Die Rechtsmedizinerin Margareta Rylander-Lilja stand neben einem der Tische im Obduktionssaal des Hauses Medicinargatan 1 C. Sie blickte auf und nickte, ohne zu lächeln, als Folke eintrat.
»Du bist spät dran.«
»Ja, ich …«
»Das Einzige, was noch schlimmer ist, als zu spät zu kommen, ist eine schlechte Ausrede.«
Der Mann auf dem rostfreien Obduktionstisch vor ihnen war durchtrainiert, hatte schöne Züge und dickes Haar. Wären da nicht der Y-Schnitt auf seinem Brustkorb und die fehlenden Hände gewesen, man hätte glauben können, er schlafe. Folke schüttelte den Kopf. Seine aufgerissenen Augen folgten dem Obduzenten, der am Nebentisch tätig war und gerade eine Säge weglegte. Folke stellte sich so weit abseits, wie er nur konnte, und drehte dem Assistenten, der jetzt Wasser laufen ließ, den Rücken zu.
Margareta musterte Folke. Ihre Hände waren lang und schmal, ähnlich denen einer Pianistin. Die Fingernägel waren kurzgeschnitten und unlackiert. In der Rechten hielt sie ein Klemmbrett, auf dem ein Blatt Papier befestigt war. Sie hatte den vor ihr liegenden Mann minutiös studiert und seine Verletzungen auf dem Papier dokumentiert, das die Vor- und Rückseite eines Körpers zeigte. Eigentlich war es doppelte Arbeit, weil ihr Hilfsmittel in erster Linie das Diktiergerät war, das an ihrem Hals hing und mit Hilfe des Kinns aktiviert wurde. Doch hatte sie diese Technik schon vor langer Zeit erlernt und fand, dass sie so ein umfassenderes Bild erhielt. Insbesondere, wenn sie sich im Nachhinein an eine verstorbene Person und ihre Verletzungen erinnern sollte.
Jemand von der Spurensicherung musste immer anwesend sein, wenn es um die Obduktion bei einem vermutlichen Mordfall ging, und in der Tat war Jerker da gewesen. Normalerweise teilte er die Ergebnisse den Kommissaren mit, aber nun, da Folke aufgetaucht war, wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Ich sollte Jerker hier treffen, um …«, fing Folke an.
Margareta ignorierte den Kommentar und steckte die Hülse wieder auf den Stift. Sie war eine elegante Dame in den Fünfzigern, die keiner der Kollegen je wagen würde Margi zu nennen, jedenfalls nicht in nüchternem Zustand. Margareta brachte mehr Anteilnahme und Fürsorge für ihre Patienten auf als viele Ärzte, die schließlich lebendige Menschen behandelten. Vielleicht lag es daran, dass Margaretas Besucher keine Möglichkeit mehr hatten, für sich selbst zu sprechen, sondern darauf vertrauen mussten, dass sie es für sie tat.
Margareta fiel es schwer zu verstehen, warum Folke, der mit so wichtigen Dingen zu tun hatte, trotzdem ganz uninteressiert zu sein schien. Vielleicht aber war gerade das seine Methode, die Schrecklichkeiten auf Distanz zu halten. Ihr war es eigentlich egal, wie es sich tatsächlich verhielt. Sie fand, dass er sich oft in Details verlor, statt das Ganze im Blick zu behalten, und das ärgerte sie. Dieser Mann ging ihr einfach auf die Nerven mit seiner Besserwisserei und dem ständigen Korrigieren.
Margareta legte Papier, Stift und die harte Plastikunterlage hinter sich ab und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Gestalten vor sich. Die eine davon am Leben, in gewisser Weise aber weniger lebendig als der kalte Körper auf dem Tisch.
»War es schwierig festzustellen, wann er gestorben ist?«, fragte Folke.
»Im Gegenteil, ich bin mir absolut sicher.« Margareta betrachtete das Gesicht des Mannes mit einer Miene, die besagte, dass sie es tragisch fand, wenn Menschen so jung starben.
