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Der Mörder wartete gegenüber dem Christine-Koch-Gymnasium, eines dieser hässlichen, grauen Gebäude, die nach dem Krieg aus dem Boden gestampft worden waren. Kahle Büsche und Bäume vor dem Eingang vermittelten fälschlicherweise den Eindruck einer ländlichen Umgebung. Der Schulhof wurde jedoch von weiteren grauen Gebäuden begrenzt, und immer wieder versperrten ihm Lieferwagen, die umständlich rangierten oder den nahe liegenden Geschäften Ware brachten, die Sicht. Kurz streifte ihn der Gedanke, ob es nicht besser wäre, die Straße zu überqueren und sich direkt vor den Eingang zu platzieren. Falls der Hausmeister oder ein Lehrer misstrauisch fragen sollte, was er hier zu suchen habe, könnte er ja angeben, auf seinen Sohn zu warten. Wer weiß, vielleicht besaß er tatsächlich ein Kind, von dem er nichts wusste. Bei dieser Vorstellung verzogen seine Mundwinkel sich zu einem amüsierten Grinsen. Kinder waren das Letzte, was er derzeit brauchte. Die kosteten Freizeit, Nerven und vor allem Geld. Frauen auch, aber mit denen konnte er sich vergnügen, und oft füllte der Umgang mit ihnen sogar seine Geldbörse. Bei dem Thema Kinder musste er immer an Yvonne denken, die rothaarige Sauerländerin, die so temperamentvoll war, wie ihre Haare es versprachen und so bodenständig, wie ihre Herkunft es erahnen ließ. Sie war vermutlich die Einzige, die als mögliche Mutter in Frage kam. Viel zu oft hatte sie Diskussionen über Ehe und Kinder angeleiert und ihm immer wieder die Annehmlichkeiten einer Familie in allen Variationen geschildert, bis er es nicht mehr hören konnte und sich von ihr trennte. Das war nun auch schon wieder fünf Jahre her. Da er seinen Freundinnen gleich zu Beginn ihrer Beziehung sehr deutlich sagte, dass er auf keinen Fall mit einem Kind belästigt werden wollte, war es ihre Sache, entsprechend aufzupassen – fand er. Er konnte schließlich nichts dazu, dass er ein Womanizer war, ein charmanter, gut aussehender Typ, dem die Frauen hinterher liefen.

Das misstönende Schrillen der Schulglocke unterbrach seine Gedanken. Die Türen öffneten sich und spieen Massen von Schülern aus, die sich über den Pausenhof verteilten. Verdammt, nun hieß es, aufpassen. Wenn jetzt nichts geschah, brauchte er einen neuen Plan. Dabei hatte die ganze Geschichte so wunderbar begonnen als stünde das Schicksal selbst auf seiner Seite. Dazu die beiläufigen Bemerkungen des Opfers, das überhaupt nicht ahnte, auf welchem Pulverfass es saß. Dummerweise konnte er keinen Probedurchlauf machen. Weder wusste er, ob die Menge ausreichte, noch kannte er den Grad der Verfärbung. Natürlich hatte er sich bemüht, alle Risikofaktoren auszuschalten. Den Starter der Leuchtstoffröhre gegen einen kaputten auszutauschen, war eine Sache von wenigen Sekunden gewesen, und das Opfer hatte durch seine Vorliebe für nützliche Souvenirs ein Übriges getan. Wenn der Kerl aber doch plötzlich misstrauisch geworden war? Was dann? Ungeduldig blickte er zum wiederholten Male auf die Uhr, dann die Straße entlang. Nichts zu sehen. Nichts zu hören. Die Schulglocke beendete die Pause. Und nun? Während er unhörbar fluchte, nahm in seinem Kopf bereits ein neuer Plan Gestalt an. Endlich! Da kam es, das heißersehnte zuckende Blaulicht eines Krankenwagens. Die Fahrbahn vor der Schule schien plötzlich wie leer gefegt. Bremsen quietschten. Türen wurden aufgerissen. Ein Hausmeister im grauen Kittel brüllte und wedelte mit beiden Armen. Passanten blieben stehen und starrten neugierig hinter den Sanitätern her, die im Laufschritt ins Schulgebäude eilten. Dann hörte man nichts mehr. Einige setzten ihren Weg fort, die meisten blieben und warteten. Vermutungen wurden geäußert, verworfen oder als Wahrscheinlichkeit aufgegriffen und weiter gegeben. Unauffällig mischte er sich unter die Neugierigen.

