Beim Goldenen Ei von
Faranth,
bei der Weyrherrin, stark und kühn,
zieht Drachen, bronzerot und braun,
zieht Drachen, leuchtendblau und grün, zieht Reiter, mutig, gewandt,
damit Mensch und Tier sich vertrau'n
und von des Weyrs Türmen
im Flug den Himmel stürmen.
Lessa wartete, bis sie sicher war, dass der Drachenreiter das Schlafgemach verlassen hatte. Als sie das Flügelrauschen hörte, lief sie über den ausgetretenen Pfad bis zum gähnenden Eingang der Höhle.
Der Bronzedrache flog in lässigen Kreisen über dem riesigen, öden Oval des Benden-Weyrs. Sie hatte schon viel über die Weyr gehört, aber die Wirklichkeit war doch anders, als sie geglaubt hatte.
Sie starrte die Felswand an, die senkrecht in die Tiefe abfiel.
Nur Drachenschwingen konnten diesen Steilhang überwinden.
Die übrigen Höhleneingänge lagen weit weg, unerreichbar für Lessa. Sie war hier gefangen.
Weyrherrin, hatte er gesagt. War sie dadurch an ihn gefesselt? Musste sie sein Lager teilen?
Nein, das war nicht in den Gedanken des Drachen enthalten gewesen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie Mnementh verstanden hatte. Merkwürdig. Oder war es ganz normal?
Nun, jedenfalls hatte der Drache angedeutet, dass es sich um etwas Größeres handelte, um eine Sonderstellung. Das konnte nur heißen, dass sie die Betreuerin der neuen Drachenkönigin werden sollte.
Aber wie hing alles zusammen?
Sie erinnerte sich vage, dass die Drachenreiter während der Suche nach ganz bestimmten Frauen Ausschau hielten. Dann hatte sie also Konkurrentinnen?
Aber die Worte des Bronzereiters hatten so geklungen, als sei nur sie in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen. Der Mann war reichlich eingebildet und arrogant, soviel stand fest. Aber er besaß zum Glück nicht die Brutalität von Fax.
Sie sah, wie der Bronzedrache sich auf einen Bock stürzte und ihn auf einen entlegenen Steinsims trug. Instinktiv zog sie sich zum Höhleneingang zurück.
Der Anblick der hungrigen Drachen rief die Erinnerung an grausige Erzählungen wach. Erzählungen, über die sie gelacht hatte, aber nun ... Stimmte es etwa doch, dass Drachen Menschenfleisch fraßen? Oder ...
Lessa zügelte ihre Gedankengange. Drachen waren nicht weniger grausam als Menschen. Aber sie handelten wenigstens aus Not und niemals aus Gier.
Lessa hoffte, dass der Drachenreiter eine Weile ausbleiben würde. Sie durchquerte die große Höhle und betrat das Schlafgemach. Dort hob sie die Kleider und den Beutel mit der Waschkleie auf und ging weiter in den Baderaum.
Er war nicht groß, genügte aber vollkommen für seinen Zweck. Ein breiter Felsvorsprung bildete eine Art Stufe in das kreisförmige Badebecken. An einer Seite standen eine Bank und ein paar Regale mit Handtüchern. Ein Teil des Beckens war mit Sand aufgeschüttet, so dass man bequem im Wasser stehen konnte.
Endlich! Sie atmete befreit auf. Mit spitzen Fingern streifte sie die Lumpen vom Leib und schob sie mit dem Fuß zur Seite.
Dann verrieb sie eine Handvoll Kleie zu einem Brei.
Sie scheuerte die Arme und das Blaugeschlagene Gesicht sauber. Dann schrubbte sie ihren Körper, bis halb vernarbte Wunden wieder zu bluten begannen. Zuletzt sprang sie ins tiefe Wasser und tauchte unter. Sie holte noch mehr Kleie und verrieb sie im nassen Haar.
Immer wieder spülte sie die Strähnen, bis sie das Gefühl hatte, dass sie einigermaßen sauber waren. Schmutziger Schaum trieb bis zur Höhlenwand und flöß mit der Strömung ab. Noch einmal bearbeitete sie ihren Körper mit Kleie.
Es war eine geradezu rituelle Waschung. Ihre Haut brannte und prickelte.
Schließlich verließ sie zögernd den Badeteich. Sie steckte das triefende Haar hoch und trocknete sich mit einem frischen Handtuch ab. Dann streifte sie ein zartgrünes Kleid aus einem weichen Stoff über. Es war zu locker, aber sie schnürte es mit Hilfe einer Schärpe eng um die Taille. Ein Lächeln glitt über ihre Züge. Noch nie im Leben hatte ein Stoff ihre Haut so umschmeichelt. Der Saum des Kleides fiel glatt und gerade bis zu ihren Knöcheln und schwang bei jedem Schritt aus. Sie nahm ein neues Handtuch und rieb ihr Haar trocken.
Ein gedämpfter Laut drang an ihre Ohren, und sie hielt den Kopf schräg. Angespannt horchte sie.
Ja, sie hatte richtig gehört. Der Drachenreiter und sein Tier waren zurückgekommen. Sie schnitt eine ärgerliche Grimasse und bearbeitete ihr Haar noch stärker. Widerspenstige Locken kringelten sich auf der Stirn. Sie suchte in den Regalen, bis sie einen groben Metallkamm fand. Damit zerrte und riss sie an den Strähnen, bis sie endlich entwirrt waren.
Jetzt, da es trocken war, schien ihr Haar ein eigenes Leben zu entwickeln. Es knisterte und richtete sich auf, sobald sie den Kamm hob. Und es war lang, sehr viel länger, als sie geglaubt hatte.
Lessa horchte nach draußen. Nichts rührte sich. Vorsichtig hob sie den Vorhang zurück. Das Schlafgemach war leer. Aber in der äußeren Felskammer hörte sie die schläfrigen Bewegungen des Drachen. Sie atmete erleichtert auf. Nun musste sie dem Mann wenigstens nicht allein gegenübertreten.
Sie wollte das Schlafgemach durchqueren und blieb wie angewurzelt stehen, als sie in den polierten Metallspiegel an der Wand sah. Eine Fremde starrte ihr entgegen. Erst als sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr und ihr Gegenüber die Geste imitierte, erkannte sie, dass sie sich selbst sah.
Aber... das Mädchen im Spiegel war ja schöner als Lady Tela! Nur so mager...
Sie betrachtete die vorstehenden Schlüsselbeine und die zerbrechlich dünne Taille. Mit neu erwachter Eitelkeit zupfte sie das Kleid zurecht und glättete ungeduldig das widerspenstige Haar.
Stiefel scharrten über den Boden. Sie zuckte zusammen.
Jeden Moment konnte der Mann auftauchen. Mit einemmal stieg Angst in ihr hoch. Jetzt, da ihr die Strähnen nicht mehr ins Gesicht hingen und sie die schmutzigen Lumpen ausgezogen hatte, besaß sie keine Anonymität mehr.
Sie war verwundbar.
Eisern bezwang sie den Wunsch, davonzulaufen. Sie warf noch einen Blick in den Spiegel, streckte die Schultern und hob entschlossen das Kinn; ihr Haar knisterte bei der plötzlichen Bewegung. Sie war Lessa von Ruatha. In ihren Adern floß adeliges Blut. Sie musste sich nicht mehr vor der Welt verbergen. Sie konnte jedermann stolz gegenübertreten - auch diesem Drachenreiter!
Ruhig schob sie den Vorhang zur Felskammer beiseite. Er stand neben dem Drachen und strich ihm über die Augenwülste. Seine Züge wirkten sonderbar zärtlich. Es war ein Bild, das völlig im Widerspruch zu allem stand, was sie bisher von den Drachenreitern gehört hatte.
Sie wusste natürlich von der engen Beziehung zwischen Tier und Reiter, aber sie hatte nicht geahnt, dass dabei Zuneigung eine Rolle spielte. Überhaupt hatte sie diesem finsteren, kühlen Mann keine tieferen Gefühle zugetraut. Sie erinnerte sich noch zu gut an seine schroffe Haltung, als sie sich von dem alten Wachwher verabschieden wollte. Kein Wunder, dass das Tier geglaubt hatte, ihr stoße etwas zu.
Der Mann drehte sich langsam um, als würde er sich nur ungern von seinem Drachen trennen. Dann, als er sie erblickte, stand er auf und trat mit ein paar raschen Schritten neben sie.
Er fasste sie mit starker Hand am Ellbogen und führte sie zurück ins Schlafgemach.
»Mnementh hat wenig gefressen und braucht Ruhe«, sagte er leise, als sei das seine wichtigste Überlegung. Er schob den schweren Vorhang zu.
Dann hielt er sie mit gestreckten Armen von sich und betrachtete sie genau. Ein erstaunter Ausdruck huschte über seine Züge.
»Gewaschen sehen Sie... recht hübsch aus«, sagte er in einem Tonfall amüsierter Herablassung.
Sie machte sich brüsk von ihm frei.
»Wer hätte aber auch ahnen können, was sich unter dem Schmutz von zehn Planetendrehungen verbarg! Ja, Sie sind so hübsch, dass F'nor versöhnt sein wird.«
Erbost über seine Haltung, fragte sie eisig: »Und es ist so wichtig, dass dieser F'nor versöhnt wird?«
Er grinste sie an, bis sie die Fäuste in die Hüften stemmte, um nicht auf ihn einzuschlagen.
Schließlich sagte er: »Aber lassen wir das jetzt. Wir müssen essen, und ich benötige Ihre Dienste.«
Als er ihren verwirrten Ausdruck bemerkte, drehte er sich um und deutete auf die Blutkruste an seiner linken Schulter.
»Ich kann doch verlangen, dass Sie die Wunden behandeln, die ich im Kampf um Ihre Sache erhielt.«
Er schob einen Gobelin zur Seite, der an der Innenwand hing. »Essen für zwei!« brüllte er in den schwarzen Schlitz, der dahinter zum Vorschein kam.
Das Echo hallte wie aus einem tiefen Schacht wider.
»Nemorth liegt im Sterben«, erklärte er, während er einen anderen Wandbehang hob und Verbandszeug aus einer verborgenen Nische holte.
»Und die Jungen können jeden Moment ausschlüpfen.«
Ein eiskaltes Gefühl durchzuckte Lessa. Sie
kannte die Drachenlegenden, und die makabren Szenen der
Gegenüberstellung hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben.
Stumm nahm sie die Dinge, die er ihr reichte.
»Haben Sie etwa Angst?« fragte der Drachenreiter spöttisch, während er das zerrissene, Blutverkrustete Hemd auszog.
Lessa schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit seinen muskulösen Schultern zu. Die Wunde war wieder auf gebrochen. Ein dünner Blutstreifen rieselte dem Drachenreiter über den Rücken.
»Ich brauche Wasser«, sagte sie und entdeckte im gleichen Augenblick eine flache Pfanne neben den Verbandsutensilien.
Sie ging damit zur Quelle.
Unterwegs überlegte sie, weshalb sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Ruatha war eine Ruine, gewiss, aber sie kannte jeden Winkel vom Wachturm bis zu den Kellergewölben. Als der Drachenreiter ihr nach dem Tod von Fax vorgeschlagen hatte, in den Weyr zu ziehen, hatte sie sich stark genug gefühlt, jede Gefahr zu meistern. Doch jetzt zitterten ihre Hände so, dass sie kaum die Pfanne festhalten konnte.
Sie konzentrierte sich auf die Wunde. Es war ein hässlicher Schnitt, der sehr tief ging. Die Haut des Drachenreiters fühlte sich glatt unter ihren Fingern an. Er zuckte nicht zusammen, als sie das getrocknete Blut aus der Wunde wusch, und Lessa war wütend über sich selbst, dass sie ihn nicht mit der Grobheit behandelte, die ihm gebührte.
Mit zusammengebissenen Zähnen strich sie eine dicke Schicht Heilsalbe über den Schnitt. Dann riss sie ein paar Tücher zu Streifen und befestigte damit den Verband. Der Drachenreiter bewegte vorsichtig den Arm. Als er sich umdrehte und sie ansah, waren seine Augen dunkel und nachdenklich.
»Sie sind sehr sanft mit mir umgegangen. Ich danke Ihnen, Lady.«
Er erhob sich mit einem ironischen Lächeln. Lessa wich ein paar Schritte zurück, aber er ging nur an die Truhe und holte sich ein frisches Hemd. Ein gedämpftes Grollen klang auf und schwoll rasch an.
Drachen? überlegte Lessa und versuchte die Furcht zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Hatte das Ausschlüpfen begonnen? Diesmal gab es keinen Wachwher, bei dem sie Zuflucht suchen konnte.
Der Drachenreiter lachte gutmütig, als verstünde er ihre Verwirrung. Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob er den Gobelin zur Seite. Irgendein lärmender Mechanismus im Innern des Schachtes hievte ein Tablett mit Essen hoch.
Lessa schämte sich wegen ihrer unbegründeten Furcht und war zugleich wütend, dass er ihre Gefühle durchschaut hatte.
Widerspenstig warf sie sich auf eine der fellbedeckten Ruhebänke entlang der Wand und wünschte ihm eine ganze Reihe von schmerzhaften Verletzungen, die sie behandeln konnte. In Zukunft würde sie nicht mehr so zimperlich sein.
Er stellte das Tablett auf einen niedrigen Tisch und holte sich ein paar Felle, auf denen er Platz nahm. Lessa entdeckte Fleisch, Brot, einen Krug mit Klah, einen herrlichen goldgelben Käse und sogar Winterobst. Der Drachenreiter saß einfach da, und auch sie wagte nicht zu essen, obwohl ihr das Wasser im Munde zusammenlief, als sie die reifen Früchte sah.
Flar sah mit gerunzelter Stirn auf.
»Auch im Weyr bricht zuerst die Dame das Brot«, sagte er und nickte ihr höflich zu.
Lessa errötete.
Sie war nicht mehr an die vornehmen Tischsitten gewöhnt.
Während der letzten zehn Planetendrehungen hatte sie sich mit Küchenabfällen begnügen müssen.
Sie brach ein Stück Brot ab, und sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor etwas Köstlicheres gegessen zu haben.
Zum einen war es frisch gebacken. Und man hatte
das Mehl fein gesiebt. Sie nahm den Käse, den er ihr anbot, und
genoss das volle scharfe Aroma. Kühner geworden, griff sie nach
einer saftigen Frucht.
»So«, begann der Drachenreiter und legte ihr die Hand auf den Arm.
Schuldbewusst legte sie die Frucht weg und starrte ihn an.
Welchen Fehler hatte sie diesmal begangen? Er drückte ihr lächelnd die Frucht in die Hand. Dann sprach er weiter. Sie knabberte an dem Leckerbissen und hörte ihm aufmerksam zu.
»Merken Sie sich eines: Was auch an der Brutstätte geschieht, Sie dürfen keinen Augenblick Furcht zeigen. Und die Königin darf nicht überfüttert werden.«
Ein Lächeln überflog seine Züge.
»Eine unserer Hauptaufgaben ist es, die Nahrung des Drachen genau einzuteilen.
Die Frucht schmeckte ihr nicht mehr. Sie legte sie zurück in den Korb. Der Drachenreiter sagte nicht alles, was er wusste.
Lessa versuchte die tiefere Bedeutung seiner Worte zu erkennen. Sie sah ihn zum ersten Mal als Mensch und nicht als Symbol.
Und sie kam zu dem Schluss, dass seine Kühle Vorsicht war nicht etwa ein Mangel an Gefühlen. Er musste streng sein, um seine Jugend zu verbergen, denn er zählte kaum mehr Planetendrehungen als sie. Dichtes schwarzes Haar kräuselte sich von der hohen Stirn bis in den Nacken. Die buschigen dunklen Brauen zogen sich zu oft zu einem finsteren Grübeln zusammen. Über der geraden Nase standen scharfe Falten, und die bernsteingoldenen Augen strahlten nur allzu leicht Zynismus oder kühlen Spott aus. Seine Lippen waren schmal und ebenmäßig geformt. Wenn er sich entspannte, wirkten sie beinahe sensibel.
Aber weshalb musste er einen Mundwinkel ständig zu einem verächtlichen Lächeln herunterziehen? O ja, er sah gut aus, das musste sie sich eingestehen. Er hatte etwas Zwingendes, Magnetisches an sich. Und in diesem Augenblick war sein Gesichtsausdruck aufrichtig.
Er meinte seine Worte ernst. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte. Es gab keinen Grund zur Angst.
Und ihm lag viel daran, dass sie ihr Ziel erreichte. Das erschien ihr nicht so schwer. Ein junger Drache war sicher noch nicht kräftig genug, um ein ganzes Herdentier zu reißen.
Und sie verstand es, anderen Geschöpfen ihren Willen aufzuzwingen. Der Wachwher auf Ruatha hatte nur ihr gehorcht. Und selbst den Bronzedrachen hatte sie zum Schweigen gebracht, als sie sich auf dem Weg zur Hebamme befand.
Hauptaufgabe? Unsere Hauptaufgabe?
Der Drachenreiter sah sie erwartungsvoll an.
» Unsere Hauptaufgabe?« wiederholte sie. Ihr Tonfall verriet, dass sie sich mit seinen spärlichen Auskünften nicht zufrieden gab.
»Mehr davon später«, erwiderte er ungeduldig und winkte ab, als sie weitere Fragen stellen wollte.
»Aber was geschieht denn eigentlich?« beharrte sie.
»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich selbst weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Behalten Sie diese beiden Dinge im Gedächtnis: Zeigen Sie keine Furcht, und überfüttern Sie das Tier nicht!
»Aber ...«
»Sie dagegen müssen viel essen. Hier!«
Er spießte ein Stück Fleisch auf sein Messer und streckte es ihr entgegen. Mühsam würgte sie es hinunter. Als er ihr das nächste Stück anbieten wollte, winkte sie ab und biss tief in die saftige Frucht. Sie musste sich langsam an den Überfluss gewöhnen.
»Es wird bald wieder bessere Kost im Weyr geben«, stellte er mit einem missmutigen Blick auf das Tablett fest.
Lessa zeigte sich überrascht, denn für sie war
es ein Festmahl gewesen.
»Sie schaffen die Menge nicht? Ach ja, ich vergaß, dass man in Ruatha an den letzten Knochen nagt.«
Sie versteifte sich.
»Sie haben auf Ruatha richtig gehandelt. Ich wollte Sie nicht kritisieren«, erklärte er lächelnd.
»Aber sehen Sie sich an!«
Ein nachdenklicher Ausdruck kam in seine Augen.
»Nein, ich hätte nicht gedacht, dass Sie so hübsch sind. Vor allem das Haar...«
In seiner Stimme schwang Bewunderung mit.
