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Ich schoss den Utopia Parkway entlang. Es war schon dunkel und ich war spät dran. Meine Freunde erwarteten mich bestimmt schon. Laut fluchend wich ich einem einbiegenden Auto aus, fing mein Rad wieder und trat noch heftiger in die Pedale.
Ein Fahrradfahrer und dann noch auf den Straßen von Queens, New York City, das war etwas Besonderes. Nicht, dass die Autofahrer deswegen auf mich Rücksicht nehmen würden, aber einen neugierigen Blick erntete ich immer, wenn ich mit meinem Gefährt unterwegs war.
Ich nahm eine Abkürzung durch eine schlecht beleuchtete Gasse voller Müll und kam wenig später auf der vielbefahrenen Parallelstrecke zum Expressway raus. Ich war in Queens aufgewachsen und kannte in diesem Stadtteil jede Straße. Hinter mir hupte ein Auto, als ich abbog und unter dem Expressway durchfuhr. Das Rauschen des Verkehrs oben auf der Brücke hörte sich an wie Meeresbrandung.
Zu meiner Rechten kamen die Gebäude des Queens College in Sicht. Hier studierte ich amerikanische Geschichte zusammen mit meinen beiden Freunden Ben und Addy. Wir hatten uns zu einem Treffen im „The Fridge“ am Kissena Boulevard verabredet. Die Studentenkneipe hieß so, weil das Haus aussah wie ein gigantischer Kühlschrank. Es war mehr hoch als breit und hatte eine weißglänzende Fassade ohne Fenster. Nur unten im Erdgeschoss befand sich eine einzige Tür, über der die blaue Neonreklame mit dem Namen der Kneipe blinkte.
Ich stellte mein Fahrrad an einen Laternenpfahl und schloss es mit einer Kette und einem altmodischen Vorhängeschloss an. Dann nahm ich den Helm mit dem Plexiglasvisier vom Kopf, klemmte ihn mir unter den Arm und betrat mit wachsender Vorfreude das „Fridge“. Ich hatte meinen Freunden etwas Aufregendes zu erzählen.
Grünliches Licht empfing mich und schwatzende Studenten aus allen Fakultäten. Die Kneipe war beliebt und bestand aus einem langgestreckten Raum mit einer Glasfront als Rückwand, durch die man hinaus auf den Patio blicken konnte. Auf der linken Seite thronte die wuchtige, mit grünen Diodenleisten beleuchtete Theke, hinter der zwei flache Fernsehbildschirme in die Wand eingelassen waren. Meistens wurden darauf Sportereignisse oder Musikvideos gezeigt. Im Moment war Präsidentin Bush bei einer offiziellen Rede zu sehen. Es war Wahlkampf.
Ich sah mich in dem gutbesuchten Lokal nach meinen Freunden um, aber sie entdeckten mich zuerst.
„Jerry! Hier sind wir! Huhuuu!“, hörte ich Ben rufen und sah ihn an einem kleinen Tisch in einer Nische an der Wand sitzen. Er winkte. Ich warf ihm ein Grinsen zu und bahnte mir den Weg durch die Gäste. Dabei ließ ich Addy, die neben Ben saß, nicht aus den Augen. Auch wenn sie heute nur einen schlichten, blauen Pulli und einen Pferdeschwanz trug, sah sie für mich umwerfend aus.
„Sorry, dass ich zu spät bin“, sagte ich, als ich bei ihnen ankam, und setzte mich.
„Was ist denn das? Etwa Schweiß?“, fragte Addy und fuhr mit dem Finger über meine Stirn. Ihre Berührung zu spüren, war unangenehm und aufregend zugleich, und ich musste mir Mühe geben, nicht rot zu werden.
„Bist du etwa mit deinem vorsintflutlichen Gefährt da, du Teufelskerl?“, fragte Ben und grinste. „Willst dich wohl umbringen.“
„Ach, was“, wiegelte ich ab. „Ich hab ja den Helm.“ Ich klopfte auf die Hartschale neben mir auf dem Stuhl.
„Na, sofern das mal hilft, wenn dich ‘n Pickup überrollt!“
„Jerry will halt fit bleiben“, nahm Addy mich in Schutz und lächelte mich an. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit.
