoli entgegen.
 

Nachdenklich betrachtete Philippe die Zeichnung. Sara war wirklich wunderschön. Ihre hellroten langen Locken rahmten ihr ovales zartes Gesicht ein. Die schmale kleine Nase stand ganz im Widerspruch zu den hohen Wangenknochen und den vollen him-beerroten Lippen. Ihr Teint war hell, strahlend und makellos. Philippe war fasziniert von solcher Schönheit, gerne hätte er mehr von ihr gemalt als nur ihr Gesicht. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger die zarte Linie ihres Halses entlang. Zu schön, um nur gezeichnet zu werden, das war ihm eindeutig klar.