- 5 -

Am nächsten Morgen weckte mich mein iD. Eine Nachricht von Selma blinkte aus dem Display.

„Aufgewacht, Herzchen, Frühstück ist fertig!“, las ich und quälte mich aus dem Bett. Ich hatte traumlos bis zum Morgen durchgeschlafen, beinahe wie in einer dumpfen Bewusstlosigkeit. Was war gestern Abend nur mit uns losgewesen? So schlapp hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Und dabei hatten wir noch nicht einmal was getrunken, das auch nur annähernd mit Alkohol zu tun hatte.

Nachdem ich mich im Bad einigermaßen wiederhergestellt hatte, begab ich mich nach unten und traf in der Küche auf Selma und Dad. Mein Vater saß am Tisch und trank Kaffee, während unsere Haushälterin am Herd hantierte. Der Duft von frischgebackenen Pancakes wehte mir verführerisch um die Nase.

„Guten Morgen“, sagte ich und setzte mich neben meinen Dad.

„Gutem Morgen, mein Herzchen“, flötete Selma und ließ einen Pfannkuchen auf meinen Teller gleiten. „Lass es dir schmecken.“

„Danke.“ Ich goss mir mindestens die halbe Flasche Sirup über den Pfannkuchen und begann genüsslich zu essen.

„Ihr habt gestern aber lange gemacht“, brummte mein Dad.

Ich sah auf und bemerkte, dass sein Gesicht eingefallen und müde wirkte. Auch stachen die OP-Narben an seinem Kopf ungewöhnlich weiß aus seinem kurzen, noch immer dunklen Haar hervor. Ich fragte mich, ob er zu viel arbeitete und zu wenig schlief.

„Wir mussten etwas besprechen fürs College“, entschuldigte ich mich. „Es tut mir leid, falls wir dich gestört haben.“

„Schon gut. Wie geht’s denn mit deiner Bachelor-Arbeit voran?“

„So, lala. Ich habe vor ein paar Tagen neue Inforationen bekommen, die ich noch aufarbeiten muss. Ich will sie unbedingt verwenden.“

„Aha, und was für Informationen sind das?“, fragte Dad. Er interessierte sich immer sehr für mein Studium, und ich wusste, dass er große Freude an Rätseln und Geheimnissen hatte. Es würde ihm gefallen, Teil unserer kleinen Forschungsgruppe zu sein, aber ich konnte ihm nichts von der Handschrift und der Karte erzählen. Schließlich hatte ich die Dokumente geklaut. Okay, ausgeliehen, korrigierte ich mich. Das klang besser, änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich sie mir auf unerlaubtem Wege angeeignet hatte. Ich musste es also für mich behalten. Mr. Dudley würde hoffentlich bis zum Abschluss meiner Arbeit dichthalten, denn es sollte ja eine Überraschung für meinen Vater sein.

„Ach, es ist eine Quelle, die ich übersehen hatte. Nichts wirklich Neues über die verlorene Kolonie.“ Ich trank einen Schluck Kaffee, um nicht weiterreden zu müssen.

„Die Geschichte um Roanoke ist faszinierend und ich bin auf deine Arbeit schon sehr gespannt. Wann, denkst du, werde ich sie lesen können?“

„Äh, wahrscheinlich im Sommer. Dann habe ich die Rohfassung fertig.“ Ich hoffte inständig, dass ich diesen Zeitplan auch einhalten konnte.

„Und was ist mit den Dare-Steinen?“, fragte mein Dad.

„Was soll damit sein?“

„Würdest du sie nicht gerne untersuchen? Ich meine, sie haben doch auch mit dem Thema zu tun. Es ist doch sicherlich interessant, mit eigenen Augen zu sehen, was Eleanor Dare da angeblich vor vierhundert Jahren bei ihrer Flucht aus Roanoke verfasst hat.“

„Ja, natürlich. Aber ich weiß ja nicht mal, wo die Steine lagern.“ Ich aß den letzten Happen Pfannkuchen auf und putzte mir den Mund ab. „Die Behörde zum Schutz von Kulturgütern hält sie unter Verschluss, als ob sie ein Staatsgeheimnis wären. Dabei wurde doch damals in allen Medien proklamiert, die Steine seien eine Fälschung. Ich finde das schon etwas merkwürdig.“

„Da hast du recht. Was ist denn mit den Leuten, die die Steine damals untersucht haben? Kannst du über die nicht was in Erfahrung bringen?“

„Die kann ich nicht mehr befragen, das war 1940, Dad, vor neunzig Jahren! Die sind alle längst tot.“

„Tja, das ist schade. Nun, ich habe da einen Freund am American Museum of National History, der arbeitet eng mit der Behörde zum Schutz von Kulturgütern zusammen und könnte dort einmal nachfragen, was mit den Steinen passiert ist. Was hältst du davon?“

„Du meinst Mr. Dudley?“, fragte ich besorgt.

„Nein, der ist doch an der St. Johns Universität. Es ist jemand anderes, den du nicht kennst. Ich hab so viele Freunde, da verliere ich selbst manchmal den Überblick.“ Mein Dad lachte.

Viele Freunde?, dachte ich misstrauisch. Wie um alles in der Welt hielt er mit ihnen Kontakt, wenn er doch nie sein Zimmer verließ? Über sein iD?

Wie als Bestätigung piepte das intelligent Device meines Vaters, das zwischen dem Frühstücksgeschirr auf dem Tisch lag. Er hatte eine Nachricht bekommen und las sie schnell, bevor er sich mir wieder zuwandte. „Vielleicht findet mein Freund ja raus, wo die Dare-Steine sind und vielleicht darfst du sie mal sehen. Wäre das mit dem Zeitplan deiner Arbeit vereinbar?“

„Aber natürlich! Das wäre großartig!“, rief ich begeistert. „Dafür würde in den Abgabetermin sogar noch verschieben.“

„Nun gut, dann will ich mich mal dahinterklemmen. Ich habe gerade etwas Luft, bevor ich das nächste Heft anfange.“

Ich grinste. „Die Saturnvillage Saga?“

Mein Dad grinste zurück. „In Band hundertdreizehn geht es um eine verbotene Liebe!“ Er zwinkerte mir zu.

