Ganz Green Hollow kennt diese Geschichte
Schon früh am nächsten Morgen tauchte Doc Dave mit der Nachricht auf, dass die Frau auf der Prärie gesunde Zwillinge zur Welt gebracht hatte. Er war zwar am Anfang nicht begeistert von der Tatsache, dass Steffiney dem jüngsten Sullivan im Alleingang die Schulter eingerenkt hatte, gab aber nach Begutachtung ihrer Arbeit zu, dass sie es ordentlich gemacht hatte und es besser gewesen war nicht zu warten.
Charlie war inzwischen vollkommen ausgenüchtert und dementsprechend peinlich war ihm die ganze Geschichte. Mit Lukes Hilfe hatte man ihn in die Küche an den Frühstückstisch verfrachtet. Finney schmierte ihm wie einem Kleinkind seinen Toast, da sein rechter Arm in einer Schlinge ruhte, und er war für seine Verhältnisse ungewöhnlich ruhig. Charlie sprach während der ganzen Mahlzeit kein Wort und hob nur äußerst selten den Blick von seinem Teller.
Luke dagegen schien sich köstlich über ihn und seine peinliche Situation zu amüsieren. Als Miss O'Brian ihn bat die Scherze auf Kosten seines Bruders doch sein zu lassen, sagte er nur: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Vielleicht wird ihm das eine Lehre sein.“ Aber trotz allem war offensichtlich, wie sehr er sich um seinen kleinen Bruder sorgte. Er hatte noch vor dem Frühstück eine Nachricht auf die Black Creek Ranch schicken lassen, um seinem Vater Bescheid zu geben, da er nicht bereit war Charlie aus den Augen zu lassen.
Am Abend tauchte dann Mr. Sullivan auf, um seinen verlorenen Sohn nach Hause zu holen, der sich versuchte mit einem dümmlichen Grinsen aus der Sache herauszureden. Die Standpauke blieb ihm dennoch nicht erspart.
Da es bereits Samstagabend war, beschloss Mr. Sullivan aus lauter Dankbarkeit Miss Finney einfach gleich mitzunehmen, damit sie den Sonntag wieder mit der Familie verbringen konnte. Diesmal ließ die junge Frau sich nicht so lange bitten und auch Luke schien dem Vorschlag alles andere als abgeneigt zu sein. Und so waren im Handumdrehen die nötigsten Sachen zusammengepackt und die Sullivans inklusive ihrer Adoptivtochter und -schwester, wie Charlie scherzhaft sagte, saßen auf der Kutsche, um auf die Ranch hinauszufahren.
Als sie in der Abenddämmerung auf den Hof einfuhren, hatte Steffiney das warme Gefühl irgendwie nach Hause zu kommen. Auf ihrem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln, als Luke sie von der Kutsche hob und sie gemeinsam ins Haus gingen.
Prudle hatte das Abendessen vorbereitet, murrte zwar, dass man ihr hätte sagen müssen, dass die Missy mitkommt, damit sie alles vorbereiten konnte, aber gab bald Ruhe, da ihre Freude die junge Frau wiederzusehen doch bei Weitem überwog.
Als sie nach dem Essen alle beisammen im Salon saßen, fragte Josh seinen älteren Bruder: „Luke, hast Du schon gehört, dass Danvers wieder in der Stadt ist?“
Der Angesprochene blickte überrascht auf und dann sofort zu Miss Finney. Die war in ihrem Sessel etwas aufgefahren und rot angelaufen. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass Luke seiner Familie von dem kleinen Vorfall vor dem Gemstone erzählt haben würde, aber ganz offensichtlich hatte er das nicht. Ein wahrer Gentleman.
Etwas unruhig rutschte Steffiney in ihrem Sessel hin und her und schaute erwartungsvoll zu Luke.
„Ja, ich hatte schon einen kleinen Zusammenstoß mit ihm“, sagte der lediglich. Mr. Sullivan zog die Augenbrauen zusammen und Josh, dem Finneys Reaktion natürlich nicht entgangen war, konnte sich nicht verkneifen nachzuhaken.