»Und wann war das?«, fragte Folke, der nicht recht wusste, auf welchem Bein er stehen sollte. Es konnte einem nicht verborgen bleiben, dass er sich im Obduktionssaal äußerst unwohl fühlte. Er knöpfte die Jacke zu, wie um zu betonen, dass er auf dem Weg nach draußen war.
»Um vier Uhr morgens«, sagte Margareta.
»Mitten in der Nacht? Was macht man im Taucheranzug mitten in der Nacht?«, sagte Folke verwundert und rückte seinen Schal zurecht, auch das ein Hinweis.
»Keine Ahnung, aber glücklicherweise ist es nicht meine Aufgabe, das herauszufinden. Schau her.«
Folke trat zwei Schritte näher und nahm seine braunen Lederhandschuhe von einer Hand in die andere.
»Du kannst es von dort nicht sehen, komm bitte hierher.« Margareta zeigte mit der Hand, wo er nach ihrem Wunsch zu stehen hatte. Folke fühlte sich wie ein Schuljunge, als er widerwillig noch ein paar Schritte machte. Margareta bemerkte, dass er seine Lederhandschuhe angespannt gegen den Schenkel schlug. Sie wies auf den rechten Knöchel des Mannes. Folke reckte sich bei dem halbherzigen Versuch, besser zu sehen.
»Die Knöchel waren mit einem Seil zusammengebunden, und das war anscheinend irgendwo unter Wasser befestigt. Die Knoten, also keine normalen, sondern wahrscheinlich Seemannsknoten, hat Jerker mitgenommen. Wir haben das Seil abgeschnitten, ohne sie aufzumachen. Der Mann hat nicht besonders festgesessen, aber …«
»Du meinst, jemand hat ihn unter Wasser angebunden?«, fragte Folke.
»Nicht nur das. Komm! Hierher!« Margareta wartete, bis er sich bewegte.
Folke seufzte und blickte überallhin, nur nicht auf den Tisch, dem er sich widerstrebend näherte.
»Oh, das ist … wie entsetzlich …«, flüsterte er heiser und wandte sich voller Ekel ab. Er spürte einen schalen Geschmack im Mund und war nahe daran loszuschluchzen.
Margareta konnte sich nicht erinnern, je einen Fluch von ihm gehört zu haben.
Der Mann besaß keine Hände. Natürlich waren sie dort gewesen, aber jemand hatte sie beseitigt.
»Sie sind nicht abgeschnitten, sondern abgeknipst worden«, sagte Margareta, »vermutlich mit irgendeiner großen Zange. Das ist unter Wasser passiert.« Sie zeigte mit den Händen, welche vermutliche Größe eine solche Zange oder ein solches Schneidewerkzeug haben musste.
»Du meinst also, jemand hat ihn festgebunden und ihm dann … die Hände ab… abgeknipst?«, sagte Folke. Die Worte ließen sich nur schwer herausbringen.
»Genau so. Jemand hat ihm einen einfachen Knoten um die Beine geschlungen, der an und für sich leicht aufzubekommen war. Vermutlich hat er das bemerkt und gedacht, dass es kein größeres Problem sein würde, sich wieder zu befreien.«
»… für denjenigen, der Hände hatte, um das Seil aufzuknoten«, fügte Folke hinzu.
»Stimmt. Ich kann mir vorstellen, dass er gekämpft hat, um freizukommen, aber da das Herz Blut aus dem Körper und dann Salzwasser hineingepumpt hat, hätte er sich niemals retten können, selbst wenn er freigekommen wäre. Er hatte zu viel Blut verloren. Der ihn festgebunden hat, hoffte wohl, dass er dort unten bleiben würde, doch aus irgendeinem Grund ist er losgekommen und an die Oberfläche gestiegen, doch da war er bereits tot.«
»Aber«, sagte Folke, »es muss doch saukalt sein, mitten im Winter zu tauchen, oder? Weißt du, wie das funktioniert?«
»Ja, selbst wenn man einen Trockenanzug trägt, ist es beim Tauchen um diese Jahreszeit kalt. Er hatte Thermounterwäsche an. Ach richtig! In der Brusttasche des Oberteils steckte ein Musikgerät, wie immer das auch heißt.«
»Ein Walkman?«, fragte Folke.