»Wahrscheinlich hat sich wieder mal ein Schüler verletzt, so wie die toben, ist das kein Wunder.«

»Erinnern Sie sich, wie letztes Jahr die Feuerwehr anrückte, weil jemand unter dem Tisch gezündelt hatte? Diese Jugend heutzutage!«

»Ach was! Die Lehrer passen einfach nicht genug auf. Haben nur ihren freien Nachmittag im Kopf.«

Er amüsierte sich und genoss die Überlegenheit, die ihm das geheime Wissen gab. Fast fühlte er sich versucht, ihnen zu sagen, wen es getroffen hatte, doch nur fast. Schließlich besaß er einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Der hatte ihn auch am frühen Morgen hergeführt. Niemand hatte ihn gesehen, niemand etwas beobachtet. Schade, dass er keinem Menschen erzählen durfte, was da wirklich geschehen war. Im Grunde nichts Schlimmes! Nichts wirklich Schlimmes – in seinen Augen jedenfalls. Schließlich muss jeder Mensch einmal abtreten. Den einen trifft es eher, den anderen später. Wenn er darüber nachdachte, wie viele Opfer täglich der Straßenverkehr fordert, der Haushalt, der Sport ... nein, da brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben. Das ganz natürliche Sterben fehlte noch in seiner Aufzählung, ebenso Krankheiten und Naturkatastrophen. So viele Tote! Da kam es auf einen mehr oder weniger nun wirklich nicht an. Im Übrigen wurde seiner Meinung nach sowieso viel zu viel Aufhebens um den Tod gemacht. Besonders im Westen. Wer kümmerte sich um die unschuldigen Opfer in den Krisengebieten? Die wurden nicht einmal mehr gezählt. Und dieser ganz spezielle Tote tat sogar ein gutes Werk, wenn auch ungewollt und unbewusst. Und wer weiß ... vielleicht hatte auch er ein gutes Werk getan, indem er dem Betroffenen zum vorzeitigen Eintritt ins Paradies verhalf. Er kicherte boshaft. Das Paradies. Ein von den Kirchen erfundenes Hirngespinst, das ihnen hilft, Macht auszuüben, indem es das Unfassbare erklärt und ertragbar macht. Eine Idee für Träumer, für ängstliche Typen, die sich nicht damit abfinden können, dass das Leben nun einmal begrenzt ist. Er gehörte nicht zu diesen Weicheiern. Er brauchte niemand, der ihm sagte, was zu tun sei. Er entschied selbst über sein Leben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Jawohl! Er konnte die jammernden und Mitleid heischenden Typen nicht ausstehen. Man brauchte nur ein wenig Initiative und Kreativität, und schon befand man sich auf der Sonnenseite des Lebens.

Flexibilität und schnelles Einschätzen einer Situation gehörten schon immer zu seinen Stärken. Das hatten sogar seine Pauker erkannt. Fünfundzwanzig Jahre war es her, dass er diese Schule besucht hatte. Er erinnerte sich als wäre es gestern geschehen, wie Oberstudienrat Heimann ihn beim Rauchen auf der Toilette erwischt hatte. Seine Klasse probte gerade ›Das fliegende Klassenzimmer‹. Genau das hatte er auch erzählt und dreist behauptet, er spiele den Vesuv und müsse dafür üben. Der Heimann hatte so schrecklich lachen müssen, dass er ihn ohne Strafe hatte ziehen lassen.

