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Eine Woche lang kundschaftete Lindsey das Haus meines Mörders aus. Sie tat genau das, was sonst er tat.
Sie hatte eingewilligt, das ganze Jahr mit der Jungen-Fußballmannschaft zu trainieren, eine Vorbereitung auf die Herausforderung, der sie sich, wie Mr. Dewitt und Samuel meinten, stellen sollte: der Qualifikation für das Mitspielen in der rein männlichen Highschool-Fußballliga. Und Samuel trainierte, um seine Unterstützung zu demonstrieren, mit ihr, ohne darauf zu hoffen, sich für etwas anderes zu qualifizieren als den, wie er sagte, »schnellsten Typen in Shorts«.
Rennen konnte er, wenn auch das Treten und Werfen und Bemerken eines Balls irgendwo in seiner Nähe über seinen Horizont ging. Und so war Samuel, während sie im Viertel ihre Runden drehten, Lindsey jedes Mal voraus, wenn sie einen Blick auf Mr. Harveys Haus warf, denn er gab das Tempo vor - ahnungslos, was alles andere betraf.
Von seinem grünen Haus aus schaute Mr. Harvey nach draußen. Er sah, dass sie ihn beobachtete, und allmählich wurde er kribbelig. Es war jetzt fast ein Jahr her, doch die Salmons saßen ihm nach wie vor im Nacken.
Das war auch schon in anderen Orten und Staaten geschehen. Die Familie eines Mädchens verdächtigte ihn, sonst aber niemand. Sein Gerede gegenüber der Polizei hatte er perfektioniert, eine gewisse kriecherische Unschuld, gewürzt mit Fragen über ihr Vorgehen oder nutzlosen Ideen, die er präsentierte, als ob sie helfen könnten. Den Ellis-Jungen bei Fenerman zur Sprache zu bringen war ein guter Schachzug gewesen, und die Lüge, er sei Witwer, half immer. Aus einem beliebigen Opfer, mit dem er sich kürzlich in seiner Erinnerung vergnügt hatte, schuf er eine Ehefrau, und um ihr Substanz zu verleihen, gab es immer noch seine Mutter.
Nachmittags verließ er das Haus jeden Tag ein, zwei Stunden lang. Er nahm den Proviant mit, den er benötigte, und fuhr dann hinaus zum Valley Forge Park und spazierte dort die gepflasterten Straßen und die ungepflasterten Pfade entlang, bis er sich auf einmal bei George Washingtons Blockhütte oder der Washington Memorial Chapel von Schulausflüglern umringt fand. Das gab ihm Auftrieb- diese Augenblicke, in denen die Kinder ganz begierig auf Geschichte waren, als ob sie tatsächlich ein langes, silbernes Haar aus Washingtons Perücke finden könnten, das sich an dem rauen Ende eines Holzpfostens verfangen hatte.
Gelegentlich bemerkte ihn einer der Reiseleiter oder Lehrer, wie er da stand, ein Unbekannter, wenn auch liebenswürdig, und ein fragender Blick traf ihn. Er hatte tausend Sprüche für sie auf Lager: »Ich bin früher mit meinen Kindern hergekommen.«»Hier habe ich meine Frau kennen gelernt.« Er wusste, was immer er sagte, in Verbindung mit einer imaginären Familie zu bringen, und dann lächelten ihn die Frauen an. Einmal versuchte eine attraktive, füllige Frau, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, während der Parkwächter den Kindern etwas über den Winter 1776 und die Battle of the Clouds erzählte.
Da hatte er die Geschichte seiner Witwerschaft hervorgeholt und über eine Frau namens Sophie Cichetti gesprochen, die er zu seiner mittlerweile verstorbenen Ehefrau und großen Liebe machte. Sie war für diese Frau wie ein köstliches Mahl gewesen, und während er zuhörte, wie sie ihm von ihren Katzen und ihrem Bruder berichtete, der drei Kinder hatte, die sie liebte, stellte er sich vor, dass sie auf dem Stuhl in seinem Keller saß, tot.