„Ich glaube, dafür gibt es weniger gefährliche Übungen“, erwiderte Ben lachend.
„Kann ja nicht jeder so eine Sportskanone sein, wie du es bist“, neckte Addy und warf auch Ben ein Lächeln zu. Mein warmes Gefühl verwandelte sich in lauwarme Zweifel. War da doch etwas zwischen den beiden?
Benjamin Greenstein war mein bester Freund. Wir kannten uns seit fünf Jahren. Hatten uns aber nicht etwa auf dem College kennengelernt, sondern ein Jahr zuvor bei einer Occupy-Veranstaltung in Manhattan auf der Ninth Avenue vor der Google-Zentrale. Sein Zelt stand neben meinem, während wir gegen die Fusion der US National Bank mit Google demonstrierten. Das Informationsimperium wurde immer mächtiger und drängte mit aller Macht auf den Finanzsektor. Wir als aufgeklärte Kinder von Eltern, denen das Misstrauen gegen die sozialen Netzwerke und deren Handel mit Informationen nie abhandengekommen war, protestierten gegen diese Verbindung von Geld und der Transparenz des Bürgers. Leider waren unsere Bemühungen umsonst gewesen. Heute gab es die Google-Bank und die Facebook-Bank. Tja, was soll man dazu sagen? Aber zurück zu Ben. Wir hatten festgestellt, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten und dass Ben, der ein Jahr älter war als ich, auch Geschichte studieren wollte. Wir schrieben uns zusammen am Queens College ein und begannen unsere Studentenzeit. Schon im ersten Semester stellte Ben sich als wahres Baseballtalent heraus und wurde in die Collegemannschaft aufgenommen. Er war der Frauenschwarm schlechthin. Blond und blauäugig, gut durchtrainiert und eloquent. Er wusste, immer, was Frauen hören wollten, war witzig und geistreich. Das genaue Gegenteil von mir, dachte ich manchmal.
„Ein Bud light!“, bestellte ich bei der Bedienung und schob meine Sorgen beiseite. Ich solle Ben einfach mal sagen, wie ich zu Addy stand. „Und einmal den Tex-Mex-Burger mit doppelt Fleisch!“
„Na, daheim wieder auf Diät?“, fragte Ben scherzhaft. Er wusste, dass mein Dad Vegetarier war und ich zwangsweise zu Hause immer nur Gemüse zu essen bekam. Aber wenn ich woanders aß, musste ich Fleisch haben!
Mit einem Grinsen nahm ich einen Schluck von dem Bier, das mir die Bedienung hinstellte. Ich überlegte, ob ich meinen Freunden jetzt von meiner Entdeckung erzählen sollte oder erst nach dem Essen. Ich setzte das Glas ab und wollte den Mund öffnen, da klingelte Addys iD.
Sie warf uns einen entschuldigenden Blick zu und drückte den Empfangsbutton. Ihr Gesicht wurde in bläuliches Licht getaucht, als sie das Bildtelefonat annahm. Es war ihre Mutter, wie ich mitbekam. Addys Vater war sehr krank, und ihre Mutter informierte sie fast täglich über seinen Zustand. Addy nickte und nahm die detailreiche Beschreibung der Krankheit zur Kenntnis. Ihre Miene blieb dabei ausdruckslos. Ich wusste, dass sie diese Anrufe nervten, aber als einzige Tochter fühlte sie sich ihrer Mutter gegenüber verpflichtet. Sie nickte erneut, verabschiedete sich und schaltete das iD aus. Das bläuliche Licht erlosch.
„Sorry, Jungs.“
„Kein Problem“, winkte Ben ab und nippte an seinem Drink. Keiner von uns wagte es, sie auf das mitgehörte Gespräch anzusprechen.
Das Essen kam und wir verfielen in gefräßiges Schweigen. Ich verschlang das köstlich saftige Fleisch des Burgers und stopfte mich mit den fettigen Pommes voll. Ungesünder ging es kaum. Aber ab und zu brauchte ich eine solch kleine Sünde bei dem ganzen Grünfutter zu Hause. Satt und zufrieden schob ich den Teller von mir fort.
„Und, ist das Raubtier in dir satt?“, fragte Ben.