„Wieso bist Du denn mit ihm zusammengestoßen?“ Mit einem schalkhaften Grinsen drehte er sich dann zu Miss O'Brian, die seiner Meinung nach irgendetwas von dieser Geschichte wusste. „Danvers ist ein stadtbekannter Säufer und er taucht hier einmal Jahr wieder auf. Und gegen Luke hegt er eine besondere Abneigung.“
So gerne Steffiney die Sullivans auch mochte, sie wollte nicht unbedingt, dass sie von dieser unerfreulichen Geschichte erfuhren. Wie würde es sich nur anhören, wenn Luke erzählte, dass er sie im Dunkeln vor dem Gemstone vor einem Säufer hatte verteidigen müssen! Sie müssten ja denken, sie hätte nichts Besseres zu tun als sich den Gestalten, die dort verkehrten, an den Hals zu werfen! Aus lauter Verzweiflung ergriff sie die Flucht nach vorn, so dass Luke eine Antwort erspart blieb.
„Ach und wieso mag er Luke nicht? Falls die Frage nicht zu indiskret ist“, brachte sie mit einem verunglückten Lächeln hervor.
Luke lächelte ebenfalls etwas schief. Offensichtlich war ihm nicht ganz wohl dabei Miss Finney wissen zu lassen, warum Danvers so schlecht auf ihn zu sprechen war.
„Nein, ganz Green Hollow kennt die Geschichte. Früher oder später würden Sie sie sowieso hören. Erzähl ruhig, Josh.“
Der ließ seinen Blick zwischen Miss Finney und seinem älteren Bruder hin- und herwandern und grinste breit. Jetzt würde die ganze Sache vielleicht ein bisschen Fahrt aufnehmen. Seiner Meinung nach schlichen Luke und die junge Frau eh schon viel zu lange umeinander herum wie die Katze um den heißen Brei. In seinen Augen war es offensichtlich, dass die beiden sich voneinander angezogen fühlten, aber in ihrem halsstarrigen Stolz lieber so taten, als würden sie sich nicht leiden können.
„Danvers kam vor fünf Jahren nach Green Hollow und hat hier Schürfrechte für einen Silberclaim erworben. Am Anfang sah es ziemlich gut für ihn aus. Er machte jede Menge Geld, war überall beliebt, gab im Saloon stets einen aus und kaum drei Monate später hatte er sich mit dem hübschesten Mädchen im Ort verlobt. Mary-Sue Sutter.“
Finney hatte einige Mühe in dieser Erzählung den kleinen heruntergekommenen Mann vom Gemstone wiederzuerkennen. Hätte sie nicht gewusst, um wen es ging, dann hätte sie nach dieser Geschichte eher vermutet, dass es um Jim Reed ging.
„Was ist denn mit dem Mann passiert? Ich meine, besonders erfolgreich sah er nicht gerade aus...“ Abrupt stoppte die junge Frau, als ihr klar wurde, dass sie sich soeben verraten hatte. Zwar trafen sie sofort von allen Seiten prüfende Blicke, aber Josh erzählte sofort weiter, sodass ihr eine Erklärung erspart blieb.
„Mary-Sues Bruder war ein enger Freund von uns und Luke konnte Danvers von Anfang an nicht leiden. Also hat er Mary-Sue vor ihm gewarnt und sie gebeten, Danvers nicht gleich von der Stelle weg zu heiraten. Kein Mensch kannte ihn hier und sie solle erst warten, wie sich das Geschäft mit der Silbermine entwickelte. Sie war ein hübsches Ding und auch nicht dumm, aber sie war schon immer etwas zu sehr auf ihren materiellen Vorteil bedacht. Alles, was sie von klein auf wollte, war reich sein. Leider hat sie Lukes freundschaftlichen Hinweis völlig in den falschen Hals bekommen und gedacht, er wolle sie von Danvers fernhalten, weil er selbst Heiratsabsichten hätte. Sie löste also die Verlobung mit Danvers und wartete leider völlig vergeblich auf einen Antrag von meinem lieben Bruder.“ Josh lachte amüsiert auf, Luke dagegen schaute eher säuerlich drein.
„Ich weiß wirklich nicht, wie sie auf die hirnverbrannte Idee gekommen ist, ich könnte sie heiraten! Ich hab ihr nie den geringsten Anlass gegeben, der so eine Vermutung gerechtfertigt hätte“, warf er ein.
Irgendwie hatte Finney es einen kleinen Stich versetzt, als sie hörte, dass Luke die junge Frau von der Heirat hatte abhalten wollen, aber ihr wurde etwas leichter ums Herz, als sie seine Worte hörte.
