Sie waren, so wie auch wir, friedfertige Geschöpfe, die sich nichts anderes wünschten, als in Harmonie untereinander und im Einklang mit all den anderen Tieren zu leben. Sie waren äußerst scheue Wesen und ergriffen schon beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten die Flucht. Zum Kampf stellten sie sich nur dann, wenn sie sich selbst oder einander verteidigen mussten, und zuweilen auch, um ein schwächeres Tier zu schützen, dem ein Stärkeres nachstellte. Sie lebten hoch in den Bergen und tief in den Wäldern, und ihre Kräfte wurden von allen hoch geschätzt, sodass sie keinerlei natürliche Feinde hatten.
Und dann kam eines Tages eine neue Spezies in die Wälder und auf die Berge, die auf ihren Hinterbeinen ging, so wie wir es auch tun, und in ihren einstigen Vorderbeinen nun Werkzeuge und Waffen führte. Diese Wesen waren nicht übermäßig klug, sie waren nicht freundlich, aber sie waren sehr, sehr selbstherrlich. Sie holzten Wälder ab und leiteten Ströme und Flüsse um. Sie rodeten weite Flächen und merzten dort alles Grün aus, bis nur noch das blanke Erdreich übrig war, das sie dann mit Gewächsen ihrer eigenen Wahl bepflanzten. Einige dieser Ackergewächse fanden auch die anderen Geschöpfe jener Welt, einschließlich der Ahnen, recht schmackhaft. Doch die Neuankömmlinge waren selbstsüchtig und wollten nicht teilen, sodass sie jedes Tier, von dem sie befürchteten, dass es sich an ihren Ernten gütlich tun könnte, auf der Stelle töteten, wenn sie seiner habhaft wurden.
Die Ahnen dachten, dass da irgendein Missverständnis vorläge.
Denn sie glaubten, dass alle Geschöpfe Vernunftgründen zugänglich seien, so wie sie es waren, und abgesehen von der zur Befriedigung ihrer Nahrungs- und
Fortpflanzungsbedürfnisse unabdingbaren Gewalt friedfertig seien, so wie sie es waren. Diesen neuen Wesen jedoch –
diesen Menschen, wie sie genannt wurden – mangelte es ganz augenscheinlich am Verständnis für ihren Platz in der Ordnung der Dinge.
Die Ahnen beschlossen daher zu versuchen, eine Verständigung mit den Menschen herbeizuführen. Aber sie fürchteten die Männer dieser Spezies, also suchten sie stattdessen die Begegnung mit den jüngeren Frauen der Menschen, und selbst das nur dann, wenn sie diese allein antrafen. Dann versuchten sie mit diesem Mädchen zu reden, ihr zu zeigen, wie rein die Luft und das Wasser sein könnten, ihr zu zeigen, wie ihre Wunden geheilt werden könnten. Das war meistenteils ein folgenschwerer Fehler.
Denn die jungen Menschenfrauen schilderten ihre Begegnungen den Männern, die es alsbald als höchst misslichen Umstand ansahen, dass diese wundertätigen Hörner, die ihrem Besitzer solche Macht verliehen, an großen, flinken, scheuen Geschöpfen hafteten, die selbst entscheiden wollten, wo und wann sie ihre Kräfte anzuwenden gedachten.
Folglich begannen die Menschenmänner systematisch Jagd auf die Ahnen zu machen, bis viele von ihnen tot oder gefangen waren.
Von diesen gefangen genommenen Ahnen wurden manche getötet, einige entkamen jedoch auch wieder, nachdem sie die Lebensweise der Menschen in ihren Behausungen hatten beobachten können. Diese Ahnen fanden, dass auch einige der Dinge, die die Menschen zu vollbringen im Stande waren, sehr große Macht bedeuteten.
Auf jeden Fall aber waren unsere Ahnen in einer zutiefst tragischen Lage, und so nutzten sie eine weitere Fähigkeit, die sie schon immer besessen hatten, sich nämlich mit anderen Spezies und untereinander auf geistigem Wege verständigen zu können, und riefen um Hilfe. Je erbitterter sie gejagt wurden und je mehr sie in Bedrängnis gerieten, desto lauter und verzweifelter drang ihr Ruf ins All, bis er schließlich erhört wurde.
Gewaltige Raumschiffe von einer anderen Welt trafen ein und boten den Ahnen eine Zuflucht an, nahmen sie an Bord und verursachten gleichzeitig eine atmosphärische Störung, die eine große Flut hervorbrachte, welche schließlich den ganzen Planeten bedeckte. Die Ahnen waren voller Trauer darüber, mit ansehen zu müssen, wie dabei viele ihrer Mitgeschöpfe umkamen – auch die Menschen zu betrauern fiel ihnen allerdings schwer.
Die Wesen, bei denen sie Unterschlupf gefunden hatten, waren die Beschützer der Ahnen. Auch diese verständigten sich untereinander in der Gedankensprache, aber im Unterschied zu den Ahnen standen sie auf ihren Hinterbeinen, ganz wie die Menschen. Die Beschützer nahmen die Ahnen mit auf ihre Heimatwelt Vhiliinyar. Im Laufe der Jahre begannen die Beschützer wegen der tiefen Liebe, die sich zwischen den beiden Spezies entspann, sich genetisch mit den Ahnen zu vermischen. Am Ende entstand eine neue Spezies, die das Beste sowohl der Beschützer der Ahnen als auch der Ahnen selbst in sich vereinte – die Linyaari. Ganz allmählich ging das raumfahrende Volk der Beschützer schließlich völlig in dem unseren auf oder starb vielleicht einfach nur aus, denn die Beschützer waren kurzlebiger als die Ahnen.
Die Linyaari jedoch blieben, und auch viele unserer Ahnen überdauerten die Zeit, und gemeinsam hielten wir die Erinnerung in uns wach. Um uns allzeit an die Gefahren zu erinnern, denen die Ahnen sich auf jener anderen Welt einst gegenübergesehen haben. Und um daraus die Lehre zu ziehen, dass wir unsere Gaben zwar zuweilen mit anderen teilen müssen, dass wir aber zugleich allzeit wachsam bleiben und unsere Heimat vor anderen verborgen halten müssen, damit unsere Feinde uns nicht abermals finden.«
»Wir sind die Ki-lin!«, rief Acorna aufgeregt aus. »Oder vielmehr, die Ahnen sind es! Mein Oheim Delszaki Li hat mir von den Ahnen aus der Sicht der Menschheit berichtet. Er stammte aus einem sehr alten Menschenvolk, dessen Erinnerung bis vor die Zeit jener großen Flut zurückreichte, von der du gesprochen hast. Sie haben die Ahnen beinahe so sehr verehrt, wie die Linyaari es heute tun.«
Großmama gähnte. Der Kräutertee zeigte allmählich Wirkung. »Es freut mich, dass unsere Geschichte dir gefällt, Khornya. Ich habe dich noch nie so lebhaft gesehen, seit du hier angekommen bist.«
»Ich glaube, ich fange endlich an, mich einzugewöhnen«, gab Acorna ihr schläfrig Recht.
Als sich Acorna am nächsten Morgen gerade auf den Weg zur Siedlung der Technokünstler machen wollte, fing eine atemlose Maati mit weit aufgerissenen, feuchten Augen sie ab:
»Khornya, Khornya, ich bin gleich losgelaufen, als ich es gehört habe, um es dir sofort zu erzählen. Wir empfangen die Routinesignale der Balakiire nicht mehr.«
»Seit wann?«, wollte Acorna wissen.
»Seit heute früh, vor etwa drei Kii.« Ein Kii entsprach rund 57 Minuten Galaktischer Standardzeit, hatte Acorna gelernt.
»Die Nachricht verbreitet sich gerade überall, aber ich wollte auf jeden Fall selbst herkommen, damit du es zuerst von mir erfährst«, fuhr Maati fort. »Khornya, es tut mir so Leid.« Das junge Mädchen begann zu weinen, was Acorna half, ihre eigenen Ängste so weit im Zaum zu halten, um das Kind in die Arme nehmen zu können und es tröstend an sich zu drücken und zu wiegen.
»Na, na, Maati. Wahrscheinlich haben sie lediglich das gleiche Problem, das auch die Komverbindung zu den anderen Außenposten verhindert – eben das Problem, weswegen all die Schiffe doch überhaupt erst aufgebrochen sind, um es zu beseitigen. Großmama sagt, dass es sich höchstwahrscheinlich nur um irgendeine technische Fehlfunktion der Komsysteme handelt und dass die Sache rasch behoben sein wird, sobald eine der ausgeschickten Mannschaften die genaue Ursache herausfindet, und dass wir dann auch wieder von allen hören werden.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Maati.
Acorna war heilfroh, dass Linyaari-Kinder noch nicht telepathisch begabt waren, sodass Maati nicht spüren konnte, was für große Sorgen sie sich um Neeva und die anderen machte. »Ganz bestimmt. Wenn die Balakiire den Kontakt zu uns verloren hat, bedeutet das doch nur, dass sie der Quelle des Problems umso näher gekommen ist. Die anderen Raumschiffe werden bestimmt auch nicht mehr lange brauchen, um ihre eigenen Zielorte zu erreichen. Also wird uns wahrscheinlich schon bald eines von ihnen eine Rückmeldung geben können.«
Die einzige Rückmeldung jedoch, die sie erhielten, als ein ergebnisloser Tag nach dem anderen verstrich, war Schweigen und die bittere Erkenntnis, dass sie die Verbindung mit einem Raumschiff nach dem anderen verloren. Die Verwandten und Freunde der betroffenen Besatzungen wurden jedes Mal umgehend informiert, wenn man von einem weiteren Schiff keine Signale mehr empfing. Im Interesse ihrer aller Sicherheit schickte man Schiffen, von denen keine Antwort mehr zu hören war, zudem vom Planeten aus auch keine Signale mehr hinterher. Denn wie alle nur allzu gut wussten, bestand andernfalls die Gefahr, dass derartige Impulse von den Khleevi aufgefangen und bis nach Narhii-Vhiliinyar zurückverfolgt werden könnten. Dieses Risiko konnte und wollte niemand eingehen. Überall in ganz Kubiilikhan, überall auf ganz Narhii-Vhiliinyar richteten sich Augen zum Himmel, suchten die Planetenbewohner das Firmament ab, das sich jedoch, abgesehen vom Donnerhall der Gewitter und dem Prasseln von Regen oder gelegentlichem Hagel, in Schweigen hüllte.
Es schien, als ob die immer noch über Kubiilikhan wütenden Gewitterstürme sie alle mit einer so unentrinnbaren Wolke aus Beklemmung, Kummer, Furcht und Sorge umhüllten, dass Acorna wie ein eingesperrtes Tier ruhelos auf und ab wanderte.
»Großmama, ich fühle mich so überflüssig. Ich brauche etwas zu tun, ich möchte mich irgendwie nützlich machen. Du und Maati, ihr kommt jede Nacht völlig erschöpft nach Hause.
Kann ich euch nicht irgendwie einen Teil eurer Last abnehmen? Und falls nicht dir, dann vielleicht Maati? Wenn schon ein Kind ihre Arbeit machen kann, dann müsste ich das doch gewiss auch können.«
»Hmmm«, seufzte Großmama ausgepumpt und ließ sich auf ihr niedriges Nachtlager sinken, das dank des erhöhten Pavillonbodens immer noch trocken war. Das Innere des Wohnzeltes war jetzt dunkel und wirkte durch die wegen des Regens allseits geschlossenen Zeltklappen eher beengend als heimelig. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Khornya. Unser Volk verlangt jetzt mehr denn je, auf dem Laufenden darüber gehalten zu werden, was vor sich geht, wie es um die Krise steht, was die Regierung dagegen unternimmt und wie es um die anderen in unserer Gemeinschaft bestellt ist. Ich jedenfalls würde deine Hilfe sehr begrüßen.«
Auf dem Weg nach Nirii lenkten sich die Besatzungsmitglieder der Balakiire von ihren Sorgen über das, was sie an ihrem Ziel wohl erwarten mochte, dadurch ab, indem sie sich all die Festlichkeiten auf Narhii-Vhiliinyar ausmalten, die sie auf Grund ihres Auftrages nicht miterleben konnten.
(Ich hoffe nur, dass wir rechtzeitig wieder zurück sind, um wenigstens noch an Acornas Vereinigungszeremonie teilnehmen zu können), scherzte Khaari.