„Jawohl!“ Ich leerte mein Bier und bestellte noch ein neues. Die anderen taten es mir gleich. Ein lockeres Gespräch entspann sich und ich wartete auf einen Moment, um mit meiner Neuigkeit herausrücken zu können. Als ich nach dem Vorankommen meiner Bachelor-Arbeit gefragt wurde, war er endlich da.
„Ich habe da was ganz Sensationelles entdeckt!“, platzte es aus mir heraus.
„Und was?“ Erwartungsvoll sahen mich Addy und Ben an.
„Ich war heute in der Public Library an der Fifth Avenue, um die Recherchen für meine Arbeit weiterzuführen, da habe ich ein altes Schriftstück entdeckt. Es war reiner Zufall, denn es war hinter die Buchreihen gerutscht. Und es hatte keine Signatur, also brauchte ich auch nicht nachzusehen, ob es schon digitalisiert worden war.“
Seit zehn Jahren gab es sämtliche Bücher der Bibliotheken weltweit als elektronische Version, so dass man sie bequem zu Hause über das Netz bestellen und lesen konnte. Meine Recherchen aber erforderten es manchmal, in den Originalen zu stöbern. Meine Freunde verstanden das, denn auch sie liebten alte Bücher und das haptische Erlebnis des Lesens auf Papier.
„Das Schriftstück besteht aus drei Seiten“, fuhr ich mit meiner Erzählung fort. „Es ist eine spanische Handschrift aus dem 16. Jahrhundert, ziemlich schwer zu lesen, aber ich habe es dennoch hinbekommen.“ Meine zweite Sprache an der Highschool war zum Glück Spanisch gewesen. „Es ist ein Bericht des Seefahrers Capitán Alfonso Rodriguez Perrez. Er hatte 1590 von der spanischen Krone den Auftrag bekommen, nach Amerika zu segeln und Roanoke zu suchen.“
Roanoke. Die erste englische Kolonie in der Neuen Welt, die es zu einer großen amerikanischen Legende gebracht hatte und zum Inhalt meiner Bachelor-Arbeit. Jeder in Amerika kannte die sagenumwobene Roanoke-Siedlung, deren Geschichte sehr kurz war. 1585 wurde sie von den Engländern gegründet, verschwand aber bereits wenige Jahre später unter mysteriösen Umständen von der Bildfläche. Viele Mythen ranken sich um diese „verlorene Kolonie“ und etliche Wissenschaftler haben versucht, das Geheimnis der verschwundenen Siedler zu lüften. Bisher ohne Erfolg. Mich faszinierte diese Geschichte schon seit meiner Schulzeit. Nicht, dass ich mir einbildete, die Lösung des Rätsels finden zu können, aber ein Puzzleteilchen mehr wollte ich dieser großen Suche nach der Wahrheit schon gerne beisteuern. Und mit dem Schriftstück glaubte ich, einen bedeutenden Fund gemacht zu haben.
„Rodriguez Perrez beschreibt die Küste der Carolinas mit den Outer Banks und der Chesapeake Bay sehr präzise für die damalige Zeit. Er erreichte tatsächlich die Insel Roonock im heutigen North Carolina und ging an Land. Er fand jedoch nur Überreste der Siedlung. Auch die Holzpfosten mit der Inschrift waren verschwunden, welche die Siedler angeblich hinterlassen hatten, bevor sie die Siedlung verließen.“
„CROATOAN!“, raunte Addy vielbedeutend.
Natürlich kannte auch sie die Legende, der zufolge die Siedler das Wort CROATOAN in einen Pfahl geritzt hatten, um der Mannschaft des ausbleibenden Versorgungsschiffes mittzuteilen, wohin sie gegangen waren. Einige Wissenschaftler vermuteten, dass damit das Dorf Croatan der Roanoke-Indianer gemeint war, das sich damals in der Nähe der Siedlung befunden haben soll.
„Wenn du mich fragst“, warf Ben ein, „dann ist das auch so gewesen. Es ist die logischste Erklärung. Den Siedlern ging es dreckig, weil der Nachschub aus England ausblieb, und sie haben sich aus Verzweiflung den Indianern angeschlossen. Außerdem heißt es doch, dass neu eingetroffene Auswanderer Jahrzehnte später in dem Indianerdorf auf hellhäutige Ureinwohner mit grauen Augen gestoßen seien, die sogar auch noch Englisch sprachen.“
„So sagt es zumindest eine englische Quelle von 1880. Aber dafür gibt es keinerlei Beweise und zu der Zeit gab es schon eine Menge weißer Sieder, die sich mit den dortigen Stämmen vermischt haben könnten.“
„Und die Steine?“, fragte Ben weiter.