Margareta lächelte zum ersten Mal, während sie die Schutzkleidung an ihrem Arm zurückschlug, um auf die Uhr zu schauen.
»Nein du, ein Walkman ist Steinzeit, den kenne sogar ich. iPod oder so heißt das heutzutage. Sprich mit Jerker, er hat das Teil zur technischen Untersuchung mitgenommen. Da wir nicht feststellen konnten, wer der Mann ist, könnt ihr ihn ja wohl mit den Personen abgleichen, die als vermisst gemeldet wurden. Vielleicht ergibt das etwas.«
Folke nickte, brachte aber nicht über die Lippen, dass er damit bereits begonnen hatte.
»Danke«, sagte er in Ermangelung von etwas Besserem. Seine Stimme klang irgendwie erleichtert, weil sich die Besprechung dem Ende näherte.
»Ja, das war’s dann wohl. Aber wie gesagt, sprich mit Jerker.« Margareta wandte ihm den Rücken zu und nahm Papier und Stift wieder an sich.
Karin und Rob hatten beschlossen, zu Marta Striedbeck zurückzukehren, um sie zu fragen, was sie über diese Systrarna Elloven zu sagen hatte. Karin war überzeugt, dass die alte Dame weitaus mehr wusste, als sie erzählt hatte. Sie waren den Schwimmanleger zur Hälfte hinuntergegangen, und Rob hatte noch immer keinen Kaffee bekommen, worauf er gerade hinwies, als Karins Telefon klingelte. Sie blieb stehen und hörte der aufgeregten Stimme am anderen Ende zu.
»Wann ist er los?«
Rob sah sie verwundert an.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte sie nach dem Auflegen.
»Vermutlich nicht, aber du kannst es mir ja trotzdem erzählen, nur spaßeshalber«, neckte er sie.
»Willst du es hören, ja?« Karin lächelte.
»Nun erzähl schon! Your secret’s safe with me.« Er zog die Hand über den Mund, als hätte der einen Reißverschluss, drehte den angeblichen Schlüssel um und warf ihn ins Wasser.
»Ehrlich gesagt, wegen dem da solltest du mal zum Arzt gehen.«
Karin berichtete von dem Weiberessen am Wochenende und wie sie Lyckes Schwiegermutter Anita kennengelernt hatte, die mit bei Onkel Bruno gewesen war, und schließlich von dem eben erhaltenen Anruf. Rob hörte immer konzentrierter zu, da die Geschichte ihn mehr und mehr fesselte. Die Schranken an der Fähre wurden bereits heruntergelassen, aber der Fährmann war offenbar guter Laune und wartete auf die beiden. Karin winkte zum Dank.
Anita trug noch ihre Straßenkleidung, als sie bei ihr ankamen. Die rote Daunenjacke gab ein Rascheln von sich, wenn die Arme die Seiten berührten.
»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«, fragte Karin, nachdem sie Rob vorgestellt hatte.
»Ja, ja, natürlich.« Anita ging ihnen voran in die Küche. Die war sonnengelb und gemütlich, hatte großzügig bemessene Arbeitsplatten und eine Kücheninsel in der Mitte.
Das Fensterbrett an der Spüle war vollgestellt mit Trinkgläsern. In jedem von ihnen steckten drei, vier Geranienableger im Wasser. Alle hatten bereits Wurzeln, und man hätte sie besser sofort in einen eigenen Topf mit Erde pflanzen sollen.
»Berichte noch mal ganz von vorn«, sagte Karin und setzte sich auf die abgebeizte Küchenbank, deren Holz knackte.
Anita zögerte, aber nur eine Sekunde. Dann begann sie von dem Brief zu reden, berichtete von der Fahrt nach Vinga, der Schatzsuche und wie sie am Ende das verliehene Logbuch zurückerhalten hatten.
»War es das Buch, das Bruno Malmer ausgeborgt hatte?«, fragte Karin.