Unwillkürlich strich sie mit den Fingern über die Locken, und sie begannen zu knistern. Aber sie kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Ein unheimliches Klagen erfüllte die Kammer.
Der Laut jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie presste beide Hände gegen die Ohren, aber das Wimmern ließ sich nicht verdrängen. Und dann verstummte es, ebenso abrupt wie es begonnen hatte. Bevor sie sich gefasst hatte, zerrte der Drachenreiter sie an der Hand zur Truhe hin.
»Ziehen Sie das da aus!« befahl er und deutete auf ihr Kleid.
Während sie ihn entgeistert anstarrte, holte er ein ärmelloses weißes Gewand aus der Truhe. Es war bodenlang und völlig schmucklos.
»Rasch! Oder wollen Sie etwa, dass ich Ihnen helfe?«
Das grauenhafte Klagen wiederholte sich und trieb sie zur Eile an. Mit fliegenden Fingern streifte sie das Kleid ab. Der Drachenreiter warf ihr die weiße Robe über die Schultern. Sie schob die Arme durch die Öffnungen, und im nächsten Moment hatte er sie wieder am Handgelenk gepackt und zog sie mit sich. Ihr Haar sprühte vor Elektrizität.
Als sie die äußere Felsenkammer erreichten, stand der Bronzedrache aufgerichtet da und starrte ihnen entgegen. Lessa spürte seine Ungeduld. Die großen Augen, die sie so faszinierten, schillerten in allen Regenbogenfarben. Er war erregt. Bei ihrem Anblick begann er mit hoher Stimme zu winseln.
Drache und Drachenreiter schienen miteinander zu beraten.
Und plötzlich erkannte Lessa, dass es um sie ging. Der Kopf des Drachen war mit einem Male dicht vor ihr, so dass sie nichts außer seiner spitzen Schnauze sah. Sie spürte seinen warmen, phosphorhaltigen Atem. Sie fing seine Gedanken auf, als er dem Drachenreiter mitteilte, dass diese Frau von Ruatha ihm immer besser gefiel.
Und dann zerrte der Drachenreiter sie wieder vorwärts, und der Drache rannte mit langen Sprüngen neben ihnen her. Lessa befürchtete schon, dass sie alle im Abgrund landen wurden, aber irgendwie saß sie plötzlich auf dem Nacken des fliegenden Ungetüms, und der Bronzereiter umklammerte mit starker Hand ihre Taille.
Sie glitten nun durch die breite Senke auf die gegenüberliegende Felswand zu. Von allen Seiten strömten die mächtigen Drachen herbei, und ihr laut peitschender Flügelschlag ließ das ganze Tal erzittern.
Mnementh flog schnurgerade auf einen dunklen, runden Höhleneingang hoch im Fels zu. Lessa erschien es wie ein Wunder, dass sie nicht mit anderen Drachen zusammenstießen.
Und dann hatten sie die Öffnung erreicht. Dumpfe Laute hallten durch den Korridor. Die Luft war drückend.
Lessa sah sich ungläubig um. Sie befanden sich in einer gigantischen Höhle Der ganze Berg musste hohl sein! Auf breiten Vorsprüngen kauerten die Drachen, blau, grün und braun. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie nur zwei Bronzedrachen außer Mnementh. Lessa umkrampfte erregt den schuppigen Kamm des Drachen. Sie spürte instinktiv, dass hier etwas Besonderes vorging.
Mnementh ließ sich auf keinem der Vorsprünge nieder, sondern schwebte in die Tiefe. Und dann starrte Lessa nur noch den Sandboden der Höhle an.
Sie sah die Dracheneier - zehn unförmige, gesprenkelte Eier, deren Schalen bereits gesprungen waren. Etwas abseits, auf einer Bodenerhebung, lag das goldene Ei der Königin. Es war größer als alle anderen. Und neben dem goldenen Ei erkannte sie die reglose Gestalt der alten Königin.
Mnementh hielt an, und Lessa spürte, wie der Drachenreiter ihre Taille umfasste und sie absetzte.
Ängstlich klammerte sie sich an ihm fest. Er schob sie unerbittlich von sich. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, »Denken Sie an meine Worte, Lessa!«
Mnementh richtete eines seiner großen Facettenaugen auf sie und sandte ihr einen tröstenden Gedanken. Dann erhob er sich und flog zum untersten Felsvorsprung, wo er ein Stück entfernt von den beiden anderen Bronzedrachen landete. Lessa sah ihm hilflos nach. Der Reiter stieg ab, und das Tier streckte den biegsamen Hals, bis sein Kopf dicht neben dem Mann war.
Lautes Schluchzen und Schreien lenkte Lessas Aufmerksamkeit ab. Noch mehr Drachen waren gelandet und hatten weiß gekleidete Mädchen abgesetzt. Insgesamt zählte sie zwölf. Sie drängten sich aneinander und wimmerten vor Angst.
Lessa beobachtete sie neugierig. Weshalb weinten sie? Sie schienen keine Schmerzen zu haben. Verächtlich schüttelte sie den Kopf. Eine Ruatha würde ihre Furcht niemals in dieser Weise zeigen!
In diesem Augenblick begann das goldene Ei zu schaukeln.
Mit Gezeter zogen sich die Mädchen bis an die Felswand zurück. Eine von ihnen, ein schönes Geschöpf mit schweren blonden Flechten, blieb neben der Bodenerhöhung stehen.
Doch dann stieß sie einen durchdringenden Schrei aus und floh zu ihren Gefährtinnen.
Lessa wirbelte herum. Einen Moment lang stockte auch ihr der Atem.
Ein Stück von dem goldenen Ei entfernt waren
mehrere der gesprenkelten Dracheneier aufgebrochen. Mit dünnen
Schreien arbeiteten sich die Jungtiere ins Freie und bewegten sich
auf eine Schar von halbwüchsigen Jungen zu, die einen Halbkreis um
das Gelege bildeten.
Das Kreischen der Frauen ging in ein unterdrücktes Schluchzen über, als einer der kleinen Drachen mit scharfen Klauen auf einen Jungen einhieb.
Lessa zwang sich, die Szene zu beobachten. Der Drache stieß den Jungen zur Seite, als sei er von ihm enttäuscht. Der Junge rührte sich nicht. Lessa sah, dass er aus mehreren Wunden blutete.
Ein zweiter Drache stolperte auf einen Jungen zu. Er schüttelte hilflos die feuchten Flügel und reckte den dünnen Hals. Dazu stieß er ein ermutigendes Summen aus, wie sie es schon bei Mnementh gehört hatte. Der Junge hob unsicher die Hand und strich dem kleinen Drachen über die Augenwülste.
Das Summen wurde immer weicher. Schließlich senkte das Tier den Kopf und stupste den Jungen damit an. Das Kind lachte über das ganze Gesicht.
Lessa sah, wie die nächsten Drachen ihre engen Gefängnisse durchbrachen. Einer warf einen Jungen zu Boden und trat über ihn hinweg, ohne darauf zu achten, dass er mit seinen scharfen Klauen die Haut aufriss. Der zweite Drache blieb neben dem Kind stehen und summte eifrig. Mühsam richtete sich der Kleine auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann redete er liebevoll auf den Drachen ein.
Es war rasch vorbei. Die ausgeschlüpften Drachen sonderten sich mit den Jungen ab, die sie als Gefährten gewählt hatten.
Blaue Reiter landeten auf dem Boden der Höhle und brachten die Kinder weg, die übrig geblieben waren.
Lessa wandte sich entschlossen dem goldenen Ei zu. Sie wusste nun, was sie zu erwarten hatte, und sie überlegte, nach welchen Gesichtspunkten die Drachen wohl ihre Auswahl getroffen hatten.
Ein Riss zeigte sich in der goldenen Schale, und von neuem stießen die Mädchen angstvolle Schreie aus. Einige hatten sich zu Boden geworfen, andere umklammerten einander. Der Riss wurde breiter, und ein kräftiger, keilförmiger Kopf arbeitete sich ins Freie. Es folgte der golden schimmernde Hals. Lessa fragte sich, wie lange es dauern mochte, bis das Tier ausgewachsen war. Bereits jetzt überragte es die Männchen des gleichen Geleges.
Ein lautes Summen drang an ihr Ohr. Sie hob den Kopf und erkannte, dass die Bronzedrachen die Geburt ihrer Königin, ihrer Paarungsgefährtin mitverfolgten. Das Summen verstärkte sich, als das Ei zerschellte und der goldene, feuchtglänzende Körper des Drachenweibchens auftauchte. Es schwankte ins Freie und hieb mit dem scharfen Schnabel in den Sand. Die nassen Flügel flatterten ungeschickt.
Doch dann rannte das Tier mit verblüffender Schnelligkeit auf die angsterstarrten Mädchen zu. Bevor Lessa eingreifen konnte, warf es sich auf eine der weiß gekleideten Gestalten und schüttelte sie hin und her. Man hörte ein dumpfes Knirschen, und das Mädchen sackte mit gebrochenem Halswirbel zu Boden. Die übrigen Frauen stoben kreischend auseinander.
Der junge Drache blieb mit einem erbärmlichen Wimmern stehen und sah den Fliehenden nach. Lessa trat ein paar Schritte auf die goldene Königin zu und hielt den keilförmigen Kopf fest.
Warum war das alberne Ding nicht ausgewichen, als das Tier sich auf sie stürzte? Der Drache war nach der Geburt so plump und ungeschickt, dass man ihn ohne weiteres überlisten konnte.
Lessa drehte den Kopf der Drachenkönigin so herum, dass die Facettenaugen gezwungen waren, sie anzusehen ... und kam selbst nicht mehr los von der schillernden Iris.
Ein Gefühl der Wärme überflutete Lessa; Zärtlichkeit, Zuneigung, Respekt und Bewunderung drangen auf sie ein.
Nie wieder würde Lessa allein sein, nie würde ihr eine Beschützerin fehlen. Wie schön Lessa war, wie mutig, wie klug und rücksichtsvoll!
Mechanisch strich Lessa die weichen Augenwülste.
Der Drache sah sie wehmütig an. Er war traurig, dass er Lessa Kummer bereitet hatte. Lessa tätschelte beruhigend den feuchten Nacken, der sich ihr vertrauensvoll entgegenstreckte.
Der Drache kippte zur Seite und trat sich auf den Flügel. Lessa brachte die Sache wieder in Ordnung. Der Drache begann leise zu summen.
Seine Augen verfolgten jede Bewegung von Lessa. Und dann ließ er sie wissen, dass er Hunger hatte.
»Du bekommst gleich etwas zu fressen«, versicherte Lessa.
Sie konnte nicht begreifen, was geschehen war.
Mit einemmal gehörten all ihre Gefühle diesem Drachenkind. Ramoth sah Lessa in die Augen und wiederholte, wie hungrig sie sei. Schließlich habe sie eine Ewigkeit in diesem finsteren Gefängnis zubringen müssen.
Lessa fragte sich, woher sie den Namen der Drachenkönigin wusste. Ramoth erwiderte, das sei völlig natürlich, und dann befand sich Lessa wieder im Bann der schillernden großen Augen. Ohne auf die Bronzedrachen zu achten, die ihre Felsen verlassen hatten, ohne ihren Reitern auch nur einen Blick gönnen, streichelte Lessa den Kopf des schönsten Geschöpfes von Pern.
Sie spürte schwach, dass die Zukunft auch Leid bringen wurde, aber im Augenblick achtete sie nicht darauf.
Sie, Lessa von Pern, durfte für immer die goldene Drachenkönigin Ramoth betreuen.
Teil II
Meere brodeln, Berge schwinden,
Wüsten kochen, Drachen künden:
Es kommt der Rote Stern!
Feuer lodern, Spalten klaffen,
Grün verdorrt - greift zu den Waffen: Verteidigt Pern!
Sternstein halte Wacht,
Drachenreiter - habt acht,
Es kommt der Rote Stern!
»Warum hat eine Königin Flügel, wenn sie nicht fliegen soll?« fragte Lessa.
Sie gab sich alle Mühe, einen ruhigen Tonfall beizubehalten Sie hatte lernen müssen, ihr aufbrausendes Temperament zu zügeln, auch wenn es ihr schwer fiel, denn im Gegensatz zu den normalen Bewohnern von Pern waren die Drachenreiter in der Lage starke Gefühlsausstrahlungen aufzufangen.
R'guls buschige Augenbrauen zogen sich zusammen, und seine Lippen bildeten einen dünnen Strich.
Lessa kannte seine Antwort, bevor er sie in Worte kleidete.
»Königinnen fliegen nicht«, sagte er knapp.
»Außer zur Paarungszeit«, warf S'lel ein.
Er hatte vor sich hingedöst. Das kam bei ihm nicht selten vor, obwohl er jünger war als der energische R'gul. Jetzt werden sie wieder streiten, dachte Lessa und stöhnte innerlich.
Eine halbe Stunde ertrug sie das, dann wurde ihr übel.
Die beiden teilten sich in die Aufgabe, die neue Weyrherrin in ihre Pflichten einzuweihen. Aber oft genug artete die Unterweisung in hitzige Wortgefechte aus, wenn sie sich über lächerliche Kleinigkeiten nicht einigen konnten. Manchmal, so wie jetzt, gaben sie ihr dabei unfreiwillig ein paar Informationen.
»Königinnen fliegen nur zur Paarungszeit.«
R'gul hatte den Widerspruch hingenommen.
»Aber wenn sie zur Paarungszeit fliegen, können sie doch auch bei anderen Gelegenheiten fliegen«, fuhr Lessa hartnäckig fort.
»Königinnen fliegen nicht.«
R'guls Gesichtsausdruck verriet Sturheit.
»Jora hat nie einen Drachen geflogen«, murmelte S'lel und verlor sich einen Moment lang in Gedanken an die Vergangenheit. Er sah ein wenig bekümmert drein.
»Jora hat diese Räume nie verlassen.«
»Sie brachte Nemorth zum Futterplatz«, widersprach R'gul unwirsch.
Zorn stieg in Lessa hoch. Sie schluckte. Es war höchste Zeit, dass sie die beiden zum Gehen veranlasste. Ob sie merkten, dass Ramoth manchmal nur allzu passend aufwachte?
Vielleicht sollte sie heute R'guls Hath wecken. Sie verbarg ein Lächeln. Niemand im Weyr wusste, dass sie sich mit den Drachen unterhalten konnte, und das versöhnte sie wieder ein wenig.
»Wenn Nemorth nicht zu träge war, sich zu bewegen.«
S'lel nagte beleidigt an seiner Unterlippe. R'gul brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen und deutete auf Lessas Schreibtafel.
Sie unterdrückte einen Seufzer und nahm den Stift in die Hand. Sie hatte diese Ballade nun schon neunmal fehlerfrei abgeschrieben. Aber zehn war offensichtlich R'guls magische Zahl. Denn bisher hatte sie jede der alten Lehrballaden, die Untergangs-Sagas und die Gesetze zehnmal geschrieben, Buchstabe für Buchstabe. Gewiss, sie verstand nicht die Hälfte davon, aber sie konnte sie auswendig.
» Meere brodeln, Berge wanken«, schrieb sie.
Möglich. Wenn eine größere Erdverschiebung stattfand.
Einer der Wachtposten von Ruatha hatte einmal eine Geschichte erzählt, die er von seinem Urgroßvater wusste. In der Nähe der Ostfestung war ein ganzes Küstendorf im Meer versunken. In jenem Jahr hatte es gewaltige Springfluten gegeben, und jenseits von Ista war ein Feuer speiender Berg aus dem Wasser getaucht. Jahre später verschwand er wieder.
Vielleicht bezog sich die Zeile darauf.
Vielleicht.
» Wüsten kochen...« Gewiss, es hieß, dass im Sommer die Igen-Wüste unerträglich war. Kein Schatten, keine Bäume, keine Höhlen, nichts als Sand. Selbst Drachenreiter scheuten diese Gegend während der heißen Jahreszeit. Eigentlich war der Sand der Brutstätte auch immer warm. Konnte er sich je so erhitzen, dass er kochte? Und überhaupt, was erhitzte ihn? Die gleichen unsichtbaren Feuer, die das Wasser der Badeteiche wärmten?
» Drachen künden... « Dafür konnte es ein halbes Dutzend Erklärungen geben, aber R'gul bot ihr keine einzige an. Hieß es, dass die Drachen die Ankunft des Roten Sterns verkünden?
Wie? Durch einen besonderen Schrei vielleicht? Oder war etwas ganz anderes damit gemeint?
Oh, all die Dinge, die in den Balladen nicht erwähnt wurden und die einem kein Mensch erklärte!
» Feuer lodern, Spalten klaffen / Grün verdorrt, greift zu den Waffen / verteidigt Pern, « Neue Rätsel.
War die Rede vom Feuerstein, der tief in die Felsen eindrang und sie spaltete? Und bezog sich das verdorrte Grün auf die Jahreszeit oder den Phosphoratem der Drachen, der jegliche Vegetation zunichte machte?
Waffen?
Sie hatte immer geglaubt, die Drachenreiter benötigten keine Waffen. Aber offenbar konnten auch sie nicht ungeschützt den Weyr verlassen.
R'gul vertrat die Auffassung, je weniger Drachenreiter die Burgherren sahen, desto rascher legte sich der Grimm über die
»Schmarotzer« aus dem Weyr. Selbst die herkömmlichen Patrouillen wurden über unbewohnten Gebieten geflogen.
Fax, dessen offene Auflehnung diese Bewegung ausgelöst hatte, fand genug Nachfolger. Es hieß, dass Larad, der junge Baron von Telgar, seit kurzem der Anführer der unzufriedenen Burgherren sei.
Es nagte an Lessa, dass R'gul Herr des Weyrs war. Er besaß einfach nicht die Fähigkeiten, die man für dieses Amt benötigte.
Aber sein Hath hatte Nemorth auf dem ersten Paarungsflug begleitet.
Die Tradition (Lessa konnte dieses Wort nicht mehr hören) verlangte es, dass derjenige Reiter Weyrherr wurde, dessen Drache sich mit der Königin paarte.
Oh, R'gul schien ein guter Führer zu sein. Er war hochgewachsen und kraftvoll, und seine Züge verrieten Strenge und Selbstdisziplin. Lessa hatte jedoch das Gefühl, dass er seine Strenge in der falschen Richtung wirken ließ.
F'lar hingegen ... das war etwas ganz anderes. Im Gegensatz zu R'gul glaubte er nicht nur an die Gesetze und Traditionen, er verstand sie auch. Hin und wieder gelang es ihr, aus ein paar Sätzen, die er ihr hinwarf, ein Rätsel zu lösen. Aber wiederum die Tradition verlangte es, dass die Weyrherrin vom Anführer des Weyrs in ihre Pflichten eingewiesen wurde.