(Ich denke, dass du da ein bisschen voreilig bist), wandte Neeva ein. (Ich fürchte nämlich, dass mein Schwesterkind, wenn es nach der neuen Viizaar geht, dazu verdonnert werden wird, mit der Hand Grassamen zu sammeln und sie einzeln wieder einzupflanzen, oder zu irgendeiner anderen Schikane.
Da Liriili selbst immer noch keinen Lebensgefährten hat, gönnt sie anderen dieses Glück auch nicht.) (Ich hatte eigentlich den Eindruck, dass sie ihre Ungebundenheit durchaus schätzt), widersprach Khaari. (Ich glaube, du urteilst ein wenig zu hart über sie.) (Nicht vorsätzlich jedenfalls), wehrte sich Neeva. (Aber Liriili ist nun mal eine ziemlich komplizierte Person. Ich fürchte, dass ihre wahren Überlegungen und Motive ihr nicht einmal selbst alle bewusst sind – womöglich ist es ja gerade das, was sie zu so einer guten Verwaltungsleiterin macht. Sie könnte sich selbst stets mühelos einreden, dass was auch immer sie tut oder lässt, nur zu Khornyas Wohl oder dem Wohl des ganzen Planeten geschieht.)
(Wenn du darauf anspielst, dass sie uns nach Nirii geschickt hat, dann haben wir wenigstens den Trost, das wir uns diesbezüglich in zahlreicher Gesellschaft befinden. Wie wir gehört haben, wurden kurz nach unserer Abreise ja noch jede Menge Schiffe in alle möglichen Richtungen entsandt), warf Melireenya ein.
(Ich frage mich, warum sie nicht einen größeren Teil der Flotte auf Narhii-Vhiliinyar zurückgelassen haben), grübelte Neeva. (Was ist, wenn die Khleevi plötzlich angreifen, während unsere Raumschiffe alle unterwegs sind?) Ihnen schauderte bei dieser Vorstellung, und sie versuchten alle, die unwillkürlich aufkommenden Bilder davon zu unterdrücken, wie die auf dem Planeten Zurückgebliebenen Selbstmordkapseln zerbissen und hinunterschluckten.
(Das wird nicht passieren), verkündete Neeva mit Nachdruck.
(Die Khleevi haben bei Rushima eine Dosis ihrer eigenen Medizin zu schmecken bekommen und werden nie wieder glauben, dass wir noch einmal leichte Opfer wären.) (Jedenfalls nicht in näherer Zukunft), pflichtete ihr Melireenya bei. (Aber sobald wir die gegenwärtige Krise erst einmal bewältigt haben, wird unsere Regierung sich mal wieder ein bisschen mehr Gedanken über
Verteidigungsstrategien und -waffen machen müssen.) (Und wir müssen eine neue Fluchtwelt finden, auf die wir unser Volk notfalls abermals evakuieren können. Es genügt nicht, lediglich die erforderlichen Raumschiffe und das entsprechende Personal auf Abruf bereitstehen zu haben, für den Fall, dass eine erneute Evakuierung nötig werden sollte.
Wir brauchen auch einen Ort, wohin wir gehen können), stellte Khaari fest.
(Nein), widersprach Neeva. (Wunschdenken ist kein Ersatz für die Art von Verteidigungswillen, die wir über Rushima erlebt haben. Wir können einfach nicht ewig so weitermachen, von Welt zu Welt davonlaufen und hinnehmen, dass die Khleevi alles zerstören, was wir zurücklassen. Wenn wir wieder nach Hause kommen, meine ich, dass wir mit der Forderung an den Rat herantreten sollten, unsere Handelsverbündeten davon zu überzeugen, sich mit uns Linyaari zu einer ähnlichen Föderation zusammenzuschließen wie jene, die Khornyas Volk gebildet hat. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, uns endlich zur Wehr zu setzen.) Als sie schließlich in ihrem Zielsystem eintrafen und sich Nirii näherten, kamen sie überein, dass Neeva als Botschafterin allein mit einer Landefähre auf den Planeten hinunterfliegen und auf Niriis Hauptkontinent in dem von Linyaari bewohnten Areal der Hauptstadt landen würde. Der Rest der Besatzung würde in einer Umlaufbahn um Nirii an Bord der Balakiire verbleiben.
Da die Mannschaft der Balakiire nicht wusste, was sie hier erwartete, hatte das Raumschiff nicht, wie es sonst eigentlich üblich war, wenn jemand von Neevas Rang einen diplomatischen Besuch abstattete, Kontakt mit der Komstation des unter ihnen liegenden Planetensektors aufgenommen.
Doch unter den gegebenen Umständen erachteten sie eine derartige Voranmeldung als unnötiges Risiko und hatten sie demzufolge unterlassen.
Auf Nirii eingetroffen, trat Neeva aus ihrer Fähre in den abgesehen von ihrem Beiboot völlig leer stehenden Landehangar hinaus. Normalerweise hätten hier ständig zwischen fünf und zehn Raumfähren stehen müssen. Als sie sich in der weiträumigen Halle umsah, wurde Neeva daher sofort klar, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht Gutes geschehen sein musste.
Sie war mit eingeschaltetem Tarnschirm und im Schutze der Dunkelheit gelandet. Es war eine mondlose Nacht, aus einem zinngrauen, lichtquellenfreien Himmel fiel etwas Schnee. Der Rest der Stadt hingegen erstrahlte in vollem Lichterglanz und wurde überall von weißen, kleinen und anscheinend in ordentlichen Rastern und Linien aufgereihten Laternen erhellt.
Zu dieser Nachtzeit waren die Straßen und der Himmel wie ausgestorben. Obwohl es auf Nirii keine nächtliche Sperrstunde gab und die Planetenbewohner auch nicht sonderlich abergläubisch waren, verhielten sich die Leute hier nichtsdestotrotz ausgesprochen konservativ und eigenbrötlerisch. Tagsüber gingen sie ihren Geschäften nach, und nachts blieben sie zu Hause und widmeten sich ihrer Familie – Punktum. Ganz wie die Linyaari waren auch sie der Gedankensprache mächtig, benutzten sie jedoch nur unter Freunden und innerhalb der Familie. In der Öffentlichkeit hingegen schirmten sie sich stets mit schweren Mentalschilden voneinander ab. Schon seit einer ganzen Reihe von Jahren hatte es auf dieser Welt kein Verbrechen und auch keinen Krieg mehr gegeben, was die Bewohner dieses Planeten zu idealen Handelspartnern für die Linyaari machte, besonders, da sie obendrein ein wissenschaftlich und technologisch hoch entwickeltes Volk waren.
Die in einem eigenen Fremdenviertel der Stadt untergebrachten Linyaari brauchten sich den Gebräuchen der Niriianer zwar eigentlich nicht zu unterwerfen, taten es Neevas Erfahrung nach aber meist trotzdem. Obschon es somit durchaus nicht ungewöhnlich war, wenn auch hier im Linyaari-Viertel weitgehend Nachtruhe herrschte, ging es dennoch nicht mit rechten Dingen zu, dass sie nirgends das geringste Lebenszeichen ausmachen und in der dünnen Schneeschicht, die auf allen Wegen und Häusern lag, nicht die kleinste Fußspur entdecken konnte, als sie eine Straße entlangging, die zwischen zwei der vier großen Gebäude hindurchführte, welche einander rund um einen großen Platz gegenüberstanden. Im Mittelpunkt dieses Platzes befand sich eine Grünanlage, in der tagsüber Sportveranstaltungen, Lesungen, Vorführungen und Versammlungen stattfanden. Die Häuser ringsum schienen, zumindest von außen betrachtet, völlig verlassen zu sein. Sie trat auf die Eingangstür des Gebäudes zu ihrer Linken zu. Der Zugang war unverschlossen, und die Irisblendentür öffnete sich bereitwillig, als Neeva sie berührte. Das war nicht sonderlich überraschend. Die Einwohner von Nirii pflegten ihre Türen eigentlich nie abzuschließen.
Das Gebäude wirkte steril, bar jeden Lebens oder auch nur irgendeines Anzeichens dafür. Die Türen, die von den Fluren in die einzelnen Innenräume führten, waren alle entfernt worden, und die Öffnungen klafften ihr wie tote Höhleneingänge entgegen, als sie an ihnen vorüberging und in leere Zimmerfluchten blickte, die keinerlei Möbel, persönliche Gegenstände oder Geräte irgendeiner Art enthielten. Jedes Linyaari-Gebäude enthielt acht Wohneinheiten, und diese waren alle samt und sonders leer, in jedem der Gebäude.
Neeva vermochte nirgends auch nur das Flüstern eines Gedankens wahrzunehmen, nicht den Funken irgendeiner Gefühlsregung.
Sie kehrte wieder ins Freie zurück und bekam eine Gänsehaut angesichts der unnatürlichen Stille und Leere dieser Orte, wo vor kurzem noch einige der Besten und Klügsten ihres Volkes gelebt hatten, ihren Studien nachgegangen waren, die Niriianer an ihrem Wissen hatten teilhaben lassen und Handel mit ihnen getrieben hatten.
Als sie schließlich ratlos das Gelände der zentralen Grünanlage betrat, wühlten ihre Füße die Schneeschicht auf, die auch dort den Erdboden bedeckte. Sie stellte fest, dass die mit einheimischen Gräsern bepflanzten Flächen, die ihre Artgenossen dort angelegt hatten, verwildert und abgestorben waren. Auch im Innern der Wohneinheiten, in denen die Linyaari für gewöhnlich üppig sprießende Zimmergärten hegten, war kein Hälmchen Nahrung mehr zurückgeblieben.
Man hätte dort sogar nicht einmal mehr sagen können, welcher Raum einst welchem Zweck gedient hatte, so gründlich leer gefegt waren die einstigen Unterkünfte gewesen.
Unter ihren Füßen jedoch begann das Erdreich, so schneebedeckt es auch sein mochte, ihr endlich eine Geschichte zu erzählen. Es sprach zu ihr von Wut und Furcht, Verwirrung, unterbrochenem Schlaf, gestörtem Liebesspiel, der Sehnsucht nach geliebten Personen, die nicht da waren, dem Weinen verängstigter Kinder und sogar von einem gewissen Maß – wenn auch nicht viel, so doch genug, um jeden Widerspenstigen einzuschüchtern – an wahrhaftigem, körperlichem Schmerz.
Sie war so sehr damit beschäftigt, diese Eindrücke in sich aufzunehmen, dass sie die vom Schnee gedämpften Schritte des Trupps, die sich ihr von hinten näherten, erst wahrnahm, als es schon zu spät war, um zu ihrer Fähre zurücklaufen zu können.
Angeführt wurde die Schar von der hoch gewachsenen, doppelgehörnten und kräftig gebauten Gestalt ihres alten Freundes und maßgeblichsten Verhandlungspartners auf dieser Welt, Runae Thirgaare, der von ein paar anderen Niriianern begleitet wurde, die ihr jedoch alle unbekannt waren. Und hinter ihnen standen vier weitere uniformierte Personen, die große Ähnlichkeit mit jenen Wesen aufwiesen, die einst Khornya Obhut gewährt hatten.
»Visedhaanye ferilii Neeva«, sprach sie der Runae mit sehr viel weniger Wärme in der Stimme an, als er sonst in seine Begrüßung zu legen pflegte. »Ich fürchte, dass wir Sie und Ihresgleichen nicht mehr länger hier bei uns willkommen heißen können.«
»Warum nicht?«, wollte Neeva wissen. »Wo sind all die anderen?«
Einer der uniformierten Fremden trat aus dem Hintergrund nach vorne und stellte sich neben den Sprecher der Niriianer.
»Wir werden Sie zu ihnen führen, Visedhaanye ferilii Neeva«, erklärte die hornlose Frau, die beinahe so groß war wie der Runae. »Wir gehören zu einer Abteilung der Föderationssstreitkräfte und haben Ihre Leute in Gewahrsam genommen, um uns bei unseren Untersuchungen zu unterstützen, hinsichtlich gewisser krimineller Unregelmäßigkeiten, denen wir gegenwärtig nachgehen.«
(Runae, bitte reden Sie selbst mit mir. Was ist hier los? Sie wissen, dass ich gerade erst von meiner Heimatwelt hier eingetroffen bin und keinerlei Kenntnis von den Vorgängen hier habe. Welche Verbrechen sollen unsere Leute denn begangen haben? Sie kennen uns doch ebenso gut wie Ihr eigenes Volk!)