Anita nickte und erklärte, dass sie jede Menge Bücher durchgesehen und sogar die Seite des Bootsmodells abgesucht hatten. Sie lächelte, als sie daran dachte, wie viel Spaß das gemacht hatte.
»Und was ist heute passiert?«, wollte Karin wissen.
Anita wurde sofort wieder ernst.
»Per sollte heute aus London zurückkommen, und als Erstes wollten wir versuchen, diesen Ort zu finden, von dem wir glaubten, dass er im Logbuch erwähnt wird, und dann wollten wir dorthin fahren, um zu sehen, ob es da wirklich etwas gibt.«
»Du und dein Mann, ihr wolltet also mit eurem Boot fahren?«
Anita nickte.
»Aber er ist nicht gekommen. Ich dachte, er hätte sich verspätet und den Rückflug verpasst. Das ist früher schon vorgekommen. Ich habe ihn auf dem Handy angerufen, aber das war ausgeschaltet. Das ist es sonst nie.«
»Okay«, sagte Karin. »Und dann hat er angerufen? Entschuldige, Anita, was habt ihr denn für ein Boot? Wir werden nachsehen, ob es noch da ist.«
»Das habe ich schon getan. Es ist noch da. Ein Targa 37. Normalerweise liegt es unterhalb von Paradisparken am Grand Hotel, doch im Augenblick befindet es sich am Wartungskai der Werft Ringen. Wir sind nur ein einziges Mal rausgefahren, und da gab es ein Problem mit dem Bugpropeller.«
Karin nickte und notierte alle Uhrzeiten, die Anita erwähnt hatte.
»Was hat er bei dem Anruf gesagt?«, fragte sie.
»Das ist ja das Seltsame. Er hat gesagt …« Anita brach die Stimme, und sie schwieg, um sich zu sammeln. »Entschuldigt.« Sie erhob sich und ging zur Spüle, drehte den Hahn auf und ließ das Wasser eine Weile laufen, bevor sie ein Glas füllte und es austrank.
»Er hat gesagt: ›Anita, es tut mir leid, aber das mit der Bootstour wird nichts. Ich bin etwas spät dran und muss zu einer Sitzung.‹ Er sprach so gekünstelt, und es war zu hören, dass er etwas sagen wollte, was er nicht konnte. Ich wollte ihm so gern erzählen, dass ich einen Anhaltspunkt gefunden hatte, eine Position, die in der Bibliothek hinter der Täfelung notiert gewesen war, aber er hat mich die ganze Zeit unterbrochen, so dass ich keine Möglichkeit hatte, und das schien er absichtlich zu tun.«
»War das alles, was er gesagt hat? Dass er spät dran ist?«, fragte Karin skeptisch.
»Nein, nein. Er sagte, er habe die Nummer von Pierre François Lolonois nicht dabei, und falls der anrufe, solle ich sagen, dass sich Per etwas verspäte oder es eventuell auch gar nicht schaffe. Dann redete er weiter, ich könne ja zu meinem Französischkurs gehen, weil aus der Bootstour nichts würde, doch der ist freitags und nie montags.«
»Wer ist dieser Franzose, von dem er sprach«, fragte Karin.
»Ich wollte es gerade erzählen. Per ist fasziniert von der Meeresgeschichte und kann die Namen aller Piraten im Schlaf hersagen. François Lolonois war ein blutrünstiger Pirat, der seine Raubzüge im 17. Jahrhundert ausführte. Per aber hat den Namen falsch gesagt, er nannte ihn Pierre François Lolonois und redete dann von meinem Französischkurs. Das klingt vielleicht weithergeholt, aber Per würde sich nie bei einem Namen irren, und dann war da noch was. Das Letzte, was er sagte, und das ist das Merkwürdigste: Ich solle nicht vergessen, die Buccaneere zu leeren.«
»Die Buccaneere?«, fragte Karin verwundert. »Bist du sicher, dass er Buccaneere gesagt hat?«
»Ganz sicher«, sagte Anita, »und ich sehe, dass du weißt, was das bedeutet.«
Karin nickte. Sie wusste es nur zu gut.
»Piraten«, sagte sie und schaute Rob an.