Oh Mann, was für ein Schund!, dachte ich und sah zu Selma hinüber, die gerade mit dem Säubern des Herdes fertig war. Mein Blick fiel auf die Anrichte mit der Keksdose. Apropos. Ich stand auf und holte die Dose an den Tisch. Selmas Blick folgte mir stirnrunzelnd. Aber ich hatte nicht vor, wieder heimlich von ihren Keksen zu naschen, sondern wollte meinem Dad den Schriftzug zeigen.

„Sieh mal, was ich entdeckt habe. Auf der Dose steht ‚Olympic Regent Hotel‘! Ist das nicht irre? Das sagst du doch immer im Schlaf.“

Douglas Benchley sah sich mit ernstem Gesicht die Dose an. „Hmmm“, war alles, was er sagte.

Ich wandte mich an Selma „Woher hast du die Dose eigentlich?“

Unsere Haushälterin sah mich mit seltsam verkniffener Miene an, während ihre Hände die orangefarbene Schürze kneteten. „Nun“, sie räusperte sich, „ich weiß es nicht so genau. Das ist lange her. Ich glaube, ich habe sie mal von einem Urlaub mitgebracht.“

„Was für einem Urlaub? Wo war das? Weißt du noch, was die anderen Buchstaben darauf zu bedeuten haben?“ Ich drehte mich wieder zu meinem Vater. „Dad, warst du vielleicht auch dort und kannst dich nur nicht mehr daran erinnern?“

„Tja, …wenn ich das nur wüsste, Jerry.“ Ratlos fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.

Selma sah derweil aus, als überlege sie. „Es könnte in Kalifornien gewesen sein. Oder in England? Ach, Herzchen, ich bin früher so viel gereist, als ich noch jünger war. Dummerweise will mir einfach nicht einfallen, woher dieses Souvenir stammt.“

„Wisst ihr was“, rief ich, „ich schaue jetzt einfach mal nach.“ Ich holte mein iD aus der Tasche und gab die Begriffe ‚Olympic Regent‘ und ‚Hotel‘ in die Suchmaschine ein. Wenige Sekunden später bekam ich eine Liste mit Ergebnissen. Leider war sie sehr kurz, ganze drei Einträge befanden sich im Netz. Das erste war Werbung für ein Restaurant: das ‚Ambassador‘. „Besuchen Sie unser Restaurant!“, hieß es dort. „Im obersten Stockwerk unseres Hauses erwartet Sie gehobene französische Küche mit einem erhabenen Ausblick über die Stadt, der besonders bei Sonnenuntergang sehr zu empfehlen ist. Reservieren Sie einen Tisch gleich über unser E-Mail-Formular und genießen Sie einen Cocktail des Hauses in stilvollem Ambiente!“ Das war alles. Nichts über ein Hotel mit dem Namen Olympic Regent oder wo sich dieses Restaurant befand. Auch der Link zum E-Mail-Formular funktionierte nicht mehr. Wahrscheinlich war die Webseite veraltet und deshalb gelöscht worden.

Der zweite Eintrag war auch nicht ergiebiger. Jemand in einem Forum behauptete, dass das Hotel ‚Prinz Regent‘ am Olympiastadion in Berlin „ne miese Absteige“ sei. Auch hier Fehlanzeige. Selma war bestimmt nicht in Berlin gewesen und mein Dad erst recht nicht.

Der dritte Eintrag war ein Bild, und als ich es öffnete, erschien auf dem Display eine luxuriös ausgestattete Lobby mit einem Empfangstresen, dahinter stand eine blonde Frau in einem förmlichen Kostüm. Ihr Lächeln wirkte wie eingemeißelt.

Das konnte das gesuchte Hotel sein, dachte ich und vergrößerte das Bild. Doch leider gab es keinerlei Anhaltspunkte, wo sich das Gebäude befand.

„Nichts“, sagte ich enttäuscht und schloss die Anwendung.

„Tja, vielleicht ist das olle Ding doch nur vom Flohmarkt“, entgegnete Selma trällernd, nahm meinem Dad die Dose aus der Hand und stellte sie mit entschlossener Geste zurück auf die Anrichte. „So, und jetzt raus aus meiner Küche, ich muss den Tisch abräumen. Husch, husch.“ Sie scheuchte uns in den Flur und schloss schwungvoll die Tür. Das Klappern von Geschirr erklang und das Lied vom Kälbchen auf der Weide.

Ich sah meinen Vater achselzuckend an.

„Es ist zwecklos, Jerry“, sagte er. „Ich kann mich einfach nicht erinnern. Das mit der Dose ist bestimmt nur Zufall. Mach dir nichts draus.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Mein Leben ist nach dem Unfall nicht schlechter, als es vorher war. Hör auf, dir darüber Sorgen zu machen.“

„Aber woher willst du das wissen, wenn du dich nicht erinnern kannst?“, beharrte ich trotzig. Ich verstand nicht, warum mein Dad nichts dafür tat, Licht in die Umstände seines Unfalls zu bringen. Als ob er die Vergangenheit ruhen lassen wollte. Nein, es war, als ob er sie fürchtete und nicht an die Oberfläche kommen lassen wollte. Aber da er mit seinem jetzigen Leben zufrieden schien, musste ich wohl oder übel einsehen, dass dies allein seine Sache war. Und wenn er seine Erinnerung nicht wiederhaben wollte, dann hatte ich das zu akzeptieren.

„Wir sehen uns, Dad“, sagte ich. „Ich werde heute von zu Hause aus arbeiten.“

„Ist gut, Junge. Viel Erfolg bei deiner Arbeit.“

Ich begab mich in mein Zimmer und schloss vorsichtshalber die Tür ab. Keiner in diesem Hause durfte etwas von den Dokumenten erfahren.