(Ganz so gut nun auch wieder nicht, Visedhaanye. Ihr Volk hat wirklich eine Neigung zu einer gewissen Wildheit und zu sonderbaren Praktiken. Ihre Leute sind unberechenbar. Auf unserer Welt herrscht eine streng geregelte Ordnung. Wir haben keine Ahnung, welche Verfehlungen Sie anderswo begangen haben könnten. Von Wesen, die ohne den charakterfestigenden Einfluss eines zweiten Horns auskommen müssen, kann man aber wohl auch nichts anderes erwarten.
Trotzdem: Ich bin überzeugt, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Diese Leute hier gehören einer Abteilung von Ordnungshütern einer großen Föderation an, die aus vielen miteinander verbündeten, weit von hier entfernt liegenden Welten besteht. Unsere Regierung erwägt zurzeit, ob wir ihr Angebot wahrnehmen und ebenfalls Mitglied dieser Föderation werden sollen. Sie sehen gewiss ein, dass wir dem Begehren auf Auslieferung Ihrer Landsleute unter diesen Umständen natürlich stattgeben müssen.)
»Welche kriminellen Unregelmäßigkeiten werden uns vorgeworfen?«, verlangte Neeva nunmehr von den hornlosen Wesen zu erfahren.
»Das werden wir Ihnen alles unterwegs erklären«, antwortete die Frau.
Sie kam Neeva sehr bekannt vor. Insbesondere ihre Uniform sah vertraut aus. War das nicht ziemlich genau die gleiche, die damals auf Rushima von jenen Streitkräften getragen worden war, die dort mitgeholfen hatten, den Angriff der Khleevi zurückzuschlagen?
Neeva grübelte hierüber nach, während man sie an ihrer Raumfähre vorbeiführte, die man anschließend an denselben Ort flog, an den man auch sie selbst verbrachte, zu einem ziemlich großen Raumschiff mit ein paar amtlich wirkenden Schriftzeichen auf der Außenhülle. Erst als die uniformierte Frau sie in die Eingangsschleuse des Raumers zu schieben begann und dabei ihren Kopf niederdrückte, damit Neevas Horn nicht an der Oberkante des Lukrahmens hängen blieb, fiel ihr wieder ein, dass jene auf Rushima mitkämpfenden Hilfstruppen überhaupt nicht mit irgendeiner Föderation im Bunde gestanden hatten. Es hatte sich vielmehr um eine private Söldnerarmee gehandelt, die unter dem Befehl eines gewissen Admirals Ikwaskwan stand.
Dreizehn
Großmama hielt Wort. Acorna verstärkte die aus Maati und einer Hand voll anderer Kuriere bestehende Schar der Amtsboten und trug fortan Botschaften zwischen dem Regierungsbezirk und den verschiedensten Bürgern hin und her. Trotz der großen Sorgen, die sie sich wegen der Lage im Weltraum machte, fühlte sich Acorna jetzt, wo sie sich nützlich machen konnte und sich auf wenn auch nur bescheidene Weise am Gang der Dinge beteiligen konnte, viel besser, als sie es seit ihrer Ankunft getan hatte. Als Regierungsbotin unterwegs zu sein verschaffte ihr eine genauere Vorstellung von den Linyaari-Gemeinden in der Umgebung sowie von dem Ausmaß der Besiedlung von Narhii-Vhiliinyar, als es ihre Versuche, auf sich allein gestellt Kontakte zu knüpfen, vermocht hatten.
Neben dem zentralen Areal von Kubiilikhan, das vornehmlich aus den Wohn- und Arbeitspavillons der Regierungsbeamten und -mitarbeiter sowie deren Familien bestand, die oft ein oder zwei Angehörige hatten, welche gegenwärtig als Botschafter der Linyaari auf fremden Welten weilten, und neben dem großflächigen Areal der Technokünstler gab es noch eine ganze Reihe weiterer Blütenblätter, die in ihrer Gesamtheit jenen Flor ausmachten, der das besiedelte Gebiet von Narhii-Vhiliinyar darstellte.
Natürlich war Acorna schon vorher bewusst gewesen, dass es auf dem Planeten sehr viel mehr Leute geben musste, als ihr bislang begegnet waren. Bereits bei ihrem Landeanflug hatte sie aus der Luft etwas gesehen, das wie ein riesiger Blumengarten gewirkt hatte, der sich über den ganzen Kontinent erstreckte, auf dem die Balakiire niederging.
Jetzt erkannte sie, dass dieser Blumengarten nichts anderes war als eine einzige Blüte. In der Mitte lag das Regierungsareal, und von dort aus erstreckten sich, durch Straßen und öffentliche Weiden, Ackerflächen und Brachebenen miteinander verbunden, das Areal der Technokünstler, ein Akademisches Areal (vornehmlich für jene, die außerplanetarische Kulturen studieren wollten – zu Acornas Leidwesen ging alle Welt davon aus, dass es unter den Linyaari keine Nachfrage dafür gäbe, dort auch noch zu lernen, wie man ein Liinyar wurde), eine weiträumige, landwirtschaftliche Versuchsanlage, auf der neue Nahrungspflanzen entwickelt und getestet wurden, sowie etliche weitere Funktionssiedlungen.
Ein Außenareal beispielsweise war hauptsächlich hoch betagten Senioren vorbehalten, die dort nichts anderes taten, als sich mit höherer Philosophie und Mathematik zu beschäftigen. Der Rest ihrer Siedlung war von jüngeren Leuten bevölkert, die bei den Ältesten in die Lehre gingen und für ihr tägliches Wohl sorgten. Großmama Naadiina sagte, dass sie diese Phase schon vor fünfzig Ghaanyi hinter sich gebracht habe und dass sie es viel unterhaltsamer fände, bei dem jüngeren Volk im Zentralareal zu leben. Die seien sehr viel lustiger – und zu lachen, erklärte sie, half ihr jung zu bleiben.
Es gab auf Narhii-Vhiliinyar nur sehr wenig Fabrikationsindustrie und keinerlei Bergbau, ungeachtet der in den Fertigungspavillons der Technokünstler lagernden Vorratsbehälter voller Rohstoffe. Diese waren alle importiert.
Rings um die zentral liegenden Zeltstände waren stattdessen Gemeinden angesiedelt, mit deren Arbeitskraft und Fachkunde die verschiedenen Unternehmungen durchgeführt werden konnten. Jenseits davon erstreckte sich eine Vielzahl von kleineren Siedlungen, zu halbkreisförmigen Haufen gruppierte Pavillondörfer, die unabhängig voneinander andere Waren herstellten und die Linyaari-Gemeinden in weitem Umkreis mit Dienstleistungen versorgten. Noch weiter draußen, am anderen Ende der großräumigen Brachebenen, stieß man auf niedrige Gebirge, und dort, so wurde ihr gesagt, lebten die Ahnen, wenn sie einmal nicht jene zeremoniellen Funktionen ausübten, die sie den Linyaari anzubieten beschlossen hatten.
Acorna konnte mittlerweile gut verstehen, warum Maati am Ende des Tages immer so erschöpft war. Sie konnte jetzt auch verstehen, warum das junge Mädchen nicht zur Schule zu gehen brauchte. Denn zwischen all den verschiedenen Wohnsitzen, Geschäftsbetrieben, Dienststellen und anderen innerhalb der Zentralareale liegenden Botschaftsempfängern und Nachrichtenaustauschstationen hin und her zu pendeln, zuweilen sogar zu rennen, war schon für sich allein lehrreich genug.
Thariinye beklagte sich bitterlich, dass Acorna kaum noch Zeit hätte, mit ihm spazieren zu gehen und sich seiner
›Führerschaft‹ anzuvertrauen. In der Tat war sie, wenn sie keinen Dienst hatte, viel zu froh, einmal die Füße hochlegen und sich ausruhen zu können, als dass sie mit irgendwem irgendwohin hätte spazieren gehen wollen. Daher war sie ziemlich überrascht, dass ihr eines Tages, als sie mit einer Botschaft zu den Agrarversuchspavillons kam, von einer jungen Frau ein massiver Schwall feindseliger Gedanken entgegenschlug. Die junge Linyaar hatte rosige Haut und schwarzes Haar und sortierte gerade Saatgut in kleine Päckchen, um es für den planetenweiten Vertrieb versandfertig zu machen.
Acorna konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, womit sie die junge Frau so sehr gegen sich aufgebracht haben mochte – abgesehen natürlich von den üblichen Vorurteilen, die man ihr vom Tag ihrer Ankunft an entgegengebracht hatte.
Dabei hatte sogar diese Unduldsamkeit mittlerweile einigermaßen nachgelassen, nachdem man nun regelmäßig sah, wie sie einen wichtigen Dienst für ihr Volk leistete. Acorna vermutete allerdings, dass ein weiterer Grund darin bestand, dass man ihr jetzt schwerer aus dem Weg gehen konnte und dass sie selbst die meiste Zeit über viel zu beschäftigt war, um irgendeinen ihr weiterhin entgegengebrachten Mangel an Freundlichkeit überhaupt zu bemerken.
Der gegen Acorna gehegte Zorn und Abscheu traten jedoch nicht nur in den unausgesprochenen Gedanken der Frau zu Tage, sondern auch in der steifen Haltung, zu der sie sich verkrampfte, der wutentbrannten Art, mit der sie das Saatgut in die Päckchen stopfte und diese verschloss, als wollte sie die für schuldig befundenen Samen lebenslänglich einsperren. Ihre Gefühle offenbarten sich im Aufblitzen ihrer großen grünen Augen, als sie Acorna bohrende Blicke zuwarf, während diese der Agrartechnikerin pflichtbewusst die mündliche Botschaft von Liriili ausrichtete, und im schnippischen Ton ihrer Stimme, als sie Acorna nach vollbrachtem Auftrag wieder fortzuschicken versuchte.
So jedoch gedachte sich Acorna nicht abspeisen zu lassen.
»Habe ich irgendetwas getan, was dich gekränkt hat?«, fragte sie daher schließlich.
»Ist das nicht offensichtlich? Zuerst schleppst du uns einen solchen Ärger an, dass mein Vater ins All hinausgeschickt wird, um die Sache zu klären…«
»Warte, warte mal. Was für Ärger? Und wer ist dein Vater?«
»Aagroni Iirtye. Er hat dir bloß die Meinung gesagt, und schon hast du deinen Einfluss spielen lassen und durchgesetzt, dass man ihn fortschickt.«
»Meinen Einfluss?«, entfuhr es Acorna. »Du kannst gerne in meinen Gedanken nachforschen. Ich habe hier keinerlei Einfluss. Wenn überhaupt, dann habe ich das genaue Gegenteil von Einfluss. Und ich habe nicht das Mindeste mit den Problemen zu tun, derentwegen man deinen Vater auf einen fremden Planeten geschickt hat.«
Falls die Frau Acornas Angebot wahrnahm, so tat sie dies nur sehr kurz, blickte danach verwirrt einen Augenblick lang zu Boden, fasste sich jedoch rasch wieder und hob den Blick abermals. »Und außerdem… außerdem ist da noch Thariinye.
Warum gibst du ihn nicht frei?«, verlangte sie zu erfahren.
»Ihn freigeben?«, wiederholte Acorna völlig perplex.