Warum, beim Ei der Königin, hatte nicht Mnementh, der gigantische Bronzedrache von F'lar, Nemorth begleitet; Hath war ein kräftiges, schönes Tier, aber den Vergleich mit Mnementh hielt er nicht aus. Vermutlich hätte Nemorth mehr als nur zehn Eier gelegt, wenn sie sich mit Mnementh gepaart hätte.
Jora, die verstorbene Weyrherrin, war fett, dumm und unfähig gewesen. Niemand trauerte um sie. Es hieß, dass Drachen und Reiter ähnliche Züge aufwiesen. Vermutlich hatte Nemorth den Bronzedrachen ebenso abgestoßen wie F'lar die Reiterin... Nicht-Reiterin, verbesserte sich Lessa mit einem grimmigen Blick auf den dösenden S'lel.
Aber wenn F'lar sich auf dieses verzweifelte Duell mit Fax eingelassen hatte, um Lessa zu retten und auf den Weyr zu bringen, weshalb verdrängte er dann nicht R'gul, nachdem sie tatsächlich Weyrherrin geworden war? Er musste doch sehen, dass der Weyr immer mehr verfiel.
»Um Pern zu retten«, hatte F'lar erwidert. Der erste Schritt dazu war, R'gul die Macht zu entreißen. Wollte F'lar etwa abwarten, bis der Weyrherr einen Fehler machte? Das würde niemals geschehen, denn R'gul tat einfach nichts - weder etwas Richtiges noch etwas Falsches. Vor allem gab er ihr keine Erklärungen.
» Sternstein, halte Wacht.« Von ihrem Platz aus konnte Lessa das riesige Rechteck des Sternsteines gegen den Himmel sehen. Immer hielt ein Reiter dort Wache. Eines Tages würde sie hinaufsteigen. Sicher hatte man einen herrlichen Ausblick auf das Benden-Gebirge und die Hochebene, die bis zum Fuß des Weyrs reichte.
Vor einer Planetendrehung hatte am Sternstein eine richtige Zeremonie stattgefunden, als der Fingerfelsen kurz die aufgehende Sonne zu berühren schien und damit die Wintersonnenwende markierte.
Doch das erklärte nur die Bedeutung des Fingerfelsens, nicht die des Sternsteines.
Wiederum ein ungelöstes Geheimnis.
Drachenreiter, habt ach t. Wie sollte eine Handvoll von Drachenreitern ganz Pern beschützen?
R'gul konnte nicht leugnen, dass es auf dem Planeten fünf leere Weyr gab. Sie schienen seit undenklichen Zeiten verlassen. Lessa musste ihre Namen und die Rangfolge auswendig lernen: Benden, Hochland, Igen, Ista und Telgar.
Aber er konnte oder wollte ihr nicht erklären, weshalb die Felsenburgen leerstanden.
Und er gab auch keine Antwort auf die Frage, weshalb Benden nur an die zweihundert Drachen beherbergte, obwohl Platz genug für fünfhundert war.
Immer hatte er die Ausrede zur Hand, dass Jora eine unfähige, neurotische Weyrherrin gewesen sei, die Nemorth zuviel zu fressen gegeben hatte. (Niemand sagte Lessa, weshalb Drachen nicht zuviel fressen durften; ganz besonders sagte ihr niemand, weshalb eitle Freude herrschte, wenn Ramoth sich vollstopfte.) Natürlich, die Drachenkönigin musste wachsen, und sie wuchs rasch.
Lessa lächelte zärtlich, als sie an Ramoth dachte. Sie sah von ihrer Schreibtafel auf. Jenseits des Korridors lag Ramoths Felsenkammer. Sie spürte, dass die junge Königin noch fest schlief.
Lessa seufzte. Sie sehnte sich nach dem tröstenden Blick aus den großen Regenbogenaugen, nach der Unterhaltung mit Ramoth, die ihr das Leben im Weyr einigermaßen erträglich machte.
Manchmal hatte Lessa das Gefühl, dass sie zwei Leben führte: sie war fröhlich und ausgefüllt, wenn sie sich um Ramoth kümmerte, und zutiefst verzweifelt, wenn der Drache schlief. Abrupt brach Lessa ihre niederdrückenden Gedankengänge ab und beugte sich über die Tafel. So verging wenigstens die Zeit rascher.
» Es kommt der Rote Stern. «
Dieser rätselhafte Rote Stern!
Lessa setzte mit einer energischen Geste das Schlusszeichen.
Sie würde nie jenen Morgen vor mehr als zwei Planetendrehungen vergessen, als eine unheimliche Vorahnung sie aus dem Schlaf gerissen und ins Freie getrieben hatte.
Damals hatte der Rote Stern über Ruatha gestanden.
Und nun befand sie sich im Weyr. Aber die glänzende Zukunft, die F'lar ihr in so lebhaften Farben geschildert hatte, war nicht eingetroffen. Anstatt ihre geheimen Kräfte zum Wohle von Ruatha einzusetzen, schleppte sie sich von einem öden Tag zum anderen, angewidert von R'gul und S'lel, gefesselt an die Räume der Weyrherrin (auch wenn sie eine Verbesserung gegenüber der stinkenden Käsekammer darstellten). Nur wenn sie ihre so genannten Lehrmeister nicht mehr ertragen konnte, nutzte sie ihre besondere Fähigkeit aus.
Lessa biss die Zähne zusammen. Ramoth hielt sie hier fest, sonst wäre sie längst nach Ruatha zurückgekehrt und hätte Gemmas Sohn das Erbe entrissen.
Sie nagte an ihrer Unterlippe und lächelte über ihre Spekulationen. Seit sie Ramoth zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte, bestand zwischen ihr und der jungen Drachenkönigin ein unauflösliches Band. Nur der Tod konnte sie trennen.
Gelegentlich lebte ein Mann wie Lytol weiter, wenn sein Drache umgekommen war. Aber dann führte er ein Schattendasein und wurde unaufhörlich von Erinnerungen gequält.
Starb ein Reiter, so begab sich sein Drache ins Dazwischen, jenes eiskalte Nichts, durch das man ohne Zeitverlust weit voneinander entfernte Orte überbrücken konnte. Lessa wusste, dass es für Uneingeweihte gefährlich war, das Dazwischen zu durchqueren. Wer sich länger als drei Atemzüge in diesem Medium aufhielt, war verloren.
Und doch hatte der Ritt auf Mnemenths Rücken den Wunsch in ihr geweckt, dieses Erlebnis zu wiederholen. Sie war davon überzeugt gewesen, dass man ihr erlauben würde, Ramoth zu reiten. Aber R'gul ließ es nicht zu. Sie war nach Ramoth die wichtigste Person des Weyrs, und er wollte ihr Leben nicht gefährden. So musste sie ohnmächtig zusehen, wie über dem Weyr die halbwüchsigen Jungen mit ihren Drachen Übungsritte veranstalteten, während sie selbst eine Gefangene ihres Amtes war.
Warum sollte eine Königin nicht fliegen können?
Bestimmt besaß sie die gleichen angeborenen Fähigkeiten wie die Drachenmännchen. Lessas Theorie wurde von der Ballade Moretas Ritt gestützt.
Hatten diese Balladen nicht die Aufgabe, Wissen zu vermitteln? Sollten sie nicht die des Lesens und Schreibens Unkundigen an ihre Pflichten gegenüber Pern erinnern? Diese beiden Vollidioten mochten die Existenz der Ballade leugnen, aber woher hatte Lessa sie gelernt, wenn es sie nicht gab?
Sobald R'gul ihr das »traditionelle« Amt der Archivhüterin übertrug - und wehe, er tat es nicht bald! - würde sie die Ballade rasch finden. Doch bis jetzt speiste er sie immer mit der Ausrede ab, der rechte Augenblick sei noch nicht gekommen.
Der rechte Augenblick! dachte sie wütend. Der rechte Augenblick! Worauf warteten sie noch? Bis die Monde grün wurden? Oder dieser hochmütige F'lar! Worauf wartete er? Auf das Vorüberziehen des Roten Sterns, an dessen Gefahr nur er zu glauben schien?
Sie atmete tief ein. Immer wenn sie an diesen Stern dachte, spürte sie in ihrem Innern eine kalte Drohung.
Unwillig schüttelte sie den Kopf. Diese Bewegung war unklug, denn sie erregte R'guls Aufmerksamkeit. Er sah von den Schriften auf, die er mit großem Eifer las. Als er ihre Tafel zu sich heranzog, weckte er den schlafenden S'lel.
»Wie? Ja?« stammelte der Drachenreiter und kehrte mühsam in die Wirklichkeit zurück.
Das war zuviel.
Lessa setzte sich mit S'Iels Tuenth in Verbindung, und der Drache ging sofort auf ihren Vorschlag ein.
»Ich muss gehen, Tuenth wird unruhig«, sagte
S'lel prompt.
Er eilte erleichtert zum Korridor, und Lessa hörte, wie er draußen jemanden begrüßte. Sie sah gespannt zum Eingang.
Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, R'gul loszuwerden.
Es war Manora, die Aufseherin der Unteren Höhlen. Lessa empfing sie mit kaum verhohlener Freude, und R'gul, der in Manoras Gegenwart immer nervös wirkte, verabschiedete sich rasch.
Manora, eine stattliche Frau in mittleren Jahren, strahlte Ruhe und Zielstrebigkeit aus. Sie hatte sich mit ihren Aufgaben abgefunden und erfüllte sie mit würdevoller Gelassenheit. Ihre Geduld war ein stiller Vorwurf für Lessas aufbrausendes Temperament. Von allen Frauen im Weyr bewunderte und achtete Lessa Manora am meisten. Der Instinkt sagte ihr, dass sie es kaum fertig bringen würde, die Freundschaft einer dieser Frauen zu gewinnen. Aber die zurückhaltenden Gespräche, die sie mit Manora führte, befriedigten sie.
Manora hatte die Vorratslisten mitgebracht. Es gehörte zu ihren Pflichten, die Weyrherrin über Haushaltsprobleme auf dem laufenden zu halten.
»Bitra, Benden und Lemos haben ihre Abgaben zum Weyr gesandt, aber das wird diesmal nicht ausreichen, um uns über den Winter zu bringen.«
»Eine Planetendrehung zuvor wurden wir auch nur von diesen drei Burgen versorgt, und wir hatten doch reichlich zu essen.«
Manora lächelte liebenswürdig, aber man sah ihr an, dass sie mit dem Wort »reichlich« nicht einverstanden war.
»Gewiss, aber wir hatten noch getrocknete Vorräte von reicheren Erntejahren. Sie sind nun aufgebraucht.
Bis auf den Fisch von Tillek ...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Lessa schüttelte sich. Fisch hatte es in letzter Zeit nur allzu oft gegeben, getrockneten Fisch, gepökelten Fisch ...
»Und unser Mehl geht zur Neige, da Benden,
Bitra und Lemos kein Getreide anbauen. «
»Wir benötigen also vor allem Getreide und Fleisch?«
»Auch Obst und Wurzelgemüse«, meinte Manora nachdenklich. »Damit können wir den Speiseplan abwechslungsreicher gestalten - besonders, falls die kalte Jahreszeit diesmal wirklich so lange währt, wie es die Wetterkundigen prophezeien. Wir haben zwar im Frühling und Herbst in der Igen-Ebene Beeren und Nüsse gesammelt...«
»Wir? In der Igen-Ebene?« unterbrach Lessa sie verblüfft.
»Ja«, erwiderte Manora. »Wir gehen immer dorthin. In den Sumpfgebieten gibt es eine wilde Getreidesorte, die wir ausdreschen und in den Weyr bringen.«
»Wie gelangt ihr dorthin?« fragte Lessa scharf. Es konnte nur eine Antwort geben.
»Die Alten fliegen uns. Ihnen macht es nichts aus, und die Drachen haben eine Aufgabe, die sie nicht zu sehr ermüdet.
Das wussten Sie doch, oder nicht?«
»Dass die Frauen der unteren Höhlen mit den Drachenreitern fliegen?«
Lessa presste die Lippen ärgerlich zusammen.
»Nein. Das hat man mir nicht gesagt.«
In Manoras Blicken las sie Mitgefühl, und das demütigte sie noch mehr.
»Als Weyrherrin müssen Sie manche Beschränkung auf sich nehmen ...«, begann sie vorsichtig.
Lessa spürte, dass Manora das Thema wechseln wollte, und bohrte unerbittlich weiter.
»Was geschähe, wenn ich den Wunsch äußern wurde, nach sagen wir - Ruatha zu fliegen?«
Manora betrachtete Lessa aufmerksam. Ihr Blick war besorgt. Lessa wartete. Sie hatte Manora absichtlich in eine Position gebracht, wo die Frau eine Ausrede gebrauchen musste, wenn sie direkte Lügen scheute.
»Sie dürfen den Weyr jetzt nicht verlassen,
ganz gleich, welche Gründe Sie haben mögen«, sagte Manora fest.
Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr das Blut in die
Wangen stieg.
»Das hätte verheerende Folgen. Die Königin wächst so rasch. Sie müssen hier bleiben.«
Ihre flehende Bitte überraschte Lessa und verriet mehr als R'guls salbungsvolle Ermahnungen, wie wichtig es war, Ramoth ständig im Auge zu behalten.
»Sie müssen hier bleiben«, wiederholte Manora. Furcht spiegelte sich in ihren Zügen.
»Königinnen fliegen nicht«, erinnerte Lessa sie spöttisch.
Sie dachte schon, dass Manora S'lels Antwort wiederholen würde, aber die Frau wich auf ein anderes Thema aus.
»Wir kommen nicht einmal mit halben Rationen durch den Winter«, stieß Manora nervös hervor und schob die Vorratslisten zusammen.
»Hat es denn bisher keine Hungerzeiten gegeben... in der traditionsreichen Vergangenheit?« fragte Lessa mit sanftem Sarkasmus.
Manora hob fragend die Augenbrauen, und nun errötete Lessa. Sie schämte sich, dass sie ihren Zorn über die Unfähigkeit der Drachenreiter an der Aufseherin ausließ. Sie war doppelt zerknirscht, als Manora ihre stumme Bitte um Verzeihung akzeptierte.
In diesem Augenblick wuchs Lessas Entschlossenheit, sich und den Weyr von der Herrschaft R'guls zu befreien.
»Nein«, fuhr Manora ruhig fort, »In der Vergangenheit...«
Sie lächelte ein wenig »erhielt der Weyr die besten Erträge von Ernte und Jagd.
Gewiss, im Laufe der Planetendrehungen wurden die Abgaben immer knapper bemessen, aber das machte sich nicht bemerkbar. Wir mussten keine jungen Drachen füttern. Und Sie wissen selbst, was die Tiere fressen.«
Die beiden Frauen sahen einander an. Dann
zuckte Manora mit den Schultern. »Früher brachten die Reiter ihre
Drachen aufs Hochland oder nach Keroon. Nun jedoch ...«
Mit einer hilflosen Geste deutete sie an, dass R'guls Beschränkungen für den Weyr zusätzliche Belastungen brachten.
»Früher«, fuhr sie leise und ein wenig wehmütig fort,
»verbrachten wir die kälteste Zeit auf einer der Burgen im Süden. Oder wir konnten zu unserem Geburtsort zurückkehren, wenn wir diesen Wunsch äußerten. Die meisten Familien waren stolz auf Töchter, die beim Drachenvolk lebten.« Ihre Miene wurde düster. »Die Welt dreht sich, und die Zeiten ändern sich.«
»Ja«, hörte sich Lessa mit harter Stimme sagen, »die Welt dreht sich, und die Zeiten - werden sich ändern.«
Manora starrte Lessa verwirrt an.
»Selbst R'gul muss einsehen, dass uns keine andere Wahl bleibt«, fuhr Manora hastig fort. Sie bemühte sich, den Faden nicht zu verlieren.
»Als die Drachen wieder auf Jagd zu schicken?«
»O nein. In diesem Punkt ist er unerbittlich. Nein, wir werden Vorräte auf Fort oder Telgar kaufen müssen.«
Gerechte Empörung stieg in Lessa hoch.
»Der Tag, an dem der Weyr kaufen muss, was ihm von Rechts wegen zusteht...«
Sie unterbrach sich mitten im Satz. Beinahe die gleichen Worte hatte ihr Todfeind benutzt.
»Ich weiß«, meinte Manora besorgt, ohne auf Lessas verwandelte Stimmung zu achten.
»Man sträubt sich unwillkürlich dagegen. Aber wenn R'gul die Jagd verbietet, gibt es keine andere Möglichkeit. Auch er leidet nicht gern Hunger.«
Lessa zwang sich mühsam zur Ruhe. Sie holte tief Atem.
»Wahrscheinlich schneidet er sich die Kehle durch, um den Magen zu isolieren«, fauchte sie.
Sie ignorierte Manoras entsetzten Blick und fuhr fort: »Die Tradition will es, dass Sie als Aufseherin der Unteren Höhlen Missstände dieser Art der Weyrherrin melden, nicht wahr?«
Manora nickte. Lessas rasch wechselnde Stimmungen brachten sie aus dem Gleichgewicht.
»Und ich, die Weyrherrin, spreche darüber mit dem Weyrführer, der vielleicht etwas unternimmt?«
Wieder nickte Manora.
»Nun«, fuhr Lessa im leichten Plauderton fort, »Sie haben sich traditionsgemäß Ihrer Pflicht entledigt. Nun komme ich an die Reihe, ja?«
Die Aufseherin beobachtete sie misstrauisch. Lessa lächelte ihr beruhigend zu.
»Sie können alles mir überlassen.«
Manora erhob sich langsam. Ohne die Blicke von Lessa zu wenden, sammelte sie ihre Aufzeichnungen ein.
»Es heißt, dass man auf Fort und Telgar ungewöhnlich gute Ernten hatte«, meinte sie zögernd. »Auch Keroon kann nicht klagen trotz der Küstenüberschwemmung.«
»Tatsächlich?« entgegnete Lessa höflich.
»Ja. Und die Herden in Keroon und Tillek haben sich stark vermehrt.«
»Das freut mich.«
Manora war immer noch misstrauisch. Sie machte ein Bündel aus ihren Listen. Dann sagte sie vorsichtig:
»Ist Ihnen aufgefallen, wie sehr K'net und sein Geschwader unter R'guls Einschränkungen leiden?«
»K'net?«
»Ja. Das gleiche gilt für den alten C'gan. Oh, sein Bein ist steif, und Tagaths Schuppen schimmern eher grau als blau, aber der Drache ist noch ein Nachkomme von Lidith. In ihrem letzten Gelege waren ein paar prachtvolle Tiere. C'gan erinnert sich an bessere Zeiten ...«
»Bevor sich alles veränderte?«
Lessas freundlicher Tonfall konnte Manora nicht täuschen.