Ich hatte gerade die Papiere auf meinem Schreibtisch ausgebreitet, da piepte mein iD. Es war eine von Addys iD automatisch generierte Nachricht, dass sie sich jetzt am College im Gebäude des Geschichtsforums befand. Im Gegenzug sendete mein intelligent Device an ihres, dass ich noch daheim weilte. So wusste jeder von uns, wo sich seine Freunde und Verwandten gerade aufhielten. Ich wollte das iD weglegen, da piepte es erneut und das Display zeigte das Bild von Selma. Was wollte sie denn? Ich öffnete die Kurzmitteilung.

„Der Jäger schießt dir deine Nase ab, wenn du noch einmal unerlaubt von meinen Keksen naschst!“, stand darin. „Aber vielleicht schlitzt er dir auch deinen Bauch auf und holt sie wieder raus! Bussi, deine Selma.“ Irritiert ließ ich das iD sinken. Den Bauch aufschneiden? Selma hatte manchmal schon einen merkwürdigen Humor.

Ich schaltete das Gerät ab, um nicht mehr gestört zu werden, und zog meinen Tablet-Computer heran. Im Speicher suchte ich nach der digitalen Karte, die wir gestern benutzt hatten, und rief sie auf. Der Küstenstrich erschien mit all seinen Details, und genau darum ging es mir. Irgendjemand hatte die Position der geheimnisvollen Siedlung namens Puerta-Villa auf der alten Karte eingetragen. Wenn diese auch nur annähernd genau war, dann müsste ich über einen Vergleich mit der heutigen Karte die Stelle ausfindig machen können. Ich zoomte den Ausschnitt heran. Die Küste Marylands splittete sich in immer mehr Einzelheiten auf. Ich erkannte Sandstrände, Buchten und Flussmündungen auf naturgetreuen Satellitenbildern. Rodriguez Perrez hatte von einer markanten Flussmündung und dichtem Wald gesprochen. Ich betrachtete die gezeichnete Karte. Die Bucht mit dem sternförmigen Symbol der befestigten Siedlung im Landesinnern war halbmondförmig, nichts Besonderes. Die Flussmündung allerdings sah aus, als stecke ein Keil in ihr fest. Eine fast dreieckige, vorgelagerte Insel aus Sediment oder Fels lag genau an der Stelle, wo der Fluss ins Meer strömte, und teilte ihn in zwei Läufe. Ich konnte nur schwer abschätzen, wie groß der Fluss war, denn die Karte von Rodriguez Perrez hatte keinen Maßstab.

Auf dem Satellitenbild suchte ich nach Ähnlichkeiten. Aber es gab Dutzende größere Ströme und Inlets im flachen Marschland von Marylands Küste und Hunderte kleinere Rinnsale. Welcher von ihnen war der von Rodriguez Perrez eingezeichnete Fluss?

Ich kam nicht weiter und gab den Namen Puerta-Villa in die Suchmaschine ein. Nichts. Kein einziger Eintrag. Ich versuchte es mit der englischen Übersetzung von Puerta-Villa, denn Rodriguez Perrez‘ spanische Bezeichnung für die Kolonie hatte vielleicht ein englisches Pendant. Er schrieb ja schließlich auch, dass die Siedler einen englischen Dialekt sprachen. Ich gab Gatesville, USA, ein. Tatsächlich gab es ein Gatesville in North Carolina, das gar nicht mal so weit von Roanoke entfernt an einem kleinen Flüsschen lag. Aber es befand sich viel zu weit weg von Rodriguez Perrez‘ Markierung und der von ihm navigierten Route seiner Schiffe. Das konnte also nicht gemeint sein.

Ich gab einen neuen Namen ein: Porterville, USA. Aber auch hier Sackgasse. Es gab zwar ein Porterville in Kalifornien und eines in Südafrika, aber keines im Herzen von Maryland. Seufzend wechselte ich zurück zur Karte des Küstenabschnitts von Maryland. Es blieb mir also nichts anders übrig, als weiter nach geographischen Ähnlichkeiten zu suchen.

Nach einer Stunde lehnte ich mich entnervt zurück und knetete meine Schläfen. Vom Gestarre auf den kleinen Bildschirm hatte ich einen dicken Kopf bekommen. Verdammt! Es musste diesen Fluss doch geben! Oder war er trockengelegt worden? Ich blickte wieder auf die Karte. Da kam mir eine Idee. Vielleicht ist der Wasserweg schiffbar gemacht und die kleine Insel vor der Mündung weggebaggert worden. Sofort zoomte ich die Küste wieder heran und suchte alle halbmondförmigen Buchten ab. Es war mühselig, aber schließlich fand ich, wonach ich suchte!

Es war eine Bucht umgeben von dichtem Wald, ungefähr vierzig Meilen Luftlinie südlich von Baltimore an der Chesapeake Bay. Ein mittelgroßer Fluss ergoss sich hier ins Meer. Ich las den Namen: „Cale River.“

Alles passte, nur war weit und breit keine Siedlung zu entdecken, nicht mal eine moderne Gemeinde. Stattdessen befand sich dort das „Hudson Sanctuary“, ein Naturschutzgebiet. Ich kratzte mich ratlos am Scheitel und machte anschließend einen Ausdruck des Satellitenbildes, den ich zusammen mit Handschrift und Karte wieder im Schrank verstaute.

Kurz darauf verließ ich das Haus und holte mein Fahrrad aus der Garage. Als ich losradelte, bemerkte ich nebenbei, dass die schwarze Limousine verschwunden war.