Danach zog er sich immer, wenn er dem fragenden Blick eines Lehrers begegnete, schüchtern zurück und fuhr in einen anderen Teil des Parks. Er sah Mütter, deren Kinder noch im Kinderwagen saßen, munter die offen daliegenden Wege entlangspazieren. Er sah Schule schwänzende Teenager, die auf den ungemähten Wiesen oder auf den Pfaden im Innern schmusten. Und auf dem höchsten Punkt des Parks befand sich ein Wäldchen, an dem er manchmal parkte. Dann saß er in seinem Wagoneer und beobachtete einzelne Männer, die neben ihm anhielten und aus dem Auto stiegen. Männer in Anzügen in der Mittagspause oder Männer in Flanell und Jeans, die rasch in den Wald schritten. Manchmal warfen sie einen Blick zurück in seine Richtung - eine Frage. Wenn sie nahe genug waren, konnten diese Männer durch die Windschutzscheibe sehen, was seine Opfer sahen - seine ungezähmte und bodenlose Lust.
Am 26. November 1974 sah Lindsey, wie Mr. Harvey aus dem grünen Haus kam, und sie ließ sich langsam aus der Gruppe laufender Jungen zurückfallen. Später konnte sie behaupten, sie hätte ihre Periode bekommen, und sie hätten alle geschwiegen, sich sogar gefreut, denn dies wäre der Beweis, dass Mr. Dewitts unpopulärer Plan - ein Mädchen in der Regionalliga! - nie funktionieren würde.
Ich beobachtete meine Schwester und staunte. Sie wurde alles gleichzeitig. Eine Frau. Eine Spionin. Eine Sportlerin. Der Verfemte: Ein Mann allein.
Sie ging, eine Körperseite in vorgetäuschtem Krampf umklammernd, und scheuchte die Jungen weiter, als sie sich umdrehten, um nach ihr Ausschau zu halten. Sie ging weiter, eine Hand immer noch an der Taille, bis sie am Ende der Straße um die Ecke bogen. Mr. Harveys Grundstück war von einer Reihe hoher, dichter Kiefern gesäumt, die seit Jahren nicht mehr gestutzt worden waren. Sie setzte sich neben eine, nach wie vor Erschöpfung simulierend für den Fall, dass ein Nachbar herausschaute, und dann, als sie das Gefühl hatte, es sei der richtige Moment, rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und wälzte sich zwischen zwei Kiefern. Sie wartete. Die Jungen hatten noch eine Runde. Sie sah sie vorbeilaufen und folgte ihnen mit ihrem Blick, als sie den leeren Parkplatz in Richtung Highschool überquerten. Sie war allein. Sie schätzte, dass sie eine Dreiviertelstunde Zeit hatte, ehe unser Vater sich zu fragen begann, wann sie wohl daheim sein würde. Es war vereinbart worden, dass Samuel sie, wenn sie mit der Fußballmannschaft der Jungen trainierte, begleiten und spätestens um fünf Uhr nach Hause bringen würde.
Die Wolken hatten den ganzen Tag schwer am Himmel gehangen, und die spätherbstliche Kälte erzeugte eine Gänsehaut auf ihren Armen und Beinen. Das Laufen mit der Mannschaft wärmte sie immer auf, aber wenn sie danach den Umkleideraum erreichte, wo sie dieselben Duschen benutzte wie das Hockey-Team, fing sie an zu zittern, bis das heiße Wasser auf ihren Körper traf. Auf dem Rasen des grünen Hauses allerdings kam ihre Gänsehaut auch von der Angst.
Als die Jungen den Weg kreuzten, kroch sie hinüber zum Kellerfenster in Mr. Harveys Haus. Sie hatte sich schon eine Geschichte ausgedacht für den Fall, dass sie erwischt werden würde. Sie jagte ein Kätzchen, das sie zwischen den Kiefern hatte hindurchflitzen sehen. Sie würde sagen, es sei grau, es sei flink, es sei auf Mr. Harveys Haus zugelaufen und sie sei ihm gefolgt, ohne nachzudenken.