»Sie wirken nicht nur als Weyrherrin anziehend auf die Drachenreiter, Lessa von Pern«, sagte Manora ernst. »Einige der braunen Reiter beispielsweise ...«
»F'nor?« fragte Lessa spitz.
Manora richtete sich stolz auf. »Er ist ein erwachsener Mann, Weyrherrin, und wir von den Unteren Höhlen haben es gelernt, den Bindungen des Blutes und der Zuneigung zu entsagen. Ich empfehle ihn nicht als den Sohn, den ich geboren habe, sondern als Drachenreiter. Ebenso gut könnte ich T'sum oder L'rad nennen.«
»Schlagen Sie diese Männer vor, weil sie zu F'lars Geschwader gehören und nach der alten Tradition aufgezogen werden? Weil sie meinen Überredungskünsten vielleicht nicht so rasch verfallen wie andere ...?«
»Ich schlage sie vor, weil sie daran glauben, dass der Weyr von den Burgen versorgt werden muss.«
»Also schön.«
Lessa lachte. Die Frau hatte sich keinen Augenblick aus der Ruhe bringen lassen.
»Ich werde mir Ihre Empfehlungen zu Herzen nehmen, da ich nicht die Absicht habe ...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Danke, dass Sie mir das Vorratsproblem geschildert haben.
Frisches Fleisch brauchen wir also am dringendsten?« Sie erhob sich.
»Dazu Getreide und die Wurzelgemüse aus dem Süden«, erwiderte Manora formell.
Lessa nickte.
Die Aufseherin verließ den Raum. Ein nachdenklicher Ausdruck lag auf ihren Zügen.
Lessa warf sich in eine gepolsterte Felsnische und überlegte lange. Da war zuerst einmal das beunruhigende Wissen, dass Manora schon bei der Andeutung, sie könnte den Weyr verlassen, in Aufregung geriet. Ihre instinktive Angstreaktion war ein weit wirksameres Argument als R'guls leeres Geschwätz.
Aber Manora hatte mit keiner Silbe verraten, weshalb sie Angst hatte. Nun gut, Lessa würde also in nächster Zeit ihre Absicht aufgeben, einen Drachen zu fliegen. Dagegen beschloß sie, sich sofort um das Vorratsproblem zu kümmern.
Besonders, da R'gul bestimmt nichts unternahm.
K'net oder F'nor oder sonst jemand mussten ihr bei der Versorgung des Weyr helfen, und zwar so, dass R'gul nichts davon merkte. Was er nicht wusste, konnte er nicht verbieten.
Lessa hatte sich so an das regelmäßige Essen gewöhnt, dass sie es nicht mehr missen wollte. Sie war nicht habgierig, aber sie fand, dass die Burgherren von einer guten Ernte durchaus einen kleinen Teil »abgeben« konnten. Wahrscheinlich bemerkten sie den Verlust überhaupt nicht.
Lessa lächelte vor sich hin, doch dann wurde sie ernst.
»Der Tag, an dem der Weyr kaufen muss, was ihm von Rechts wegen zusteht ...«
Sie unterdrückte die Furcht, die in ihr aufsteigen wollte, und konzentrierte sich auf die augenblickliche Situation.
Hatte sie etwa geglaubt, alles, sogar der Rhythmus des Lebens, müsse sich ändern, seit Lessa von Ruatha in den Weyr eingezogen war? Wie konnte sie sich nur so romantischen Schwärmereien hingeben?
Sieh dich um, Lessa von Pern, betrachte den Weyr mit nüchternen Augen! Alt und Heilig ist der Weyr? Ja, aber auch schäbig und verwahrlost - und man missachtete ihn!
Gewiss, der große Thron der Weyrherrin steht am obersten Ende des Beratungstisches, aber die Polster sind abgewetzt.
Die Verwahrlosung spiegelte wider, wie sehr die Bedeutung des Weyrs in Pern gesunken war. Selbst die kühnen Reiter, so herausfordernd in ihren Wherleder-Gewändern, so stolz auf dem Rücken ihrer mächtigen Drachen, hielten einer gründlichen Inspektion nicht stand.
Sie waren auch nur Menschen mit allen menschlichen Schwächen und Fehlern. Sie wollten ihr bequemes Leben nicht aufs Spiel setzen. Sie waren schon so lange von den übrigen Bewohnern Perns isoliert, dass sie gar nicht merkten, wie gering man von ihnen dachte. Sie besaßen keinen echten Führer ...
F'lar! Worauf wartete er? Bis sie R'guls Unfähigkeit satt hatte? Nein, bis Ramoth voll ausgewachsen war. Bis Mnementh sie auf dem Paarungsflug begleiten konnte. Denn der Reiter des Siegerdrachen wurde automatisch Weyrherr.
Nun, hoffentlich machte ihm R'gul keinen Strich durch die Rechnung.
Ich war von Ramoths schillernden Augen geblendet, dachte Lessa und stählte sich gegen die Zärtlichkeit, die sie immer überkam, wenn sie an den goldenen Drachen dachte. Aber nun sehe ich die schwarzen und grauen Schatten, die dahinterliegen. Die Zeit auf Ruatha war eine gute Vorbereitung. Ich muss die Bewohner des Weyrs unter meine Kontrolle bringen. Ein Risiko, aber was verliere ich? Lessas Lächeln vertiefte sich. Ohne mich können sie mit Ramoth nichts anfangen. Und sie brauchen Ramoth. Niemand kann an Lessa von Ruatha vorbei! Und ich bin keine Jora! Ich lasse mich nicht zwingen.
Lessas Laune hatte sich gebessert, vor allem, als sie spürte, dass Ramoth allmählich erwachte. Sie stand auf. Zeit, Zeit.
R'guls Zeit. Nun, Lessa würde sich nicht mehr darum kümmern. Sie beschieß, die Weyrherrin zu sein, die F'lar in ihr gesehen hatte.
F'lar ... ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück.
Sie musste sich vor ihm in acht nehmen, besonders, wenn sie lenkend in die Ereignisse eingriff. Aber sie besaß einen Vorteil, von dem er nichts ahnte - sie konnte mit allen Drachen Kontakt aufnehmen, nicht nur mit Ramoth. Selbst mit seinem heißgeliebten Mnementh ...
Lessa warf den Kopf zurück und lachte. Der Laut hallte dröhnend im leeren Beratungssaal wider. Sie lachte wieder.
Ramoth warf sich unruhig hin und her. Hunger quälte sie im Halbschlaf. Lessa lief leichtfüßig durch den Korridor, glücklich wie ein Kind. Sie freute sich jedes Mal von neuem auf die Begegnung mit der Drachenkönigin.
Ramoths keilförmiger Kopf wandte sich suchend der Weyrgefährtin zu. Lessa strich rasch über das stumpfe Kinn.
Langsam glitt die Schutzhaut von den Facettenaugen des Drachen, und wie magisch wurden Lessas Blicke von der Regenbogeniris angezogen.
Ramoth erzählte ihr, dass sie wieder so scheußlich geträumt habe, und Lessa musste sie trösten. Dann beklagte sie sich über ein Jucken am Kamm.
»Deine Haut schält sich wieder«, erklärte Lessa und rieb Öl auf die wunde Stelle. »Du wächst aber auch zu schnell!« fügte sie tadelnd hinzu.
Ramoth quengelte weiter.
»Wenn dich das Jucken so stört, musst du eben weniger essen.«
Während Lessa das Öl einmassierte, murmelte sie die Worte, die sie auswendig gelernt hatte.
»Die jungen Drachen müssen täglich mit Öl behandelt werden, da sich bei dem anfänglichen raschen Wachstum die Haut leicht überdehnen kann, was zu Rissen und Schuppenabstoßung führt.«
Es juckt, widersprach Ramoth verdrießlich. Sie zappelte voller Ungeduld.
»Still! Ich wiederhole nur, was ich gelernt habe.«
Ramoth stieß ein verächtliches Schnauben aus, das Lessas Rocksaum hoch wirbeln ließ.
»Still! Ein tägliches Bad mit anschließender Massage ist absolut notwendig. Schuppige Haut führt später zu Verhornungen, die das Fliegen erschweren.
»Weiterreiben! bettelte Ramoth.
»Fliegen - pah!«
Ramoth erklärte, dass sie hungrig sei. Sie fragte, ob sie nicht später baden könnte?
»Sobald du dir den Wanst vollgeschlagen hast, bist du sogar zum Kriechen zu träge. Und herumschleppen kann ich dich nicht mehr. Dein Gewicht ist beachtlich.«
Ramoth wollte schnippisch antworten, wurde jedoch von einem leisen Lachen unterbrochen. Lessa wirbelte herum. Am Eingang lehnte F'lar.
Er kam offensichtlich von einem Patrouillenflug, denn er trug noch das schwere Wherleder-Gewand. Sein kantiges, aber schön geschnittenes Gesicht war von der Kälte des Dazwischen gerötet. In seinen Bernsteinaugen las sie Spott und Belustigung.
»Sie wird schön«, stellte er fest und verbeugte sich höflich.
Lessa hörte, wie Mnementh die Drachenkönigin von seinem Sims aus begrüßte.
Ramoth sah F'lar kokett an. Sein stolzes Besitzerlächeln verärgerte Lessa.
»Die Eskorte findet sich nach Erwachen der Königin zur Begrüßung ein«, zitierte sie.
»Guten Tag, Ramoth«, sagte F'lar gehorsam. Er klatschte mit den schweren Handschuhen gegen seine Hüfte.
»Haben Sie unseretwegen die Patrouille unterbrochen?«
fragte Lessa verdächtig freundlich.
»Es war nicht so wichtig - nur ein Routineflug«, erwiderte F'lar unbeirrt. Er trat neben Lessa, um die Königin besser betrachten zu können.
»Sie ist größer als die meisten Braunen. In Telgar hat es Überschwemmungen gegeben. Und die Küstensümpfe von Igen sind drachentief.«
Seine Zähne blitzten, als freute er sich darüber.
Da F'lar nichts ohne Grund sagte, merkte sich Lessa seine Worte genau. Sie würde später darüber nachdenken, was sie bedeuteten.
Ramoth unterbrach Lessas Überlegungen mit der gekränkten Feststellung, dass sie sofort baden wolle, wenn sie diese lästige Arbeit schon vor dem Essen erledigen müsse.
Lessa horte Mnemenths amüsiertes Brummen.
»Mnementh meint, dass wir der Kleinen nachgeben sollen«, stellte F'lar von oben herab fest.
Lessa unterdrückte den Wunsch, ihm zu sagen, dass sie Mnementh genau verstanden habe. Eines Tages sollte er es jedoch erfahren, und sie freute sich schon heute auf sein erstauntes Gesicht.
»Ich vernachlässige sie entsetzlich«, sagte sie mit zerknirschter Miene.
F'lars Augen wurden schmal, aber er antwortete nicht. Mit einer liebenswürdigen Geste gab er ihr den Weg frei. Sie betrat als erste den Korridor.
Lessa wusste selbst nicht, was sie dazu zwang, F'lar immer wieder herauszufordern. Sie hoffte nur, dass es ihr einmal gelingen würde, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Aber das konnte lange dauern. Er war ein ebenbürtiger Gegner.
Die drei traten zu Mnementh auf den Sims hinaus. Der Bronzedrache schwebte schützend über Ramoth, als sie mit ungeschickten Flügelschlägen auf die andere Seite des ovalen Weyr-Becken zusteuerte. Nebel stieg aus dem warmen Wasser des kleinen Badesees auf. Lessa, die auf Mnemenths Nacken saß, sah der staksigen Drachenkönigin ängstlich nach.
Königinnen fliegen nicht, weil sie es nicht können, sagte sich Lessa mit bitterer Offenheit vor, als sie Ramoths grotesken Flug mit dem eleganten Gleiten des Bronzedrachen verglich.
»Mnementh lasst ausrichten, dass sie schöner fliegen wird, sobald sie voll ausgewachsen ist«, sagte F'lar dicht an ihrem Ohr.
»Aber die jungen Drachenmännchen wachsen ebenso schnell, und sie ...«
Lessa unterbrach sich. Diesem F'lar konnte sie ihre Gedanken nicht preisgeben.
»Sie wachsen langsamer, und sie üben ständig ...«
»... das Fliegen!« stieß Lessa hervor. Sie schwieg, als sie den Blick des Bronzereiters auffing. Sie hatte Angst vor seinen spöttischen Bemerkungen.
Ramoth lag im Wasser und wartete ungeduldig darauf, mit Sand abgeschrubbt zu werden. Der Rückenkamm juckte fürchterlich! Lessa rieb pflichtschuldig die angegebene Stelle.
Nein, ihr Leben hatte sich im Weyr nicht geändert. Sie schrubbte immer noch. Und Ramoth wurde mit jedem Tag größer. Sie schickte das Tier ins tiefe Wasser, damit es den Sand abspülte. Ramoth wälzte sich in den Fluten. Sie tauchte bis zur Nasenspitze unter. Die Augen, von einem dünnen Innenlid überzogen, leuchteten wie Edelsteine.
Jede Tätigkeit im Weyr ruhte, wenn Ramoth in der Nähe war. Lessa bemerkte die Frauen, die sich an den Eingängen der Unteren Höhlen zusammendrängten und Ramoth fasziniert betrachteten. Drachen kauerten auf ihren Felsvorsprüngen oder kreisten über dem See. Selbst die jüngsten Bewohner des Weyrs kamen neugierig herbei.
Unerwartet trompetete ein blauer Drache in der Nähe des Sternsteins. Sein Reiter lenkte ihn in einer breiten Schleife nach unten.
»Ein ganzer Wagenzug mit Abgaben, F'lar!« rief der Mann freudestrahlend. Zu seiner Enttäuschung blieb F'lar völlig ruhig.
»F'nor wird sich darum kümmern«, erklärte der Bronzereiter gleichgültig. Der Bote steuerte seinen Drachen gehorsam zur Felshöhle des braunen Reiters.
»Wer könnte das sein?« fragte Lessa F'lar. »Die
drei weyrtreuen Burgen haben ihre Abgaben bereits
entrichtet.«
F'lar wartete, bis er F'nor mit seinem Braunen Canth aufsteigen sah. In seinem Gefolge befanden sich einige grüne Reiter.
»Wir werden es bald erfahren«, meinte er. Er wandte den Kopf nach Osten, und seine Mundwinkel zuckten einen Moment lang grimmig. Lessa folgte seinem Blick. Auch jetzt, da die Sonne voll am Himmel stand, konnte der geübte Beobachter ganz schwach den Roten Stern erkennen.
»Wir werden die Getreuen schützen, wenn der Rote Stern kommt«, sagt F'lar leise.
Lessa wusste nicht, weshalb ausgerechnet sie beide so fest an die Drohung des Roten Sterns glaubten. Sie hatte ihn nie gefragt nicht aus Trotz, sondern weil die Gefahr so offensichtlich war. Er wusste es. Und sie wusste es.
Und gelegentlich schien sich das Wissen auch in den Drachen zu regen. Im Morgengrauen wälzten sie sich oft unruhig hin und her, und ihre Flügel zuckten. Manora glaubte ebenfalls an die Gefahr. Und F'nor. Vielleicht hatte F'lar sogar einige Reiter seines Geschwaders durch seine unbeirrte Haltung beeindruckt. Jedenfalls wachte er scharf darüber, dass sie den alten Gesetzen gehorchten.
Ramoth kam aus dem See und flatterte zur Futterstelle.
Mnementh wartete am Rand. Er ließ es zu, dass Lessa sich auf seine Vorderpfote setzte. Der Felsboden war kalt.
Ramoth fraß. Sie beklagte sich über das zähe Fleisch und noch mehr über die Tatsache, dass Lessa ihr nur sechs Böcke zugestehen wollte.
»Andere Drachen haben auch Hunger.«
Ramoth erklärte, dass sie als Königin den Vorrang habe.
»Dann juckt deine Haut morgen wieder.«
Mnementh sagte, dass sie seinen Anteil bekommen könne, da er vor zwei Tagen fette Beute in Keroon gemacht habe.
Lessa betrachtete Mnementh aufmerksam. Sahen
deshalb die Drachen aus F'lars Geschwader so glatt und wohlgenährt
aus? Sie musste mehr darauf achten, wer die Futterstelle
aufsuchte.
Ramoth schlummerte bereits in ihrer Höhle, als F'lar mit einem Fremden eintrat.
»Weyrherrin«, sagte er, »ein Bote von Lytol mit Nachricht für Sie!«
Der Mann riss seine Blicke nur zögernd von der goldenen Königin los. Er verbeugte sich vor Lessa.
»Tilarek, Weyrherrn, im Auftrag von Lytol, dem Verwalter Ruathas.«
Seine Stimme klang ehrerbietig, aber seine Blicke drückten so offen Bewunderung aus, dass es an Unverschämtheit grenzte. Er holte einen Brief aus dem Gürtel und hielt ihn unschlüssig in der Hand. Einerseits war ihm bekannt, dass Frauen nicht lesen konnten, andererseits hatte er den Befehl erhalten, die Botschaft der Weyrherrin zu überreichen. Lessa streckte die Hand gebieterisch aus. Sie sah, dass in F'lars Augen wieder Spott blitzte.
»Die Königin schläft«, stellte F'lar fest und ging voraus in den Beratungssaal.
Geschickt von F'lar, dachte Lessa. Er hatte dafür gesorgt, dass der Bote Ramoth ausgiebig bewundern konnte. Tilarek würde die Nachricht verbreiten, dass die Drachenkönigin außergewöhnlich stark und gut gepflegt sei.
Lessa wartete, bis F'lar dem Kurier Wein anbot. Dann öffnete sie den Umschlag aus Wherhaut. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, etwas über Ruatha zu erfahren. Aber warum musste Lytol mit den Worten beginnen: Das Kind ist gesund und kräftig ...
Dieses Kind war ihr ziemlich gleichgültig. Ah ...
Ruatha ist vom Grün befreit, von der Klippe bis hinunter zu den Höfen. Die Ernte war gut, und die Herden vermehren sich.
Ruatha sendet hiermit die fälligen Abgaben.
Mögen sie dem Weyr dienen, der uns beschützt.
Lessa zog die Stirn kraus. Ruatha erfüllte seine Pflicht, gewiss, aber was sollte das Schreiben? Die anderen drei Burgen hatten nicht einmal Grüße übermittelt. Lytols Botschaft war noch nicht zu Ende. Ein Wort an die Weisen. Seit dem Tod von Fax führt Telgar die Abtrünnigen. Aber Meron von Nabol ist stark und versucht sich an die Spitze zu schieben. Telgar zaudert ihm zu sehr. Die Gruppe hat mehr Anhänger, als ich dachte, und sie gewinnt zusehends an Einfluss. Der Weyr muss doppelt auf der Hut sein. Ruatha ist gern bereit, ihm zur Seite zu stehen.
