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Am späten Nachmittag war sie wieder allein. Klaus hatte sie nach dem Spaziergang verlassen, weil er Käthe besuchen und anschließend daheim ein wenig Ordnung schaffen wollte. Für sie war der Sonntagnachmittag sowieso Arbeitstag. Ohne ständige Kontrolle und Sanktionen würden die meisten ihrer Schüler sämtliche Aufgaben vergessen. Immer wieder seufzte sie entnervt auf, wenn sie falsch geschriebene Worte anstrich, die seit Tagen geübt worden waren. Viel zu viele Kinder besaßen ihrer Meinung nach ein Gedächtnis wie ein an Alzheimer erkrankter Achtzigjähriger. Fast war sie froh, als die melodischen Töne des Telefons ihren Ärger unterbrachen. Zu ihrem Erstaunen hörte sie Anna Pawalek schluchzen: »Gut, dass du endlich da bist. Entschuldige, dass ich dich anrufe, aber ich weiß nicht, mit wem ich sonst reden könnte. Weißt du, ich mache mir Sorgen wegen Dieter. Er ist vom Spaziergang noch nicht zurückgekommen. Er geht immer um den Hengsteysee. Und ich wollte mit meiner kaputten Schulter heute nicht mit, darum ist er allein ... ich habe Angst, weil manche Stellen doch glatt sein können und heute Mittag hat es noch geschneit ... und deshalb habe ich dann bei der Polizei angerufen ... und die haben versprochen, am See zu schauen. Aber sie haben sich nicht gemeldet. Entschuldige, das ist wohl alles etwas wirr, es ist nur ... ich muss einfach darüber reden und die anderen Freunde, die waren bei dem Autounfall dabei und deswegen will ich nicht ... Ich habe Angst, Helga, ich glaube, da ist was Schlimmes passiert, man hört doch soviel von Überfällen. Ich weiß, Dieter ist nicht verwirrt und auch nicht alt, und er kennt den Weg. Er geht fast jeden Tag da lang. Und er freute sich so über den Schnee.«

Ein lautes Weinen, dann wurde aufgelegt. Helga blickte zu dem Stapel Hefte hinüber, der auf Korrektur wartete. Was tun? Eine Kollegin, die offensichtlich Hilfe brauchte, durfte sie nicht im Stich lassen. Sie schlug die genaue Adresse im Telefonbuch nach und fuhr los.

In der Hengsteyer Straße sah sie schon von Weitem das Polizeiauto am Straßenrand stehen und spürte, wie sich eine unangenehme Kälte in ihr ausbreitete. Es dauerte lange bis auf ihr energisches Klingeln hin geöffnet wurde. Sie kannte den schlanken, dunkelhaarigen Mann, der da in der Tür stand. Seine Anwesenheit konnte nur das Schlimmste bedeuten. Jürgen Masowski war ein Kollege ihres Freundes. Klaus hatte ihn ihr einmal vorgestellt, und sie hatten schon häufiger am Telefon miteinander gesprochen. Er starrte sie genauso überrascht an wie sie ihn. »Nanu, Frau Renner, wie kommen Sie hierher?«

»Anna, Frau Pawalek, hat mich angerufen. Was ist los? Wurde ihr Mann etwa ...?« Sie sprach das Furchtbare nicht aus.

»Nein, nein. Kommen Sie erst einmal rein.« Er trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Frau Pawalek ist verständlicherweise sehr erregt. Sie hat gerade eine Beruhigungsspritze bekommen.« Das erklärte nicht seine Anwesenheit. Aus einem Raum rechts der Diele hörte sie mehrere Stimmen. Masowski bemerkte die Angst in ihren Augen und suchte sie zu beruhigen. »Ihnen muss ich doch nicht erklären, dass wir bei jedem nicht eindeutigen Todesfall zuständig sind. Und noch wissen wir nichts Genaues.« Das klang profimäßig beruhigend. Sie kannte seine Art, um den heißen Brei herumzureden bis er abgekühlt war. Deswegen fragte sie ungeduldig: »Also ist ihr Mann tot! Wie ist es passiert? Und hören Sie auf, mich schonen zu wollen. Frau Pawalek ist eine frühere Kollegin und gute Bekannte von mir. Ihren Mann dagegen kannte ich nur flüchtig. Nun reden Sie schon. Morgen früh steht es sowieso in der Zeitung.«

Er seufzte. »Da haben Sie wohl recht. Also, Herr Pawalek wurde im Hengsteysee gefunden. So wie es aussieht, war es ein Unfall, vielleicht auch ...« Er stockte.

