Gebeine
Man merkt nicht, dass die Toten verschwinden, wenn sie wirklich beschließen, einen zu verlassen. Das soll man auch nicht. Man spürt sie höchstens als ein Wispern oder als eine zurückweichende Woge des Gewispers. Ich würde es mit einer Frau vergleichen, die in einem Hörsaal oder einem Theater ganz hinten sitzt und die niemandem auffällt, bis sie hinausschlüpft. Und nur diejengen, die selbst der Tür nahe sind, merken etwas; für die Übrigen ist es wie eine unerklärliche Brise in einem geschlossenen Raum.
Grandma Lynn starb etliche Jahre später, doch ich habe sie hier noch nicht gesehen. Ich stelle mir vor, wie sie sich in ihrem Himmel mit Tennessee Williams und Dean Martin mit Mint Juleps einen andudelt. Wenn sie bereit ist, wird sie kommen, ganz bestimmt.
Ehrlich gesagt, schleiche ich mich gelegentlich immer noch fort, um meine Familie zu beobachten. Ich kann nicht dagegen an, und manchmal denken sie noch an mich. Sie können nicht dagegen an.
Nachdem Lindsey und Samuel geheiratet hatten, setzten sie sich in das leere Haus an der Route 30 und tranken Champagner. Die Zweige der Bäume waren in die Fenster im Obergeschoss gewachsen, und sie kauerten darunter, wohl wissend, dass die Äste würden beschnitten werden müssen. Ruths Vater hatte versprochen, ihnen das Haus zu verkaufen, wenn Samuel dafür als sein erster Angestellter in einem Restaurierungsbetrieb mit seiner Arbeitskraft bezahlte. Bis zum Ende des Sommers hatte Mr. Connors das Grundstück mit Hilfe von Samuel und Buckley gerodet und einen Trailer aufgestellt, der ihm tagsüber als Büro und Lindsey abends als Studierzimmer dienen sollte.
Anfangs war es ungemütlich, da sanitäre Anlagen und Strom fehlten und sie zum Duschen zu ihren Eltern fahren mussten, doch Lindsey vergrub sich ins Lernen, und Samuel vergrub sich ins Aufstöbern von Türknäufen und Lampen aus der richtigen Ära. Es überraschte alle, als Lindsey feststellte, dass sie schwanger war.
»Es kam mir doch gleich so vor, als wärst du dicker geworden«, meinte Buckley lächelnd.
»Du musst gerade reden«, sagte Lindsey.
Mein Vater träumte davon, dass er eines Tages vielleicht ein weiteres Kind lehren könnte, Flaschenschiffe zu lieben. Er wusste, dass damit Traurigkeit und Freude verbunden sein würden, dass es ihn stets an mich erinnern würde.
Ich würde gern sagen, dass es hier wunderschön ist, dass ich für alle Zeiten in Sicherheit bin und Sie das eines Tages auch sein werden. Aber in diesem Himmel geht es nicht um Sicherheit, ebenso wenig, wie es in seiner Barmherzigkeit um handfeste Realität geht. Wir haben unseren Spaß.
Wir schaffen Dinge, die die Menschen verblüffen und dankbar machen, zum Beispiel Buckleys Garten, der sich das eine Jahr in einem verrückten Gewirr von Pflanzen entfaltete, die alle gleichzeitig blühten. Ich tat das für meine Mutter, die, nachdem sie sich zum Bleiben entschlossen hatte, wieder mit dem Garten konfrontiert war. Sie staunte über all die Blumen und Kräuter und knospenden Gräser. Staunen, das tat sie oft nach ihrer Rückkehr - über die überraschenden Wendungen, die das Leben nimmt.
Und meine Eltern verschenkten meine restlichen Besitztümer an die Heilsarmee, zusammen mit Grandma Lynns Sachen.
Sie teilten ihre Gefühle für mich. Zusammen zu sein, an die Toten zu denken und über sie zu reden wurde ein vollkommen normaler Teil ihres Lebens. Und ich lauschte meinem Bruder Buckley, wenn er Schlagzeug spielte.