Lessa las den letzten Satz noch einmal. Er unterstrich nur, dass viel zu wenige Burgen dem Weyr dienten.
»... ausgelacht, Bronzereiter«, sagte der Bote gerade und stellte den Becher ab. »Das Volk hört eben gern auf denjenigen, der am lautesten schreit. Oder es spottet über das Ungewohnte.«
Er ballte die Faust.
»Je näher wir ans Benden-Gebirge kamen, desto weniger Spötter trafen wir an. Ich bin Soldat, und es fiel mir schwer, die Sticheleien einfacher Bauern und Handwerker zu ertragen, ohne das Schwert zu ziehen. Aber wir hatten den Befehl, einen Kampf zu vermeiden, und das taten wir.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Die Barone bewachen ihre Burgen ... seit der Suche ...«
Lessa überlegte, war er damit meinte, aber er fuhr nüchtern fort: »Einige werden ihre Haltung noch bereuen, wenn die Silberfäden fallen.«
F'lar schenkte dem Mann noch einen Becher Wein ein und fragte beiläufig, wie die Ernte der übrigen Burgen geraten sei.
»So gut wie seit Planetendrehungen nicht mehr«, versicherte ihm der Kurier. »An den Rebstöcken von Crom hingen solche Trauben!« Er versuchte ihre Größe mit einer ausholenden Geste anzudeuten. »Und die Ähren von Telgar waren noch nie so prall gefüllt wie diesmal. Nie!«
»Pern gedeiht«, stellte F'lar trocken fest.
»Da!«
Tilarek nahm eine verschrumpelte Frucht vom Tablett.
»Ich habe Besseres als das hier hinter Erntewagen aufgelesen.« Er verschlang sie mit zwei Bissen und wischte sich die Finger am Umhang ab. Dann setzte er hastig hinzu:
»Wir von Ruatha haben Ihnen nur bestes Obst gebracht. Vom Baum gepflückt - keine Fallernte!«
»Wir zweifeln nicht an Ruathas Treue«, versicherte ihm F'lar. »Waren die Straßen frei?«
»Ja, nur mit dem Wetter stimmte es nicht. Mal kalt, dann plötzlich warm. Kein Schnee und wenig Regen. Aber die Stürme! Einfach unglaublich! Es heißt, dass an den Küsten Hochwasser herrscht!« Er rollte ausdrucksvoll die Augen und beugte sich dann vertraulich vor. »Istas rauchender Berg, der manchmal auftaucht und dann wieder verschwindet, hat sich wieder gezeigt.«
F'lar sah skeptisch drein, wie es der Bote erwartete, aber Lessa bemerkte sehr wohl, dass seine Augen zu leuchten begannen.
»Sie müssen ein paar Tage bleiben und sich ausruhen«, lud F'lar Tilarek ein und führte ihn an der schlafenden Ramoth vorbei.
»Vielen Dank, gern. Man hat nicht oft Gelegenheit, einen Weyr zu betreten«, erwiderte Tilarek geistesabwesend. Er reckte den Hals, um Ramoth besser sehen zu können.
»Ich wusste gar nicht, dass Königinnen so groß werden.«
»Ramoth ist bereits jetzt größer und kräftiger als Nemorth«, sagte F'lar und übergab den Boten einem Jungen, der ihn hinausbegleitete.
»Lesen Sie das«, sagte Lessa ungeduldig, als sie wieder allein im Beratungsraum waren. Sie reichte ihm die gegerbte Haut.
»Ich hatte kaum etwas anderes erwartet«, meinte F'lar sorglos und nahm auf der Kante des Beratungstisches Platz.
»Und ...? fragte Lessa heftig.
»Wir müssen abwarten«, entgegnete F'lar gelassen und untersuchte eine Frucht nach fleckigen Stellen.
»Tilarek deutete an, dass uns einige Burgen aus der näheren Umgebung noch die Treue halten«, erklärte Lessa.
F'lar winkte ab. »Tilarek sagt, was man gern von ihm hören möchte.
»Und er spricht nicht unbedingt im Namen seiner Soldaten«, erklang F'nors Stimme vom Eingang her.
Der braune Reiter nickte Lessa kurz zu.
»Die Männer der Eskorte gaben ihrem Unwillen deutlich Ausdruck. Man war allgemein der Ansicht, dass Ruatha zu lange gedarbt harte, um dem Weyr gleich nach der ersten Planetendrehung einen so hohen Anteil zu geben. Und ich muss sagen, dass Lytol großzügiger als nötig war. Wir werden eine gut gedeckte Tafel haben ... für die nächste Zeit.«
F'lar schob dem braunen Reiter die Botschaft hin.
»Als ob wir das nicht wüssten!« murmelte F'nor, nachdem er den Inhalt überflogen hatte.
»Was gedenken Sie dagegen zu tun, wenn Sie es schon wissen?« fragte Lessa. »Der Weyr ist so im Verruf, dass bald niemand mehr Abgaben bringen wird. Und dann können wir ihn aufgeben!«
Sie hatte mit Absicht diese Worte gewählt und stellte mit Befriedigung fest, dass die Drachenreiter betroffen waren. Sie warfen ihr wütende Blicke zu. Dann begann F'nor zu lachen, und F'lar musste wohl oder übel einstimmen.
»Nun?« fragte sie.
»R'gul und S'lel werden zweifellos Hunger leiden«, stellte F'nor achselzuckend fest.
»Und ihr beide?«
Auch F'lar zuckte die Achseln. Er erhob sich
und verbeugte sich formell vor Lessa.
»Da Ramoth schläft, Weyrherrin, bitten wir um die Erlaubnis, uns zurückziehen zu dürfen.«
»Hinaus!« fauchte Lessa.
Sie wollten ihrem Befehl grinsend Folge leisten, als R'gul in den Beratungsraum stürmte, dicht gefolgt von S'lel, D'nol, T'bor und K'net.
»Was höre ich? Dass Ruatha als einzige Burg des Hochlands Abgaben leistet?«
»Das entspricht leider den Tatsachen«, gab F'lar ruhig zu. Er reichte R'gul die Botschaft.
Der Weyrführer las sie halblaut. Seine Miene verdüsterte sich. Er reichte das Schreiben an S'lel weiter, der es zusammen mit den anderen überflog.
»Wir sind letztes Jahr auch mit den Abgaben von drei Burgen ausgekommen«, erklärte R'gul verächtlich.
»Letztes Jahr , warf Lessa ein.
»Aber nur, weil wir genügend Vorräte hatten. Eben erfuhr ich von Manora, dass unsere Reserven nahezu erschöpft sind.«
»Ruatha war sehr großzügig«, sagte F'lar rasch. »Das verbessert die Lage.«
Lessa zögerte einen Augenblick. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben.
»Nicht großzügig genug!« Sie achtete nicht auf den warnenden Blick, den F'lar ihr zuwarf. »Zudem müssen wir heuer die jungen Drachen füttern. Es gibt nur eine Lösung...
den Ankauf von Vorräten in Telgar und Fort. Anders überstehen wir die kalte Jahreszeit nicht!«
Ihre Worte lösten sofort einen Sturm der Entrüstung aus.
»Niemals!«
»Der Weyr soll etwas kaufen? Wir holen uns mit Gewalt, was wir brauchen!«
»R'gul, wir überfallen die Burgen!«
Selbst S'lel zeigte sich empört. K'nets Augen
blitzten, und er schien bereit, sich sofort auf einen Kampf
einzulassen.
Nur F'lar bewahrte Ruhe. Er überkreuzte die Arme auf der Brust und sah Lessa wütend an.
»Ein Überfall kommt nicht in Frage«, rief R'gul streng.
Der Lärm legte sich.
»Kein Überfall?« fragten T'bor und D'nol gleichzeitig.
»Weshalb nicht?« fuhr D'nol fort. Die Adern an seinem Hals waren angeschwollen.
Er ist nicht der richtige, dachte Lessa verzweifelt. Sie hielt nach S'lan Ausschau, doch dann fiel ihr ein, dass er sich auf einem Übungsflug befand. Gelegentlich wandten er und D'nol sich im Rat gegen R'gul, aber allein hatte D'nol keine Kraft.
Lessa warf F'lar einen hoffnungsvollen Blick zu. Weshalb meldete er sich jetzt nicht zu Wort.
»Ich habe es satt, flachsiges Fleisch, schlechtes Brot und holziges Gemüse zu essen!« rief D'nol zornig. »Pern hatte ein gutes Jahr. Warum soll man im Weyr darben? T'bor knurrte zustimmend, und Lessa klammerte sich an die Hoffnung, dass er für F'lar einspringen würde.
R'gul hob warnend den Arm. »Wenn der Weyr jetzt zuschlägt«, sagte er dramatisch, »wenden sich sämtliche Barone gegen uns!«
Er stand mit leicht gespreizten Beinen da und starrte die beiden Rebellen an. Seine Augen funkelten. Er war einen guten Kopf größer als der untersetzte D'nol und der feingliedrige T'bor, und er nützte das aus. Man hatte den Eindruck, als tadelte ein gestrenger Patriarch seine Kinder.
»Die Straßen sind frei«, fuhr R'gul düster fort. »Weder Regen noch Schnee könnten eine Armee aufhalten. Die Barone haben sich seit dem Tode von Fax gut vorbereitet.«
R'gul sah in F'Iars Richtung.
»Sicher habt ihr noch nicht vergessen, welchen Empfang wir während der Suche erlebten. Sein Blick wurde bedeutungsvoll. »Ihr kennt die Stimmung in den Burgen; ihr habt gesehen, wie gut ausgerüstet sie sind.« Er riss den Kopf hoch. »Seid ihr Narren, dass ihr ihnen unvorbereitet gegenübertreten wollt?«
»Ein paar Feuersteine ...«, stieß D'nol zornig hervor, doch er sprach den Satz nicht zu Ende. Seine unbedachten Worte entsetzten ihn ebenso sehr wie die anderen Anwesenden.
Selbst Lessa hielt den Atem an. Der Gedanke, dass man Feuersteine gegen Menschen einsetzen könnte ...
»Etwas muss doch geschehen«, stammelte D'nol verzweifelt. Er sah F'lar an und dann T'bor.
Wenn R'gul gewinnt, ist alles aus, dachte Lessa mit eiskaltem Zorn. Sie wandte ihre Gedanken T'bor zu. Auf Ruatha war es ihr immer am leichtesten gefallen, aufgebrachte Menschen zu beeinflussen. Wenn es ihr hier gelang ... Ein Drache trompetete schrill.
Sie spürte einen qualvollen Schmerz am Bein und stolperte nach vorn. F'lar fing sie auf. Seine Finger umklammerten ihren Arm mit eiserner Gewalt.
»Wie können Sie es wagen ...«, flüsterte er ihr wütend zu und drückte sie in einen Sessel. Er ließ ihren Arm nicht los.
Lessa schluckte und kämpfte mühsam gegen den Schmerz an. Als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm, musste sie erkennen, dass der Moment der Krise vorbei war.
»Nicht zu diesem Zeitpunkt!« sagte R'gul. Er betonte jedes Wort. Lessa hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
»Der Weyr muss junge Drachen ausbilden. Ihre Reiter müssen gemäß den Traditionen erzogen werden.«
Leere Traditionen, dachte Lessa erbittert. Sie werden den Weyr noch ins Unglück stürzen.
Sie warf F'lar einen wütenden Blick zu Seine Finger umkrampften warnend ihren Arm, bis sie vor Schmerz keuchte.
Tränen traten ihr in die Augen.
Verwischt sah sie die Niedergeschlagenheit in K'nets jungem Gesicht. Neue Hoffnung flammte in ihr auf.
Sie entspannte sich ganz langsam, als habe F'lar ihr wirklich Furcht eingeflößt, als kapituliere sie vor ihm.
Sobald es ihr möglich war, würde sie sich mit K'net unterhalten. Vielleicht ließ er sich als Werkzeug verwenden. Er war jung und gefügig, und er bewunderte sie.
»Drachenreiter, Maß lass walten«, zitierte R'gul. »Machtgier ist dein Untergang!«
Lessa war entsetzt darüber, dass er es fertig brachte, auf diese Weise die moralische Niederlage des Weyrs zu rechtfertigen.
Lob gebührt dem Drachenreiter.
Zollt es ihm durch Wort und Tat,
Seine starken Hände greifen
lenkend in das Schicksalsrad,
»Was, der edle F'lar verstößt gegen die Tradition?« fragte Lessa F'nor, als der braune Reiter höflich die Abwesenheit des Geschwaderführers entschuldigte.
Lessa gab sich keine Mühe, ihre Worte in F'nors Gegenwart zu zügeln. Der braune Reiter wusste, dass ihre Angriffe nicht ihm persönlich galten, und so zeigte er sich selten gekränkt.
Etwas von der Distanziertheit seines Halbbruders haftete auch ihm an. Heute jedoch verriet seine Miene keine Nachsicht; er sah Lessa missbilligend an.
»Er verfolgt K'net«, erwiderte F'nor geradeheraus. In seinen dunklen Augen stand Besorgnis. Er schob das Haar aus der Stirn, auch eine Geste, die Lessa an F'lar erinnerte.
»Oh, tatsächlich?« sagte sie scharf. »Es wäre besser, wenn er sein Beispiel nachahmen würde.«
F'nors Augen blitzten wütend.
Gut, dachte Lessa. Ich stoße auch zu ihm durch.
»Sie begreifen eines nicht, Weyrherrin: K'net nimmt Ihre Anweisungen zu wörtlich. Niemand würde es stören, wenn er hier und da ein paar kleinere Diebstähle beginge. Aber er ist zu jung, um Vorsicht zu üben.«
»Meine Anweisungen?« wiederholte Lessa unschuldig.
Dafür hatten F'Iar und F'nor bestimmt keinen Beweis.
»Wahrscheinlich hat er die Nase voll von diesem feigen Haufen!«
F'nor biss die Zähne zusammen und erwiderte kalt Lessas Blick. Sie sah, wie seine Hände den breiten Gürtel umkrampften.
In diesem Augenblick bedauerte Lessa, dass sie F'nor verstimmt hatte. Er versuchte immer wieder, sie durch Plaudereien aufzuheitern, wenn ihre Laune allzu gedrückt wurde. Mit der kalten Jahreszeit waren die Rationen im Weyr immer kleiner geworden trotz K'nets regelmäßigen Diebstählen. Verzweiflung herrschte in den Felskammern.
Seit D'nols zaghafter Auflehnung schien jeglicher Kampfgeist von den Drachenreitern gewichen zu sein. Selbst die Tiere spürten es. Ihre Haut hatte keinen Glanz mehr, und sie bewegten sich mit träger Apathie. Lessa fragte sich, ob R'gul seine rückgratlose Entscheidung bedauerte.
»Ramoth schläft«, erklärte sie F'nor ruhig. »Und um mich müssen Sie nicht herumscharwenzeln.«
F'nor sagte nichts, und sein Schweigen beunruhigte Lessa allmählich. Sie erhob sich und rieb die Handflächen gegen die Hüften, als könnte sie damit ihre letzten Worte fortwischen.
Nervös ging sie auf und ab und sah immer wieder zu Ramoth, die im tiefen Schlaf dalag. Die Drachenkönigin war jetzt größer als jedes andere Tier im Weyr.
Wenn sie nur aufwachen würde, dachte Lessa. Sobald sie wach ist, kann ich mich mit ihr beschäftigen. Aber sie schläft wie ein Stein.
»F'lar unternimmt also endlich etwas«, begann sie. Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Wenn es auch dazu beiträgt, unsere Rationen noch mehr zu verkürzen.«
»Lytol hat heute morgen eine Botschaft geschickt«, erwiderte F'nor knapp. Sein Zorn hatte nachgelassen, aber die Mißbilligung blieb.
Lessa sah ihn erwartungsvoll an.
»Telgar und Fort haben sich mit Keroon beraten«, fuhr F'nor langsam fort. »Sie kamen zu der Ansicht, dass der Weyr hinter ihren ständigen Verlusten steht.« Wieder flammte sein Ärger auf. »Warum haben Sie K'net nicht genau kontrolliert, wenn sie schon diesen Hitzkopf auswählen mussten? Jeder andere wäre vernünftiger zu Werke gegangen C'gan, T'sum, ich ...«
»Sie? Sie niesen nicht einmal ohne F'lars
Einwilligung!«
entgegnete sie.
F'nor lachte nur.
»F'lar hat Sie für klüger gehalten, als Sie sind«, sagte er verächtlich. »Begreifen Sie denn nicht, weshalb er warten muss?«
» Nein«, schrie Lessa ihn an.
» Nein!
Muss ich denn alles erraten, muss ich einen Instinkt entwickeln wie die Drachen?
Beim Ei der Königin, F'nor, warum erklärt mir kein Mensch etwas?
Aber es beruhigt mich, dass er wenigstens einen Grund für sein Zaudern hat. Hoffentlich einen guten - denn ich fürchte, dass es bereits zu spät ist.«
Es war in dem Augenblick zu spät, als er mich daran hinderte, T'bor aufzuhetzen, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus. Statt dessen fuhr sie fort: »Es war zu spät, als R'gul meiner Herausforderung so feige auswich ...«
F'nor wirbelte herum, schneeweiß vor Zorn. » Das hat mehr Mut gekostet, als Sie je im Leben aufbringen werden. «
»Weshalb?«
F'nor trat einen halben Schritt vor, so drohend, dass Lessa sich auf einen Schlag gefasst machte. Er bezwang sich mühsam.
»Es ist nicht R'guls Schuld«, sagte er schließlich. Er wirkte um Jahre gealtert, und in seinen Augen las sie Schmerz und Sorge.
»Es kostet sehr, sehr viel Kraft, alles Mitahnzusehen und zu wissen, dass man warten muß.
»Weshalb? kreischte Lessa geradezu.
F'nor ließ sich nicht mehr aufreizen. Er fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich war der Meinung, dass Sie es erfahren müssten, aber es geht gegen F'Iars Stolz, sich für einen der Seinen zu entschuldigen.«
Lessa unterdrückte die zynische Bemerkung, die ihr auf den Lippen lag.
»R'gul ist nur durch einen dummen Zufall Weyrführer.
Oh, er hätte sein Amt vermutlich gut verwaltet, wenn das Intervall nicht so lange gedauert hätte. Die alten Schriften warnen vor den Gefahren ...«
»Schriften? Gefahren? Und was meinen Sie mit Intervall?«
»Ein Intervall tritt dann auf, wenn der Rote Stern nicht nahe genug an Pern vorüberzieht, um die Fäden auszulösen. In den Schriften steht, dass es etwa zweihundert Planetenumdrehungen dauert, bis der Rote Stern zurückkehrt.