»Selbstmord?« An Schlimmeres mochte sie nicht denken.

»Einzelheiten kennen wir noch nicht. Seine Frau ist viel zu geschockt, um auf Fragen vernünftig zu antworten. Folglich müssen wir abwarten, was die Spurensicherung ergibt.« Das klang endgültig. Das Gespräch hatte im Flur stattgefunden, und Masowski drängte sie jetzt ins Wohnzimmer. Zum einen, um ihr keine Gelegenheit zu weiteren neugierigen Fragen zu geben, wie Helga vermutete, zum anderen, um Anna Pawalek zu trösten, die mit rotgeweinten Augen im Sofa saß. Der Arzt hatte sie nicht überreden können, sich ins Bett zu legen. Helga eilte zu ihr, setzte sich und zog sie in ihre Arme. »Ach Anna, es tut mir so leid. Wenn ich dir helfen kann, sag’ es mir. Magst du etwas essen oder soll ich einen Tee kochen? Der beruhigt, weißt du.« Sie wusste, sie redete dummes Zeug, aber sie wollte einfach nur, dass Anna fühlte, da war jemand, der sich kümmerte, dem sie etwas bedeutete. Schockpatienten mussten zuallererst beruhigt werden, hatte sie in diversen Kursen gelernt. Also sprach sie weiter, bis Anna sich regte und meinte: »Ein Tee wäre nicht schlecht.«

In der Küche hörte sie Masowski mit einigen Leuten sprechen. »Fremdverschulden können wir also ausschließen. Bleiben Unfall oder Selbstmord.« Helga blieb mucksmäuschenstill in der Tür stehen, um sich kein Wort entgehen zu lassen. »Ich kann mir angenehmere Selbstmordmethoden vorstellen, als bei der Kälte in den See zu gehen und tippe auf Unfall. Der Weg ist zwar breit, aber vielleicht ist er nahe ans Ufer gegangen, um sich etwas anzusehen. Dann rutschte er aus und ist ins eisige Wasser gestürzt. Die paar Büsche, die da stehen, können einen Körper nicht aufhalten. Tja, und das war zuviel für sein Herz. So jung war er schließlich auch nicht mehr.« Der Sprecher hatte nach Helgas Schätzung gerade die zwanzig überschritten. Da mochte Anfang fünfzig alt erscheinen.

»Ich spreche noch mal mit der Frau. Vielleicht gibt es Gründe für einen Suizid.« Masowski drehte sich um und sah Helga. Bevor er noch etwas sagen konnte, fragte sie, als ob sie nichts gehört hätte: »Ich werde Tee kochen. Möchte jemand eine Tasse?« Sie schüttelten unisono die Köpfe. Masowski wandte sich zum Wohnzimmer, die anderen verließen das Haus.

Während Helga in den Schränken nach Kanne und Teebeuteln suchte, lauschte sie zum Wohnzimmer hinüber. Da alle Türen offen standen, konnte sie die Fragen des Polizisten verstehen. Anna dagegen sprach so leise, dass sie nur wenig mitbekam. Doch Helga genierte sich nicht, in den Flur zu schlüpfen und sich hinter der Tür zu verbergen, sodass sie von innen nicht gesehen werden konnte. Sie wollte Anna helfen, entschuldigte sie ihr Vorgehen, und dazu musste sie genau wissen, was passiert war. Anna wollte sie nicht belästigen, schließlich hatte die bereits genug mitgemacht. Sie hörte Annas Selbstvorwürfe. »Wäre ich doch nur mitgegangen, dann wäre das nicht passiert. Ich hätte ihm doch helfen können.«