»Dir liegt doch gar nichts an ihm, du magst ihn ja noch nicht einmal, das sehe ich dir an. Warum willst du ihn dann zu deinem Lebensgefährten machen? Er bedeutet dir doch nicht das Geringste, m-mir aber be-bedeutet er alles!«
»Damit bist du bei mir aber an der völlig falschen Adresse!«, erwiderte Acorna. »Ihm solltest du das sagen, wenn du so für ihn empfindest! Ich erhebe nicht die allergeringsten Ansprüche auf ihn. Er war der erste männliche Liinyar, dem ich je begegnet bin, und ist ein alter Schiffskamerad, mit dem ich die Erinnerung an ein paar gemeinsam durchgestandene Abenteuer teile. Aber es ist ganz und gar seine Idee, dass wir Lebensgefährten sein sollten, nicht meine!«
Das Mädchen sah sie verstört an und wischte sich die Tränen der Wut und des Schmerzes fort, die ihr die Wangen hinunterrannen. »Ich kann spüren, dass du die Wahrheit sagst, aber ich dachte…«
»Weißt du, was ich denke?«, fiel ihr Acorna mit einer plötzlichen Eingebung ins Wort. »Ich denke, dass Thariinye nicht mehr an mir interessiert ist, als du zu glauben scheinst, dass er es an dir wäre. Ich glaube, dass er die Aufmerksamkeit genießt, die ihm all die jungen Frauen entgegenbringen, aber dass er sich noch nicht auf eine Einzige festlegen möchte. Ich glaube, dass er – indem er vorgibt, mich erwählen zu wollen, wo er doch genau wissen muss, dass ich ihm keinerlei Gefühle dieser Art entgegenbringe – sich einfach nur etwas Zeit verschaffen will, um in aller Ruhe eine andere, für ihn sehr viel geeignetere Wahl zu treffen, als ich es wäre. Im Grunde ist er nämlich nicht herzlos, und ich bezweifle, dass er überhaupt eine Ahnung davon hat, dass er dir solche Pein bereitet.«
»Es stimmt, er… er weiß nicht, was ich für ihn empfinde. Ich habe gedacht, er wäre dir versprochen. Deshalb habe ich meine wahren Gedanken vor ihm verschleiert, habe immer krampfhaft ans Pflügen und Pflanzen gedacht, wenn er in der Nähe war, und« – sie errötete – »ich vermute, dass er meine Metapher nur wortwörtlich genommen hat.« Sie seufzte. »Er ist so ein aufregender Bursche, es war sehr hart, ich meine schwer, ich meine…«
Acorna konnte nur mühsam ein Grinsen unterdrücken und meinte belustigt: »Ich denke, dass Thariinye ganz eindeutig derjenige ist, mit dem du reden solltest. Viel Glück.«
Ihre gute Laune schwand jedoch alsbald wieder, als sie ihre weiteren Botengänge erledigte. Es stimmte zwar, dass Thariinye für sie nicht als Lebensgefährte in Frage kam. Doch auf einem ganzen Planeten voller Wesen, die alle von der gleichen Art waren wie sie selbst und von denen viele Männer im passenden Alter waren, hatte sie trotzdem bislang noch keinen Einzigen kennen gelernt, der auch in ihren eigenen Augen für sie in Frage kam.
Tatsächlich wurde es ihr sogar bei Pal Kendoro, der nicht einmal derselben Spezies angehörte wie sie, wärmer ums Herz als bei fast jedem anderen, dem sie bis jetzt hier begegnet war, mit Ausnahme von Großmama und Maati.
Wenn also einen Gefährten für sie zu finden zumindest einen Teil der Gründe ausgemacht hatte, die sie bewogen hatten, überhaupt hierher zu kommen, dann lief es ganz und gar nicht nach Wunsch. Viel lieber hätte sie ihr Glück dort draußen versucht, sich mit ihrer Tante und dem Rest ihrer Kameraden von der
Balakiire,
oder auch mit jeder anderen
Schiffsmannschaft, einem ungewissen Schicksal gestellt, als hier unten festzusitzen, ohne irgendein richtiges Ziel und ohne jegliche Möglichkeit, auf die Leute oder Ereignisse hier Einfluss zu nehmen.
Was, wenn die Khleevi zurückgekehrt waren? Was, wenn die Funkstille daher kam, dass die Schiffe, die Besatzungen, ja selbst die anderen Planeten allesamt vernichtet oder erobert worden waren?
Acorna schüttelte energisch den Kopf und verbannte diese düsteren Gedanken aus ihrem Verstand. Es brachte nichts, sich wegen solcher Dinge Sorgen zu machen. Zum ersten Mal in ihrem noch kurzen Leben nützte es überhaupt nichts, sehr viel mehr zu unternehmen als abzuwarten, die Augen offen zu halten und auf das Beste zu hoffen. Sie glaubte nicht, dass sie sonderlich gut darin sein würde.
»Was meinen Sie mit ›in Gewahrsam zu nehmen‹?«, verlangte Melireenya von dem Regierungsvertreter auf dem Komschirm zu erfahren. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass sie dieses Gespräch tatsächlich führte, dass dies nicht alles nur ein böser Traum war. Die Niriianer waren die Letzten, von denen sie je erwartet hätte, dass sie sich gegenüber den Botschaftern oder Handelsvertretern der Linyaari auch nur eine bloße Taktlosigkeit herausnehmen würden. Niriianer waren, ganz wie die Linyaari selbst, ein höfliches und ethisch hoch stehendes Volk; sie waren fast schon übertrieben pedantisch auf Umgangsformen und moralisches Verhalten bedacht.
»Wir bitten aufrichtig um Verzeihung, Gheraalye, aber die Umstände entzogen sich gänzlich unserer Kontrolle, wie wir schon Visedhaanye Neeva erläutert haben. Wahrscheinlich wird Ihr Schiff nur so lange beschlagnahmt bleiben, wie es dauert, um Ihre ursprünglichen Botschaftsvertreter aufzunehmen, und Ihnen dann wieder zurückgegeben werden.
Aber bis dahin sind unsere Befehle ganz klar.«
»Mir nicht«, widersprach Melireenya. »Dabei verstehe ich mich recht gut aufs Gedankenlesen. Also klären Sie mich bitte auf. Was genau besagen Ihre Befehle?«
»Alle Linyaari, die sich in unseren Einflussbereich begeben, sind aus diplomatischen Gründen in Gewahrsam zu nehmen.
Ich fürchte, dass ich nicht in die Überlegungen eingeweiht bin, die der Grund für diese von unserer Regierung erlassene Anweisung sind. Es tut mir schrecklich Leid, der Überbringer solch betrüblicher Kunde zu sein, Gheraalye. Sie waren uns seit vielen Jahren eine gute Freundin.«
Melireenya beruhigte sich ein wenig. Die Stimme des jungen Amtsträgers verriet aufrichtige Betroffenheit, und seine Hörner schienen vor Scham schlaff herabzuhängen. »Wie auch Sie es mir stets waren, Snoraa. Ich nehme an, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als unseren alten Freunden ein weiteres Mal zu vertrauen?«
»Keine, fürchte ich. Aber ich werde es als eine Angelegenheit meiner persönlichen Ehre ansehen, dafür Sorge zu tragen, dass weder Ihnen noch Ihrer Mannschaft ein Leid geschieht.«
»Ich weiß diese Zusicherung zu schätzen, Snoraa. Haben Sie meinem Lebensgefährten die gleiche Liebenswürdigkeit erwiesen?«
Seinem Schweigen entnahm Melireenya, dass Snoraa dies getan hatte – oder sich zumindest um das Schicksal von Hrronye und seinen Studenten gekümmert hatte.
»Kann ich mit der Visedhaanye sprechen, bitte?«, fragte sie höflich. Neeva war mit der Landefähre auf die Oberfläche des Planeten hinuntergeflogen. Sie hatte es für eine kluge Vorsichtsmaßnahme gehalten, zunächst allein vorzugehen, bis sie in Erfahrung gebracht hatte, was aus den vermissten Linyaari geworden war und warum sie ein Notsignal nach Hause geschickt hatten.
»Die Visedhaanye wurde ebenfalls in Gewahrsam genommen und darf zurzeit keinerlei Verbindung zur Außenwelt aufnehmen, Gheraalye. Bitte bringen Sie Ihr Schiff auf Landeplatz Eins Eins Vier zu Boden und stellen Sie sich mit Ihrer Mannschaft dann den Wächtern, die Sie dort empfangen werden. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es meine Pflicht, darauf zu bestehen, dass Sie sich den mir auferlegten Befehlen fügen. Das verstehen Sie sicher.«
Melireenya hatte noch während ihres Gesprächs mit Snoraa einen weiteren Versuch unternommen, eine Nachricht nach Narhii-Vhiliinyar abzusetzen und die Heimatwelt über die Vorgänge hier in Kenntnis zu setzen. Doch genau wie bei all ihren früheren Versuchen, von der Umlaufbahn um Nirii aus eine Komverbindung zu ihrem Heimatplaneten aufzubauen, hatte sie auch diesmal auf ihre Funkbotschaften keine Antwort bekommen.
Da es nicht gelang, Hyperfunkkontakt mit ihrer Heimatbasis aufzunehmen und dort neue Anweisungen einzuholen, und da sie sich große Sorgen darüber machte, was mit Neeva geschah, sah sie keine andere Möglichkeit, als sich zu fügen. Den Kombotschaften, die sie von den anderen Raumschiffen der Linyaari aufgefangen hatten, hatten sie und Khaari entnommen, dass mittlerweile der größte Teil der Schiffe, wenn nicht gar die gesamte Heimatflotte ins All geschickt worden war. Im Unterschied zur Balakiire untersuchte der Rest der Schiffe jedoch keinen auf Narhii-Vhiliinyar eingegangenen Notruf, sondern sollte vielmehr im Gegenteil herausfinden, warum die auf den verschiedensten Fremdwelten stationierten diplomatischen, Handels- und Forschungs-Außenposten der Linyaari seit kurzem keine Hyperfunknachrichten mehr aussandten. Melireenya öffnete als letzten Versuch sämtliche Schiff-zu-Schiff-Komkanäle, um vielleicht wenigstens diese anderen Raumer erreichen und sie von dem eigenartigen Verhalten der Niriianer unterrichten zu können, bekam jedoch nur das gleiche Schweigen zu hören, in dem auch ihre an die Heimatbasis gerichteten Hyperfunkversuche vergeblich verhallten. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Sie setzte einen allgemeinen Notruf ab, auf den jedoch ebenfalls nicht die geringste Rückmeldung kam. Ihr einziger Trost war, dass all dies nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit jenen Taktiken aufwies, die sie als charakteristisch für Angriffe oder Invasionen der Khleevi zu erkennen gelernt hatten.
Doch als sie sich darauf vorbereitete, die Balakiire auf Nirrii zu landen, übermannte sie ein so heftiger Anfall von Panik, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie spekulierte, dass die Ahnen sich einstmals ganz genauso gefühlt haben mussten, als sie, wie es in den alten Geschichten hieß, versucht hatten, Kontakt mit einer feindseligen Spezies aufzunehmen… indem sie mit deren am wenigsten gefährlichen Mitgliedern kommunizierten, den jungen Frauen, und sich dann stattdessen von bewaffneten Männern jener Spezies umzingelt gesehen hatten und in eine Gefangenschaft verschleppt worden waren, deren Sinn und Zweck sie bis zum heutigen Tage nicht wirklich verstanden.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich als nur allzu begründet.
Kaum waren sie gelandet, enterte auch schon ein Trupp uniformierter Personen das Schiff, die keine Niriianer waren, sondern ganz wie Angehörige jenes Volkes aussahen, bei denen Khornya gelebt hatte, als die Balakiire sie gefunden hatte. Zwei von ihnen rissen sie mit Gewalt aus dem Pilotensessel, während zwei weitere Khaari vom Navigatorpult fortzerrten und wiederum andere zügig die Kontrollen ihrer beider Brückenkonsolen übernahmen und von ihnen die Herausgabe der Zugriffskodes für die Bordcomputer verlangten.
»Wer sind Sie?«, wollte sie stattdessen ihrerseits wissen.
»Was gibt Ihnen das Recht, sich eines souveränen Linyaari-Raumfahrzeugs zu bemächtigen? Ich verlange, auf der Stelle Runae Thirgaare zu sprechen!«
»Nur keine Aufregung«, beschwichtigte ein vierschrötiger junger Mann sie, der keinerlei Haare auf dem Kopf zu haben schien. »Sie wurden von einer Ordnungsmacht der Föderation in Arrest genommen, und Ihr Schiff wird beschlagnahmt.«
(Keine Sorge, Melireenya), schickte Khaari ihr eine telepathische Botschaft. (Es wird ihnen ziemlich schwer fallen, die Balakiire in Beschlag zu nehmen, solange wir nicht kooperieren.)
(Warum habe ich dann das deutliche Gefühl, dass wir wieder aufsteigen?), gab Melireenya zurück.
(Oje! Das muss einer dieser Traktorstrahlen sein, von denen wir gehört haben, mit dem wir von einem anderen Schiff in Schlepp genommen werden können. Dabei habe ich gar kein anderes Schiff gesehen, du etwa?)
(Nein. Aber sie könnten sich in einen Tarnschirm gehüllt haben.)
Über die Komanlage konnten sie jetzt Snoraas Stimme hören, die hartnäckig verlangte, dass die Balakiire zuerst um eine Startfreigabe ersuchen müsse, bevor sie wieder von Nirii fortgebracht werden dürfe. Doch die uniformierten Fremden beachteten ihn nicht.
»Was wird uns überhaupt vorgeworfen?«, wollte Melireenya wissen. »Und wo wir schon mal dabei sind, was genau sind das für mysteriöse Verbrechen, die unsere Leute auf Nirii angeblich begangen haben sollen?«
Sie empfing ein Mischmasch aus Gefühlen und wirren Gedanken von ihren Wärtern, die sich über sie und ihre Schiffskameradin zumeist gewalttätig, wütend oder begehrlich, über die rinderartigen Niriianer dagegen lediglich verächtlich äußerten. Sie logen, so viel konnte sie aus dem Wust mit Sicherheit entnehmen. Alle von ihnen logen. Doch sie befolgten nur Befehle, das war eben das, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienten.