F'lar schätzt, dass die doppelte Spanne verging, seit die letzten Fäden fielen.«
Lessa warf einen besorgten Blick nach Osten. F'nor nickte ernst.
»Ja, und in vierhundert Jahren vergisst man leicht Furcht und Vorsicht. R'gul ist ein guter Kämpfer und ein guter Geschwaderführer, aber er muss eine Gefahr sehen und greifen, bevor er sie anerkennt.
Oh, er hat die Gesetze und all die Traditionen gelernt, aber im Innersten verstand er sie nie.
Nicht so wie F'lar - oder ich«, fügte er herausfordernd hinzu, als er Lessas skeptischen Gesichtsausdruck sah. Seine Augen wurden schmal, und er richtete anklagend den Finger auf sie.
»Und nicht so wie Sie - auch wenn es bei Ihnen ein unterbewußtes Verständnis ist.«
Sie zog sich zurück, nicht aus Angst vor ihm, sondern vor der Drohung, an die sie fest glaubte, ohne zu wissen weshalb.
»In dem Augenblick, als F'lar von Mnementh auserwählt wurde, begann F'Ion den Jungen auf die Führung des Weyrs vorzubereiten. Und dann kam F'Ion bei diesem lächerlichen Streit ums Leben.«
F'nors Stimme klang verärgert und bedauernd zugleich. Jetzt erst merkte Lessa, dass der braune Reiter von seinem Vater sprach,
»F'lar war zu jung, um den Weyr zu übernehmen, und bevor jemand eingreifen konnte, paarte sich R'guls Hath mit Nemorth, und wir müssten warten. Aber R'gul brachte es nicht fertig, Joras Trauer über F'Ion zu zerstreuen. Sie ließ sich gehen.«
F'nor zuckte mit den Schultern. »Dazu kam R'guls Isolierungspolitik. Das Ansehen des Weyrs sank immer rascher.«
»Ich weiß«, entgegnete Lessa bitter.
»Hören Sie mir gut zu!«
F'nors strenge Worte durchdrangen ihren ohnmächtigen Zorn. Sie hatte nicht geglaubt, dass er zu solcher Schärfe fähig sein könnte. Ihre Bewunderung für den braunen Reiter stieg.
»Ramoth ist voll entwickelt, bereit für den ersten Paarungsflug. Wenn sie fliegt, steigen alle Bronzedrachen auf, um sie zu fangen. Nicht immer erhält der Stärkste die Königin.
Manchmal siegt derjenige, der von den Weyrmitgliedern auserwählt wurde.« Er sprach langsam und betonte jedes Wort.
»So war es damals bei Hath. Die älteren Reiter entschieden sich für R'gul. Sie konnten es nicht ertragen, von einem Neunzehnjährigen Befehle entgegenzunehmen, auch wenn er F'lons Sohn war. So bekam Hath Nemorth. Und sie bekamen R'gul. Sie bekamen, was sie wollten. Sehen Sie sich nur um!«
Mit einer zornigen Handbewegung deutete er auf den verwahrlosten Weyr.
»Es ist zu spät, zu spät«, stöhnte Lessa. Nun verstand sie alles leider auch zu spät.
»Vielleicht - und durch Ihre Schuld«, erwiderte F'nor zynisch. »Warum müssten Sie K'net zu diesen Überfällen anstiften? Es war unnötig. Unser Geschwader erledigte diese Dinge unauffällig. Wir unterbrachen unsere Einsätze nur, als von Ruatha so viele Vorräte kamen. Das ist keine Feigheit, sondern Vorsicht, Lessa von Pern! Die Barone fühlen sich stark genug, um zum Gegenschlag auszuholen.«
F'nor sah sie mit einem bitteren Lächeln an.
»Überlegen Sie, was R'gul tun wird, wenn die bewaffneten Burgherren hier erscheinen und Satisfaktion verlangen!«
Lessa schloss die Augen. Sie konnte sich das Bild nur zu gut vorstellen. Müde nahm sie auf ihrer Felsbank Platz. Sie hatte sich verrechnet. Sie hatte geglaubt, dass sie auch hier Erfolg haben müsste wie auf Ruatha, als sie Fax in den Tod geschickt hatte. Und nun brachte sie dem Weyr durch ihre Arroganz den Untergang.
Plötzlich drang Lärm in den Beratungsraum Es klang, als befände sich der ganze Weyr in Aufruhr. Die Drachen brüllten erregt, zum ersten Mal seit zwei Monaten.
Verwirrt sprang sie auf. War es F'lar nicht gelungen, K'net abzufangen? Hatten die Barone dem jungen Drachenreiter eine Falle gestellt? Zusammen mit F'nor lief sie in die Schlafhohle der Drachenkönigin.
Es war weder F'lar noch K'net, sondern der Weyrführer R'gul. Seine Augen leuchteten erregt, und seine Zuge wirkten verzerrt. Hath saß draußen auf dem Sims; Lessa spürte, dass auch der Bronzedrache erregt war. R'gul warf einen raschen Blick auf Ramoth, die friedlich weiterschlief. Dann betrachtete er Lessa mit kühler Berechnung. D'nol kam hereingerannt. Er schnallte sich noch im Laufen den Gürtel um. Ihm auf den Fersen folgten S'lan, S'lel und T'bor. Sie scharten sich in einem lockeren Halbkreis um Lessa.
R'gul trat mit ausgestreckten Armen vor, als wollte er sie umarmen, und Lessa trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Der Mann ekelte sie an. Im nächsten Moment stand F'nor an ihrer Seite. R'gul senkte die Arme.
»Hath hat heute nur Blut getrunken?« fragte der braune Reiter mit drohender Stimme.
»Binth ebenfalls - und Orth«, stieß T'bor hervor. Seine Augen glänzten wie im Fieber.
Ramoth bewegte sich unruhig, und alle Blicke wandten sich ihr zu.
»Blut getrunken?« fragte Lessa verwirrt. Ihr war klar, dass hier etwas Besonderes vorging.
»F'lar und K'net müssen zurückgerufen werden«, befahl F'nor mit mehr Nachdruck, als es ihm in Gegenwart des Weyrführers zustand.
R'gul lachte.
»Niemand weiß, wohin sie folgen.«
D'nol wollte widersprechen, aber R'gul schnitt ihm mit einer heftigen Geste das Wort ab.
»Das wurden Sie nicht wagen, R'gul«, sagte F'nor drohend.
Nun, Lessa gab sich nicht geschlagen. Ihr verzweifelter Ruf nach Mnementh und Piyanth brachte ein schwaches Echo.
Dann spürte sie absolute Leere, wo noch Sekunden zuvor Mnementh gewesen war.
R'gul durchbohrte Lessa mit seinen Blicken. »Sie wird beim Erwachen schlecht gelaunt sein. Sorgen Sie dafür, dass sie die gerissenen Tiere nur aussaugt. Ich warne sie - Ramoth wird störrisch sein. Aber wenn sie sich sattfrisst, kann sie nicht fliegen.«
»Der Augenblick der Paarung ist gekommen«, erklärte F'nor. In seiner Stimme schwang Verzweiflung und ohnmächtiger Zorn mit.
»Ja - die Bronzedrachen warten schon darauf, sie einzufangen«, sagte R'gul triumphierend.
Und F'lars Mnementh soll an dem Wettstreit nicht teilnehmen, dachte Lessa.
»Je länger der Flug dauert, desto besser wird die Brut. Und Ramoth hält nur durch, wenn sie schwere Kost meidet. Sie darf kein Fleisch fressen. Begreifen Sie mich?«
»Ja, R'gul«, erwiderte Lessa. »Ich begreife Sie sehr gut - zum ersten Mal. F'lar und K'net sind nicht hier.« Ihre Stimme wurde schrill. »Aber Hath soll Ramoth nicht bekommen, und wenn ich sie ins Dazwischen bringe!«
Nackte Furcht und Entsetzen löschten den Ausdruck des Triumphes von R'guls Zügen. Dann zwang er sich zu einem spöttischen Lächeln. Nahm er ihre Drohung nicht ernst?
»Guten Tag«, sagte F'lar freundlich vom Eingang her. K'net stand neben ihm und grinste breit. »Mnementh berichtet mir, dass die Bronzedrachen Blut trinken. Danke, dass ihr uns zurückgerufen habt!«
Lessa atmete erleichtert auf. Einen Moment vergaß sie ihre ständigen Streitereien mit F'lar. Sein Anblick - ruhig, arrogant, spöttisch - verlieh ihr neuen Optimismus. R'gul sah sich finster im Halbkreis der Bronzereiter um. Er versuchte zu erkennen, wer es gewagt hatte, den beiden Nachricht zu geben. Und Lessa verstand plötzlich, dass R'gul seinen Widersacher F'lar nicht nur hasste, sondern auch fürchtete. Sie spürte auch, dass F'lar sich verändert hatte. Für ihn war die lange Wartezeit vorüber.
Er lauerte angespannt.
Ramoth erhob sich, und Lessa wusste, dass die beiden Reiter keine Sekunde zu früh gekommen waren. Erregung hatte die Drachenkönigin erfasst. Lessa eilte zu ihr, um sie zu besänftigen, aber Ramoth achtete nicht darauf.
Mit unerwarteter Behendigkeit lief sie auf den Felsvorsprung hinaus und verjagte fauchend die Bronzedrachen, die in der Nähe warteten. Lessa und die Drachenreiter traten ebenfalls ins Freie.
F'nor hob Lessa auf Canths Rücken und steuerte den Braunen rasch zur Futterstelle hinunter. Ramoth glitt mit eleganten Flügelschlägen über die Herde. Sie warf sich auf eines der verängstigten Tiere und drückte es zu Boden, zu gierig, um es auf die Klippen zu tragen.
»Greifen Sie ein!« rief F'nor nervös und setzte Lessa hastig ab.
Ramoth kreischte zornig, als sie Lessas Befehl
hörte. Sie warf den Kopf hin und her und schlug mit den Flügeln.
Ihre Augen brannten. Immer wieder schrie sie mit weit
vorgestrecktem Hals, und von allen Seiten antworteten die Drachen.
Die wilden Schreie hallten von den Felswänden wider.
Nun musste Lessa tatsächlich ihre ganze Willenskraft einsetzen, die sie während der bitteren Jahre auf Ruatha entwickelt hatte. Ramoths keilförmiger Kopf pendelte hin und her; in ihren Augen glühte Zorn. Das war nicht mehr das liebenswerte, vertrauensvolle Drachenkind. Das war ein wilder Dämon.
Lessas Wille siegte. Sie zwang Ramoth zum Gehorsam. Die Drachenkönigin beugte sich fauchend über den getöteten Bock und riss ihm die Halsschlagader auf.
»Achtung! flüsterte F'nor. Lessa hatte den braunen Reiter völlig vergessen.
Ramoth stieg mit Gekreische auf und stieß mit unglaublicher Schnelligkeit auf das nächste Tier zu. Wieder versuchte sie, das Fleisch zu verschlingen, und wieder setzte Lessa ihre Willenskraft ein. Ramoth begnügte sich zögernd mit dem Blut des Opfers.
Beim dritten Mal wehrte sie sich nicht mehr gegen Lessas Befehle. Das Blut hatte ihre Instinkte geweckt. Sie wusste nun, was sie tun musste: weit, weit fort vom Weyr fliegen, fort von den winzigen flügellosen Geschöpfen, fort von den Bronzedrachen, die sie verfolgten.
Der Dracheninstinkt war auf den Augenblick beschränkt; er ließ sich nicht vorausberechnen oder steuern. Diese Tätigkeiten hatte der Mensch übernommen.
Lessa sang lautlos vor sich hin.
Ramoth warf sich auf den vierten Bock und sog ihn ohne Zögern aus. Stille hatte sich im Weyr verbreitet. Man hörte nichts außer dem gierigen Schmatzen der Drachenkönigin und dem hohen Wimmern des Windes.
Ramoths Haut begann zu glänzen. Sie hob den Kopf und leckte das Blut von der Schnauze. Dann streckte sie sich. Die Bronzedrachen, die um die Futterstelle kreisten, begannen erwartungsvoll zu summen. Mit einer plötzlichen Bewegung schnellte Ramoth in die Luft. Ihre Flügel waren ausgebreitet; unglaublich kraftvoll stieg sie auf. Sieben Bronzedrachen folgten ihr. Die schweren Schwingen wirbelten Staub und Sand hoch.
Lessa spürte, dass ihr Inneres mit Ramoth fortgetragen wurde.
»Bleiben Sie bei ihr«, flüsterte F'nor drängend. »Bleiben Sie bei ihr! Sie darf Ihnen jetzt nicht entkommen.«
Er verließ Lessa und mischte sich unter das Weyrvolk, das wie gebannt zum Himmel starrte, wo die Drachen als winzige Tupfen zu erkennen waren.
Lessa begleitete Ramoth. Sie besaß grenzenlose Macht, ihre Flügel trugen sie ohne Mühe höher, immer höher, und Stolz erfüllte sie, Stolz und Verlangen.
Sie spürte, dass die großen Bronzedrachen sie verfolgten.
Sie verachtete sie. Niemand konnte sie, die Königin, besiegen.
Sie wandte den Kopf nach hinten und forderte sie durch schrilles Hohngeschrei heraus. Hoch über ihnen schwebte sie.
Unvermittelt zog sie die Flügel an und ließ sich in die Tiefe fallen. Die Bronzedrachen wichen hastig zur Seite aus.
Einer blieb erschöpft zurück. Sie rief ihm ihren Spott nach.
Bald danach schied ein zweiter aus. Und Ramoth spielte mit ihnen, sie flog hierhin und dorthin, stieg in Schwindelerregende Höhen und sauste wie ein Stein nach unten. Manchmal vergaß sie bei ihrem berauschenden Spiel die Nähe der Verfolger.
Als sie endlich wieder nach den Bronzedrachen Ausschau hielt, stellte sie mit Verachtung fest, dass nur noch drei Tiere in der Nähe waren - Mnementh, Orth und Hath.
Sie glitt tiefer, quälte sie, freute sich über ihren langsamen Flügelschlag. Hath konnte sie nicht ausstehen. Orth? Orth war kräftig und jung. Sie schob sich zwischen ihn und Mnementh.
Als sie an Mnementh vorbeizog, schloss er plötzlich die Flügel und ließ sich nach unten fallen, bis er neben ihr war.
Verwirrt wollte sie fliehen, aber er flog so nahe, dass sie die Schwingen nicht ausbreiten konnte. Er umschlang sie mit seinem biegsamen Hals.
Gemeinsam senkten sie sich, getragen von Mnemenths starken Flügeln. Verängstigt durch den raschen Fall breitete auch Ramoth die Flügel aus. Und dann ...
Lessa wurde von Schwindel erfasst. Sie tastete blindlings nach einer Stütze. Jeder Nerv ihres Körpers zuckte.
»Nicht ohnmächtig werden, du Närrin! Bleibe bei ihr'« F'Iar umfasste sie. Lessa öffnete mühsam die Augen. Sie sah die Wände ihrer Schlafkammer. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
Ihre Fingernagel gruben sich in F'lars nackte Haut.
»Hol sie zurück!«
»Wie denn?« rief sie keuchend. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ramoth ihre herrliche Freiheit jemals aufgeben würde.
F'lar schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Seine Augen leuchteten wie im Fieber, und sein Mund war verzerrt.
»Lass sie nicht los! Sie darf nicht ins Dazwischen gehen!
Bleibe bei ihr!«
Angst stieg in Lessa auf, die Angst, Ramoth zu verlieren.
Sie suchte nach der Drachenkönigin, die immer noch von Mnementh umschlungen wurde.
Die Leidenschaft der beiden Drachen drang mit ganzer Gewalt auf Lessa ein. Stöhnend klammerte sie sich an F'Iar. Sie spürte seinen harten Körper, seine fordernden Lippen, und dann gab auch sie dem Verlangen nach.
»So«, murmelte er.
»Nun bringen wir sie sicher heim.«
Drachenflug,
Drachenflug,
Entflammt sind die Triebe.
Weyrherrin, teil mit mir,
die Glut dieser Liebe.
F'Iar erwachte unvermittelt. Er horchte aufmerksam. Der Bronzedrache kauerte auf dem Sims vor der Felsenhöhle der Königin und brummte zufrieden. Im Weyr war alles in Ordnung.
Ja - aber etwas hatte sich verändert. F'lar erkannte es durch Mnemenths Augen und Sinne. Über Nacht hatte sich die Wandlung vollzogen. F'lar lächelte zufrieden, als er an die stürmischen Ereignisse des Vortags dachte. Es hätte alles anders kommen können.
Es wäre beinahe alles anders gekommen, erinnerte ihn Mnementh.
Wer hatte ihn und K'net zurückgerufen? Wieder dachte F'lar über diese Frage nach. Mnementh bestätigte nur, dass ihn jemand zurückgerufen hatte. Weshalb war der Drache so schweigsam?
Nagende Zweifel erwachten in F'lar.
»Hat F'nor auch nicht vergessen ...«, begann er laut.
F'nor vergißt deine Befehle nie, versicherte ihm Mnementh ungeduldig. Canth sagte mir, dass der Rote Stern heute bei Sonnenaufgang über dem Felsöhr steht. Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. F'lar fuhr sich mit den Fingerspitzen durch das Haar.
»Über dem Felsöhr ...«, wie es die Schriften prophezeiten.
Und an jenem Morgen, an dem der Stern scharlachrot im Innern des Felsöhrs erstrahlte, war sein Abstand zu Pern am geringsten und die Fäden drohten.
Eine andere Erklärung für die seltsame Anordnung der gigantischen Felsen, die man auch auf der Ostseite der fünf verlassenen Weyr beobachten konnte, gab es nicht.
Da war zuerst der Fingerfelsen, der am Tag der Wintersonnenwende zur aufgehenden Sonne hinüberdeutete. Dann, zwei Drachenlängen dahinter, der Quader des Sternsteins, mannshoch, mit einer glatten Oberfläche, in die zwei Pfeile eingegraben waren. Einer wies nach Osten, zum Fingerfelsen, der andere leicht nach Nordosten, zum Felsöhr, das fest mit dem Sternstein verbunden war.
Eines Morgens, in nicht allzu ferner Zukunft, würde er durch das Felsöhr sehen und in das höhnische rote Auge starren. Und dann ...
Ein Spritzen und Plätschern unterbrach seine Gedankengänge. Wieder lachte F'lar vor sich hin. Das Mädchen badete. Sie war schön, daran gab es keinen Zweifel ...
F'lar legte sich zurück und schloss die Augen.
Mnementh äußerte von seinem sicheren Felsvorsprung, dass F'lar mit Lessa lieber vorsichtig sein solle.