Ich fuhr zum Campus und begab mich in die Bibliothek. In der geographischen Abteilung fand ich verschiedene Karten von der Region rund um den Cale River und sah sie mir an. Die Kopie einer Karte von 1860 zeigte eine dreieckige Insel an der Mündung des Flusses. Bingo! Ich hatte die Bucht also eindeutig identifiziert. Zufrieden rollte ich die Karten zusammen und steckte sie zurück. Danach zückte ich mein iD und sah nach, was meine Freunde gerade taten. Es war halb drei. Addy war noch im Geschichtsforum und Ben im Fitnessraum. Wenn Batman in Gotham City ist, dann ist das okay, dachte ich amüsiert. Nächsten Montag hatte Bens Team ein wichtiges Spiel und dafür musste er fit sein.

Mein Magen knurrte und ich verließ die Bibliothek. Da ich wenig Lust hatte, in die Cafeteria auf dem Campus zu gehen und dort womöglich Mike Catrell zu begegnen, fuhr ich mit dem Rad zum Diner an der Auffahrt zum Expressway und bestellte mir ein Chicken-Sandwich und einen Kaffee. Ich zahlte mit dem iD und setzte mich an einen Tisch am Fenster. Da ich erst um vier bei Charles Dudley auftauchen musste, gab ich erneut ‚Olympic Regent Hotel‘ in die Suchmaschine ein, um die Zeit zu überbrücken. Die drei Einträge erschienen, und ich öffnete das Bild am Ende.

Die Worte meines Vaters kamen mir in den Sinn, während ich das Foto betrachtete: ‚Jerry! Nein! Nicht die Rutsche runterrutschen! Geh da weg. Ich muss zurück zum Hotel. Ich muss ihn finden! Das Olympic Regent. Dort ist es … dort ist es!

Es ließ mich einfach nicht los. Wo war mein Dad vor dem Unfall gewesen? Und was war dort geschehen? Das mit der Keksdose konnte kein Zufall sein. Selma und Dad waren an demselben Ort gewesen, im Olympic Regent Hotel! Davon war ich mittlerweile felsenfest überzeugt.

Ich vergrößerte das Bild, so weit die Auflösung es zuließ, und ergründete jeden Quadrat-Zoll der Aufnahme. Die pompös vergoldete Einrichtung der abgebildeten Lobby, den Teppich, die Kübelpflanzen, den Tresen der Rezeption, die Wand dahinter und die Dame im Kostüm. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden und ihr starrer Blick hypnotisierte mich regelrecht. Die Frau trug ein Namensschildchen am Revers, doch das war zu klein, um es lesen zu können. Frustriert biss ich mir auf die Lippe. Irgendwo musste es doch Informationen über das Hotel geben, einen Eintrag im Hotelbranchenregister, alte Reisekataloge … irgendetwas!

Ich gab den Namen in die Suchmaske eines weltweiten Reiseveranstalters ein. Wie erwartet konnte man nirgendwo einen Aufenthalt in einem Olympic Regent Hotel buchen. Ich suchte die Nummer des amerikanischen Hotel-Verbandes heraus und wählte sie.

„American Hotel & Lodging Association, Joan Kelly. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine Frau am anderen Ende. Ich hatte den Modus „normale Telefonie“ gewählt und so konnte ich den anderen Teilnehmer nur hören und nicht sehen, denn ich wollte nicht, dass jemand das Gespräch mithörte.

„Äh, ja, guten Tag“, sagte ich, „mein Name ist Jerry Benchley. Ist es möglich, zu erfahren, ob ein bestimmtes Hotel bei Ihnen registriert ist oder war?“

„Natürlich. Um welches Hotel geht es denn?“

„Das Olympic Regent.“

„In welchem Bundesstaat und welcher Stadt?“

„Das weiß ich leider nicht. Können Sie nicht staatenübergreifend nachschauen?“ Ich hörte ein Seufzen am anderen Ende.

„Okay, aber nur, weil Sie so nett klingen. Warten Sie bitte.“ Die Melodie einer Warteschleife ertönte. Es war ein Ausschnitt aus Carmina Burana. Ich summte leise mit. Als der Loop zum dritten Mal startete, verlor ich langsam die Geduld und sah auf die Uhr. Kurz nach vier! Ich musste schnellstens zur St. Johns Universität und das Ergebnis der Datierung abholen. Das Telefonat konnte warten. Ich wollte gerade auflegen, da war Mrs. Kelly wieder am Apparat.

„Hören Sie, Mr. Benchley?“

„Ja?“

„Es gibt kein Olympic Regent in den Staaten, noch war jemals ein Hotel dieses Namens hier registriert.“

Obwohl ich es bereits geahnt hatte, war ich enttäuscht. „Könnte es sein, dass es nicht in Ihrem Register steht, aber trotzdem in Betrieb ist, sozusagen schwarz?“

„Alle Hotels, Lodges und ähnliche Unterkünfte müssen bei uns angemeldet sein, das ist Vorschrift. Sicherlich gibt es immer wieder schwarze Schafe, aber unsere Kontrollen sind sehr scharf. Sind Sie sicher, dass es ein Hotel in den USA ist?“

„Nein, bin ich nicht“, erwiderte ich matt, „aber haben Sie vielen Dank für Ihre Mühen. Auf Wiederhören.“

„Moment noch …“

Ich hob das iD wieder an mein Ohr. „Ja, bitte?“

„In einer Datei habe ich einen Verweis gefunden. Ein Restaurant namens ‚Ambassador‘. Es war mit den Initialen O.R.H. getaggt. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.“

Ich wurde hellhörig. Die Ambassador-Werbung hatte ich doch im Netz gesehen. „Und wo befindet sich dieses Restaurant? Ich welcher Stadt ist es?“, fragte ich und spürte, wie die Aufregung mich packte.

„Das steht hier leider nicht, aber ich habe ein Archivbild aus einem Katalog, der leider nicht mehr existiert. Soll ich es Ihnen zuschicken?“

„Gerne.“

„Schon geschehen, es müsste in Ihrem Postfach sein.“

„Vielen Dank, Mrs. Kelly.“

„Gern geschehen. Einen angenehmen Tag noch.“

„Das wünsche ich Ihnen auch.“ Hastig legte ich auf und öffnete das Bild. Es zeigte eine große Terrasse mit mehreren elegant eingedeckten Tischen und silbernen Kerzenleuchtern. Auf den bordeauxfarbenen Servietten waren goldene, ineinander verschlungene Initialen eingestickt: O. R. H.