»Also, schauen wir mal, Gnädigste, was waren das noch für Anklagen? Widerstand gegen die Festnahme, Flucht aus verordnetem Gewahrsam, unterlassene Hilfeleistung in einer medizinischen Notlage, Weigerung der Bekanntgabe des Wohnsitzes sowie Unterlassungsverbrechen gegen verschiedene unter dem Schutz der Föderation stehende Umwelten. So viel für den Anfang. Wenn uns noch mehr einfallen sollte, werden wir es Sie wissen lassen.«
»Das ist blanker Unsinn!«, rief sie aus. »Narhii-Vhiliinyar gehört doch gar nicht zu Ihrer Föderation!«
(Wenn man bedenkt, dass wir uns gerade erst darüber unterhalten haben, ob wir dazugehören sollten oder nicht), bemerkte Khaari gedanklich.
»Ach, richtig, und hier sind die weiteren Anklagen«, fuhr der uniformierte Grobian ungerührt fort. »Hausfriedensbruch, Eindringen in den Föderationsraum ohne Einreisevisum und Entführung eines Föderationsbürgers.«
»Entführung? Die einzige Person, die uns nach Hause zurückbegleitet hat, war die Nichte von Visedhaanye ferilii Neeva, und die kam aus freien Stücken mit und hat sich darauf gefreut, ihre Heimatwelt kennen zu lernen.«
»Wir würden nur gerne Gelegenheit erhalten, die Richtigkeit dieser Behauptung nachzuprüfen, Gnädigste«, entgegnete er.
»Ich schlage daher vor, dass Sie mit diesem Ei wieder Kurs auf eben diese Heimatwelt nehmen, dann können wir die besagte Bürgerin dort selbst befragen.«
»Das können wir nicht tun«, lehnte Khaari ab.
Sie hatte die Frau genau beobachtet, die Khaaris Platz auf der Brücke eingenommen und die ganze Zeit über versucht hatte, Zugriff auf das Navigationssystem zu erhalten.
(Lenk sie irgendwie ab, Melireenya), wies Khaari sie an.
Melireenya kreischte unvermittelt auf und sprang vorwärts, fuchtelte wild in der Luft herum und brüllte den Uniformierten die Strophen eines Linyaari-Gedichts entgegen, das sie noch aus ihrer Jugendzeit in Erinnerung hatte.
Khaari machte sich dieses Ablenkungsmanöver zu Nutze und glitt unauffällig näher an die Frau heran, die an der Navigationskonsole hockte und sich jetzt umgedreht hatte, um nachzusehen, was es mit dem plötzlichen Aufruhr hinter ihr auf sich hatte. Khaari gelang es, blitzschnell zwei Tasten auf dem Pult niederzudrücken, bevor die Frau sich wieder zurückdrehte.
(Das war’s!), triumphierte Khaari. (Danke.) (Hast du es geschafft, die Kursdaten zu löschen?) (Selbstverständlich. Wenn wir das Herunterfahren der Bordsysteme nach unserer Landung noch vollständig hätten beenden können, bevor sie uns geentert haben, dann hätte der Bordrechner das längst selbst erledigt. Es hat schon was für sich, dass wir Linyaari ein so gutes Gedächtnis für Navigationsdaten haben.)
Die Frau am Navigatorpult stieß einen abstoßenden, wüsten Fluch aus.
»Was ist denn los, Brill?«, fragte der Mann ohne Haare.
»Es ist alles weg!«, schimpfte sie. »Ich hatte fast schon Zugriff auf die Kursdaten, als… du hast sie gelöscht!«, warf sie Khaari erbost vor.
»Es ist ein selbstlöschendes Sicherheitssystem«, berichtigte Khaari sie, was sogar vollkommen der Wahrheit entsprach.
»Schließlich wissen wir ja auch so, wo wir schon mal waren.«
»Ja, aber woher wisst ihr, wie ihr wieder dorthin zurückfindet?«, versuchte der Mann sie aus der Reserve zu locken.
»Das ist eine Angelegenheit unserer planetaren Sicherheit«, ließ Melireenya ihn abblitzen. (Wenn die wie bornierte Bürokraten schwafeln können, dann können wir das schon lange.) »Und wo gerade die Rede von Entführungen ist: Wenn Sie die Leute sind, die unseren Botschafter und die anderen Mitglieder unseres diplomatischen Korps auf Nirii entführt haben, dann müssen wir darauf bestehen, dass Sie diese und uns unverzüglich freilassen.«
»Ja, also, dann verraten Sie uns doch mal, wer uns dazu zwingen will und wie wir mit denen ins Gespräch kommen, dann werden wir das vielleicht sogar tun«, verhöhnte sie der Mann.
Khaari starrte die angeblichen Ordnungshüter an. (Das sind nicht die Uniformen der Föderationstruppen, Melireenya.) (Das habe ich auch schon festgestellt. Es sind die gleichen Uniformen, wie sie von den Kampftruppen bei Rushima getragen wurden. Söldner. Was meinst du, haben die vor?) (Ich habe das ungute Gefühl, das wir das nur allzu bald herausfinden werden.)
Vierzehn
Beckers Verstand sagte ihm ohne den leisesten Zweifel, dass er den Androiden eigentlich auf der Stelle in den Weltraum hinauswerfen müsste. Diese verdammten Dinger hatten spezielle Pulsgeber eingebaut, die nicht nur fortwährend ihren gegenwärtigen Standort in alle Welt hinausposaunten, sondern auch überall auf ihrem Weg eine unauslöschliche Fährte von charakteristischen Elektronen hinterließen. Diesem Ariadnefaden konnten ihre Besitzer bei einem Verlust, Diebstahl oder in dem allerdings nur sehr selten vorkommenden Fall, dass eines dieser Geschöpfe beschloss, eigene Wege zu gehen und seinem Herrn davonzulaufen, sogar über interstellare Distanzen hinweg folgen. Zu allem Überfluss gab es keinerlei Möglichkeit, derartige Signalgeber zu entfernen, jedenfalls keine, von der Becker je gehört hätte.
Selbst wenn er den Roboter vollständig zerlegte oder zerstörte, würde dieses verdammte Gerät das einfach ungerührt wegstecken und seine Funktion munter weiter erfüllen.
Wenn er den Maschinenmenschen allerdings in einem Stück ausschleuste, würde auch der Signalgeber im All landen, und dann konnte dieses Luder Kisla ihm seinetwegen gerne bis in alle Ewigkeit nachjagen.
Das einzige Problem war, dass Becker es schlichtweg nicht übers Herz bringen konnte, einfach etwas wegzuwerfen, das so nützlich, ein so viel versprechendes Bergungsgut war. Und auch noch ein außerordentlich Wertvolles! Außerdem hatte er noch nie tatsächlich versucht, den Spurgeber eines Humanoidroboters zu deaktivieren. Derartig teure Besitztümer warfen die Leute nur äußerst selten auf den Müll, weshalb Becker auch noch nie einen gefunden hatte. Auch wenn es irgendwann vorgekommen wäre, dass ein Android als einziger Überlebender einer unglückseligen Weltraumhavarie geborgen wurde, wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass irgendjemand später der Elektronenfährte des Blechmenschen nachgespürt hätte – auch wenn der glückliche Finder keinen legalen Anspruch auf das Bergungsgut erheben könnte. In beiden Fällen hätte sich ein Ausbau des Geräts also erübrigt.
Wenn er es jedoch wirklich versuchen würde, davon war Becker zwar überzeugt, dann könnte er es auch schaffen.
Andererseits wiederum war Kisla Manjari beileibe kein Feind, den man auf die leichte Schulter nehmen durfte.
SB sprang dem Roboter auf die Brust und knetete ihm mit den Krallen große Risse in sein Gewand. Gleichzeitig sabberte der Kater nach Leibeskräften, rieb seinen Kopf schnurrend am Kinn des Maschinenwesens und rieb dann auch seine schnurrbartbewehrten Wangen überall an ihm, mit verzückt nach oben gezogenen Katzenlefzen, als ob er irgendetwas Widerliches röche.
»Meinst du nicht, dass du dieses Ding jetzt genug markiert hast, hm?«, fragte Becker ihn. »Komm schon, Kater, wir müssen den Burschen hier in den Weltraum verfrachten.«
Doch als Becker den Roboter ein zweites Mal anzuheben begann, um ihn in eine Luftschleuse zu wuchten, hieb SB mit einem jähen Schwinger nach ihm, der Becker wohl die Hand aufgeschlitzt hätte, wenn er SBs krallenbewehrter Pranke nicht erschrocken ausgewichen wäre. Der Kater machte einen Buckel, sträubte empört das Fell und richtete den Schwanz steil auf.
»Na hör mal! – Schau, ich weiß, dass er uns bis nach Hause gefolgt ist, aber du kannst ihn nun mal nicht behalten, verdammt, und ich auch nicht. Er ist verwanzt!«
Für einen Kater, der in dem Geschäft tätig war, in dem SB
arbeitete, und der es somit eigentlich hätte besser wissen müssen, schien das vierbeinige Mitglied ihrer Schiffsmannschaft rein technische Schwierigkeiten widersinnigerweise keinesfalls als hinreichenden Grund dafür anzusehen, eine Verletzung seiner Eigentumsrechte an etwas zu dulden, auf das er Besitzansprüche geltend gemacht hatte.
Er fauchte bedrohlich, legte die Ohren flach an den Kopf, verengte die Augen zu Schlitzen und krallte die Hinterpfoten auf ähnliche Weise rhythmisch in die Brust des Androiden, wie man es von Kampfstieren kannte, die auf dem Boden scharrten, bevor sie blindwütig zur Attacke vorpreschten.
Becker fluchte und ließ sich auf die Fersen zurücksinken, lauschte mit einem Ohr dem aufgebrachten Kater und mit dem anderen dem steten »Biep… Biep…« des Nahbereichorters.
»Ich hätte nicht übel Lust, euch beide auf irgendeinem Felsbrocken auszusetzen und es künftig ihm zu überlassen, für dein Wohl zu sorgen, wenn du so wild auf ihn bist«, drohte Becker. Den Kater beeindruckte das wenig. Sie wussten schließlich beide nur zu genau, dass Becker das niemals tun würde, ganz gleich, wie unvernünftig sich SB auch aufführen mochte. Denn der Signalgeber des Roboters würde früher oder später Kisla Manjari zu sich locken, und deren Aufmerksamkeiten würde Becker nicht einmal seinem ärgsten Feind an den Hals wünschen, ganz zu schweigen von seinem üblicherweise durchaus mehr oder weniger geselligen Schiffskameraden.
»Schon gut, schon gut. Lässt du mich ihn wenigstens auf die Brücke rüberschaffen, damit ich im Auge behalten kann, wo wir hinfliegen, und wahrscheinlich bald auch, wer hinter uns herfliegt, während ich versuche, die Wanze unschädlich zu machen?«
Der Kater benetzte den Roboter mit einer weiteren Duftmarke, hüpfte dann leichtfüßig auf Beckers Schulter und schlang sich ihm schnurrend um den Nacken, wobei er seine Pranken ständig in der Nähe von Beckers Kehle behielt, nur für den Fall, dass dieser auf komische Ideen kam. Becker wuchtete seinen Hintern sowie den aller anderen gerade rechtzeitig in die Bordzentrale, um eines jener seltenen Wurmlöcher zu erspähen, die auf keiner Karte verzeichnet waren, ausgenommen denen von Theophilus Becker.
»Du bist eine echte Schönheit, Baby!«, jubilierte er und warf dem Wurmloch eine Kusshand zu, als er die Condor darauf zusteuerte und schließlich hineintauchte.
Er wusste zwar nicht genau, wie wirkungsvoll diese Elektronenfährten auch durch Wurmlöcher hindurch verfolgt werden konnten, aber wenn sie nur ein bisschen Glück hatten, konnte er sich und SB auf diesem Wege vielleicht wenigstens einen kleinen Vorsprung verschaffen.
Das Wurmloch spie sie in demselben malträtierten Teil der Galaxie aus, wo er jenen in Trümmer gelegten Planeten mit den hornähnlichen Katzenspielzeugen entdeckt hatte.
Becker wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Roboter zu. Jetzt würde er die Wanze aber wirklich schleunigst unschädlich machen müssen. Er stürzte sich in die vor ihm liegende Arbeit. Der Kater sah ihm mit der besorgten Miene eines werdenden Vaters dabei zu.