Tatsächlich? erwiderte F'lar.
Mnementh wiederholte seine Warnung, aber F'lar nahm sie nicht ernst.
Plötzlich richtete sich der Drache auf. Er informierte seinen Reiter, dass die Wachtposten einen Späher ausschickten, um die Ursache der ungewöhnlichen Staubwolken unterhalb des Benden-Sees zu erkunden.
F'lar erhob sich eilig und zog sich an. Er schnallte eben den breiten Gürtel um, als der Vorhang zur Badequelle zurückgeschoben wurde und Lessa erschien. Sie war voll bekleidet.
F'lar überraschte es immer wieder, wie feingliedrig sie war.
Man konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem schmalen Körper eine so unbeugsame Energie steckte. Das frischgewaschene Haar hing ihr schwer über die Schultern. In ihren Augen las er nichts von der Leidenschaft, die sie am Vorabend geteilt hatten. Sie strahlte weder Herzlichkeit noch Wärme aus. Was war mit dem Mädchen nur los? Hatte Mnementh doch recht mit seiner Warnung?
Der Bronzedrache meldete sich mit ein paar beunruhigenden Nachrichten. F'lar konnte sich jetzt nicht mit Lessa beschäftigen. Innerlich verfluchte er R'gul. Der Weyrführer hatte sie völlig falsch behandelt.
Nun, das war vorbei. Seit dem gestrigen Abend herrschte F'lar, der Reiter des Bronzedrachen Mnementh, über den Weyr.
Er wurde einiges verändern.
Dann beeil dich, meinte Mnementh trocken. Die Barone versammeln sich am See.
»Es gibt Schwierigkeiten«, erklärte F'lar, noch bevor er Lessa begrüßte. Seine Feststellung schien sie nicht zu ängstigen.
»Die Barone kommen, um sich zu beschweren?« fragte sie kühl.
Er bewunderte ihre Haltung, obwohl er sich sagte, dass sie nicht unschuldig an der augenblicklichen Lage war.
»Du hättest die Überfälle mir überlassen sollen. K'net ist noch jung genug, um Spaß an der Sache zu finden.«
Ein Lächeln huschte über ihre Züge. F'lar überlegte, ob sie das vielleicht einkalkuliert hatte. Wäre Ramoth am Vortag nicht zum Paarungsflug gestartet, so hätte alles anders ausgesehen. Ob sie daran dachte?
Mnementh kündigte ihm den Besuch von R'gul an. Er fügte hinzu, dass sich der Mann aufplustere wie eh und je.
»Er hat überhaupt nichts mehr zu sagen«, erwiderte F'lar scharf. Er war mit einem Male hellwach. Auf diese Gegenüberstellung hatte er sich schon lange gefreut.
»R'gul?
Er musste zugeben, dass Lessa eine scharfe Auffassungsgabe besaß.
»Komm, Mädchen!«
Er ging voraus in die Felsenkammer der
Drachenkönigin.
Die Szene, die er R'gul vorzuspielen gedachte, sollte eine Rache für jenen schmachvollen Tag vor zwei Monaten sein. Er wusste, dass auch Lessa die Niederlage nicht verwunden hatte.
Kaum hatte er die Höhle betreten, als R'gul von der anderen Seite hereinstürmte, gefolgt von dem erregten K'net.
»Die Wachen berichten, dass sich eine große Schar Bewaffneter mit den Bannern vieler Burgen dem Tunnel nähern. K'net hier « R'gul warf dem jungen Mann einen wütenden Blick zu »gesteht, dass er systematisch und gegen meinen ausdrücklichen Befehl Überfälle durchgeführt hat. Das wird selbstverständlich noch ein Nachspiel haben.« Drohende Falten zeigten sich auf seiner Stirn. »Das heißt, wenn wir den Weyr gegen die Feinde überhaupt verteidigen können.«
Er wandte sich wieder an F'lar, der ihn freundlich angrinste.
»Stehen Sie nicht herum!« fuhr R'gul ihn an. »Was gibt es da zu lachen? Wir müssen uns überlegen, wie wir die Barone versöhnen!«
»Nein, R'gul«, widersprach F'lar dem älteren Mann, »die Zeiten, in denen wir die Barone versöhnt haben, sind vorbei.«
»Was? Sind Sie wahnsinnig?«
»Nein. Aber die gleiche Frage könnte ich Ihnen stellen.«
Mit einemmal wirkte F'lars Miene hart.
R'guls Augen weiteten sich. Er starrte F'lar an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Sie vergessen eine wichtige Tatsache«, fuhr F'lar unerbittlich fort. »Die Politik bestimmt der jeweilige Weyrführer. Und seit gestern bin ich der Herr von Benden!«
Seine Worte hallten von den Felswänden wider. Die übrigen Bronzereiter, die nacheinander die Felskammer betreten hatten, blieben entsetzt stehen.
F'lar machte eine Pause. Die Männer sollten begreifen, worum es ging. Niemand widersprach.
»Mnementh«, fuhr er laut fort, »verständige alle Geschwader-Unterführer und braunen Reiter. Wir müssen einiges für die Ankunft unserer ... Gäste vorbereiten. Da die Königin schläft, Drachenreiter, bitte ich euch, mir in den Beratungsraum zu folgen. Nach Ihnen, Weyrherrin!«
Als Lessa an ihm vorüberging, bemerkte er, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. Sie konnte ihre Gefühle also doch nicht ganz unterdrücken.
Kaum hatten sie am Beratungstisch Platz genommen, als die braunen Reiter hereinströmten. F'lar fiel auf, dass sie aufrechter als sonst gingen. Ja, und die dumpfe Niedergeschlagenheit hatte gespannter Erwartung Platz gemacht. Sie alle hofften, an diesem Tag die Ehre des Weyrs verteidigen zu können.
F'nor und T'sum, seine eigenen Stellvertreter, .kamen herein.
Ihre gute Laune war deutlich sichtbar. Mit blinzelnden Augen blieb T'sum am Eingang stehen, während F'nor seinen Platz hinter dem Stuhl F'lars einnahm. F'nor blieb kurz vor Lessa stehen und verbeugte sich. Das Mädchen errötete und senkte den Blick.
»Wer wünscht uns zu sprechen, F'nor?« fragte der neue Weyrführer liebenswürdig.
»Die Barone von Telgar, Nabol, Fort und Keroon, um die wichtigsten Banner zu nennen«, erwiderte F'nor.
R'gul erhob sich, um zu protestieren; als er die Mienen der Bronzereiter sah, setzte er sich wieder. S'lel nagte an seiner Unterlippe.
»Ihre Stärke?«
»Mehr als tausend Mann. Gut bewaffnet und gedrillt«, berichtete F'nor gleichgültig.
F'lar warf seinem Halbbruder einen warnenden Blick zu.
Übertreibung der lässigen Haltung schadete nur.
»Sie wagen es, gegen den Weyr zu ziehen?«
S'lel keuchte.
»Sind wir Drachenreiter oder Feiglinge?« rief D'nol mit dröhnender Stimme. Er war aufgesprungen und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Diese Schmach geht zu weit!«
»Allerdings!« pflichtete F'lar ihm bei.
»Wir dulden keine Kränkung mehr«, fuhr D'nol heftig fort, ermutigt durch F'lars Zustimmung.
»Ein paar flammende .. . »Halt!« unterbrach ihn F'lar hart.
»Wir sind Drachenreiter! Vergesst das nicht. Und noch eines - unsere Gemeinschaft hat die Aufgabe, Pern zu beschützen.
Er starrte die Männer der Reihe nach an.
»Ist das klar?«
Sein Blick fiel auf D'nol. Er konnte jetzt keine heimlichen Heldentaten gebrauchen.
»Wir sind nicht auf Feuerstein angewiesen, um diesen kurzsichtigen Baronen eine Lehre zu erteilen«, erklärte er scharf. Dann lehnte er sich zurück und fuhr etwas ruhiger fort:
»Mir - und vermutlich jedem von euch - ist während der Suche aufgefallen, dass der einfache Mann immer noch großen Respekt vor den Drachenreitern besitzt.«
T'bor grinste, und einige der anderen nickten.
»Gewiss, sie lassen sich von ihren Burgherren durch Hetzreden und jungen Wein rasch aufstacheln, aber es ist etwas ganz anderes, wenn man dann erschöpft und nüchtern den Drachen gegenübersteht zumal ohne den Schutz der heimischen Burgwälle.« Er spürte das Einverständnis der Männer. Mit einem leisen Lachen fügte er hinzu: »Und die Berittenen werden so damit beschäftigt sein, ihre Pferde zu zügeln, dass ihnen zum Kampf wenig Zeit bleibt.
Aber es gibt noch mehr Faktoren, die zu unseren Gunsten sprechen. Ich bezweifle, dass die Barone sich näher damit befasst haben.«
Er sah sich ernst in der Runde um.
»Sie sollen sehen, dass es sich bitter rächt, wenn man die alten Legenden und die Tradition missachtet«, sagte er mit stahlharter Stimme. Die Männer murmelten beifällig.
Sie standen ganz auf seiner Seite
»Da warten sie nun vor den Toren des Weyrs. Sie hatten einen langen, beschwerlichen Anmarsch. Zweifellos sind einige von ihnen seit Wochen unterwegs.«
Er wandte sich F'nor zu und meinte halblaut, aber so, dass ihn die anderen hören konnten: »Erinnere mich, dass wir noch heute Patrouillen zusammenstellen!«
Dann sah er auf.
»Drachenreiter! Wer beschützt die Burgen, solange die Barone hier weilen? Wer achtet auf ihre Frauen und Kinder?
Wer wacht hier über ihr Hab und Gut?«
Lessa kicherte boshaft. Sie begriff schneller als die Bronzereiter. F'lar war dem Geschick dankbar, dass er sie damals auf Ruatha gefunden hatte - auch wenn sie ihn gezwungen hatte, ihren Widersacher zu töten.
»Die Weyrherrin hat meinen Plan verstanden. T'sum, Sie leiten ihn in die Wege!«
Seine Stimme klang befehlend. T'sum verließ breit grinsend den Beratungsraum.
»Ich begreife gar nichts«, beschwerte sich S'lel. Er sah hilflos in die Runde.
»Ich werde es Ihnen erklären«, warf Lessa rasch ein. F'lar wusste, dass sie am gefährlichsten war, wenn sie diesen freundlichen, vernünftigen Tonfall anschlug. Aber er konnte ihr nicht verübeln, dass sie sich an S'lel rächen wollte.
»Es ist ganz einfach«, versicherte sie, ohne F'lars Zustimmung abzuwarten.
»Eigentlich völlig selbstverständlich!«
»Weyrherrin!« sagte F'lar scharf.
Sie sah ihn nicht an, aber sie ließ S'lel in Ruhe.
»Die Barone haben ihre Burgen ungeschützt zurückgelassen«, sagte sie. »Sie scheinen nicht bedacht zu haben, dass Drachen in Sekundenschnelle das Dazwischen überwinden.
Wenn ich mich nicht täusche, soll T'sum von den unbewachten Burgen einige Geiseln holen, die uns helfen werden, die Barone zur Vernunft zu bringen.«
F'lar nickte zustimmend, und Lessa fuhr mit zornig blitzenden Augen fort: »Es ist nicht die Schuld der Barone, dass sie die Achtung vor dem Weyr verloren haben.
Der Weyr ...«
»Der Weyr«, schnitt ihr F'lar das Wort ab, »ist im Begriff, seine traditionellen Rechte und Privilegien zu verteidigen.«
Er musste höllisch auf, dieses Mädchen achten.
»Weyrherrin, könnten Sie unsere eben eingetroffenen Gäste begrüßen? Ein paar Worte von Ihrer Seite werden die Lektion vertiefen, die wir Pern heute erteilen wollen.«
Lessa strahlte ihn an, und F'lar überlegte, ob es wirklich richtig gewesen war, ihr die hilflosen Geiseln auszuliefern.
»Ich verlasse mich auf Ihre Intelligenz und Ihr Geschick«, betonte er. Einen Moment lang sah er ihr in die Augen, und sie nickte kurz. Sie hatte seine Ermahnung verstanden. Dennoch beauftragte er Mnementh damit, auf sie zu achten.
Mnementh erwiderte, dass er diese Aufgabe für eine Zeitverschwendung halte, da Lessa klüger sei als sämtliche anderen Weyrbewohner. Sie habe immer wieder ihre Umsicht bewiesen.
Vor allem, als sie diese Invasion heraufbeschwor, erinnerte ihn F'lar.
»Aber die Barone ...«, stieß R'gul hervor.
K'net sprang auf. »Wenn wir nicht so lange auf Ihre Befehle gehört hätten, wäre es niemals so weit gekommen, R'gul! Verschwinden Sie doch im Dazwischen, falls Sie Angst haben. Es war höchste Zeit, dass F'lar die Zügel in die Hand nahm.«
»K'net! R'gul! rief F'lar über den Beifallslärm hinweg. Als sich die Drachenreiter beruhigt hatten, fuhr er fort: »Hier sind meine Befehle. Ich erwarte, dass sie genau befolgt werden.«
In raschen Worten umriss er seinen Plan, und er stellte mit Befriedigung fest, dass die anfängliche Unsicherheit der Männer Bewunderung und Respekt wich.
Nachdem alle Reiter sein Vorhaben verstanden hatten, bat er Mnementh um eine Lageschilderung.
Die Bewaffneten haben das Plateau jenseits des Sees erreicht; die Vorhut befindet sich bereits auf dem Wege zum Weryreingang. Mnementh fügte hinzu, dass der Aufenthalt im Weyr für die Geiseln sehr nützlich sei.
»In welcher Hinsicht? erkundigte sich F'lar.
Mnementh knurrte amüsiert. Zwei der jungen Grünen haben die Futterstelle aufgesucht, das ist alles. Aber irgendwie scheint ihre Mahlzeit die Damen zu entsetzen.
F'lar schüttelte den Kopf, Lessa war wirklich teuflisch klug.
Er bemühte sich, diese Gedanken vor Mnementh zu verbergen.
Der Bronzedrache war in das Mädchen nicht weniger verschossen als in Ramoth. Sie schien eine magische Anziehungskraft auf ihn auszuüben.
»Unsere Gäste sind am See-Plateau«, erklärte er den Drachenreitern. »Ihr kennt eure Stellungen. Sammelt die Geschwader!«
Ohne sich noch einmal umzusehen, eilte er zum Felsvorsprung hinaus.
In einem kleinen Tal warteten die Frauen, bewacht von vier jungen grünen Drachen. Sie schienen in ihrer Angst nicht zu bemerken, dass es sich bei den Reitern um Jugendliche handelte. Die Weyrherrin stand etwas abseits.
Unterdrücktes Schluchzen drang an F'Iars Ohr. Er sah hinüber zur Futterstelle. Ein grüner Drache kreiste dicht über der Herde und stieß dann auf einen Bock zu. Ein anderer saß auf einem Felsvorsprung und zerriss seine Beute mit typischer Drachengier. F'lar bestieg achselzuckend Mnementh und ließ sich in die Tiefe tragen. Die übrigen Reiter des Geschwaders folgten ihm, Schwingen rauschten, und Schuppenleiber glitzerten in der Sonne.
Mnementh kreiste ein Stück über den anderen Drachen, und F'lar nickte zufrieden. Er beobachtete, wie R'gul sein Geschwader sammelte. Der Mann hatte eine psychologische Niederlage erlitten. Man musste ihn ständig beobachten. Aber F'lar rechnete damit, dass er seinen Widerstand aufgab, sobald die Fäden fielen.
Mnementh fragte, ob sie die Weyrherrin holen sollten.
»Sie hat hier nichts zu suchen«, entgegnete F'lar unwirsch.
Er überlegte, wie der Bronzedrache dazukam, einen solchen Vorschlag zu machen. Mnementh erwiderte, dass die Weyrherrin leidenschaftlich gern flog.
D'nol und T'bor brachten ihre Geschwader in schnurgerade Position. Die beiden waren echte Führernaturen. K'net steuerte am Rande des Weyrbeckens ein Doppelgeschwader ins Dazwischen, Es sollte später im Rücken der Angreifer auftauchen. C'gan, der alte blaue Reiter, kümmerte sich um die Jüngsten.
F'lar befahl Mnementh, das Startsignal an F'nors Canth weiterzugeben. Er vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass die großen Felsblöcke vor die Unteren Höhlen gerollt waren, und begab sich ins Dazwischen.
Aus dem Weyr, zutiefst im
Fels,
steigen auf die Drachenreiter,
schweben leuchtend über Pern,
Sie sind hier und dort,
sind nah und Fern.
Larad, Baron von Telgar, betrachtete die schroffen Höhen des Benden-Weyrs. Der geriffelte Fels erinnerte an einen erstarrten Wasserfall. Er war kalt und abweisend. Ganz schwach regte sich in Larads Innerem Unbehagen. Er spürte, dass es Frevel war, eine Armee gegen den Weyr zu führen.
Aber dann unterdrückte er diesen Gedanken.
Der Weyr besaß keine Existenzberechtigung mehr. Das konnte niemand bezweifeln. Weshalb also sollten die Burgherren das faule Weyrvolk miternähren? Man war ohnehin geduldig gewesen. Man hatte den Weyr unterstützt, weil man sich nicht undankbar für die früher erwiesenen Dienste zeigen wollte. Aber die Drachenreiter hatten diese Großzügigkeit missbraucht.
Da war zuerst diese veraltete Suche. Nemorth hatte ein Königinnenei gelegt. Und? Mussten die Drachenreiter deshalb die schönsten Frauen der Burgen stehlen? Larad dachte an seine Schwester Kylora, die er bereits Brant von Igen versprochen hatte. Sie war von den Drachenreitern in den Weyr gebracht worden, und er hatte nie wieder etwas von ihr gehört.
Oder der Tod von Fax! Gewiss, der Mann hatte einen gefährlichen Ehrgeiz besessen, aber er war vom alten, reinen Blut gewesen. Und man hatte den Weyr nicht gebeten, sich in die Angelegenheiten des Hochlandes einzumischen.
Dazu die ständigen Diebstähle. Das schlug dem Fass den Boden aus. Oh, man sagte nicht, wenn hin und wieder ein paar Böcke verschwanden. Aber wenn ein Drache aus dem Nichts erschien ( ein Talent, das Larad zutiefst beunruhigte) und die besten Zuchttiere aus einer sorgfältig bewachten Herde holte, dann musste man etwas unternehmen.
Die Weyrbewohner hatten noch nicht begriffen, was für eine untergeordnete Rolle sie in Pern spielten. Man musste ihnen klarmachen, dass sie in Zukunft nicht mehr mit Abgaben rechnen konnten. Benden, Bitra und Lemos würden ihre Lieferungen auch bald einstellen, vor allem, wenn sie vom Sieg der Barone hörten. Dieser Aberglaube sollte endlich ein Ende nehmen!