Sie konnte in den Keller schauen, wo es dunkel war. Sie versuchte es mit dem Fenster, doch der Riegel war vorgeschoben. Sie würde die Scheibe zerschlagen müssen. Ihre Gedanken rasten, sie machte sich Sorgen wegen des Lärms, doch sie war zu weit gegangen, um aufzuhören. Sie dachte an meinen Vater zu Hause, der aufmerksam die Uhr neben seinem Sessel beäugte, zog ihr Sweatshirt aus und wickelte es um ihre Füße. Sie setzte sich hin, stützte ihren Körper mit den Armen ab und trat dann mit beiden Füßen einmal, zweimal, dreimal zu, bis die Scheibe zerbrach- ein gedämpftes Klirren.
Vorsichtig ließ sie sich herunter, die Wand nach einem Tritt abtastend, aber den letzten Meter musste sie auf die Glasscherben und den Beton springen.
Der Raum wirkte sauber und ausgefegt, anders als unser eigener Keller, wo Stapel von mit Feiertagen beschrifteten Kartons - OSTEREIER UND GRÜNES GRAS, WEIHNACHTSSTERN/SCHMUCK - es nie auf die Regale zurückschafften, die mein Vater gebaut hatte.
Von draußen drang die Kälte ein, und sie spürte, wie die Zugluft in ihrem Nacken sie aus dem schimmernden Halbkreis zerbrochenen Glases heraus in die Mitte des Raumes schob. Sie sah den Sessel und daneben einen kleinen Tisch. Sie sah den großen Wecker mit Leuchtziffern, der auf dem Metallbord stand. Ich wollte ihren Blick auf den Kriechgang lenken, wo sie die Knochen der Tiere finden würde, doch ich wusste auch, dass sie, obwohl sie die Augen einer Fliege auf Millimeterpapier zeichnete und sich diesen Herbst in Mr. Bottes Biologieunterricht hervorgetan hatte, glauben würde, es wären meine Knochen. Deshalb war ich froh, dass sie nicht in ihre Nähe kam.
Trotz meiner Unfähigkeit zu erscheinen oder zu flüstern, zu stoßen oder zu drängen, fühlte Lindsey ganz von selbst etwas. Irgendetwas lud die Luft in dem kalten, feuchten Keller auf und ließ sie zurückschrecken. Sie stand nur einen Meter von dem offenen Fenster entfernt, wohl wissend, dass sie, komme was wolle, weiter hineingehen würde und dass sie sich, komme was wolle, beruhigen und konzentrieren musste, um nach Hinweisen Ausschau zu halten; aber hier und jetzt dachte sie einen Augenblick lang an Samuel, der vorauslief, glaubte, dass er sie auf seiner letzten Runde treffen würde, dann zur Schule zurückrannte, wo er sie draußen vorzufinden meinte, und dann vermutete, allerdings mit dem Anflug eines Zweifels, dass sie duschte, und deshalb würde er auch duschen und dann auf sie warten, bevor er etwas anderes unternahm. Wie lange würde er wohl warten? Während ihre Blicke die Stufen zum Erdgeschoss erklommen, ehe ihre Füße folgten, wünschte sie, Samuel wäre ihr hinterhergeklettert, hätte ihr nachgespürt und dabei, sich in ihre Gliedmaßen fügend, ihre Einsamkeit ausgelöscht. Aber sie hatte ihm absichtlich nichts erzählt - hatte niemandem etwas erzählt. Was sie tat, war jenseits der Grenzen des Erlaubten - kriminell -, und das wusste sie.
Wenn sie später daran dachte, würde sie sagen, sie hätte Luft gebraucht, und das hätte sie die Treppe hochgeführt. Kleine Flocken weißen Staubs sammelten sich auf den Spitzen ihrer Schuhe, als sie die Stufen emporstieg, doch sie bemerkte sie nicht.