„Die Steine, die man 1937 in den Sümpfen auf dem Festland gefunden hat, sind mit großer Wahrscheinlichkeit Fälschungen.“
„Aber ich habe gehört, dass einige behaupten, sie seien vielleicht doch echt“, sagte Addy.
Ich nickte. Einige Archäologen und Historiker hielten die „Dare Steine“, wie sie auch genannt wurden, für authentische Zeugen einer entbehrungsreichen Suche nach einem neuen Zuhause in der Wildnis Nordamerikas. Auf achtundvierzig Steinen, die nacheinander an verschiedenen Orten in North Carolina gefunden worden waren, soll die Tochter von John White, dem ersten Gouverneur von Roanoke, die Geschichte ihrer Flucht hinterlassen haben. Es waren Hinweise für ihren Vater, der zurück nach England gesegelt war, um Nachschub zu holen. Er kehrte erst drei Jahre später zurück, fand aber weder eine Spur von seiner Tochter noch von den anderen 128 Siedlern. Die fliehende Eleanor mit ihrer kleinen Tochter Virginia auf dem Arm, die nebenbei das erste englische auf amerikanischen Boden geborene Kind war, wurde über die Jahrhunderte zu einer berühmten Figur der Folklore. Die Steine behaupteten, Eleanor sei von der Insel Roanoke aufs Festland geflohen, wo ihre Tochter und ihr Mann bei einem Angriff der Wilden gefallen seien. Danach habe sie sich einem unbekannten Stamm angeschlossen und den Häuptling geheiratet. Der letzte Stein kündete von ihrem Tod und der Hinterlassenschaft einer Tochter namens Agnes. Über ihr wahres Schicksal allerdings war nichts bekannt. Bis heute wusste niemand, was aus ihr und Virginia geworden war. Ich selbst hatte die Steine nie gesehen. Sie lagerten angeblich im Tresor irgendeiner Universität an der Ostküste. Ob tatsächlich etwas an der Geschichte dran war, wusste ich nicht. Dazu hätte ich die Steine gerne einmal selbst untersucht.
Ich zuckte mit den Schultern, als Antwort auf Addys Aussage.
„Und was ist mit der Theorie, dass die Siedler mit ihren kleinen Booten die Reise nach England versucht haben und dabei ertrunken sind?“, fragte Ben.
Ich wischte mit der Hand durch die Luft. „Unter den Siedlern waren keine Seeleute gewesen, das ist belegt. Eine solch gefährliche Reise ohne Ahnung von der Seefahrt hätte niemand gewagt. Das wäre glatter Selbstmord gewesen. Ich glaube, die Leute waren zwar verzweifelt aber nicht dumm!“
Ben hob beide Hände: „Du bist der Experte!“
„Richtig!“ Ich lächelte. „Und der Experte erzählt euch jetzt, was noch in dem Bericht von Rodriguez Perrez stand.“ Ich machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. „Der spanische Kapitän segelte mit seinen beiden Schiffen von Roanoke aus weiter nach Norden und stieß dort auf eine weitere völlig unbekannte Siedlung. Angeblich hatten nicht einmal die Engländer eine Ahnung davon, obwohl die Einwohner der neuen Kolonie einen englischen Dialekt sprachen. Als Standort beschreibt Rodriguez Perrez eine markante Flussmündung und eine halbmondförmige Bucht. Der Wald war ungewöhnlich dicht und erstreckte sich bis an den Strand. Kein Mensch war zu sehen, aber am Horizont stieg eine Rauchwolke vom Wald aus senkrecht in den Himmel. Der Capitán ließ Anker werfen und ging an Land. Nachdem er am Strand nichts Besonderes entdecken konnte, schlug er sich mit seinen Männern in den Wald. Hinter einem undurchdringlichen Dickicht entdeckte er schließlich eine Lichtung, auf der sich eine unglaublich riesige Ansammlung von Häusern befand. Er beschreibt die Ausdehnung der Siedlung so groß wie die einer ausgewachsenen Stadt.“
„Das ist unmöglich. Zu dieser Zeit gab es noch keine Städte in Amerika“, sagte Ben.