Dennoch, je näher sie dem Weyr kamen, desto mehr Zweifel plagten Larad. Wie in aller Welt sollten sie in das Bergmassiv eindringen? Er winkte Meron von Nabol zu sich heran (insgeheim traute er diesem ehemaligen Verwalter nicht; der Mann hatte keinen Tropfen adeliges Blut in sich).
Meron lenkte sein Pferd näher.
»Man kann nur durch den Tunnel in den Weyr gelangen?
Meron nickte.
»Selbst die Einheimischen sind sich darüber einig.«
Er sah Larads zweifelnden Gesichtsausdruck und fuhr fort:
»Aber ich habe eine Spähergruppe zum Südhang des Berges geschickt. Vielleicht finden sie dort eine weniger steile Wand, die sich erklimmen lässt.«
»Sie haben eine Gruppe abkommandiert, ohne mich zu verständigen? Es war vereinbart, dass ich die Führung übernehmen sollte.«
»Es war eine plötzliche Eingebung.«
Meron lächelte gezwungen.
»Eine Möglichkeit, gewiss, aber ...« Larad starrte zur Klippe hinauf.
»Man hat uns gesehen, Larad, dessen können Sie sicher sein«, sagte Meron verächtlich. Im Weyr rührte sich nichts.
»Liefern Sie unser Ultimatum ab. Ich glaube nicht, dass es zum Kampf kommen wird. Die Drachenreiter haben sich immer wieder als Feiglinge erwiesen. Dieser F'lar beispielsweise ignorierte bereits zweimal meine Herausforderung. Ist das eines Mannes würdig?«
Gewaltiges Flügelrauschen und ein eiskalter Hauch unterbrach ihr Gespräch. Larad zügelte krampfhaft sein scheuendes Reittier. Über ihm schwebten Drachen in allen Größen und Farben. Pferde wieherten schrill, Männer stießen heisere Schreie aus.
Mühsam beruhigte Larad sein Tier und sah zu den Drachenreitern hinauf. Er schluckte. Bei der Leere, die uns schuf, dachte er, ich hatte vergessen, wie gigantisch diese Tiere sind.
Vier mächtige Bronzedrachen bildeten dicht über dem Boden eine Dreieckspyramide, so dass sich ihre Flügelspitzen beinahe berührten. Ein Stück weiter oben hatten sich die Braunen formiert, und noch höher kreiste eine Schar von Grünen und Blauen. Ihre Schwingen wirbelten Staub auf und versetzten die Reittiere in Panik.
Woher kommt nur die schneidende Kälte? überlegte Larad.
Er riss hart am Zügel seines Pferdes, als es auszukeilen begann.
Die Drachenreiter saßen wie festgewachsen auf den Nacken ihrer Tiere und warteten.
»Wir müssen absteigen, sonst ist jedes Gespräch zum Scheitern verurteilt«, schrie Meron Larad zu, aber der hatte alle Hände voll mit seinem verängstigten Tier zu tun.
Vier Fußsoldaten gelang es schließlich, das Pferd festzuhalten. Larad stieg ab, und Meron folgte seinem Beispiel.
Fehler Nummer Zwei, dachte Larad mit grimmigem Humor.
Wir vergaßen, welche Wirkung die Drachen auf die Tiere von Pern ausüben. Und auf die Menschen. Er rückte sein Schwert zurecht, streifte die Handschuhe über und winkte die anderen Barone vorwärts.
Als F'lar die Männer absteigen sah, erteilte er den ersten drei Geschwadern den Befehl zum Landen. Wie eine dunkle Sturmwolke schwebten sie in die Tiefe. Ihre Schwingen schlossen sich rauschend.
Mnementh berichtete F'lar, dass die Drachen begeistert seien. Sie alle hätten die Kampfspiele allmählich satt bekommen.
F'lar erwiderte missbilligend, dass sie nicht zum Vergnügen hier seien.
»Larad von Telgar«, stellte der Mann an der Spitze sich vor.
Er hatte eine herrische Haltung angenommen, und seine Stimme klang scharf. Für sein Alter besaß er eine bemerkenswerte Selbstsicherheit.
»Meron von Nabol.« F'lar betrachtete das dunkle Gesicht mit den harten Zügen und dem unruhigen Blick. Ein heimtückischer Kämpfer, der seine Gegner gern provozierte.
Mnementh übermittelte F'lar vom Weyr eine außergewöhnliche Botschaft. F'lar nickte unmerklich, ohne die Vorstellung zu unterbrechen.
»Man hat mich zum Sprecher der Abordnung ernannt«, begann Larad von Telgar. »Die Burgherren vertreten einstimmig die Auffassung, dass die Funktion des Weyrs auf Pern erloschen ist. Aus diesem Grund weigern sie sich, in Zukunft für das Wohl der Weyrbewohner zu sorgen. Sie sprechen den Drachenreitern das Recht ab, zur Zeit der Suche Frauen von den Burgen zu holen. Und sie werden keine Raubzüge mehr dulden.«
F'lar hörte ihm höflich zu. Larad war redegewandt und drückte sich prägnant aus. Der Drachenreiter nickte. Er sah die Barone der Reihe nach aufmerksam an. Ihre Mienen drückten Entschlossenheit und gerechte Empörung aus.
»Ich, F'lar, Mnemenths Reiter und neuer Weyrführer, erteile euch folgenden Befehl!« Seine lässige Haltung war verschwunden. Mnementh knurrte drohend. Die Stimme des Drachenreiters klang dröhnend über das Plateau, so dass auch das Fußvolk ihn genau verstehen konnte.
»Kehrt augenblicklich zurück zu euren Burgen!
Dort angelangt, werdet ihr Ställe und Scheunen aufsuchen und die
Abgaben zusammentragen, die ihr dem Weyr schuldet! Ich gebe euch
eine Frist von drei Tagen, gerechnet vom Moment eurer
Ankunft.«
Meron von Nabol lachte höhnisch. »Der Weyrführer befiehlt uns, Abgaben zu leisten?«
F'lar winkte. Zwei weitere Geschwader rauschten herbei und kreisten über der Truppe von Nabol.
»Der Weyrführer befiehlt euch, Abgaben zu leisten«, bestätigte F'lar. »Und solange das nicht geschehen ist, müssen die Herrinnen von Nabol, Telgar, Fort, Igen und Keroon leider mit dem einfachen Quartier des Weyrs vorlieb nehmen. Das gleiche gilt für die Herrinnen von Balan, Gar und ...«
Er machte eine Pause, denn die Barone begannen erregt zu diskutieren, als er die Geiseln aufzählte. F'lar übermittelte Mnementh rasch eine Botschaft, die der Bronzedrache weitergab.
»Mit diesem Bluff erreichen Sie nichts«, spottete Meron. Er trat vor, die Hand auf das Schwert gelegt. Überfälle auf die Herden oder Felder hatte er schon des Öfteren erlebt; aber die Burgen waren unantastbar.
Die Drachenreiter würden es nicht wagen ...
T'sums Geschwader erschien. Jeder Reiter hatte vor sich eine Geisel sitzen. Die Drachen glitten so dicht über dem Boden hinweg, dass die Barone ihre Gefährtinnen erkennen konnten.
Merons Züge waren haßverzerrt.
Larad löste seine Blicke mühsam von dem Geschwader. Er war jung verheiratet und liebte seine Frau. So bot es ihm nur schwachen Trost, dass sie im Gegensatz zu den anderen Burgherrinnen weder schluchzte noch schrie.
»Sie sind im Vorteil«, gab Larad mit gepresster Stimme zu.
»Wir werden uns zurückziehen und die Abgaben liefern.« Er wollte sich eben umdrehen, als Meron sich zornbebend in den Vordergrund schob.
»Sollen wir ihren Forderungen einfach nachgeben? Sollen wir uns von einem Drachenreiter in die Flucht schlagen lassen?«
»Still!« Larad umklammerte Merons Arm.
F'lar hob die Hand zu einer befehlenden Geste. Ein Geschwader von blauen Drachen erschien, und sie trugen in ihren Klauen die Soldaten von Nabol, die versucht hatten, die Südklippe zu erklettern.
»Die Drachenreiter haben das Recht auf ihrer Seite«, erwiderte F'lar kühl. »Und ihrer Aufmerksamkeit entgeht nichts.« Seine Stimme wurde lauter. »Kehrt jetzt zurück zu euren Burgen! Und bemesst die Abgaben gerecht, denn wir wissen, was ihr geerntet habt. Weiter mache ich euch zur Auflage, euren gesamten Besitz, Burgen sowie umliegende Dörfer, vom Grün zu befreien. Wer dieses Gebot missachtet, wird hart bestraft. Baron Telgar, das gilt besonders für die Südseite Ihrer Burg. Sie ist gefährlich vernachlässigt. Bringt die Hügelverteidigungen in Ordnung. In den Feuergruben hat sich Unrat gesammelt. Öffnet die Bergwerke und schafft Feuersteinvorräte herbei!«
»Abgaben, ja, aber das übrige ...«, unterbrach ihn Larad.
F'lars Arm deutete zum Himmel.
»Sehen Sie da hinauf, Baron! Der Rote Stern pulsiert bei Tag und Nacht. Die Berge jenseits Ista speien Feuer und glühende Felsbrocken. Gewaltige Springfluten überschwemmen die Küstengebiete. Haben Sie alle Balladen und Sagen vergessen? So wie Sie vergessen haben, was die Drachen von Pern vermögen? Wagen Sie es, die Zeichen zu missachten, welche die Ankunft der Silberfäden verkünden?«
Meron würde an die Fäden erst glauben, wenn er sie sah.
Aber Larad und die meisten anderen zeigten sich von F'lars Worten beeindruckt.
»Und die Königin«, fuhr er fort, »hat sich im zweiten Jahr zum Paarungsflug erhoben. Sie stieg hoch auf und legte eine weite Strecke zurück.«
Plötzlich starrten die Barone nach oben. Selbst Meron wirkte verwirrt. R'gul, der dicht hinter F'lar stand, keuchte hörbar. Der Bronzereiter wagte es nicht, den Kopf zu heben. Er wusste nicht, ob das Ganze ein Trick war.
Und dann bemerkte er aus dem Augenwinkel ein goldenes Schimmern.
Mnementh! dachte er wütend, aber Mnementh grollte nur zufrieden vor sich hin. Die Königin kreiste über dem Plateau - ein herrlicher Anblick, das musste sogar F'lar zugeben.
Lessa saß wie festgewachsen auf dem goldenen Nacken. Ihr weißes Gewand wehte im Wind. Ramoth hatte die Flügel weit ausgespannt, und sie war mächtiger als Mnementh.
Das Schauspiel beeindruckte alle. Nicht einmal F'lar konnte sich der Wirkung entziehen. Er sah die Ehrfurcht in den Mienen der Barone und hörte das zufriedene Summen der Drachen.
»Und unsere berühmtesten Weyrherrinnen - ich nenne nur Moreta und Torene - stammen wie Lessa von Pern aus Ruatha.«
»Ruatha ...«, murmelte Meron mit zusammengebissenen Zähnen.
»Die Silberfäden werden kommen?« fragte Larad.
F'lar nickte langsam. »Ihr Harfner kann Ihnen die Vorzeichen nennen.« Er machte eine Pause.
»Wir benötigen die Abgaben. Und wir müssen uns auf die Zusammenarbeit mit den Burgherren verlassen können. Der Weyr bereitet Pern auf die Gefahr vor, wie es seine Pflicht ist.
Wer sich den Drachenreitern nicht unterordnen will, muss dazu gezwungen werden.«
Damit sprang er auf Mnemenths Nacken. Er ließ die Königin nicht aus den Augen. Ihre goldenen Flügel trugen sie senkrecht nach oben.
Warum musste Lessa gerade diesen Augenblick, in dem er seine ganze Konzentration brauchte, für eine Rebellion ausnützen? Warum zeigte sie vor dem ganzen Weyr ihre Unabhängigkeit? Er hätte sie am liebsten verfolgt, doch das konnte er nicht. Zuerst musste er dafür sorgen, dass die Truppen der Barone abzogen. Zuerst musste er diesen Hohlköpfen einen Vorgeschmack von der Macht der Weyrs geben.
Auf seinen Befehl hin erhoben sich die Geschwader. Ihre Schwingen rauschten, und ihr schrilles Trompeten erfüllte die Luft.
F'lar wandte sich zufrieden ab und befahl Mnementh, die Weyrherrin zu verfolgen, die hoch über dem Weyr auf Ramoth dahinglitt.
Wenn er das Mädchen erwischte ...
Mnementh entgegnete sarkastisch, dass es unsinnig sei, den beiden nachzufliegen und ihnen den Spaß zu verderben.
Schließlich habe die Drachenkönigin seit ihrem gestrigen Paarungsflug noch nichts gefressen und sei bestimmt nicht in der Lage, sich weit vom Weyr zu entfernen. Falls F'lar jedoch darauf bestünde, diese unnötige und unbesonnene Verfolgung durchzuführen, dann müsse er damit rechnen, dass Ramoth ins Dazwischen fliehen könnte ...
Der bloße Gedanke daran ließ F'lars Zorn im Nu verfliegen.
Er erkannte, dass Mnementh völlig recht hatte. Er hatte sich vom Zorn beeinflussen lassen ..
Mnementh landete neben dem Sternstein. Von hier aus hatten sie einen herrlichen Ausblick. F'lar konnte sowohl die abziehende Armee wie die Drachenkönigin beobachten.
Mnemenths Augen schillerten. Er berichtete F'lar, dass Piyanths Reiter der Ansicht sei, die Gegenwart der Drachen behindere den Rückzug, da Menschen und Tiere in Hysterie gerieten.
F'lar befahl K'net, die Armee aus sicherer Höhe zu bewachen. Er riet ihm jedoch, die Truppe von Nabol nicht aus den Augen zu lassen.
Noch während Mnementh die Botschaft übermittelte, wandte F'lar seine Gedanken der fliegenden Königin zu.
Bring ihr lieber bei, ins Dazwischen zu fliegen, riet ihm Mnementh. Sie ist nicht dumm, und was machen wir, wenn sie es selbst entdeckt?
F'lar wollte eben scharf antworten, doch dann hielt er den Atem an Ramoth zog plötzlich die Flügel an und jagte wie ein goldener Pfeil in die Tiefe. Mühelos fing sie sich ab und schwebte von neuem nach oben.
Mnementh erinnerte F'lar absichtlich an die akrobatischen Fluge, die sie beide in ihrer Jugend unternommen hatten. Ein weiches Lächeln glitt über F'lars Zuge, und plötzlich wusste er, wie eingeengt Lessa sich gefühlt hatte, als sie den anderen Drachen bei ihren Übungsflügen zusehen musste.
Nun, er war kein R'gul, der ständig von Zweifeln geplagt wurde.
Und sie ist keine Jora, ergänzte Mnementh. Ich rufe die beiden herunter. Ramoth verliert bereits ihren Glanz, F'lar sah zu, wie die Drachenkönigin gehorsam tiefer glitt. In Lessas Augen leuchtete eine wilde Freude. Ramoth landete.
Das Mädchen trat mit hochgeworfenem Kopf F'lar gegenüber. Ihr ganzer Körper schien sich anzupassen; sie wartete trotzig auf seinen Tadel. Und er sah, dass sie nicht die geringste Reue empfand.
Bewunderung wischte die letzte Spur von F'lars Zorn aus.
Er lächelte, als er auf Lessa zuging.
Verwirrt durch seine unerwartete Haltung, trat sie einen halben Schritt zurück.
»Auch Königinnen können fliegen«, stieß sie hervor.
Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Er fasste sie an beiden Schultern und schüttelte sie freundschaftlich.
»Natürlich können sie fliegen«, versicherte er ihr. »Deshalb haben sie Flügel!«
Teil III
Der Finger weist
auf ein Auge rot.
Die Fäden fallen,
in Pern herrscht Not.
»Sie zweifeln immer noch, R'gul?« fragte F'lar mit einem schwachen Lächeln. Die Hartnäckigkeit seines Vorgängers amüsierte ihn.
R'gul tat, als habe er die Herausforderung nicht gehört. Er biss die Zähne zusammen.
»Seit mehr als vierhundert Planetenumdrehungen sind keine Fäden auf Pern gefallen. Es gibt keine mehr.«
»Diese Möglichkeit besteht natürlich«, räumte F'lar liebenswürdig ein. Aber in seiner Haltung erkannte man Unnachgiebigkeit, und seine Bernsteinaugen leuchteten hart.
R'gul fand, dass er zuviel Ähnlichkeit mit F'lon, seinem Vater, besaß. Immer so selbstsicher, immer ein wenig verächtlich den anderen gegenüber.
Arrogant, jawohl, so konnte man ihn nennen.
Und unverschämt.
Dazu diese Lessa!
Er, R'gul, hätte eine der berühmtesten Weyrherrinnen aus ihr gemacht. Noch vor Beendigung der Einweisung hatte sie sämtliche Balladen und Sagen auswendig gekannt. Und dann musste sich die einfältige Kleine F'lar zuwenden! Besaß sie nicht Vernunft genug, die Vorzüge eines älteren, erfahrenen Mannes zu würdigen? Zweifellos hatte sie sich F'lar verpflichtet gefühlt, weil er sie während der Suche entdeckt hatte.
»Aber Sie geben zu, dass die Wintersonnenwende
eintritt, wenn die Sonne beim Aufgang hinter dem Fingerfelsen
steht?«
fuhr F'lar fort.
»Jeder Narr weiß, welchen Zweck der Fingerfelsen erfüllt«, meinte R'gul unwirsch.
»Weshalb wollen Sie alter Narr dann nicht eingestehen, dass das Felsöhr auf dem Sternstein angebracht wurde, um das Vorüberziehen des Roten Sterns zu markieren?« stieß K'net hervor.
R'gul lief rot an. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er aufspringen und den jungen Drachenreiter für seine Unverschämtheit zur Rechenschaft ziehen.
»K'net!«
F'lars Stimme klang wie ein Peitschenhieb.
»Haben Sie Lust, noch ein paar Wochen die Igen-Patrouille anzuführen?«
K'net duckte sich verlegen.
»Es gibt unumstößliche Beweise für meine Theorie«, fuhr F'lar trügerisch freundlich fort. »Der Finger weist auf ein Auge rot...«
»Kommen Sie mir nicht mit Versen, die ich Ihnen beigebracht habe«, rief R'gul zornerfüllt.
»Dann glauben Sie an das, was Sie mich gelehrt haben!«
entgegnete F'lar ebenso heftig. Seine Bernsteinaugen blitzen.
R'gul ließ sich verwirrt zurücksinken.