»Sagten Sie nicht, dass Ihre Schulter verletzt ist?«

»Sicher, aber sie wurde wieder eingerenkt und ich komme zurecht. Ich hätte mitgehen können. Doch er wollte nicht. Er war immer so rücksichtsvoll. Warum habe ich nur auf ihn gehört. Er könnte noch leben, wenn ich dabei gewesen wäre. Oh, mein Gott.« Die Stimme wurde leiser, ging unter im Fluss der Tränen. Helga wunderte sich, wie sanft Masowski klingen konnte. »Erzählen Sie ein wenig von Ihrem Mann. Gab es in letzter Zeit Probleme? Hatte er Beschwerden?«

»Sie meinen, ihm sei plötzlich übel geworden und er sei deshalb ausgerutscht? Vielleicht, obwohl es ihm gut ging. Er hat nicht geklagt.« Dann berichtete sie von dem Unfall in Gran Canaria. Helga verstand nicht alles, weil Anna zwischendurch immer wieder aufschluchzte. Doch dann sagte Masowski: »Also ihr Mann hat die Fahrt vorgeschlagen. Da hat er sich wohl Vorwürfe gemacht, als sie so tragisch endete.« Helga wusste, worauf der Polizist hinauswollte. Sie wartete gespannt auf Annas Antwort. Genau in dem Moment pfiff der Wasserkessel. Sie eilte zurück in die Küche und goss den Tee auf. Als sie ihren Horchposten wieder erreichte, war es zu spät. Masowski verabschiedete sich höflich und verständnisvoll von Anna, kurz und knapp von Helga und verschwand. Helga trug die Teekanne hinüber und fragte nach Tassen. Anna stand auf und deckte den Tisch. Die Bewegung schien ihr gut zu tun.

»Ich glaube, die Polizei meint, Dieter habe Selbstmord begangen«, erklärte Anna, sobald sie wieder saß. »Aber das stimmt nicht. Natürlich hat er sich Vorwürfe gemacht, aber er war auch so vernünftig, dass er einsah, dass er keine Schuld trug. Und das andere, dieses ... wie sagte der Arzt doch? Ach ja, dieses posttraumatische Durchgangssyndrom ... Dieter wusste, dass das eine normale Unfallfolge war und wollte sich auch behandeln lassen. Er hatte keine Schuldgefühle, ganz bestimmt nicht. Hubertus saß am Steuer. Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann er. Und er ist tot. Alle, die vorne saßen, sind tot. Hubertus, seine Frau, sogar Brigitte. Brigitte Rescheid, kanntest du sie?«

Helga schüttelte den Kopf.

»Ihr Name stand oft in der Zeitung, sie malte und hatte häufiger Ausstellungen. Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst. Wenn man von einem Hobby sprach, konnte sie fuchsteufelswild werden. Alles vorbei. Alfons liegt noch im Krankenhaus. Warum musste das passieren? Ausgerechnet die Drei. Für Hubertus war es eine Art zweite Hochzeitsreise. Die beiden waren noch nicht so lange verheiratet. Trotz des Altersunterschieds liebte Julia ihn, das sah man bei jeder Gelegenheit. Sie waren so glücklich. Und jetzt ...« Wieder weinte sie leise. Helga versuchte es mit Ablenkung. »Möchtest du Milch in den Tee oder soll ich Zitrone holen? Ich habe in der Küche eine gesehen.«

Anna sah auf, fischte ein neues Papiertaschentuch aus der Tüte und wischte sich die Augen. »Ach Helga, du bist so gut zu mir. Es tut mir leid, dich belästigt zu haben. Aber ich wusste nicht, wen ich anrufen sollte. Wir haben nicht viele Freunde, weißt du. Dieter sagte immer, dass wir uns genügen.« Ein unkontrolliertes Schluchzen. »Ich glaube fast, es war Schicksal, dass wir uns gestern getroffen haben. Sonst hätte ich wohl nicht gewagt, dich anzurufen und säße jetzt allein hier. Ich glaube, dann ... dann würde ich Dieter folgen. Vielleicht tue ich es auch. Was soll ich so allein?«