„Wart’s ab, es wird noch fantastischer“, entgegnete ich und fuhr mit Rodriguez Perrez‘ Bericht fort: „Leider konnte der Capitán nur die Dächer der Häuser erkennen, denn die Kolonie war von einer sehr hohen Mauer umgeben. Und als er in den Himmel schaute, stellte er fest, dass es keine Rauchwolke gewesen war, die er vom Schiff aus gesehen hatte. Im Zentrum der Stadt erhob sich ein Turm, der höher war als die Pyramiden von Gizeh!“
Ben stieß ungläubig Luft aus. „Die höchsten Türme damals waren die Kathedralen Europas. Und der erste Wolkenkratzer, der hier an der Ostküste der USA gebaut wurde und die Hundert-Yards-Marke geknackt hat, war das New York World Building von 1889!“
„Ich finde es ja auch eigenartig“, wandte ich ein. „Es klingt beinahe nach einem Mythos, wie der von Roanoke.“
„Hat Rodriguez Perrez die Kolonie denn betreten?“, hakte Addy nach.
„In seinem Bericht steht, dass man ihn davongejagt hat, nachdem er begonnen hatte, um die Mauer herumzugehen und genauer zu betrachten. Die Anlage der Wehr beschrieb er als eine Art Festung, nur viel größer als jedes Fort, das er je zuvor zu Gesicht bekommen habe. Als Rodriguez Perrez und seine Leute von der Wehr aus plötzlich beschossen und beschimpft wurden, zog er sich auf sein Schiff zurück. Aus gebührendem Abstand beobachtete er die Siedlung noch einige Tage lang mit dem Fernglas, bis die Bewohner ihn auch dort vertrieben.“
„Wie?“
„Sie schossen auf die beiden Schiffe. Mit Kanonen.“
„Von da an war Rodriguez Perrez sich sicher, dass es sich bei dem Fort um einen geheimen Außenposten der Engländer handeln musste. Wahrscheinlich, um die Kaperfahrten der englischen Krone im Atlantik und in der Karibischen See zu stützen. Rodriguez Perrez schätzte, dass die Mauer deshalb so massiv angelegt war, weil die Engländer dahinter ihre erbeuteten Schätze horteten, darunter auch spanisches Gold. Das machte ihn wütend und er überlegte, wie er in die Festung gelangen könnte. Der Eintrag auf der letzten Seite der Dokumente spricht von einem Wirbelsturm, der ihn schließlich dazu zwang, die Segel zu hissen und mit beiden Schiffen zurück nach Europa zu fahren.“
„Ist er nochmal wiedergekommen? Mit Verstärkung?“, wollte Ben wissen.
„Keine Ahnung. Das Schriftstück behandelt nur diese eine Reise.“
„Das klingt doch alles sehr abenteuerlich“, sagte Addy.
„Gibt es in den Aufzeichnungen von Rodriguez Perrez auch einen Namen von dieser Siedlung?“, fragte Ben weiter.
„Nein, leider nicht. Aber …“, ich hob einen Zeigefinger, „es gibt eine Karte, die Perrez gezeichnet hat!“
Ben stieß belustigt Luft aus. „Und was glaubst du, darauf zu finden? Ich meine, diese Quelle, dieser Rodriguez Perrez, ist der überhaupt glaubwürdig? Meines Wissens gab es nie eine andere Siedlung außer Roanoke zu jener Zeit und erst recht keine von einer solchen Größe, wie er es beschreibt. Und Jamestown in North Carolina und das Plymouth der Pilgrims an der Küste von Massachusetts wurden erst nach 1600 gegründet“
„Das stimmt“, gab ich zu, „deshalb will ich auch versuchen, spanische Quellen zu finden, in denen Rodriguez Perrez‘ Reise erwähnt wird. Und ich will die Dokumente untersuchen.“
„Das wird aber nicht leicht werden. Schon allein die Genehmigung zur Entnahme aus der Bibliothek zu bekommen, wird Wochen dauern“, gab Ben zu bedenken.