Jerker war den MP3-Player durchgegangen. Das Gerät war rotlackiert in derselben Nuance wie die Kitchenaid, eines ihrer Hochzeitsgeschenke, hatte er gedacht, während er ihn mit seinem Computer verband.
Ein Piepton teilte mit, dass der PC die neue Hardware erkannt hatte. Ein Glück, dass der Mann einen Trockenanzug getragen hatte.
Außer den Musikdateien fand Jerker zwei Bild- und fünf Textdateien. Er machte eine Sicherheitskopie vom gesamten Inhalt und brannte das Ganze auf eine CD, die er beschriftete, bevor er sie zum Ansehen öffnete. Zwei der Dateien schienen verschlüsselt, und die Sache war obendrein sehr gut gemacht. Nach einer Schnelldurchsicht mailte er die Dateien, die er hatte öffnen können, als äußerst dringlich an Karin, Rob und Folke. Dann wählte er Karins Nummer, aber die war besetzt, dasselbe bei Rob. Jerker zögerte, wählte dann aber doch Folkes Mobilnummer.
Zwanzig Minuten später stand Folke in Jerkers Zimmer und betrachtete die Hightechausrüstung. Heutzutage Polizist zu sein, war nicht mehr dasselbe wie früher. Nur noch selten rannte die Polizei mit Gummiknüppeln herum und jagte Schurken. In der jetzigen Zeit wurden Computer beschlagnahmt, und manchmal nannte man sie nicht Computer, sondern Server, und wenn man von Cookies sprach, meinte man keine Kekse. Jerker hörte den Seufzer, den Folke ausstieß.
»Mann, siehst du bedripst aus«, sagte Jerker. Das klang besser als alt und müde.
»Ja, manchmal fühle ich mich wie ein übriggebliebener Dinosaurier«, gestand Folke.
»Steht es so schlimm?«, fragte Jerker, den Blick auf den Kollegen gerichtet, während er zugleich auf die Tastatur einhämmerte.
»Ich habe gerade an dich gemailt, wollen mal sehen. Wie ist es, kannst du ein bisschen Deutsch?«, fragte Jerker, während der Drucker losrasselte. Folke nahm die Seiten an sich. Wäre Karin hier gewesen, sie hätte den Packen durchgeblättert, um sich einen Überblick zu verschaffen, dachte Jerker. Ganz anders Folke. Er las Seite für Seite. Es schien ein Zeitungsartikel über Schweden zu sein. Folke machte eine Ausnahme und blätterte zum Ende vor. Darunter stand in der Tat ein Name. Er notierte ihn auf seinem Block, verabschiedete sich von Jerker und ging mit schweren Schritten zurück an seinen Schreibtisch.
Jerker zog an seinen Fingern, bis einer nach dem anderen ein Knacken hören ließ. Schließlich nahm er sich die beiden verschlüsselten Dateien vor. Vielleicht konnte er auf andere Weise zu ihrem Inhalt vordringen. Zum Beispiel über den PC, an dem man die Dateien eingerichtet hatte. Die Software war auf den Namen Sara von Langer registriert. Jerker erkannte den Namen wieder. Mit ein wenig Glück befanden sich alle Originaldateien unverschlüsselt und lesbar in ihrem Computer.
Folkes Deutschkenntnisse von der Realschule hatten ihre Grenzen, aber nachdem er an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, buchstabierte er sich langsam durch die ersten beiden Artikel.
»Hallo, Folke, wie läuft’s?« Carsten, der von draußen kam und die Jacke noch anhatte, blieb neben ihm stehen.
»Markus Steiner, das könnte der Name des Tauchers sein. Er hatte so einen Player bei sich, und da kann man anscheinend auch anderes als Musik drauf speichern. Er hat Artikel für Zeitungen geschrieben, vermutlich war er Journalist.«
»Markus Steiner, das klingt nicht sehr schwedisch.« Carsten beugte sich vor, um auf den Bildschirm zu schauen.
»Nein, die Artikel sind auf Deutsch«, sagte Folke.