Insgeheim hoffte Becker immer noch, dass, wenn er nur lange genug herumfuhrwerkte, der Kater am Ende doch das tun würde, was er für gewöhnlich immer tat: des Spielchens überdrüssig zu werden und irgendwohin abzuziehen, um ein Nickerchen zu machen. Doch natürlich war dies das, was Becker wollte, also dachte SB selbstredend nicht im Traum daran, ihm diesen Gefallen zu tun.
Becker konzentrierte sich so intensiv auf seine Aufgabe, dass er richtig ins Schwitzen geriet. Und die ganze Zeit über blieb unablässig dieses nervtötend regelmäßige, leise »Biep…
Biep…« zu hören. Nach einer Weile kühlte sich SBs überhitzte Besitzgier weit genug ab, dass auch der Kater die Signaltöne des Nahbereichorters zu registrieren und Interesse dafür zu bekunden begann. Ein eindringliches Interesse. Der Kater wanderte wachsam an der lang auf dem Boden ausgestreckten Gestalt des Roboters auf und ab, stolzierte quer über die in der Brust des Maschinenmenschen aufklaffende Wartungsklappe und wedelte mit seinem neuen flauschigen Schwanz unter Beckers Nase herum, wenn er zwischen Becker und dem vorbeischlich, woran dieser zu arbeiten versuchte.
»Hör mal, Kater, es wäre ganz nett, wenn du auch ein wenig mithelfen würdest, indem du mir nicht dauernd zwischen den Beinen rumläufst.«
Sehr zu Beckers Überraschung rückte SB ein Stück weit von ihm ab, hockte sich mit beleidigter Miene hin und begann seine rechte Vorderpfote zu lecken. Seine Ohren, jetzt wo er wieder zwei davon hatte, waren beide in spitzem Winkel nach vorne ausgerichtet. Becker hielt einen Moment lang in seiner Arbeit inne und beugte sich dann wieder über die geöffnete Wartungsklappe.
Als er wenig später wieder aufsah, zuerst einen kurzen Blick auf ihren Panoramaschirm und danach auf SB warf, bemerkte er, dass die Ohren des Katers bei jedem »Biep« des Ortungsgeräts leicht zuckten und dass er sich in der Zwischenzeit auf alle viere niedergekauert und eine Lauerstellung eingenommen hatte, wobei sein Hinterteil vor mühsam unterdrückter Erregung angespannt hin und her schwänzelte, ganz als ob er jeden Augenblick einen Satz nach vorne machen würde.
»Lass dich nicht stören, Katerchen. Aber sofern unser digitales Navigationssystem nicht schon wieder eine Macke hat, liegt jetzt der Planet wieder auf unserem Kurs, auf dem wir diese spitzen Kegelhörner gefunden haben. Was meinst du? Sollen wir noch mal einen Abstecher dorthin machen? Ich denke, dass wir inzwischen einen ausreichend großen Vorsprung herausgeholt haben, um den Pulsgeber in aller Ruhe zum Schweigen bringen zu können. Wir sind nun schon lange genug durch ein Wurmloch nach dem anderen gejagt. Kisla und ihre Kumpane dürften wohl noch eine Weile brauchen, bis sie auch hierher finden. Ich bin dafür, dass wir landen, die Sache hier zu Ende bringen und dann endgültig abhauen.«
SB gab seine Stimme nicht laut ab, sondern sprang stattdessen geräuschlos dem Roboter ins Genick, wo er mit Zähnen und Klauen über die Plasthaut des Maschinenwesens herfiel und daran herumzubeißen und herumzukrallen begann.
»Ach, kommen die Peilsignale des Spurgebers etwa von da?«, staunte Becker. »In Ordnung. Wenn du deinen pelzigen Kadaver ein wenig zur Seite bewegen würdest, werde ich mal schauen, ob ich das Teufelsding deaktivieren und den Burschen hier ein wenig umprogrammieren kann.«
Nach einiger Überzeugungsarbeit und dem Argument, dass der Zweibeiner doch nur zu tun beabsichtige, was der Vierbeiner ohnehin von ihm wolle, gab SB schließlich tatsächlich nach, und es gelang Becker, sich voll und ganz auf die Arbeit an dem Roboter zu konzentrieren – sich in der Tat so sehr zu konzentrieren, dass er jegliches Gefühl für Zeit und Raum verlor. Als er irgendwann Hunger bekam, schnappte er sich nur hastig eine Hand voll Katzenfutter. Weil er jedoch danach mühsam etliche Brocken davon wieder aus den Innereien des Roboters herausklauben musste, verzichtete er hinfort gänzlich auf weitere Naschereien.
Er hatte den größten Teil der Bordsysteme der Condor auf Sprachsteuerung umgestellt, um dem Schiff auch Befehle erteilen zu können, ohne am Steuerpult sitzen zu müssen. Der Hauptrechner gab Becker seine Rückmeldungen hierzu mit der Stimme von Buck Rogers. Eine Zeit lang hatte sich zwar auch Becker den üblichen Spaß gemacht, den Computer mit einer erotisch-rauchigen Frauenstimme sprechen zu lassen, hatte jedoch bald festgestellt, dass dies seiner Arbeitsleistung höchst abträglich war. Denn er war damals ständig zum nächst erreichbaren Raumhafen geeilt, um ein Freudenhaus aufzusuchen, statt sich auf sein Geschäft zu konzentrieren.
Deshalb bediente er sich für die Sprachausgabe des Bordrechners mittlerweile der Stimme eines klassischen Raumfahrerhelden. Er sah hierin einen Ansporn, dessen Vorbild nachzueifern und stolz und glücklich zu sein, dass auch er als freier Abenteurer von Stern zu Stern ziehen und das Universum bereisen konnte.
Mit Bucks Unterstützung, der ihn von allen Routineabläufen des Raumschiffbetriebs entlastete, und fest entschlossen, die Entwanzung und Umerziehung des Maschinenmenschen erfolgreich zu meistern, widmete Becker dieser Aufgabe seine volle Aufmerksamkeit. Die Hauptachse des Pulsgebers zu lokalisieren, war nicht das einzige Problem. Das verdammte Ding war auch noch fest in sämtliche elektronischen und mechanischen Haupt- und Untersysteme des Roboters integriert. Er würde die Verdrahtung des Androiden fast vollständig entfernen und neu schalten müssen, und zwar auf eine Weise, die dem KEN-Roboter so wenig Schaden zufügte wie nur möglich.
Becker war ziemlich gut in dieser Art von Dingen, wenn er sich wirklich bemühte. Es war eines seiner Talente, sich über lange Zeit intensiv auf ein einziges komplexes Problem konzentrieren zu können. Zu seinem Leidwesen musste er diesmal jedoch zumindest einen Teil seines Gehirns gleichzeitig noch für die Steuerung seines Raumschiffs abstellen. Der Bordrechner übernahm zwar alle Steuerungs-und Regelungsaufgaben an Bord ebenso wie den größten Teil der Navigation und Flugkontrolle und informierte Becker selbsttätig über alle Wurmlöcher und Schwarzwasser, Raumfalten und Zeitknoten in der Umgebung. Von Zeit zu Zeit musste Becker aber trotzdem noch selbst eingreifen und den Pilotenstuhl lange genug besetzen, um das Schiff per Handsteuerung durch die gemeldeten Phänomene hindurch oder um sie herum zu lenken. Was er allerdings fast wie im Halbschlaf tat, da der aktivste und größte Teil seines Verstandes sich ganz mit dem Problem beschäftigte, das auf seinem Schiffsdeck lag. Er wusste wirklich nicht, wie lange ihn diese Tüftelei eigentlich schon fesselte, sodass er zunächst gar nicht registrierte, dass die Condor sich dem Planeten, auf dem sie die Hörner gefunden hatten, mittlerweile bis auf Orbitaldistanz genähert hatte.
Als ihm gerade gelang, die letzte Komponente des vertrackten Geräts auszubauen, musste ihn der Computer der Condor daher mit einer dringenden Warnmeldung aus seiner Versunkenheit in das Roboterproblem herausreißen: »Kapitän Becker, wünschen Sie auf dem Planeten zu landen? Oder ziehen Sie es vor, in einem dramatischen Feuerball zu explodieren, wenn wir schließlich auf der Planetenoberfläche aufprallen, nachdem wir so lange in seiner Umlaufbahn gekreist sind, bis uns der Treibstoff ausgegangen ist.«
Becker blickte verwirrt von seinem Werk auf. Die Deaktivierung der lästigen Wanze war gelungen. Das »Biep…
Biep…« war endlich nicht mehr zu vernehmen, obwohl er beinahe glaubte, es wie ein schwaches Hintergrundecho immer noch in seinem Kopf nachhallen hören zu können, so lange hatte er dem Geräusch schon unfreiwillig lauschen müssen. SB
war endlich eingeschlafen und hatte nur träge ein Auge geöffnet, als die Stimme des Bordrechners ertönte.
»Was? Oh, ich schätze, wir sollten bruchlanden. – Nein, keine Angst, das war nur ein Scherz, Buck.«
»Er war aber überhaupt nicht komisch, Becker. Sie haben mir zwar einen Sinn für Humor einprogrammiert, aber ich fand das trotzdem ganz und gar nicht amüsant. Ich hatte nämlich schon wunschgemäß einen Kollisionskurs angelegt, als Sie dann doch wieder ›Nein‹ sagten!«
»Natürlich habe ich dir einen Sinn für Humor verpasst –
andernfalls hätte ich dich wohl schon vor Jahren mit einer Brechstange bearbeitet. Der Kater lacht nämlich nicht sonderlich oft über meine Witze, da musst eben du herhalten.«
»Ich warte, Kapitän Becker. Der Planet unter uns tut das allerdings nicht. Er ist immer noch unermüdlich dabei, seine Gravitationskräfte auf mich auszuüben.«
»So? Na schön, in Ordnung. Gehen wir doch wieder auf diesem grünen Flecken runter, wo wir das letzte Mal diese Hörner gefunden haben – du hast die entsprechenden Koordinaten doch noch, oder?«
»Suche läuft… ich scheine sie nicht finden zu können, Kapitän Becker. Wäre Ihnen vielleicht stattdessen dieser aktive Vulkankrater dort drüben recht?«
»Was? Wie? Bist du verrückt geworden? Natürlich nicht!«
»Nur ein Scherz. Ich habe die gesuchten Daten natürlich schon vor unzähligen Nanosekunden aufgerufen!«
»Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich das Schiff normalerweise selbst steuere und mich lieber mit dem Kater unterhalte!«
Er schätzte, dass er jede Menge Zeit haben würde, um den Roboter wieder zusammenzubauen, wenn sie erst einmal gelandet waren. Und damit, den nunmehr deaktivierten Pulsgeber irgendwo im Weltraum über Bord zu werfen und ihn dadurch endgültig loszuwerden, würde er eben noch eine Weile warten müssen. Hier in der Nähe wollte er das keinesfalls tun, um nicht zu riskieren, dass die Wanze Kisla Manjari womöglich doch noch irgendwie zu diesem Planeten führte. Vorerst jedoch, rief er sich zur Ordnung, sollte er sein Augenmerk lieber wieder auf den Landevorgang richten.
»Wie läuft’s, Buck?«, befragte er den Computer.
»Alles in bester Ordnung, Kapitän. Da wäre nur eine winzige Kleinigkeit, von der ich allerdings annehme, dass Sie womöglich in Kenntnis darüber gesetzt zu werden wünschen.«
»Und was wäre das?«
»Aus der äußeren Atmosphäre scheint sich das Heck eines weiteren Raumschiffs herabzusenken. Sieht aus, als ob es die Absicht hätte, direkt neben uns zu landen.«
»Ich nehme nicht an, dass wir noch irgendwelche Ausweichmanöver fliegen könnten?«
»Das war wieder ein Scherz, richtig? Wie sollten wir das anstellen? Auf den letzten paar Zentimetern – na ja, jetzt nicht einmal mehr das – Atmosphäre, die zwischen uns und dem Boden noch verblieben sind? Tut mir Leid, Kapitän, wir sind soeben gelandet. Das andere Raumschiff muss sich bis eben in einen Tarnschirm gehüllt haben, sonst hätte ich es schon früher bemerkt.«
»Ich nehme nicht an, dass wir über die gleiche Möglichkeit verfügen, oder?«
»Ich fürchte nein. Außerdem wissen die doch schon längst, wo wir sind«, stellte das Schiffsgehirn fest.