Aus Ray wurde Dr. Singh, »der echte Doktor in der Familie«, wie Ruana gern sagte. Und er erlebte immer mehr Augenblicke, denen er sich nicht ungläubig verschloss. Obwohl er umgeben war von seriösen Chirurgen und Wissenschaftlern, die über eine Welt in Schwarz-Weiß herrschten, hielt er an dieser Möglichkeit fest: dass die winkenden Fremden, die den Sterbenden manchmal erschienen, nicht das Resultat von Schlaganfällen waren, dass er Ruth mit meinem Namen angesprochen und dass er mich tatsächlich geliebt hatte.
Wenn er jemals zweifelte, rief er Ruth an. Ruth, die von einem Wandschrank in ein wandschrankgroßes Apartment in der Lower East Side aufgestiegen war. Ruth, die immer noch nach einer Form suchte, in der sie aufschreiben konnte, wen sie sah und was sie erlebt hatte. Ruth, die sich wünschte, dass alle glaubten, was sie wusste: dass die Toten wirklich mit uns reden, dass in der Luft zwischen den Lebenden Geister tanzen und sich bewegen und mit uns lachen. Sie sind der Sauerstoff, den wir atmen.
Nun bin ich an dem Ort, den ich den weiten, weiten Himmel nenne, weil er all meine einfachsten Wünsche erfüllt, aber auch die bescheidensten und grandiosesten. Das Wort, das mein Großvater benutzt, ist Trost.
Es gibt also Kuchen und Kissen und Farben zuhauf, doch unter dieser eher augenfälligen Patchworkdecke finden sich andere Orte, etwa ein stiller Raum, in dem man jemandem die Hand halten kann und nichts zu sagen braucht. Keine Geschichte erzählen muss. Keine Behauptungen aufstellen. Wo man, so lange man will, am äußersten Rande seiner Haut leben kann. Dieser weite, weite Himmel umfasst Flachkopfnägel und den weichen Flaum junger Blätter, wilde Achterbahnfahrten und entwischte Murmeln, die hinunterfallen, in der Luft hängen und einen dann an einen Ort bringen, den man sich in seinen Träumen im kleinen Himmel nie hätte vorstellen können.
Eines Nachmittags schaute ich mir mit meinem Großvater die Erde an. Wir beobachteten Vögel, die von Wipfel zu Wipfel der höchsten Kiefern in Maine flogen, und teilten die Gefühle der Vögel, wenn sie landeten, dann losflogen und wieder landeten. So gelangten wir nach Manchester und in ein Lokal, an das mein Großvater sich aus der Zeit erinnerte, als er geschäftlich an der Ostküste zu tun gehabt hatte. Es war heruntergekommen in den vergangenen fünfzig Jahren, und nach kurzer Bestandsaufnahme wollten wir gehen. Doch in dem Augenblick, in dem ich mich abwandte, sah ich ihn: Mr. Harvey, der aus einem Greyhound-Bus stieg.
Er ging in das Lokal und bestellte an der Theke einen Kaffee. Für Uneingeweihte sah er nach wie vor ganz alltäglich aus, nur nicht um die Augen herum, aber er trug seine Kontaktlinsen nicht, und keiner nahm sich mehr die Zeit, hinter seine dicken Brillengläser zu schauen.
Während eine ältere Kellnerin ihm einen Styroporbecher mit kochend heißem Kaffee reichte, hörte er über der Tür hinter sich eine Glocke klimpern und verspürte einen kalten Luftzug.
Es war ein junges Mädchen, das in den letzten Stunden ein paar Reihen vor ihm gesessen, Walkman gehört und die Songs mitgesummt hatte. Er setzte sich an die Theke, bis sie von der Toilette zurück war, und folgte ihr dann nach draußen.
Ich beobachtete, wie er ihr durch den schmutzigen Schnee am Rande des Lokals und zur Rückseite der Bushaltestelle nachging, wo sie, vom Wind geschützt, eine rauchen wollte. Als sie dort stehen blieb, gesellte er sich zu ihr. Sie erschrak nicht einmal. Er war einfach nur ein langweiliger, schlecht gekleideter alter Mann.