Das kann nur Olympic Regent Hotel heißen, dachte ich und betrachtete den Rest des Bildes. Hinter einer gläsernen Balustrade öffnete sich der Blick auf das Panorama einer Stadt, deren Dächer rot im Licht des Sonnenuntergangs glommen. Im Zentrum strebte ein hoher, eckiger Turm in den glühenden Himmel, wahrscheinlich ein Hochhaus. Es überragte die anderen Gebäude um mehr als die Hälfte.

Welche Stadt hatte eine solche Skyline? Sie kam mir nicht bekannt vor.

Ich lenkte meine Betrachtung auf die Personengruppe, die an der Balustrade in der Mitte des Bildes stand und andächtig dem glosenden Feuerball am Horizont zugewandt war. Sie waren chic und teuer gekleidet. Eine feierliche Gesellschaft. Oder nur die ganz „normalen“ Gäste des Restaurants? Leider konnte ich nur ihre Rückseiten sehen. Dafür bemerkte ich am rechten Bildrand zwei weitere Personen, eine hochgewachsene, schlanke und eine kleine pummelige. Genauer gesagt, spiegelten sie sich in den zur Terrasse hin geöffneten, bodentiefen Fenstern. Wahrscheinlich die Kellner, die darauf warteten, Bestellungen aufzunehmen.

Ich vergrößerte den Ausschnitt und meine Hand begann plötzlich zu zittern. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich und meine Kinnlade herunterklappte. Entweder, das alles war ein Irrtum, oder unsere Haushälterin hatte mich heute Morgen eiskalt angelogen. Auf dem Bild war eindeutig Selma zu erkennen … und die strenge, blonde Frau von dem Foto mit der Hotellobby!

Fassungslos starrte ich auf das Display. Erst nach einer ganzen Weile, war ich in der Lage, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Schnell speicherte ich das Bild ab, um es später Selma zu zeigen. Vielleicht war es so, wie sie sagte, und sie konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern.

Als ich mich vor dem Diner auf mein Fahrrad schwang, spürte ich, dass ich einen ungewollten Begleiter hatte. Es war ein dunkler Schatten des Misstrauens, der mir folgte. Misstrauen in unsere liebenswerte Selma, unsere Haushälterin und Kinderfrau. Selma, die mich als Kind auf dem Schoß geschaukelt und mir Geschichten erzählt hatte.

Erschrocken musste ich feststellen, wie wenig ich über sie wusste. Seit zwei Jahrzehnten kümmerte sie sich um unseren Haushalt, kochte für uns und pflegte den Garten. Aber wer war diese Selma wirklich? Was mochte sie? Dass sie Dahlien liebte, das wusste ich, aber was war ihre Lieblingsspeise, was sah sie im Fernsehen? Sah sie überhaupt fern? Ich war noch nie in ihrer Wohnung gewesen. Wie konnte es sein, dass man so lange mit einer Person zusammenlebte und sie doch so wenig kannte?

Mit diesen düsteren Gedanken fuhr ich durch die Dämmerung zur St. Johns Universität und erreichte das Gebäude der Geowissenschaften um 16.45 Uhr. Fünf Minuten später klopfte ich an das Büro von Mr. Dudley.

„Nanu, Junge, du bist ja ganz außer Atem!“, empfing mich der alte Scientific Assistant.

„Hallo, Mr. Dudley. Entschuldigen Sie die Verspätung, ich bin mit dem Fahrrad gekommen.“

Die buschigen weißen Brauen hoben sich. „Ah, mit dem guten alten Drahtesel! Es ist eine Schande, dass es sie kaum noch gibt. Die Leute sind zu bequem geworden und fahren nur noch elektrisch durch die Gegend. Deshalb ist auch die Hälfte der Menschheit verfettet! Es ist lobenswert, dass wenigstens du noch mit eigener Muskelkraft unterwegs bist, Junge. Ich selbst habe auch so ein Strampeldings zu Hause stehen und fahre abends eine halbe Stunde darauf. Das hält fit! Aber nun komm herein. Du willst dir bestimmt keinen Vortrag über die Geschichte des Zweirades anhören, stimmt’s? Du bist gespannt auf das Ergebnis.“

„Und wie!“, sagte ich und betrat das kleine Büro, dessen Papier-Felsen seit gestern noch weiter in die Höhe gewachsen zu sein schienen. „Was ist bei der Datierung herausgekommen?“

Mr. Dudley holte einen gefalteten Briefumschlag aus seiner Hosentasche und drückte ihn mir in die Hand. Andächtig schloss ich meine Finger darum. Aber nicht nur wegen der für mich wichtigen Zahlen darin, sondern auch, weil ich so etwas wie einen Papierumschlag schon lange nicht mehr gesehen hatte. Briefe aus Papier waren mit Inkrafttreten des Paperstop-Gesetzes abgeschafft worden. Die Post transportierte seitdem nur noch Pakete und elektronische Einschreiben. Wer noch eine alte Briefmarkensammlung auf Opas Dachboden fand, konnte sich glücklich schätzen, denn die kleinen Postwertzeichen waren heute ein Vermögen wert.

Aufgeregt wollte ich den Umschlag öffnen, doch Mr. Dudley hielt mich davon ab.

„Sieh bitte erst zu Hause nach. Die Messung geschah heimlich und wurde vom Computer nicht aufgezeichnet. Sie ist sozusagen am digitalen Gehirn vorbeigelaufen. Ich könnte vom Dekan mächtig Ärger dafür bekommen, deshalb die Geheimniskrämerei mit dem Umschlag.“

„Verstehe“, flüsterte ich. „Trotzdem vielen Dank nochmals.“

„Ist gut, Söhnchen. Schreib eine gute Arbeit, damit tust du deinem Dad und mir einen Gefallen.“ Mr. Dudley lachte und tätschelte meinen Unterarm. „Mach‘s gut und grüß Douglas von mir.“

Ich steckte den Briefumschlag in meinen Rucksack und verließ rasch das Gebäude. Mir blieben noch zwanzig Minuten, um rechtzeitig zum Treffen mit Ben und Addy zu kommen, also trat ich ordentlich in die Pedale.