Sie drehte den Knauf der Kellertür und gelangte ins Erdgeschoss. Erst fünf Minuten waren verstrichen. Vierzig blieben ihr, das glaubte sie jedenfalls. Durch die geschlossenen Jalousien sickerte noch ein bisschen Licht. Während sie, erneut zögernd, in diesem mit unserem identischen Haus stand, hörte sie den Aufprall des Evening Bulletin auf der Türschwelle und die Fahrradklingel des Botenjungen, die er im Vorbeifahren betätigte.
Meine Schwester sagte sich, dass sie in einer Abfolge von Zimmern und Räumen sei, die, systematisch durchkämmt, vielleicht ergaben, was sie brauchte, ihr die Trophäe lieferten, die sie unserem Vater mitbringen und sich so ihre Befreiung von mir verdienen könnte. Immer Konkurrenz, sogar zwischen der Lebenden und der Toten. Sie sah die Fliesen im Flur - dasselbe Dunkelgrün und Grau wie bei uns - und stellte sich vor, wie sie als Baby hinter mir hergekrabbelt war, als ich gerade Laufen lernte. Dann sah sie meinen kleinen Körper entzückt von ihr weg und in das nächste Zimmer rennen, und sie erinnerte sich an ihr eigenes Gefühl des Sichstreckens, als sie ihre ersten Schritte machte und ich sie vom Wohnzimmer her neckte.
Doch Mr. Harveys Haus war wesentlich leerer als unseres, und es gab keine Teppiche, die der Einrichtung Wärme verliehen hätten. Lindsey trat von den Fliesen auf die gebohnerten Kiefernholzdielen des Zimmers, das bei uns das Wohnzimmer war. Sie erzeugte Echos in dem offenen Flur; der Klang jeder ihrer Bewegungen griff nach ihr.
Sie konnte sich der Erinnerungen nicht erwehren, die auf sie einstürmten. Jede hatte einen grausamen Beigeschmack. Buckley, der auf meinen Schultern huckepack die Treppe hinunterritt. Unsere Mutter, mich festhaltend, während Lindsey neidisch zuschaute, weil ich, den silbernen Stern in meinen Händen, die Spitze des Weihnachtsbaums erreichen konnte. Wie ich das Treppengeländer herunterrutschte und sie aufforderte mitzumachen. Wie wir beide nach dem Abendessen die Witzseiten von unserem Vater erbettelten. Wie wir alle hinter Holiday herrannten, während er bellte und bellte. Und die unzähligen erschöpft lächelnden Mienen, wenn wir an Geburts- und Feiertagen und nach der Schule für ein Foto gequält unsere Gesichter verzogen. Zwei Schwestern, gleich gekleidet in Samt oder Karos oder österliches Gelb. In der Hand hielten wir Körbe mit Häschen und Eiern, die wir in Farbe getaucht hatten. Lackschuhe mit Riemen und harten Schnallen. Angestrengt lächelnd, während meine Mutter versuchte, die Kamera scharf einzustellen. Die Fotos stets verschwommen, unsere Augen knallrote Flecken. Keins dieser meiner Schwester hinterlassenen Kunstwerke zeigte der Nachwelt die Momente davor und die Momente danach, wenn wir beiden Mädchen im Haus spielten oder uns um Spielsachen stritten. Wenn wir Schwestern waren.
Dann sah sie ihn. Meinen Rücken, der in den Nebenraum flitzte. Unser Esszimmer, das Zimmer, das seine fertigen Puppenhäuser beherbergte. Ich war ein Kind, das ihr vorauslief.
Sie eilte mir nach.
Sie jagte mich durch die unteren Zimmer, und trotz ihres Fußballtrainings musste sie, als sie wieder im Flur war, nach Luft ringen. Ihr wurde schwindelig.