»Ach, Deutsch. Bekommst du das hin, ich meine, wovon handeln sie?« Carsten wählte seine Worte mit Bedacht, wohl wissend, dass Folke empfindlich war und auf Formen achtete.
»Ich bin erst beim zweiten Artikel. Der handelt davon, wie man in Schweden Häuser findet und kauft und was für Regeln dabei gelten: Taxwert, Makler, Grundsteuer und so weiter.«
»Hast du seinen Namen mit dem Verzeichnis vermisster Personen abgeglichen?«, fragte Carsten.
»Äh … nein.« Folke räusperte sich. Er kam sich bescheuert vor, weil er es nicht getan hatte, und Marita um Hilfe bitten wollte er nicht. »Das hatte ich gerade vor«, brummelte er und wand sich auf seinem Stuhl.
»Gib mir den Namen, dann reiche ich das weiter, und du kannst mit den Artikeln fortfahren. Ich muss sowieso mit Marita reden«, sagte Carsten und warf einen Blick auf die Uhr.
Folke sah erleichtert aus, als er das Blatt mit dem Namen abriss und es Carsten gab.
Es waren insgesamt neun Artikel, aber bereits beim fünften fand Folke, dass er anders wirkte. Darin wurde Schwedens Rolle als neutrales Land im Zweiten Weltkrieg in Frage gestellt. Der Artikel hatte größeres Gewicht und war sprachlich anspruchsvoller. Marita hatte Folke notgedrungen dabei geholfen, ein Deutsch-Schwedisch-Wörterbuch zu finden, aber natürlich erst, nachdem sie ihn darauf hingewiesen hatte, dass es im Computer eine entsprechende Suchfunktion gab.
Mit flinken Fingern ermittelte Karin die Position, die Anita hinter der dunklen Täfelung der Bibliothek gefunden hatte.
»57 Grad, 54,4 Minuten, Nord«, sagte sie und blickte auf Anitas handgeschriebenen Zettel, »und 11 Grad, 29,5 Minuten, Ost.« Rob schaute beeindruckt zu, als sie Zirkel und Lineal über der Seekarte bewegte und mit dem Bleistift schließlich ein Kreuz machte.
»Dort«, sagte sie und zeigte auf die Inseln, die unmittelbar daneben lagen. Systrarna und Elloven.
»Du, Rob«, fuhr sie nachdenklich fort. »Diese Tätowierung, die Arvid Stiernkvist hatte.« Rob wühlte in seinen Taschen nach dem Zettel und fand ihn im selben Augenblick wie Karin die entsprechende Aufzeichnung in ihrem Notizbuch. Es stimmte. Die Zahlen von Arvids Tätowierung waren genau dieselben wie die Position, die sie gerade auf der Karte markiert hatte, abgesehen von den beiden letzten Zahlen, die Vier beziehungsweise die Fünf, die sie zuvor nicht hatten deuten können. Erst Anita hatte das möglich gemacht. Alle Theorien, angefangen von der Nummer aus einem Konzentrationslager bis zu der eines Schweizer Bankkontos, waren falsch gewesen. Die Nummer bezeichnete einen Breiten- und einen Längengrad im gewaltigen Koordinatensystem der Erde und wies darauf hin, dass sich an dieser Stelle etwas im Wasser befand.
»Hat Per in das Buch geschaut?«, fragte Karin.
»Ja«, sagte Anita, »aber wir hatten die ausgerissene Seite und die neuen Gedichtzeilen gerade erst entdeckt, als er wegmusste. Es hat ihn genervt, schon wieder ein Gedicht zu finden.«
»Und sonst hat niemand das Logbuch gelesen?«, fragte Rob.
»Nicht bei uns. Aber wir hatten es Bruno Malmer geliehen, und vielleicht hat er es jemandem gezeigt, da müsst ihr besser ihn fragen.«
»Dann haben wir also Bruno, deinen Mann und dich«, sagte Rob.