Im Geiste überschlug er sein Vorhaben. Der Schnee und die Kälte. Die tiefe Schlucht, die direkt vor ihnen abfiel. Die leeren Wälder auf der anderen Seite. Und er fing ein Gespräch mit ihr an.
»Lange Fahrt«, sagte er.
Zuerst blickte sie ihn an, als könnte sie nicht fassen, dass er sie ansprach.
»Hm mmmm«, machte sie.
»Allein unterwegs?«
In diesem Moment bemerkte ich die Eiszapfen, die in einer langen, üppigen Reihe über ihnen hingen.
Das Mädchen trat seine Zigarette mit dem Absatz aus und wandte sich zum Gehen.
»Wichser«, sagte sie und ging mit großen Schritten davon.
Einen Augenblick später fiel der Eiszapfen. Seine schwere Kälte brachte Mr. Harvey aus dem Gleichgewicht, sodass er stolperte und nach vorn stürzte. Es würde Wochen dauern, bis der Schnee in der Schlucht so weit geschmolzen war, dass er wieder zum Vorschein kam.
Nun will ich aber noch von jemand ganz Besonderem erzählen:
Hinter ihrem Haus legte Lindsey einen Garten an. Ich sah zu, wie sie das lange, dicht bepflanzte Blumenbeet jätete. Ihre Finger krümmten sich in den Handschuhen, als sie an die Patienten dachte, die sie jeden Tag in ihrer Praxis empfing - wie sollte sie ihnen helfen, die Karten richtig zu deuten, die das Leben ihnen ausgeteilt hatte, wie ihren Schmerz lindern? Ich erinnerte mich, dass die einfachsten Dinge oft diejenigen waren, die sich trotz ihrer, wie ich fand, großen Geistesgaben ihrem Verständnis entzogen. So brauchte sie zum Beispiel ewig, bis ihr klar wurde, dass ich immer freiwillig das Gras an der Hecke schnitt, weil ich dann bei der Gartenarbeit mit Holiday spielen konnte. Dabei fiel ihr Holiday ein, und ich folgte ihren Gedanken. Dass es in wenigen Jahren an der Zeit sein würde, ihrem Kind einen Hund zu besorgen, wenn das Haus erst einmal eingerichtet und umzäunt war. Dann dachte sie daran, dass es heutzutage Geräte mit Peitschenschnur gab, die eine Hecke in Minuten von Pfosten zu Pfosten trimmen konnten - was uns Stunden des Murrens gekostet hatte.
Jetzt kam Samuel zu Lindsey heraus, und da war sie in seinen Armen, mein süßes Dickerchen, das Baby, geboren zehn Jahre nach meinen vierzehn Jahren auf der Erde: Abigail Suzanne. Klein-Susie für mich. Samuel legte Susie neben den Blumen auf eine Decke. Und meine Schwester, meine Lindsey, bewahrte mich im Gedächtnis, dem richtigen Ort für mich.
Und in einem kleinen Haus sieben Kilometer entfernt hielt ein Mann seiner Frau mein schlammverkrustetes Armband mit den Anhängern hin.
»Schau mal, was ich auf dem alten Industriegelände gefunden habe«, sagte er. »Einer von den Bauarbeitern hat gesagt, dass sie das ganze Grundstück planieren wollen. Sie haben Angst vor weiteren Schlundlöchern wie dem, das die Autos verschluckt hat.«
Seine Frau goss ihm ein Glas Wasser ein, während er das winzige Fahrrad und den Ballettschuh, den Blumenkorb und den Fingerhut betastete. Er hielt das schlammige Armband vor sich, als sie sein Glas vor ihn hinstellte.
»Das kleine Mädchen ist inzwischen bestimmt erwachsen«, sagte sie.
Beinahe.
Nicht ganz.
Ich wünsche euch allen ein langes und glückliches Leben.