Ich dachte an das, was meine Mutter immer über einen Jungen an unserer Bushaltestelle gesagt hatte, der doppelt so alt war wie wir, aber erst in der zweiten Klasse. »Er weiß selbst nicht, wie stark er ist, deshalb müsst ihr in seiner Gegenwart vorsichtig sein.« Wenn jemand nett zu ihm war, nahm er ihn gern liebevoll in den Schwitzkasten, und man konnte sehen, wie diese trottelige Liebe seine Gesichtszüge überfiel und seinen Wunsch nach Berührung entfachte. Bevor er von der regulären Schule genommen und an einen Ort geschickt wurde, über den niemand sprach, hatte er ein kleines Mädchen namens Daphne hochgehoben und so heftig gedrückt, dass sie auf die Straße fiel, als er sie losließ. Ich bedrängte das Dazwischen so ungestüm, um zu Lindsey zu gelangen, dass ich auf einmal das Gefühl hatte, ich könnte sie verletzen, statt ihr, wie ich es wollte, zu helfen.
Meine Schwester setzte sich auf die breiten Stufen am Ende des Flurs, machte die Augen zu und konzentrierte sich darauf, wieder zu Atem zu kommen, auf die Frage, warum sie überhaupt in Mr. Harveys Haus war. Sie fühlte sich von etwas Schwerem umschlossen, wie eine Fliege, die in dem Netztrichter einer Spinne gefangen, in seine dicken Seidenfäden eingewickelt ist. Sie wusste, dass mein Vater ins Maisfeld gegangen war, besessen von etwas, das sich jetzt ihrer bemächtigte. Sie hatte ihm Hinweise bringen wollen, die er als Sprossen benutzen konnte, um zu ihr zurückzuklettern, die ihm Fakten lieferten, mit denen er seinen Sätzen Len gegenüber Gewicht verlieh. Stattdessen merkte sie, wie sie ihm in eine bodenlose Grube nachstürzte.
Sie hatte zwanzig Minuten.
In diesem Haus war meine Schwester das einzige lebende Wesen, aber sie war nicht allein, und ich war nicht ihre einzige Gesellschaft. Die Architektur des Lebens meines Mörders, die Leichen der Mädchen, die er hinterlassen hatte, begannen sich mir jetzt, da meine Schwester in dem Haus war, zu enthüllen. Ich stand im Himmel. Ich nannte ihre Namen:
Jackie Meyer. Delaware 1967. Dreizehn.
Ein umgekippter Stuhl, die Unterseite in den Raum zeigend. Zusammengerollt daliegend, trug sie ein gestreiftes T-Shirt und sonst nichts. Neben ihrem Kopf eine kleine Blutlache.
Flora Hernandez, Delaware 1963. Acht.
Er hatte sie nur anfassen wollen, doch sie schrie. Ein kleines Mädchen für ihr Alter. Ihre linke Socke und ein Schuh wurden später gefunden. Der Leichnam nie geborgen. Die Knochen lagen in dem irdenen Kellergeschoss eines alten Apartmentgebäudes.
Leah Fox. Delaware 1969. Zwölf.
Auf einer Couch mit Schonbezug unter einer Auffahrt zum Highway tötete er sie, ganz geräuschlos. Er schlief auf ihr ein, eingelullt durch das Geräusch der Autos, die über ihnen dahinrasten. Erst zehn Stunden später, als ein Landstreicher an die kleine Hütte klopfte, die Mr. Harvey aus ausrangierten Türen gebaut hatte, fing er an, sich mit Leah Fox' Leiche davonzumachen.
Sophie Cichetti, Pennsylvania 1960. Neunundvierzig.
Seine Vermieterin, die mittels einer Wand aus Hartfaserplatten aus ihrer Wohnung im Obergeschoss zwei gemacht hatte. Ihm gefiel das halbrunde Fenster, das dadurch entstand, und die Miete war niedrig. Doch sie redete zu viel über ihren Sohn und bestand darauf, ihm aus einem Buch mit Sonetten Gedichte vorzulesen. Er schlief mit ihr auf ihrer Seite des geteilten Raums, schlug ihr den Schädel ein, als sie anfing zu sprechen, und brachte ihre Leiche ans Ufer eines nahe gelegenen Baches.