Die zuschlagenden Türen eines Notarztwagens holten ihn zurück in die Gegenwart. Auch er hatte vor der Schule angehalten. Ein Notarzt! Sollte sein Opfer etwa überlebt haben?

 

Wieder schellte es. Ende der sechsten und letzten Schulstunde. Stühle kippten, Taschen flogen, als die Schüler der vierten Klasse aufsprangen und unter ohrenbetäubendem Gejohle zur Tür rasten. Jeder wollte der Erste sein. Nur mit viel Mühe hielt die Lehrerin jene zurück, die ihre Stühle nicht hochgestellt oder ihre Bücher auf dem Tisch vergessen hatten. »Veronika, wartest du bitte einen Moment, ich möchte noch mit dir reden!«

Veronika Merklin blieb zögernd stehen. Sie war schmal und so dünn, dass es schien, als drückten Größe und Gewicht ihres Tornisters sie zu Boden. Das lange, hellblonde Haar trug sie zu altmodischen Zöpfen geflochten, jedoch als Zugeständnis an die herrschende Mode hing ihr eine orangerote Strähne in der Stirn. Unsicher blickte sie zur Lehrerin, als wüsste sie nicht recht, ob sie gehorchen sollte oder besser nicht. Sie ahnte, was Frau Renner von ihr wollte. Schließlich hatte sie heute die zweite mangelhafte Mathematikarbeit zurückbekommen, und in den anderen Fächern sahen ihre Leistungen auch nicht besser aus.

»Also Veronika«, fragte die Lehrerin dann auch erwartungsgemäß, als alle anderen Kinder die Klasse verlassen hatten. »Was ist mit dir los? Solche Zensuren bin ich von dir nicht gewohnt.«

Das Mädchen wand sich. »Ich weiß auch nicht.«

»Du warst vor noch nicht allzu langer Zeit die Beste in der Klasse.« Frau Renner schaute auffordernd zu Veronika, die mit gesenktem Kopf vor ihr stand und jeden Blickkontakt mied.

»Nun komm schon! Eine schlechte Zensur kann ein Ausrutscher sein, aber zwei? Liegt es an den anderen Kindern? Ärgern oder bedrohen sie dich, weil du gut bist? Ich hab’ mal gehört, wie der Niklas dich Streberin geschimpft hat.«

»Ja, ich meine nein, das hat nichts damit zu tun.« Das Kind schüttelte heftig den Kopf, ein Zopf löste sich, zwei Tränen rollten langsam die Wange hinunter. Sie schniefte.

»Ich kann dir nur helfen, wenn du mir sagst, was los ist.«

Es dauerte lange, und die Lehrerin musste mehrfach versprechen, der Mutter nichts zu sagen, bis das Kind damit herausrückte, dass es zu Hause nicht mehr schön sei.

Helga Renner kannte Veronikas Mutter recht gut. Wann immer in der Schule die Hilfe von Eltern gebraucht wurde, war Anne-Liese Merklin dabei. Schon zweimal hatten Lehrerin und Mutter der Polizei geholfen, einen Mordfall zu klären. Und Helga wusste auch, dass Anne-Liese, genannt Ali, seit einiger Zeit über ihre Ehe nachgrübelte. Dieses Band, das ihr viele Jahre Geborgenheit und Sicherheit geschenkt hatte, war spröde und rissig geworden. Und Veronika hatte offensichtlich einiges davon mitbekommen.

»Warum ist es denn nicht mehr schön? Streiten deine Eltern?«

»Nein, eigentlich nicht, nicht so richtig jedenfalls.«

»Gibt es Schläge?«

»Natürlich nicht. Mama würde uns doch nicht schlagen«, kam es entrüstet zurück.

Veronika besaß eine ältere Schwester, Franziska. Sie besuchte die sechste Klasse des Christine-Koch-Gymnasiums.