»Nun, dann machen wir es eben anders.« Er aktivierte den Komschirm. »He, Sie da, mit dem runterbaumelnden Heck, identifizieren Sie sich! Hier spricht Kapitän Jonas Becker von der Condor, Flaggschiff der Interplanetaren Bergungs- und Wiederverwertungsgesellschaft Becker mbH. Meine Firma hat bereits den Daumen auf… Bergungsrechte angemeldet, meine ich, auf diesen Planeten. – Ähm…«, fuhr er fort, als er keine Antwort erhielt, »… ich nehme nicht an, dass Sie ein in Raumnot geratener Havarist auf der Suche nach einem Abschleppdienst sind, oder?«
Auf dem Komschirm tauchte jetzt höhnisch grinsend Kisla Manjaris Gesicht auf.
»Also nicht. Hatte ich mir schon gedacht«, beantwortete Becker seine Frage angewidert selbst. »Was ist los, Prinzessin?
Haben Sie vergessen, sich eine Quittung ausstellen zu lassen?«
»Aber nein, Kapitän Becker. Ich wollte mich Ihnen nur anschließen, weil Sie so interessante Orte ansteuern und so interessante Dinge finden. Ich hatte meine Androiden losgeschickt, um herauszufinden, wohin Sie als Nächstes zu fliegen beabsichtigten, aber Sie haben die Ärmsten ja umgebracht. Nun… jedenfalls alle bis auf den einen, dessen Fährte wir gefolgt sind.«
»Siehst du, SB, was habe ich dir gesagt?«, beschwerte sich Becker bei seinem Kater. »Da hast du uns ja wieder mal einen schönen Schlamassel eingebrockt!«
»Ach, ist das niedliche Kätzchen auch da? Ich möchte wirklich immer noch zu gerne mit ihm spielen«, behauptete Kisla. »Ich habe schon so oft gehört, dass es mehr als eine Methode gäbe, um einer Katze das Fell über die Ohren zu ziehen, und das würde ich wahrhaftig gerne einmal ausprobieren.«
Mittlerweile konnte Becker die Midas, die sich ihres Tarnschirms nunmehr vollständig entledigt hatte, in voller Pracht auf seinem Panoramaschirm sehen, als stetig größer werdenden Punkt am vielfarbigen schillernden, in Zwielicht getauchten Himmel dieses Planeten.
»Sie sind eine echt kranke Zicke, das wissen Sie doch, oder?«, warf Becker ihr vor.
»Das ist aber nett, danke sehr!«
Becker hatte inzwischen per Fernschaltung den Katzen-Notausstieg in der Bodenschleuse seines Raumers aktiviert.
Der unvermeidliche Höhenunterschied von dieser Schleuse bis hinunter zum Boden welches Planeten auch immer, auf dem sie gerade gelandet waren, stellte in der Regel eine auch für SB
durchaus nicht unerhebliche Distanz dar, was ihn in der Regel davor zurückschrecken ließ, sie mit einem lässigen Sprung in die Tiefe zu überwinden. Stattdessen zog es der Kater für gewöhnlich vor, sich hierfür der Robo-Hebebühne zu bedienen und diese auf die gleiche Weise als Fahrstuhl zu benutzen, wie Becker es zu tun pflegte. Doch für Fälle wie diesen hatte Becker eine Katzen-Notrutsche gebastelt – nicht dass es schon viele Fälle wie diesen hier gegeben hätte, doch Becker besaß nun einmal eine lebhafte Fantasie und neigte zu einem gesunden Maß an Paranoia. Also schaltete er den Komschirm aus, schnappte sich SB und stopfte ihn, ohne dem Kater irgendeine Gelegenheit zur Widerborstigkeit zu geben, in den Gleitschacht, der mit einem steilen, aber dennoch mehr oder minder ungefährlichen Gefälle in das Unterdeck hinabführte und dort unmittelbar vor der Katzenklappe im äußeren Schleusenschott mündete. Dann griff er zu seiner Hand-Fernbedienung und öffnete den Katzen-Notausstieg. Nur wenige Augenblicke später zeigte ihm eine zu Boden gerichtete Außenkamera der Condor ein Vidbild von SB, der draußen im Gras hockte und sich zunächst einmal gründlich sauber leckte. Als dann jedoch ganz in der Nähe das andere Raumschiff zur Landung ansetzte, machte er einen Satz und schoss auf die traurigen Überreste der einstigen Landschaft zu, die sich außerhalb des kleinen Fleckens Grün ihrer Landestelle erstreckten. Becker wusste, dass SB klug genug war, auch ohne entsprechenden Hinweis seinerseits einen weiten Bogen um die Manjari zu machen, so lange jedenfalls, wie es ihm gelang, in Freiheit zu bleiben. Becker war sich zwar ziemlich sicher, dass er sie noch ausmanövrieren könnte, doch es war trotzdem besser, wenn SB sicherheitshalber nicht in der Condor eingesperrt war. Er überlegte, dass er selbst sein Schiff am besten auch verlassen sollte; womöglich gelang es ihm draußen ebenfalls, sich Kislas Zugriff zu entziehen, und womöglich kam sie auch nicht auf die Idee, sich stattdessen an der Condor abzureagieren. Schließlich waren die Hörner doch das Einzige, das sie von ihm wollen könnte – zumindest fiel ihm nichts ein, was sie sonst noch von oder an ihm interessieren könnte. Und genau dies war ja der Ort, wo die Hörner herstammten. Also hatte sie jetzt, was sie wollte. Wenn sie ihn nicht finden konnte, dann war es doch mehr als wahrscheinlich, dass sie sich einfach die Beute schnappen und wieder damit verschwinden würde, um zu tun, was auch immer sie mit den Hörnern vorhatte. Eine aus höherwertigen Gebrauchtteilen zusammengebastelte Flotte damit finanzieren, vielleicht.
Dieses Mal legte er keinen Raumanzug an. Der würde ihn nur behindern, und er wusste ja bereits, dass er ihn in dieser Atmosphäre nicht benötigte. Doch er schlüpfte in seine Antigravstiefel, die er auf Planeten zu tragen pflegte, deren Schwerkraft sehr viel höher war als jene auf Kezdet. Er wollte sich nämlich nicht die Zeit nehmen, erst umständlich die Hebebühne runterzufahren. Stattdessen öffnete er einfach die Bodenschleuse und sprang durch den vorgebauten Schacht ins Freie. Die Stiefel ließen ihn nach Bodenberührung ein paar Meter hoch in die Luft zurückprallen, was er ausnutzte, um sich in weiten Sprüngen ins Hinterland abzusetzen, als trüge er Siebenmeilenstiefel wie in einem der alten Märchen. Vater hatte ihn ermutigt, neben seinen Physikbüchern ab und zu auch mal Unterhaltungsliteratur dieser Art zu lesen, und damit versucht, Becker ein wenig jener Kindheit zurückzugeben, die man ihm im Arbeitssklavenlager gestohlen hatte.
Eigentlich sollte es ihm auf diese Weise möglich sein, weit genug zu fliehen, bevor Kisla aus ihrem Schiff herauskam, dachte er und kam sich ziemlich gewitzt vor, als er die Grasfläche hinter sich ließ und in die felsige Trümmerlandschaft hinaussprang. Erst als der Strahl eines in die Außenhülle der Midas eingelassenen Betäubungsstrahlers ihn zu Boden streckte, dämmerte ihm in einem letzten Aufflackern seiner bewussten Gedanken, dass Kisla es wahrscheinlich überhaupt nicht nötig hatte, ihr Schiff zu verlassen, um ihn zur Strecke zu bringen.
Keiner der fremden Eindringlinge, die den Frieden dieses heiligen Ortes störten, vermochte ihn zu sehen, so vollkommen verschmolz er mit seiner Umgebung. Er jedoch sah sie. Sah, wie das erste Raumfahrzeug landete und wenig später das kleine pelzige Tier, das Gleiche, das schon einmal hier gewesen war, zuerst im freien Fall aus dem Bauch des Gefährts herausstürzte und sich dann geschickt mitten in der Luft herumwarf und auf allen vier Pfoten landete. Es putzte sich kurz und rannte dann los – schnurstracks auf ihn zu. Von den Fremden hatte ihn keiner gesehen, die kleine pelzige Kreatur jedoch jagte ohne zu zögern geradewegs auf ihn zu, aus dem heiligen Ort heraus und in die Felslandschaft hinein, wo er verborgen lag. Dann stürzte plötzlich ein zweites Raumschiff aus dem All herab, und noch während es im Abstieg begriffen war, sprang ein Zweibeiner aus demselben Schiff, dem auch das Tier entstiegen war, und hopste in hohen Sprüngen davon. Das zweite Schiff landete, und ein Lichtblitz schoss aus ihm heraus, auf den Davoneilenden zu. Der flüchtende Zweibeiner war gerade mitten in seinem dritten Sprung und hatte sich dadurch fast schon in Sicherheit gebracht, hinter einem der unzähligen Schutthaufen, die die Khleevi damals aufgeworfen hatten, als sie diese Welt verwüsteten. Der Zweibeiner war derselbe, den der kleine Vierbeiner dabeigehabt hatte, als er das erste Mal auf diesem Planeten gewesen war. Er hatte dasselbe runde Gesicht und dieselbe glatte Stirn wie der Begleiter des Pelzwesens beim letzten Mal. Er sah nicht aus wie ein Khleevi und handelte auch nicht wie ein Khleevi. Khleevi rannten nicht in Panik davon. Sie lösten bei anderen Panik aus.
Inzwischen hatte das Tier den heimlichen Beobachter erreicht, hatte ihn mit sanften Umgarnungen und lautem Gerumpel begrüßt und Zuflucht bei ihm gesucht. Es hatte mit großen Augen mitverfolgt, wie der Zweibeiner von dem Lichtblitz gefällt worden war. Es hatte seine Gestalt verändert, war plötzlich zu doppelter Größe angeschwollen und hatte seine spitzen Ohren flach an den Kopf angelegt. Das Gerumpel hatte einem Geräusch Platz gemacht, das entstand, wenn Luft aus den Lungen von jemandem entwich, dem man einen wuchtigen Hieb in die Magengrube versetzte.
Das zweite Raumschiff landete. Vier Leute stiegen aus, ein kleiner Zweibeiner mit einer lauten Stimme und drei Größere.
Die kleine Gestalt bewegte sich mit großer Selbstsicherheit, die anderen zeigten weniger davon.
Der kleine Zweibeiner marschierte geradewegs auf den zu Boden Gestreckten zu, deutete auf ihn und wies die anderen an, ihn aufzuheben und fortzutragen. Das taten diese dann auch, trugen den Regungslosen zurück auf die Grasfläche zwischen den beiden Schiffen. Dort begann die kleine Gestalt, den leblosen Körper mit aller Kraft zu treten.
Genau in diesem Augenblick schoss das kleine Tier wieder hinter der felsigen Deckung des Beobachters hervor und stürmte über das Gras und mitten in die Schar der Eindringlinge hinein, die zwar genauso aussahen wie der erste zweibeinige Ankömmling, ihren Taten und ihrer… Energie…
nach zu schließen aber offenbar doch Khleevi zu sein schienen.
Der versteckte Beobachter erschauerte, und ihm wurde übel.
Er würde die Khleevi nicht noch einmal ertragen können, er war ganz sicher, dass er das nicht könnte. Sie hatten ihn schon das letzte Mal unheilbar zerschunden. Er konnte ihnen einfach nicht noch einmal entgegentreten, nicht einmal, um ihr neues Opfer zu retten, denn er wusste nur zu genau, dass er es nicht retten konnte.
Das kleine Tier jedoch hatte anscheinend weniger Erfahrung mit den Khleevi. Es fegte wie ein heulender, wütend tosender Wirbelsturm mitten in ihre Gruppe hinein und verwandelte den Haufen in ein chaotisches Knäuel aus Raserei, Blut, Geknurre und Geschrei. Das Blut schien größtenteils zu dem kleinen Zweibeiner in der Mitte zu gehören. Der Lärm schien von allen zugleich zu stammen.
Und dann, ganz unvermittelt, blitzte ein zweiter Lichtstrahl auf, und das pelzige Wesen stürzte reglos zu Boden.
Schweigen legte sich über die Zweibeinergruppe.
Die noch stehenden Leute sahen jetzt völlig verändert aus.
Ihre Kleidung war zerfetzt, einer von ihnen hielt sich mit der Hand ein Auge zu, und ihre Gesichter waren eine einzige Kreuzschraffur aus Kratzern. Die kleine Zweibeinerfrau – denn ihre Stimme schien dem Beobachter weiblich zu klingen –
presste eine Hand gegen ihre Kehle, und rotes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor.