Leidia Johnson, Buck's County, Pennsylvania. 1960. Sechs.
Er grub eine gewölbte Höhle in einen Hügel am Steinbruch und wartete. Sie war die Jüngste.
Wendy Richter. Connecticut 1971. Dreizehn.
Sie wartete vor einer Bar auf ihren Vater. Er vergewaltigte sie im Gebüsch und erdrosselte sie anschließend. Diesmal hörte er, während er wieder zu sich kam aus der Betäubung, die oft lange andauerte, Geräusche. Er drehte das Gesicht des toten Mädchens zu sich, und als die Stimmen sich näherten, biss er sie ins Ohr. »Entschuldige, Mann«, hörte er zwei betrunkene Männer sagen, die zwischen die nahen Büsche traten, um zu pinkeln.
Jetzt sah ich die Stadt aus dahintreibenden Gräbern, kalt und windgepeitscht, wohin Mordopfer in der Vorstellung der Lebenden gehen. Ich konnte sehen, wie seine anderen Opfer sein Haus bevölkerten - jene Spur von Erinnerungen, die sie hinterließen, ehe sie der Erde entflohen -, aber an jenem Tag ließ ich sie ziehen und begab mich zu meiner Schwester.
Lindsey stand sofort auf, als ich mich wieder auf sie konzentrierte. Gemeinsam stiegen wir beide die Treppe hoch. Sie fühlte sich wie die Zombies in den Filmen, die Samuel und Hal liebten. Einen Fuß vor den anderen und ausdruckslos geradeaus starrend. Sie erreichte den Raum, der bei uns das Schlafzimmer meiner Eltern war, und fand nichts. Sie drehte eine Runde durch den oberen Flur. Nichts. Dann betrat sie das, was in unserem Haus mein Zimmer gewesen war und hier das Schlafzimmer meines Mörders.
Es war das am wenigsten kahle Zimmer des Hauses, und sie bemühte sich, nichts durcheinander zu bringen. Ihre Hand zwischen die auf dem Regal gestapelten Pullover zu stecken, gefasst darauf, in ihrem warmen Innern irgendetwas zu finden - ein Messer, eine Pistole, einen von Holiday angeknabberten Filzstift. Nichts. Doch dann, als sie etwas vernahm, das sie nicht identifizieren konnte, wandte sie sich dem Bett zu und erblickte den Nachttisch und im Lichtkreis einer angelassenen Leselampe seinen Zeichenblock. Sie ging darauf zu und hörte ein weiteres Geräusch und wieder eins und reimte sich die Geräusche nicht zusammen. Ein vorfahrendes Auto. Ein Auto, das quietschend bremst. Eine zuknallende Autotür.
Sie blätterte die Seiten des Zeichenblocks um und schaute auf die pechschwarzen Skizzen von Balken und Verstrebungen oder Türmchen und Stützpfeilern und sah die Maße und Notizen, die ihr alle nichts sagten. Dann, als sie zur letzten Seite kam, meinte sie, draußen Schritte zu hören, und zwar ganz nah.
Während Mr. Harvey im Schloss der Haustür den Schlüssel drehte, sah sie die mit leichter Hand hingeworfene Bleistiftskizze auf dem Blatt vor sich. Es war eine kleine Zeichnung von Stängeln über einem ausgehobenen Loch, daneben das Detail eines Bordes und eines Schornsteins, der den Rauch eines Feuers abziehen lassen konnte, und das, was sich ihr tief einprägte: in einer spinnwebartigen Handschrift hatte er »Stolfuzsches Maisfeld« hingeschrieben. Wenn die Zeitungsartikel nach der Entdeckung meines Ellbogens nicht gewesen wären, hätte sie nicht gewusst, dass das Maisfeld einem Mann namens Stolfuz gehörte. Jetzt sah sie, was ich sie wissen lassen wollte. Ich war in diesem Loch gestorben; ich hatte geschrien und mich gewehrt und verloren.