»Ich weiß nicht so genau was los ist. Es ist ... es ist einfach anders als früher.«

Trotz aller Anstrengung gelang es Helga nicht, herauszufinden, was denn nun anders war, aber sie wusste, wie empfänglich Kinder für atmosphärische Störungen sind. Sie spüren sehr schnell, wenn es Spannungen in der Familie gibt. Helga überlegte, wie sie am besten mit der Mutter reden konnte, ohne ihr – dem Mädchen gegebenes – Versprechen zu brechen. Wann hatte sie Ali eigentlich das letzte Mal getroffen? Das schien Ewigkeiten her zu sein. Da sie die Arbeiten ihrer Tochter regelmäßig unterschrieb, war sie über deren Leistungsabfall informiert, und Helga hatte keinen Grund gesehen, zusätzlich anzurufen. Doch inzwischen gab es nicht nur schlechte Zensuren zu beklagen, sondern auch auffälliges Verhalten. Früher hatte Veronika zu den ruhigen, intelligenten Kindern gehört, die im Unterricht kaum störten, selten in Streitereien verwickelt waren und durch ihre fröhliche Art zur Auflockerung des Vormittags beitrugen. Die Veränderung musste kurz nach den Herbstferien eingesetzt haben, zunächst unmerklich, später dann deutlicher. Sie stritt immer häufiger mit anderen Kindern, störte während des Unterrichts, verunzierte ihre Hefte mit Strichmännchen und erschien eines Tages sogar mit einem Stapel Yu-Gi-Oh-Karten. Im vorweihnachtlichen Stress war der Lehrerin das gar nicht bewusst geworden, doch als sie jetzt darüber nachdachte, erkannte sie, dass dies Veronikas Art sein musste, um Aufmerksamkeit und Hilfe zu bitten. Was, zum Teufel, war da bloß los? Die Lehrerin beschloss, heute Abend, wenn die Kleine im Bett lag, bei Ali anzurufen und einmal nachzufragen.

»Sie sagen aber Mama nichts?«, wiederholte Veronika, als habe sie Helgas Gedanken gelesen.

»Nein, aber ich muss mit ihr über deine Zensuren sprechen, das verstehst du doch?«

Ergeben nickte das Mädchen, froh, endlich gehen zu dürfen.

Mit ihren Gedanken noch immer bei Veronika und ihrer Mutter suchte Helga ihre Utensilien zusammen. Vor etwa drei Monaten hatte Ali ihr anvertraut, dass sie ihren Mann nicht mehr liebe. Einfach so. Von einer Sekunde zur anderen schien jede Zuneigung verschwunden, und sie fühlte sich, als säße sie neben einem Fremden. Damals hatte Helga gehofft, dass beide Ehepartner vernünftig genug sein würden, die Angelegenheit zu regeln, ohne die Kinder allzu sehr zu belasten. Offensichtlich war das nicht gelungen. Irgendwann im Dezember hatte Helga Ali angerufen, um mal wieder ein bisschen zu plaudern, doch die gab an, keine Zeit zu haben. Bei den vielfältigen Aktivitäten, denen Ali nachging, klang das glaubhaft, und die Lehrerin hatte nicht weiter nachgefragt, steckte sie doch selbst im Festtagstrubel. Doch jetzt, im Nachhinein, kam ihr Alis hektische Art ungewöhnlich vor. Denn obwohl diese in ihrer Gemeinde engagiert war, in Gymnasium und Grundschule half, wenn Eltern gebraucht wurden und allen möglichen Leuten beistand, war sie doch stets stolz darauf gewesen, dass ihre Kinder nicht zu kurz kamen. Ihre derzeitige Gleichgültigkeit erschien Helga untypisch, und allmählich wurde sie neugierig, was bei Merklins eigentlich los war. Heute Abend wollte sie sich nicht abspeisen lassen. Heute Abend musste die Freundin mit der Wahrheit herausrücken.