Am spärlich beleuchteten Campus des Queens Colleges waren kaum noch Leute unterwegs. Ich konnte also mit dem Fahrrad über die Fußwege abkürzen, ohne aufpassen zu müssen, dass ich jemanden über den Haufen fuhr. Eilig schoss ich um die nächste Ecke und musste hart bremsen. Quietschend kam mein Gefährt zum Stehen. Genau vor Mike Catrell und seiner Gang.

Shit! An die Typen hatte ich in meiner Hast gar nicht mehr gedacht.

Ich setzte ein unschuldiges Gesicht auf. „‘Nabend, Jungs! Das war aber knapp! Tut mir leid, ich hab‘s eilig. Bye.“ Ich machte Anstalten weiterzufahren, doch Catrells Pranke legte sich auf den Lenker meines Rades und hinderte mich daran.

„Du bleibst schön hier, Spacko! Ich hab was mit dir zu bequatschen!“, knurrte der Fleischberg.

Etwas bequatschen, dachte ich spöttisch. So nannte Catrell das also. Ich sah mich hilfesuchend um und begann zu schwitzen. Weit und breit war niemand zu sehen. Shit, shit, shit! Die Suppe musste ich jetzt wohl alleine auslöffeln. Unwillkürlich duckte ich mich, als die Pranke meinen Kragen packte und mich vom Fahrrad zerrte, das scheppernd umfiel.

Bereits im nächsten Augenblick lag ich auf der Erde, umringt von hämisch johlenden Schatten. Sollte ich um Gnade winseln?

Entschlossen biss ich die Zähne aufeinander. Nein, jetzt noch nicht! Nicht, bevor ich wusste, was sie mit mir vorhatten. Ein wenig Rückgrat besaß selbst ich.

Instinktiv rollte ich mich zu einer Kugel zusammen. Das war weise gewesen, denn schon traf mich der erste Fußtritt in die Seite. Ich unterdrückte einen Schrei. Der Tritt hatte mich mehr überrascht als mir wehgetan

„Du verdammter Streber!“, zischte Catrell. „Dir und deiner Tussi werde ich es zeigen!“ Der nächste Tritt landete in meinem Hintern.

Der Schmerz zog sich bis in meine Eingeweide. Schützend warf ich meine Hände über den Kopf und machte mich auf die nächsten Schmerzen gefasst. Die kamen in Form eines Nierentrittes. Angestrengt stieß ich Luft aus. Nein, ich würde auch jetzt noch nicht klein beigeben. Noch hielt ich es aus.

„Der kleine Pisser schreit ja gar nicht“, bemerkte einer der Mistkerle höhnisch.

„Los, Mike, verpass ihm mal so richtig einen! Ich will ihn jammern hören“, rief ein anderer.

Und schon bohrte sich eine weitere Schuhspitze in mein Becken. Zum Glück war mein Rücken von meinem Rucksack geschützt. Da konnten sie reintreten, so viel sie wollten, aber wenn sie anfingen, meinen Kopf zu malträtieren, dann würde ich aufgeben. Ganz bestimmt. Doch vorher nicht! Ich kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an.

„Du kleiner Hosenscheißer!“, hörte ich Catrell über mir fauchen und spürte, wie er an meinem Rucksack riss. „Gib mir das verdammte Ding! Na los!“ Er zog so lange an den Riemen, bis sie sich lösten, und er meinen Rucksack in der Hand hielt.

„Nein!“, schrie ich. „Gib mir meinen Rucksack zurück!“ Ich wollte aufspringen, doch ein grober Stoß gegen meine Brust brachte mich wieder zu Fall.

„Ich erteile dir jetzt eine Lehre, Benchley! Und damit meine ich nicht die Prügel, die hattest du sowieso verdient. Ich nehme mir jetzt ein kleines Andenken an dich mit. Und wenn du es je wieder wagst, mich auch nur schief anzusehen, dann nehme ich mir noch ganz andere Dinge von dir. Deine kleine Kuhfreundin zum Beispiel!“

„Nein, du widerliches Schwein!“, schrie ich, sprang auf und wollte Catrell angreifen, doch zwei seiner Gorillas packten mich.

Verzweifelt schlug und keilte ich in alle Richtungen aus. Ich wusste nicht, was schlimmer war: Dass der Mistkerl gedroht hatte, Addy etwas anzutun, oder dass er meinen Rucksack hatte. Im Rucksack war der Umschlag mit dem Ergebnis! Ich musste ihn wiederhaben. Doch stahlharte Hände hielten mich fest und es schien ihnen nichts auszumachen, dass ich mich mit all meiner Kraft gegen sie stemmte.

Catrell betrachtete mich derweil aus einem gewissen Abstand und lachte abfällig. „Du bist jämmerlich, Benchley. Dein Freund Ben hat wenigstens noch Muskeln, aber du bist ein kompletter Schlappschwanz!“ Er wandte sich seinen Jungs zu. „Kommt, wir hauen ab.“ Mit lässiger Geste warf er sich meinen Rucksack über die Schulter und stiefelte davon, aber nicht ohne vorher meinem umgekippten Rad noch einen heftigen Tritt zu verpassen. Ich hörte, wie eine Speiche brach.

„Du Arschloch!“, brüllte ich ihm hinterher.„Gib mir meinen Rucksack, du verdammter Wichser!“

Aber Catrell und seine Kumpels machten sich nichts aus meinen Verwünschungen und verschwanden im Dunkel des Collegegeländes.