Sie riss die Seite heraus. Mr. Harvey war in der Küche und machte sich etwas zu essen - die Leberwurst, die er so gern mochte, eine Schüssel süßer, grüner Weintrauben. Er hörte eine Diele knarren. Er erstarrte. Er hörte noch eine, und sein Rücken erschauerte und erblühte in plötzlicher Erkenntnis.
Die Trauben fielen zu Boden und wurden von seinem linken Fuß zerquetscht, während meine Schwester sich in dem Zimmer darüber auf die Aluminiumjalousien stürzte und das störrische Fenster entriegelte. Mr. Harvey nahm zwei Stufen auf einmal, und meine Schwester schlug das Fliegengitter heraus, kletterte auf das Verandadach und rollte sich herunter, als er eben den Flur im ersten Stock erreicht hatte und auf sie zuraste. Die Dachrinne zerbrach, als ihr Körper daranprallte. Während er in sein Schlafzimmer stürmte, fiel sie in die Büsche und Dornensträucher und in den Schmutz.
Aber sie war nicht verletzt. Wunderbarerweise nicht verletzt. Wunderbar jung. Sie stand auf, als er gerade zum Fenster hinaussteigen wollte. Doch er hielt inne. Er sah sie auf den Holunder zurennen. Die aufgedruckte Nummer auf ihrem Rücken schrie ihm entgegen. 5! 5! 5!
Lindsey Salmon in ihrem Fußballtrikot.
Samuel saß bei meinen Eltern und Grandma Lynn, als Lindsey zu Hause ankam.
»O mein Gott«, sagte meine Mutter, die sie durch die kleinen, quadratischen Fenster zu beiden Seiten unserer Haustür als Erste sah.
Und bis meine Mutter sie geöffnet hatte, war Samuel herbeigeeilt, um die Lücke zu füllen, und sie lief, ohne meine Mutter oder auch nur meinen Vater anzublicken, humpelnd direkt in Samuels Arme.
»O Gott, o Gott, o Gott«, sagte meine Mutter, als sie den Schmutz und die Kratzer bemerkte.
Meine Großmutter kam und stellte sich neben sie.
Samuel legte meiner Schwester die Hand auf den Kopf und strich ihr Haar zurück.
»Wo bist du gewesen?«
Aber Lindsey wandte sich unserem Vater zu, der so klein geworden war - kleiner, schwächer als dieses Kind, das da wütete. Wie lebendig sie war, das verzehrte mich den ganzen Tag lang.
»Daddy?«
»Ja, Schätzchen.«
»Ich habe es getan. Ich bin in sein Haus eingebrochen.« Sie zitterte ein wenig und versuchte, nicht zu weinen.
Meine Mutter bellte: »Du bist was?«
Doch meine Schwester sah sie nicht an, nicht einmal.
»Das habe ich dir mitgebracht. Vielleicht ist es wichtig.«
Sie hatte die Zeichnung, zu einer festen Kugel zerknüllt, in ihrer Hand gehalten. Sie hatte ihr die Landung erschwert, aber sie war trotzdem entkommen.
Ein Satz, den mein Vater am selben Tag gelesen hatte, kam ihm jetzt in den Sinn. Er sprach ihn laut aus, während er Lindsey in die Augen schaute.
»Es gibt keine Situation, an die man sich so rasch gewöhnt wie den Kriegszustand.«
Lindsey reichte ihm die Zeichnung.
»Ich gehe Buckley abholen«, sagte meine Mutter.
»Willst du dir das hier nicht mal angucken, Mom?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Deine Großmutter ist da. Ich muss einkaufen, kochen. Niemandem scheint klar zu sein, dass wir eine Familie sind. Wir sind eine Familie, und wir haben einen Sohn, und ich gehe jetzt.«
Grandma Lynn begleitete meine Mutter zur Hintertür, versuchte aber nicht, sie aufzuhalten.
Als meine Mutter weg war, streckte meine Schwester Samuel ihre Hand entgegen. Mein Vater sah, was Lindsey in Mr. Harveys spinnwebartiger Schrift gesehen hatte: den möglichen Entwurf meines Grabes. Er schaute auf.