»Nein, warte mal«, erwiderte Anita zögernd. »Gestern hatten wir Gäste. Einer von ihnen, Waldemar von Langer, blieb noch eine Weile, als die anderen schon gegangen waren. Ich war gerade mit dem Buch heimgekommen, und es lag auf dem Küchentisch.« Sie zeigte auf die Stelle. »Er könnte hineingesehen haben.«
Karin konnte nicht umhin, von ihrem Notizbuch aufzuschauen, als Waldemars Name fiel. Sie warf Rob einen Habich’s-nicht-gesagt-Blick zu.
»Aber er kann ja wohl nicht gewusst haben, um welche Seite es ging«, sagte Rob mehr an Karin gerichtet als an Anita.
»Nein, es ist unwahrscheinlich, dass er sofort die richtige Seite aufgeschlagen hat, und wenn doch, hätten ihm die neuen Gedichtzeilen nichts gesagt«, meinte Anita.
»Gibt es noch mehr, was wir wissen sollten?«, fragte Rob.
Anita überlegte und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, ich glaube nicht.«
Bevor sie gingen, gab Anita Karin das Logbuch. Einen kurzen Moment hielten sie es beide fest, und Anita sah Karin an, ohne etwas zu sagen. Es war deutlich zu spüren, dass es weit mehr als ein Buch war, das sie ihnen übergab. Karin instruierte Anita, sie solle sofort anrufen, falls jemand anders käme und nach dem Logbuch fragte. Sie ließen sie am Küchentisch sitzend zurück, noch immer in ihrer Daunenjacke. Rob hatte ihr eine Tasse Tee gemacht und Karin ihr einen Zettel mit ihrer beider Mobilnummer hingelegt, falls ihr doch noch etwas einfallen sollte. Auf dem Weg nach draußen rief Karin bei Lycke an, die versprach, sofort zu ihrer Schwiegermutter zu gehen.
»Ich wollte nicht fragen, als wir noch drin waren, aber meinen wir Piraten im Sinne von Seeräuber, oder ist das irgendeine Spezialbezeichnung, die für Boote oder so verwendet wird?«, fragte Rob, als sie in der Diele standen.
»Piraten im Sinne von Seeräuber. Hast du nicht Burt Lancaster in Der rote Korsar gesehen?«, erwiderte Karin, die sich an das Schwarzweißfoto des blonden Piraten mit nacktem Oberkörper erinnerte, das sie damals aus der Zeitung ausgeschnitten hatte.
»Doch, das ist ja ein Klassiker, selbst für eine Landratte wie mich.«
»En garde«, sagte Karin. Sie pikste Rob scherzhaft in den durchtrainierten Bauch und gab vor, ihn mit dem Degen zu attackieren.
Rob rührte sich nicht vom Fleck. Er stand unter dem Kronleuchter in der freundlichen Diele und sah aus, als hätte er sich verhört.
»Meinst du allen Ernstes, wir haben es hier mit Piraten zu tun?«
Rob wusste, dass Karin manchmal mit Scherzen reagierte, wenn sie sich in Bedrängnis fühlte. Es half ihr in gewisser Weise, sich zu konzentrieren, wenn sie eine Menge halbverrückter Späße machte – eine Art Brainstorming, um alle Energien freizusetzen. Er persönlich bevorzugte eher einen stillen Raum, obwohl er sich daran gewöhnt hatte, umgeben von Lärm und Getobe zu arbeiten, besonders seit er Vater geworden war, oder wenn er Folkes Ausführungen lauschen musste, während er gleichzeitig ernsthaft nachzudenken versuchte.
»Okay«, sagte Karin. »Die Frage ist, was wir als Nächstes tun. Wir haben jetzt noch einen verschwundenen Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht freiwillig abgetaucht ist. Wenn ihn jemand entführt hat, wage ich auf den Ort zu tippen, zu dem sie unterwegs sind.«
»Zu der Stelle zwischen den Inseln Systrarna und Elloven?«, fragte Rob.
»Mit jemandem, der glaubt zu wissen, wo das Wrack liegt.« Dann aber durchzuckte sie ein Gedanke: »Wenn die Person Arvid Stiernkvists Tätowierung schon kennt, braucht sie Per gar nicht. Man muss doch nur Arvids Tätowierung kennen und sie richtig auslegen, hast du das schon bedacht?«