„Eben drum!“, sagte ich.
„Eben drum?“ Ben sah mich fragend an.
Ich lächelte bedeutungsvoll.
„Was meinst du damit, Jerry?“, drängte nun auch Addy.
Ich lehnte mich zu den beiden vor und flüsterte: „Wie ich schon sagte, die Dokumente hatten keine Signatur … und da hab ich sie mitgenommen!“
„Du hast was?“, riefen beide gleichzeitig aus, wobei Addy vorwurfsvoll klang und Ben beinahe beeindruckt von meiner Tat.
„Schhht, nicht so laut“, beschwichtigte ich sie und lehnte mich noch weiter vor. „Ich hab es unter den Pulli gesteckt und aus der Bibliothek geschmuggelt. War ganz einfach.“
„Und wo ist es jetzt?“
Ich holte meinen Rucksack unter dem Tisch hervor und öffnete ihn. Ben und Addy sahen hinein und danach mich an. In ihren Augen funkelte die Neugier, und ich sah, dass sie das gleiche Fieber gepackt hatte wie mich.
„Wir können es untersuchen“, sagte ich, „ohne dass uns jemand stört oder Vorschriften macht. Und wenn wir fertig sind, dann bringe ich es einfach zurück. Seid ihr dabei?“
„Wow … Jerry … das ist … das ist genial!“, brachte Ben hervor, bemüht, seine Aufregung in Zaum zu halten. Mir war klar gewesen, dass er sich nicht lange würde bitten lassen, wenn ich ihm diesen Leckerbissen unter die Nase hielt. Er war immer ganz versessen auf alte Schriftstücke, besonders, wenn sie auch noch ein Geheimnis enthielten.
Ich sah Addy an. Meine Sorge, dass sie mit mir schimpfen würde, wuchs, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Sie war die Vernünftige von uns dreien und hatte uns schon vor so mancher Dummheit bewahrt. Aber ich wusste nicht, wie ich reagieren würde, wenn sie Nein sagte, denn ich war mir sicher, dass ich es trotzdem tun würde! Gespannt wartete ich auf ihr Urteil.
Addy räusperte sich und rieb sich das Kinn. Sie schien hin- und hergerissen. Meine Anspannung steigerte sich und ich merkte nicht, wie sich meine Hände unter der Tischplatte ineinander verkrampften. Mir war es unglaublich wichtig, dass sie dabei war.
Addy knabberte an ihrer Unterlippe und senkte den Blick. Meine Finger formten derweil den berühmten Gordischen Knoten.
Dann sagte sie: „Ich denke, dass wir mächtig Ärger bekommen, wenn man uns mit einem gestohlenen Dokument erwischt. Vielleicht fliegen wir deswegen sogar vom College. Und das würde meine Eltern vor Wut in den Orbit befördern. Ihr wisst ja, wie hart ich mir meinen Platz hier erkämpfen musste.“
Mir sank der Mut. Gleich würde sie ablehnen.
Addy holte Luft und stieß einen lauten Seufzer aus. „Jungs, ihr seid verrückt! Ehrlich!“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Aber deshalb mag ich euch ja auch so! Ich bin dabei!“Sie legte eine Hand in die Mitte des Tisches mit der Handfläche nach oben.
Erleichtert schlug ich ein und legte meine Hand auf die ihre. Ich spürte die Wärme ihrer Haut, und mein Herz schlug schneller. Und als Ben seine Pranke auf unsere beiden Hände legte, war es besiegelt. Wir würden dem Geheimnis der Dokumente gemeinsam auf den Pelz rücken!
Bei einer weiteren Flasche Bier beschlossen wir, zuerst eine Altersbestimmung der Papiere in Auftrag zu geben und danach die Handschrift zu untersuchen. Parallel wollten wir nach Belegquellen aus Spanien suchen, welche den Bericht des Seefahrers bestätigten. Erst danach würden wir wissen, ob das Schriftstück echt war.
Ich war ganz aufgedreht, als ich eine Stunde später mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr. Es war nach Mitternacht und die Straßen um diese späte Stunde leer. So brauchte ich nur knappe zehn Minuten für die fünf Meilen zu unserem Haus in der Courtney Avenue, deren einzige Besonderheit darin bestand, dass alle Häuser in ihr gleich aussahen. Als Kind war es mir des Öfteren passiert, das ich an der völlig falschen Haustür geklingelt hatte. Heute erkannte ich unser Haus im Schlaf. Es war das mit dem gepflegtesten Vorgarten und dem polierten Messingschild, auf dem unser Familienname prangte: „Benchley“.