„Scheiße!“ Wütend schlug ich in die Luft. „Verdammter Dreck!“ Mir war zum Heulen zumute. Warum war ich nur ein solcher Schwächling? Ich hätte mich besser verteidigen müssen, dann hätte ich meinen Rucksack jetzt noch.

Mit schmerzendem Hintern hob ich mein verbeultes Fahrrad auf und hörte erst jetzt, dass mein iD klingelte. Zumindest hatte ich das Ding noch. Catrell hätte es außerdem nicht viel genutzt, es mir zu stehlen. Die Geräte wurden personalisiert von der Behörde ausgegeben und nur derjenige, auf den es eingetragen war, konnte damit etwas anfangen. Catrell hätte mir allenfalls Schwierigkeiten bereiten können, indem er es zerstört hätte. Dann hätte ich auf dem Amt umständlich erklären müssen, wie es dazu gekommen ist, bevor ich mit viel Bürokratie ein neues ausgehändigt bekommen hätte.

Ich drückte auf den Empfangsbutton und auf dem kleinen Display erschien Addy.

„Mensch, Jerry, wo bleibst du? Wir warten schon fast zwanzig Minuten!“

„Es tut mir leid, aber ich bin aufgehalten worden. Catrell und seine Hilfssheriffs haben mir aufgelauert und ganz schön einen verpasst“, stöhnte ich.

„Was? Catrell? So ein Mist! Bist du verletzt?“, fragte Addy mit besorgter Miene.

„Ich weiß nicht. Aber meine Hüfte tut scheißweh!“

„Bleib, wo du bist, Jerry, wir kommen!“

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, hatte Addy schon aufgelegt und der Bildschirm meines iD wurde dunkel. Ich trat probeweise von einem Bein aufs andere und ein jäher Schmerz schoss von meinem Hintern in meinen Rücken. Ein leises Stöhnen entfuhr mir. Das wird ein hübsches Hämatom am Arsch geben, dachte ich und stützte mich auf mein Fahrrad Das hatte eine Acht und zwei geborstene Speichen am Hinterrad, nichts, was ich nicht wieder hinbekommen würde.

Wenige Minuten später kamen Ben und Addy herbeigeeilt. Ihre iDs hatten sie zu meiner Position geführt. Manchmal waren die Dinger zu was nütze.

Besorgt legte mir Addy eine Hand auf die Wange, und da war es wieder, das Gefühl, als schwebte ich. Für einen Moment vergaß ich meine Pein.

„Was haben sie gemacht?“, wollte Addy wissen. In ihren Augen leuchtete echtes Mitgefühl und noch etwas anderes. Zuneigung? Oder gar Liebe?

Ich wagte es kaum zu hoffen und antwortete: „Sie haben mich zu Boden geworfen und getreten.“ Ein wenig übertrieben verzog ich das Gesicht und es verfehlte nicht seine Wirkung.

„Oh, du Armer!“, hauchte Addy mitfühlend. „Und das alles wegen mir!“

Ich bemerkte, wie Ben sie verwundert ansah. Wusste er tatsächlich nichts von der gestrigen Szene in der Mensa und von Addys heldenhafter Rettung? Hatte sie es tatsächlich für sich behalten? Mein Herz schlug schneller. Wenn sie vor Ben ein Geheimnis hatte, dann bedeutete das …

„Du kommst jetzt erstmal mit zu mir“, sagte Addy und ließ von meiner Wange ab. „Meine Mitbewohnerin ist nicht da. Wir können dich verarzten und in Ruhe das Ergebnis der Altersdatierung besprechen.“

Das Ergebnis! Mit einem Mal fühlte ich mich schlecht. Die beiden wussten ja noch gar nicht, dass ich es nicht mehr hatte. Ich sagte erst mal nichts und ließ mich von Addy am Arm stützen, während Ben mein Fahrrad schob. Gemeinsam verließen wir den Campus.

Als wir in Addys kleinem Zweibettzimmer im Erdgeschoss des Studentenwohnheimes ankamen, drückte sie mich aufs Bett und verschwand im Bad. Mit einer Tube Salbe kam sie zurück.

„Das kühlt die Prellungen“, sagte sie und sah mich auffordernd an.

Was? Wollte sie jetzt, dass ich mich vor ihr und Ben auszog? Röte schoss mir ins Gesicht. Peinlich berührt schüttelte ich den Kopf. „Danke, es geht schon.“

Addys tadelnder Blick lastete wie ein Bleigeweicht auf mir. Ich hob beide Hände. „Schon gut, falls es dich beruhigt, dann nehme ich die Salbe mit nach Hause und reib die Stellen dort damit ein, Okay?“

„Okay“, brummte sie.

War das Enttäuschung, die da mitschwang? Ich frohlockte.

„So, genug herumgedoktert!“, warf Ben brüsk ein. „Kann mir endlich mal einer verraten, warum Catrell und seine Jungs dir aufgelauert haben, Jerry? Ihr verschweigt mir doch etwas.“

Mein Blick suchte den von Addy, die den ihren verlegen senkte. Ihre Finger im Schoß verhakten sich ineinander, als sie begann, Ben die Geschichte von dem Zwischenfall in der Mensa zu erzählen.

Du hast Catrells Familienjuwelen demoliert?“, fragte er schließlich überrascht und sah mich an. „Respekt!“

Jetzt war ich es, der verlegen zu Boden sah. Ich nickte, obwohl ich wusste, dass es eine Lüge war. Addy hatte Ben eine sehr schmeichelhafte Version aufgetischt, in der ich als ihr Ehrenretter auftrat. Dafür liebte ich sie abgöttisch, fühlte mich aber mies, weil wir Ben belogen hatten. Dennoch bewies seine Ahnungslosigkeit, dass es anscheinend keine richtigen Zeugen für den Vorfall gab, denn sonst hätte die echte Story schon längst die Runde gemacht. Und aus verständlichen Gründen hielt Catrell die Schnauze. Er wollte ganz bestimmt nicht, dass herauskam, dass eine Frau ihn auf die Matte geschickt hatte.