„Nein, wirklich nicht. Sie müssen wissen, Miss Finney, dass Mary-Sue eine ausgesprochene Dame ist. Oder es zumindest sein möchte. Und mit diesen Weibchen, die immer nur auf Händen getragen werden wollen und selbst nichts in die Hand nehmen, kann Luke gar nichts anfangen. Jedenfalls war Danvers am Boden zerstört, als Mary-Sue die Verlobung löste und trieb sich nur noch im Saloon herum. Eigentlich war er die ganze Zeit betrunken und als sich dann herausstellte, dass seine Silbermine ein Reinfall war, hatte er bereits alles versoffen. Er gab Luke die Schuld an seinem Niedergang und tauchte hier irgendwann völlig betrunken auf, um ihn zum Duell zu fordern. Luke behält ja eigentlich immer einen kühlen Kopf, aber als Danvers ihm vorwarf, dass er ihm Mary-Sue ausgespannt hätte, um sie dann sitzen zu lassen, wären die beiden fast doch aufeinander los gegangen, wenn Dad ihn nicht von unserem Grund und Boden geschmissen hätte. Er hat dann wohl in der Stadt randaliert und daraufhin hat ihm der Sheriff für ein Jahr das Verbot erteilt nach Green Hollow zu kommen. Wir haben ihn eine Weile nicht mehr gesehen und jetzt zieht er wohl von einem Ort zum anderen, hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und taucht hier alle Nase lang mal wieder auf, um sich am Ort seines Versagens in Selbstmitleid zu wälzen.“
Natürlich konnte man Luke nichts vorwerfen, aber irgendwie hatte Steffiney ein bisschen Mitleid mit Danvers. Er schien ein unsteter Charakter zu sein, völlig abhängig von der Wertschätzung anderer Leute und er musste Mary-Sue wirklich geliebt haben, wenn es ihn so getroffen hatte, dass aus einem Geschäftsmann ein mittelloser Säufer wurde.
Für die Dame hingegen konnte sie keine allzu freundlichen Gefühle aufbringen. Anscheinend war sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und gab keinen Pfifferling auf die Gefühle anderer Leute. Nur gut, dass Luke anscheinend wirklich keine ernsten Absichten ihr gegenüber gehabt hatte!
„Und was ist aus der jungen Dame geworden? Ich kann mich nicht erinnern, dass Mrs. McAbberty ihren Namen mir gegenüber erwähnte hätte.“ Neugierig war Steffiney dennoch, ob diese Person sich noch hier in der Gegend aufhielt. Ob die Sullivans noch Kontakt zu ihr hatten. Ob Luke...
„Mrs. McAbberty hätte Sie garantiert gleich zu ihr geschleppt, wenn sie noch hier leben würde“, unterbrach Josh ihren Gedankengang mit einem Lachen. „Die Eltern der Sutters sind früh gestorben und als diese ganze unschöne Geschichte ihren Lauf nahm, gab es nur noch Mary-Sue und ihren älteren Bruder Jake. Wie gesagt, Jake war ein guter Freund von uns, aber er ist bei einer Schießerei ums Leben gekommen. War ne traurige Geschichte.“
Für einen Moment herrschte Schweigen und Finney traute sich nicht nachzufragen, da der Tod von Jake Sutter anscheinend allen sehr nahe gegangen war, wie sie auf den Gesichtern lesen konnte.
„Nachdem Jake beerdigt war und Luke keine Anstalten machte ihr die Ehe anzubieten, verkaufte Mary-Sue ihr ganzes Hab und Gut, nahm das Geld und verschwand nach Californien, um dort ihr Glück zu machen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.“
Steffiney nickte. Californien war weit genug weg und da die Sullivans keinen Kontakt mehr zu der jungen Frau hatten, musste sie sich keine Sorgen machen. Im nächsten Moment biss Finney sich auf die Lippen. Und selbst wenn Mary-Sue Sutter noch hier leben würde, was für einen Grund hätte sie sich Sorgen zu machen? Bei dieser Frage glitt ihr Blick zu Luke. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke von einer anderen Frau nicht, die auf vertrautem Fuß mit dem ältesten Sullivan stand.