»Um Himmels willen, sag’ so etwas nicht. Du bist jung, Anna. Das Leben liegt vor dir. Auch mit vierzig kannst du noch einmal glücklich werden. Sieh mich an. Ich habe die Liebe meines Lebens auch erst mit Anfang vierzig getroffen. Es gibt so viel Schönes zu entdecken. Wirf dein Leben nicht weg. Versprich mir, dass du es nicht tust. Bitte. Sonst kann ich dich heute Nacht nicht beruhigt allein lassen. Oder soll ich bleiben? Das könnte ich auch. Allerdings nur bis morgen früh.«

»Nein, ich komme schon zurecht. Mach’ dir keine Sorgen.« Genau das tat Helga aber. Zwei derartige Erlebnisse so kurz hintereinander, erst drei Freunde, dann ihren Mann verloren, kein Wunder, dass sie am Ende war. Am liebsten hätte Helga einen Krankenwagen gerufen. Sie hoffte, dass die Beruhigungsspritze des Arztes bald wirken würde. Sie würde erst gehen, wenn sie Anna ruhig und sicher im Bett wusste. Sie fühlte sich hilflos und der Lage nicht gewachsen. Wenn Anna nun wahr machte, was sie vorhin angedeutet hatte? »Gibt es jemanden, den ich anrufen könnte? Jemand, der dir helfen kann, wenn ich arbeiten muss?«

Trotz Annas Kopfschütteln fragte sie weiter. »Du musst doch Verwandte haben oder Freunde, die nicht mit auf Gran Canaria waren? Bitte Anna, ich lass dich nicht allein hier mit deinen trüben Gedanken.«

»Ich verspreche dir, ich lege mich ins Bett, sobald du die Tür hinter dir geschlossen hast. Morgen kannst du ja nach der Schule kurz vorbeikommen.« Sie stand auf, um anzudeuten, dass sie allein gelassen werden wollte. Schweren Herzens respektierte Helga Annas Entschluss, erhob sich, zog Anna noch einmal in die Arme und ging. Während der Heimfahrt dachte sie die ganze Zeit darüber nach, was sie hätte tun können. Nichts, dachte sie, nichts, womit Anna einverstanden gewesen wäre. Man kann niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will. Wie gut, dass sie sich gestern getroffen hatten und Anna wenigstens sie, Helga, hatte anrufen können. Manchmal ging das Schicksal schon seltsame Wege.

Es war spät, als sie heimkam. Resigniert starrte sie auf die Hefte, die noch bearbeitet werden wollten. Heute nicht mehr, beschloss sie. Sie würde morgen ein paar Blätter mit Linien kopieren, damit die Kinder schreiben konnten. Die meisten besaßen nur ein Heft, oder behaupteten dies zumindest, und da Helga sie eingesammelt und nicht zurückgegeben hatte ... Verdammt! Im Gymnasium konnte sie ja nicht so einfach kopieren wie in ihrer Grundschule. Da musste alles vorher angemeldet werden. Natürlich könnte sie morgen früh den Hausmeister aufsuchen und kleine Brötchen backen. Aber gefallen tat ihr die Idee nicht. Blieb nur ein Copyshop. Sie bezweifelte, dass sie um 7.30 Uhr einen geöffneten finden würde. Entweder musste sie die Hefte unkorrigiert zurückgeben oder sich an die Arbeit machen. Sie wollte weder das eine noch das andere. Angestrengt suchte sie nach einer Lösung. Natürlich, sie könnte Angela anrufen. Angela Steinhofers Klasse war an der Hauptschule untergebracht, und da würde man sich mit dem Kopieren hoffentlich nicht so anstellen. Außerdem hatte die Kollegin sich stets hilfsbereit gezeigt. Nach einem resignierten Blick auf die Uhr griff sie zum Hörer und schilderte der Kollegin ihre Nöte. Ein kurzes Geplänkel über ihre derzeitigen Gastgeber, dann sagte Angela zu.

»Kein Problem. Wir treffen uns um 7.30 Uhr vor der Schultür. Ich besitze einen Schlüssel. Dann kopieren wir deine Sachen und du kommst rechtzeitig zum Unterricht.«

Erleichterung durchflutete Helga. Sie bereitete sich noch einen Grog und ging zu Bett, nicht ohne den Wecker dreißig Minuten früher zu stellen.