»Glaubst du mir jetzt?«, fragte er Lindsey.
»Ja, Daddy.«
Mein Vater hatte - voller Dankbarkeit - einen Anruf zu erledigen.
»Dad«, sagte sie.
»Ja.«
»Ich glaube, er hat mich gesehen.«
Ich hätte mir keine größere Gnade vorstellen können als die physische Unversehrtheit meiner Schwester an jenem Tag. Als ich vom Pavillon zurückkehrte, zitterte ich noch vor Angst, die mich erfasst hatte, Angst vor der Möglichkeit ihres Verlusts auf der Erde nicht nur für meinen Vater, meine Mutter, Buckley und Samuel, sondern, egoistischerweise, ihres Verlusts auf Erden für mich.
Franny kam von der Cafeteria her auf mich zu. Ich hob kaum den Kopf.
»Susie«, sagte sie, »ich habe dir etwas zu sagen.«
Sie zog mich unter einen der altmodischen Laternenpfähle und dann heraus aus dem Licht. Sie reichte mir einen viermal zusammengefalteten Zettel.
»Wenn du dich besser fühlst, sieh ihn dir an und geh dorthin.«
Zwei Tage später führte Frannys Landkarte mich zu einem Feld, an dem ich stets vorbeigegangen war, das ich jedoch, obwohl es wunderschön war, noch nicht erforscht hatte. Auf der Zeichnung war eine gepunktete Linie, die einen Pfad anzeigte. Nervös Ausschau haltend, suchte ich nach einer Zickzacklinie in den unzähligen Reihen Weizen. Direkt vor mir sah ich sie, und während ich zwischen den Reihen hindurchzuschreiten begann, löste sich der Zettel in meiner Hand auf.
Vor mir sah ich einen alten, prachtvollen Olivenbaum.
Die Sonne stand hoch, und vor dem Olivenbaum befand sich eine Lichtung. Ich wartete nur einen Augenblick, bis ich den Weizen auf der anderen Seite von der Ankunft eines Menschen erzittern sah, der nicht über die Halme herausragte.
Sie war klein für ihr Alter, wie sie es auf Erden gewesen war, und sie trug ein Kattunkleid, das am Saum und an den Ärmelaufschlägen ausgefranst war.
Sie blieb stehen, und wir starrten einander an.
»Ich komme fast jeden Tag her«, sagte sie. »Ich höre die Geräusche so gern.«
Um uns herum, so fiel mir auf, raschelte der Weizen, wenn er sich im Wind aneinander rieb.
»Kennst du Franny?«, fragte ich.
Das kleine Mädchen nickte feierlich.
»Sie hat mir eine Landkarte für diesen Ort gegeben.«
»Dann musst du bereit sein«, sagte sie, aber sie war auch in ihrem Himmel, und das erforderte, dass sie herumwirbelte und ihren Rock kreisförmig um sich schwingen ließ. Ich setzte mich unter dem Baum auf die Erde und beobachtete sie.
Als sie fertig war, kam sie auf mich zu und setzte sich atemlos hin. »Ich war Flora Hernandez«, sagte sie. »Wie hast du geheißen?«
Ich sagte es ihr, und dann fing ich an zu weinen, weil es mich tröstete, ein anderes Mädchen kennen zu lernen, das er ermordet hatte.
»Die anderen werden bald hier sein«, sagte sie.
Und während Flora sich drehte, kamen weitere Mädchen und Frauen aus allen Richtungen durch das Feld. Unser Herzeleid ergoss sich ineinander wie Wasser von Becher zu Becher. Jedes Mal, wenn ich meine Geschichte erzählte, verlor ich ein bisschen, einen ganz kleinen Tropfen Schmerz. An diesem Tag wurde mir bewusst, dass ich die Geschichte meiner Familie erzählen wollte. Denn der Schrecken auf Erden ist real, und er ist alltäglich. Er ist wie eine Blume oder wie die Sonne; er lässt sich nicht beherrschen.