„Aber Miss Finney“, meldete Josh sich jetzt wieder zu Wort. „Sie schulden uns noch eine Erklärung. Wo haben Sie denn Danvers kennengelernt, da Sie ja anscheinend so genau wissen, wie er aussieht? War er bei Doc Dave?“
Steffiney wurde augenblicklich wieder rot und Luke fuhr seinen Bruder ungewohnt harsch an: „Finney ist Dir wohl kaum Rechenschaft schuldig, wem sie zufällig in Green Hollow alles begegnet.“
Josh war der raue Ton seines Bruders anscheinend einerlei. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und lächelte nur wissend. „Ist sie auch nicht, aber ich wollte sie nur warnen, sich mit so jemanden sehen zu lassen. Sie ist ein viel zu nettes Mädchen für solche Gesellschaft. Und wieso regst Du Dich eigentlich so darüber auf?“, schoss er zurück.
Miss O'Brian war die ganze Situation sichtlich peinlich, während Charlie anscheinend langsam wieder auftaute und interessierte Blicke von einem zum anderen wandern ließ. Dann platzte er plötzlich heraus: „Danvers ist immer noch in Green Hollow und hat im Saloon wie ein Rohrspatz darüber geschimpft, dass Luke Sullivan anscheinend denkt, ihm würde hier jede attraktive Frau in der Stadt gehören. Ich glaube, dass eher Miss Finney mit ihm einen Zusammenstoß hatte und Luke ihr aus der Patsche geholfen hat.“
Nie war Charlies loses Mundwerk mehr fehl am Platze gewesen als in diesem Augenblick. Sowohl Luke als auch die junge Frau warfen ihm ärgerliche Blicke zu. Wenn auch Finney dabei vor Peinlichkeit dunkelrot im Gesicht war und Luke blass vor Ärger.
„Charlie, verdammt! Wie kommst Du dazu solche Behauptungen aufzustellen?“, schnauzte Mr. Sullivan seinen Jüngsten an. Wohl wissend, dass der junge Bursche wohl ins Schwarze getroffen haben musste, so wie Luke und Miss O'Brian dreinschauten. „Am besten gehst Du jetzt ins Bett. War ein langer Tag für Dich.“
Charlie war anscheinend drauf und dran zu widersprechen, aber ein Blick seines Vaters sagte ihm, dass er in seinem Zimmer momentan sicherer war als hier und so trollte er sich ohne weitere Widerworte.
Nachdem die Erwachsenen nun unter sich waren, wandte Mr. Sullivan sich an seinen Gast. „Miss O'Brian, es steht mir nicht im Geringsten zu Ihnen Ratschläge zu geben, aber wenn ich eine Tochter hätte und wüsste, dass sie irgendwo auf sich gestellt ist, wäre ich jedem dankbar, der auf sie achtet. Von daher werden Sie mir meine Einmischung sicher verzeihen. Sie sollten sich von Männern wie Danvers wirklich fernhalten und es wundert mich...“ Weiter kam das Familienoberhaupt nicht, denn plötzlich fuhr ihm sein ältester Sohn in die Parade. „Vater! Miss Finney würde sich nie freiwillig mit jemanden wie Danvers abgeben.“ Und bevor Steffiney noch etwas sagen konnte, hatte Luke die ganze Geschichte erzählt. Offensichtlich war er ärgerlich auf Charlie, aber noch mehr auf seinen Vater.
Nachdem nun alle wussten, was wirklich passiert war, entschuldigte sich Mr. Sullivan für seine angedeutete Unterstellung bei Finney. Sie meinte, es wäre nicht der Rede wert, da es für einen Unbeteiligten ja wirklich seltsam klingen musste. Josh dagegen amüsierte sich auf seine hintergründige Art darüber, dass Danvers sich immer für Damen interessierte, die ihn dann für Luke stehen ließen.
Bald darauf begaben sich auch alle anderen zu Bett und am nächsten Morgen war die Welt wieder in Ordnung. Man fuhr gemeinsam zur Kirche, aß zu Mittag und nach dem Kaffee gelang es Josh mit Hilfe des sonst so ruhigen Bill seinen ältesten Bruder und Miss Finney dazu zu überreden doch im Wechsel einige Szenen aus „Viel Lärm um nichts“ vorzutragen. Woraufhin am Ende Josh mit einem hintergründigen Lächeln bemerkte, dass die beiden gar nicht schauspielern mussten, wenn sie die Streitgespräche zwischen Beatrice und Benedikt wiedergaben.
Am frühen Abend schließlich wurde Miss Finney wieder nach Green Hollow zurückgebracht. Unnötig zu erwähnen, dass es natürlich Luke war, der sie in die Stadt fuhr.