„Das ist ja ’n Ding. Jerry, aus dir wird noch mal was!“ Ben klopfte mir auf die Schulter. „Und Catrell sinnt jetzt auf Rache, das ist klar. Mann, schade, dass ich nicht dabei war. Der hätte was erleben können!“ Er ließ eine Faust in seine offene Handfläche klatschen.

„Ach, ihr Männer! Müsst ihr euch immer schlagen? Das nervt!“, sagte Addy und blinzelte mir im Verborgenen zu. Dann wechselte sie das Thema. „Jerry, jetzt sag uns das Ergebnis der Datierung. Ich bin schon den ganzen Tag gespannt darauf!“

Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Ich weiß es nicht.“

„Was?“, rief Ben entgeistert aus. „Ich denke, du warst bei Mr. Dudley.“

„Ja, da war ich auch, aber er hat es mir nicht als Datei auf mein iD übermittelt, sondern in einem Briefumschlag übergeben. Ich sollte erst zu Hause reinschauen, da die Umstände der Messung so heikel waren und er nicht damit in Verbindung gebracht werden will.“

„Und wo ist der Umschlag?“, wollte Addy wissen.

Ich ließ den Kopf hängen. „In meinem Rucksack. Und den hat Catrell.“

„So eine Scheiße!“ Ben schlug mit der Faust aufs Bett. „Das kann doch nicht wahr sein!“

„Und was machen wir jetzt?“ Addy sah mich fragend an.

„Nun, ich könnte Mr. Dudley anrufen“, entgegnete ich. „Auch wenn es keine Datei gibt, hat er die Messdaten doch ausgewertet und kann sie mir vielleicht so sagen.“

„Worauf wartest du dann noch? Ruf ihn an!“, drängte Ben.

Ich holte mein iD hervor und wählte Dudleys Nummer. Es klingelte fünf Mal, dann ging eine Mailbox dran, die verkündete, dass Charles Dudley zurzeit nicht gestört werden wolle und man eine Nachricht hinterlassen solle.

„Nicht erreichbar“, sagte ich matt und legte auf. „Aber ich werde ihn gleich morgen früh in seinem Büro aufsuchen. Bis dahin müssen wir uns leider noch gedulden.“

Enttäuscht blickten Addy und Ben mich an.

„Ich hätte da aber noch eine andere Neuigkeit“, sagte ich und entließ ein zaghaftes Lächeln. „Als kleinen Trost sozusagen.“ Ich sah, wie die Enttäuschung meiner Freunde sich in erwartungsvolle Neugier wandelte.

„Ich habe herausgefunden“, sagte ich, „wo die Siedlung Puerta-Villa liegt – oder besser, gelegen hat. Zumindest habe ich die Stelle von Rodriguez Perrez‘ Karte auf ein Satellitenbild übertragen können.“

„Und, wo ist es?“, fragten beide gleichzeitig.

„An einem Küstenstrich in Maryland, keine vierzig Meilen südlich von Baltimore. Leider ist die Gegend vollkommen unbewohnt. Aber der Flusslauf stimmt zu 95 % mit dem auf der Karte überein. Es ist der Cale River. Ein Naturschutzgebiet befindet sich an seiner Mündung.“

„Vielleicht finden wir dort ein paar Hinweise auf eine ehemalige Siedlung. Das wäre eine Sensation! Eine englische Siedlung, die älter ist, als Plymouth und Jamestown! Und wir sind die einzigen, die wissen, wo man danach suchen muss. Wann fahren wir hin?“ Addy war aufgesprungen und klatschte in die Hände. Ihre Wangen leuchteten vor Unternehmungslust.

Ben und ich zögerten.

„Wir wissen noch immer nicht, ob die Dokumente wirklich echt sind. Wir könnten einer Fälschung aufsitzen“, bemerkte Ben nüchtern.

„Aber morgen wissen wir es doch. Außerdem finde ich die ganze Sache so aufregend, dass es mir beinahe egal ist, ob sie echt oder falsch sind. Ich hab richtig Lust auf eine Expedition! Seid ihr dabei? Ich fahre sonst allein.“

Ben schürzte die Lippen. „Ich kann hier nicht vor Freitagabend weg. Da ist ein wichtiges Training.“

„Und wie sieht es bei dir aus, Jerry?“, fragte Addy. „Ein kleiner Trip in die Natur übers Wochenende?“,

„Müsste gehen“, entgegnete ich.

„Super!“, rief Addy begeistert aus. „Das wird bestimmt spaßig und nebenbei tun wir noch was für unser Studium. Besser geht’s nicht! Wir nehmen Zelt und Schlafsäcke mit und ein Metallsuchgerät. Ich werde gleich beim Fakultätswart anrufen, dass er eins für uns reserviert. Was brauchen wir noch?“ Sie zückte ihr iD, um die nötigten Ausrüstungsgegenstände zu notieren.

„GPS, Spitzhacke und Spaten“, fügte Ben der Liste hinzu. Der Funke war nun auch bei ihm übergesprungen.

Nur ich wusste noch nicht so recht, ob ich die Idee einer so kurzentschlossenen Expedition gut fand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir mehr Planungszeit benötigten. Außerdem beschäftigte mich die Sache mit Selma. Ich wollte sie so schnell wie möglich auf die Fotos ansprechen. Andererseits konnte es nicht schaden, mal für ein paar Tage hier rauszukommen. Eine kleine Landpartie mit Freunden war doch eine schöne Abwechslung.

Ich wischte meine Zweifel beiseite und stieg voll mit in die Planung ein. „Das feine Werkzeug können wir hierlassen, denn dies wird keine offizielle Ausgrabung. Und Leute … sollte tatsächlich etwas an diesem Puerta-Villa dran sein, dann gehen wir in die Geschichte ein!“ Ich grinste und hob eine Hand.

„Ja, Mann!“ Jubelnd gaben mir Ben und Addy High five.