Nicht, dass mein Dad sich groß um Gartenarbeit scheren würde, aber wir hatten eine Haushälterin, die sich um alles kümmerte. Sie hieß Selma und war mittlerweile in die Jahre gekommen. Früher, als ich klein war, da war sie mein Kindermädchen gewesen und sie hatte alle Mühe gehabt, mich kleinen Wirbelwind unter Kontrolle zu halten. Ich lächelte bei dem Gedanken an die gute, alte Selma. Sie war das Herz unseres Hauses, erledigte den Haushalt und kochte für uns. Vegetarisch, versteht sich. Sie kam immer morgens zum Frühstück und verließ uns nach dem Abendessen. Seit nunmehr zwanzig Jahren schon. Sie ging auf die Achtzig zu und Dad hatte ihr nahegelegt, doch in ihren wohlverdienten Ruhestand zu gehen, aber sie hatte mit ihrem für sie typisch mütterlichen Lächeln abgelehnt. Der Haushalt bräuchte eine Frauenhand und Jerry, also ich, jemanden, der mir Manieren beibringt. Das klang streng, war aber lieb gemeint. Selma war ein herzensguter Mensch und ein Teil unserer kleinen Familie. Aber sie wohnte nicht bei uns, sondern ein paar Straßen weiter in einer Mietswohnung. Sie kam jeden Morgen mit ihrem elektrischen Caddy zu uns herübergefahren, obwohl sie noch recht fit auf den Beinen war. Aber sie wollte solch lange Strecken nicht mehr zu Fuß gehen, erst recht nicht, wenn in der Wettervorhersage Atmosphäre III angesagt war: Regen.
Ich stellte das Fahrrad in die Garage mit der kleinen Werkstatt, in der ich in meiner Freizeit an meinem Drahtesel herum schraubte, und ging durch die Verbindungstür in das Haus. Alles war dunkel. Mein Vater war wohl schon zu Bett gegangen. Leise zog ich mir die Schuhe aus, legte den Helm auf die Garderobe und schlich auf Zehenspitzen die Treppe nach oben, wo sich mein Zimmer befand. Eine Diele knackte unter meinen Füßen und ich lauschte kurz. Aus dem Schlafzimmer meines Vaters drang das übliche Gemurmel, was der Beweis dafür war, dass er tatsächlich schlief. Er redete nämlich fast jede Nacht im Schlaf. Immer dasselbe Zeugs. Als Kind habe ich mich davor gefürchtet und bin regelmäßig aufgewacht, wenn er meinen Namen rief. Heute macht es mir keine Angst mehr.
„Jerry!“, hörte ich ihn auch jetzt wieder rufen. Die Tür dämpfte seine Stimme, aber ich wusste auch so, was er gleich sagen würde.
„Jerry! Diese Stadt ist wahnsinnig! Keiner glaubt mir. Jerry! NEIN! Nicht die Rutsche runterrutschen! Geh da weg. Ich muss zurück zum Hotel. Ich muss ihn finden! Das Olympic Regent. Dort ist es … dort ist es …“
Ich wandte mich ab und ging in mein Zimmer. Ich hatte Dad schon oft darauf angesprochen, aber er konnte sich nie daran erinnern, dass er im Schlaf gesprochen hatte, geschweige denn an den Inhalt seines nächtlichen Monologs. Vielleicht hatte es mit dem Autounfall zu tun, den er damals gehabt hatte, bevor Selma zu uns gekommen war. Dad sprach nicht gern darüber, wohl weil er sich nicht an den Unfallhergang erinnern konnte oder an das, was davor geschehen war. Noch so eine ungereimte Geschichte unserer Familie. Die Chronik der Benchleys war voll davon, aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
Ich verstaute den Rucksack mit der kostbaren Fracht im Kleiderschrank hinter meinem Gitarrenkoffer, zog mich aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Mit der wohlig warmen Erinnerung an Addys Hand in der meinen schlief ich ein.