Sie versetzte dem Leib des kleinen Vierbeiners hasserfüllt einen so wuchtigen Tritt, dass er in hohem Bogen bis an den Rand der Grasfläche flog.
Dann fing sie wieder an, den bewusstlosen Mann zu treten, bis ihr einer der anderen Männer Einhalt gebot.
Der heimliche Beobachter wiegte den Oberkörper mechanisch vor und zurück, weinte leise, quälte sich und überlegte, ob er nicht vielleicht – ganz vielleicht – das kleine Tier retten könnte, ohne dass die Kleevi ihn entdeckten. Ihm stand ganz in der Nähe eine hinreichend mächtige Quelle heilkräftiger Energien zur Verfügung, um den pelzigen Vierbeiner wieder ganz gesund zu machen, sofern seine Verletzungen nicht bereits tödlich gewesen waren.
Den Körper so flach wie nur irgend möglich an den Boden gedrückt, schlängelte sich der versteckte Beobachter auf den Rand der Grasfläche zu, wo der kleine Leib regungslos lag.
Fünfzehn
Becker hatte eindeutig schon bessere Tage erlebt. Die pulsierenden Schmerzen in seinem Bein waren fast nicht auszuhalten. Die Auswirkungen von Kislas Fußtritten erinnerten ihn fatal an jenen leidigen Vorfall, als er sich einmal unbeabsichtigt einen dieser myrathenianischen Morgensterne auf den Fuß hatte fallen lassen, weil er das verdammte Ding ausgerechnet auf einem zu hoch angebrachten Regalbord verstauen wollte. Jede Menge kleiner, stechender Schmerzherde. Was allerdings das anging, so hatte es den Anschein, dass Kisla und ihre Bande auch selbst über eine Menge kleiner, stechender Schmerzen klagen konnten.
Augenscheinlich war SB zurückgekommen; ihre Gesichter jedenfalls trugen unverkennbar seine Handschrift. Aber wo war das kleine Mistvieh jetzt eigentlich? Becker hob den Kopf und sah sich um. Mit dem ihm noch verbliebenen Auge – das andere war gerade dabei zuzuschwellen – entdeckte er, dass der kleine pelzige Leib seines Geschäftspartners am Rand der… sich bewegenden?… Felslandschaft lag.
Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Kislas nächster Tritt auf sein Kinn zielte. Gerade noch rechtzeitig fing Becker ihren Fuß mit einer Hand ab und verdrehte ihn ruckartig. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf ihr Hinterteil. Zu seiner Überraschung richteten Kislas Handlanger daraufhin zwar drohend ihre Waffen auf ihn, schritten jedoch ansonsten nicht ein. Wenn er es sich andererseits recht überlegte, war er doch nicht so überrascht, dass sie nichts unternahmen. Das hier waren schließlich Menschen, keine Roboter. Für Kisla zu arbeiten war wahrscheinlich mit ein paar unangenehmen Begleiterscheinungen verbunden.
»Erschießt ihn!«, kreischte Kisla.
»Ganz ruhig bleiben, Prinzessin. Was habe ich Ihnen denn getan?«, fragte er. Seine Aussprache war ein wenig undeutlich.
Offenbar hatten ein paar ihrer Fußtritte doch mehr Schaden angerichtet, als er bislang angenommen hatte.
»Sie haben mich betrogen – das haben Sie getan! Und Sie haben meine Androiden zerstört…«
»Was für eine blühende Fantasie!«, entgegnete er.
»Und Sie haben mich angelogen, was die Hörner betrifft! Sie haben behauptet, es gäbe nur das Eine! Sie haben gelogen! Ich habe noch eins gefunden. Wo sind die anderen?«
Er seufzte schmerzerfüllt. Er musste sie wirklich schleunigst loswerden und nach dem Kater sehen. »Genau hier – sie liegen überall um uns herum. Ich habe nur ein, zwei Proben aufgelesen.«
»Er lügt«, meldete sich eines ihrer Besatzungsmitglieder zu Wort. »Da ist nichts. Ich habe schon nachgesehen.«
Kisla robbte rückwärts ein Stück von Becker fort und stand dann auf, hielt jedoch weiterhin deutlich Abstand. »Also gut, es ist an der Zeit, ihn zum Reden zu bringen! Nehmen wir ihn mit ins Schiff.«
»Bevor wir uns womöglich jede Menge völlig überflüssiger Arbeit machen, sollte ich nicht lieber zuerst mal einen Blick in die Datenbanken seines Bordrechners werfen und nachschauen, wo er die Hörner gefunden hat und ob das hier wirklich der richtige Planet und die richtige Stelle ist? Sie können ihn ja erst mal auf Eis legen, während wir die Gegend noch einmal etwas gründlicher nach den Hörnern durchforsten«, schlug ein vernünftig klingender Mann vor, den auf seiner Uniform prangenden Abzeichen nach zu schließen, ein ziemlich hochrangiges Mitglied von Kislas neuem Handlangerstab.
»Ich erteile hier die Befehle«, maßregelte Kisla ihn.
»Natürlich, Herrin. Ich versuche nur, einen Vorschlag zu machen, wie wir auf schnelle und unkomplizierte Weise überprüfen können, was der Mann uns erzählt hat.«
Kisla gab zwar gerne den Ton an, war aber nicht dumm. Was der Bursche sagte, war durchaus vernünftig. Sie zögerte.
»Also dann, mit Ihrer Erlaubnis…«, sagte der Mann, wobei er den Satz eindeutig nicht als Frage formulierte, und wandte sich zum Gehen.
Mühsam richtete Becker sich auf und hakte die Fernbedienung von seinem Gürtel los. »Hier, Kumpel, das wirst du brauchen. Rot, Grün, Blau, Rot.« Mit vernünftigen Leuten konnte er kooperieren. Es hatte keinen Sinn, Kisla neuerlich zu provozieren.
Das war ein geschickter Schachzug. Die beiden anderen Mannschaftsangehörigen schnürten Becker zu einem Bündel zusammen – besser gesagt, klebten ihn zu einem Bündel zusammen, fesselten seine Hände und Füße mit silbernem Klebeband, das sie anscheinend eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Sie ließen Kisla ihm nur noch zwei weitere Tritte versetzen, bevor sie ihren Boss dadurch von Becker ablenkten, dass sie theatralisch auffällig im Gras herumstocherten und nach Hörnern suchten. Während sie damit beschäftigt waren, bemerkte Becker, dass SB nicht mehr dort lag, wo er eben noch gewesen war. Das war ja interessant.
War der kleine Bursche etwa im Stande, nur so zu tun, als sei er verletzt? Nein, das war gewiss unmöglich!
Nach einer Weile – wie lange, vermochte Becker nicht zu sagen, weil er diese Zeit in einer Art Dämmerzustand verbrachte, bei der seine bewusste Wahrnehmung immer wieder aussetzte und von Ohnmachtsphasen unbestimmbarer Dauer abgelöst wurde – kam der Raumfahrer, der in die Condor gegangen war, wieder zurück. Er hatte den Beutel in der Hand, der die restlichen Hörner enthielt, die Becker bei seinem ersten Aufenthalt hier gefunden hatte. Becker stieß einen Seufzer aus. Er hatte sich schon so an den Duft der frischen, sauberen, insbesondere katzengestankfreien Luft gewöhnt, die sein Raumschiff in letzter Zeit durchzogen hatte, und irgendwie gehofft, dass Kisla die Wunderhörner nicht entdecken würde, sodass er sie selbst behalten könnte.
»Und?«, wollte die Manjari wissen.
»Es stimmt, das hier ist tatsächlich der richtige Ort. Der Planet ist zwar auf keiner unserer Karten vermerkt, aber die Koordinaten sind zweifellos dieselben, die er schon mal in seinem Logbuch aufgeführt hat. Und hier sind die Hörner. Sind das alle, die es hier gab, Kumpel?«
»Ich dachte eigentlich, nein«, antwortete Becker wahrheitsgemäß. »Deswegen bin ich ja auch hierher zurückgekommen. Aber die Lichtverhältnisse hier sind nicht gerade berühmt. Vielleicht haben wir beim ersten Mal doch schon alle aufgelesen.« Er versuchte die Achseln zu zucken, aber seine Muskeln waren schon viel zu steif geworden, als dass sie ihm noch gehorcht hätten.
»Ihr Androide ist nur noch ein einziger Trümmerhaufen«, fuhr der Raumfahrer mit seinem Bericht an Kisla fort. Er zeigte zum Beweis ein ebenfalls mitgebrachtes wüstes Knäuel aus Drähten und Synthetikgewebe vor, das Becker aus dem Maschinenmenschen entfernt hatte. »Das hier war der Spurgeber, der uns hierher geführt hat. Sie wissen, dass Ihr Onkel… dass Sie, wollte ich sagen, sich ja schon gedacht hatten, dass unser guter Becker schnurstracks dorthin zurückfliegen würde, wo er die Hörner gefunden hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dies hier der fragliche Ort.«
»Vielleicht«, zweifelte sie. Jetzt hatte sie den Beutel und kramte darin herum. »Wo haben Sie die gefunden, Schrotthändler?«
»Lagen hier einfach so auf dem Boden rum. Fragen Sie mich nicht, wieso. Ich habe sie jedenfalls nicht von irgendeinem lebendigen Mädchen abgesäbelt, falls es das ist, was Sie denken.«
»Zu schade – aber dem kann man ja später noch Abhilfe schaffen«, erwiderte Kisla.
Und genau in diesem Moment erschütterte ein Serie von Explosionen den Boden und rissen in einer mehr oder weniger geraden, direkt auf die Midas zuführenden Linie eine Anzahl Fontänen aus Dreck und Feuer in die Höhe.
»Was zur Hölle ist das?«, fragte einer von Kislas Mannschaftsmitgliedern.
»Asteroidenschauer?«
»Wie man unschwer erkennen kann, muss dieser Planet vor nicht allzu langer Zeit irgendeinem destabilisierenden Einfluss unterworfen gewesen sein«, stellte der Bursche fest, der an Bord der Condor gewesen war. »Ich glaube daher, dass wir uns lieber nicht mehr allzu lange hier rumtreiben sollten. Möchten Sie, dass wir den guten Becker hier mitnehmen, Herrin?«
Kisla grinste und ließ ihre scharfen kleinen Zähne aufblitzen, als eine neuerliche Explosion sowohl die Midas als auch die Condor heftig durchschüttelte. »Nein«, beschloss sie. Sie riss dem Fragesteller Beckers Fernbedienung aus der Hand, warf das Gerät zu Boden und trampelte darauf herum, zermalmte es unter ihrem Absatz. »Wir werden ihn einfach hier lassen. Hier gibt es nirgends Wasser oder Nahrung, außer auf seinem Schiff, in das er jetzt nicht mehr reinkommt. Er wird wohl die Katze fressen müssen… he, wo ist das Mistvieh hin?«
Bevor sie eine Antwort bekommen konnte, brach der Boden ein weiteres Mal auf, diesmal unmittelbar neben ihr.
Erschrocken hielt sie den Mund, als ihre Leute sie hastig an Bord der Midas führten und den Raumer in Rekordzeit für einen Alarmstart klarmachten. Wie eine verbrühte Katze jagte das Schiff ins All zurück.
Wo gerade von Katzen die Rede war…
Becker verlor das Bewusstsein und erwachte erst wieder, als etwas Nasses sein Gesicht berührte. Katzensabber. SB, der wieder wie neu aussah, hockte ihm auf der Brust und knetete sie mit scharfen Krallen. Becker selbst lag nicht mehr neben der Condor. Es war dunkel, und er hatte keine Schmerzen mehr, nirgends.
Wenn jemand Edacki Ganoosh angeboten hätte, ihn zum König oder Kaiser des Universums zu machen, hätte er dies rundheraus abgelehnt. Er strebte nicht nach absoluter Macht oder absoluter Verantwortung oder absoluter Aufmerksamkeit.
Er zog weitaus mehr Befriedigung daraus, den im Hintergrund agierenden Puppenspieler zu geben und zu seinem heimlichen Vergnügen an jenen Drähten zu ziehen, mit denen sich Menschen und Ereignisse manipulieren ließen. Im Augenblick war er daher sowohl sehr zufrieden als auch äußerst vergnügt.
Er hatte die Tentakel seines Spinnennetzes weit über seine üblichen Spielfelder hinaus ausgedehnt, in neue, ferne Sternengebiete, wo seine Verbündeten über Verbündete verfügten, die wiederum Verbündete hatten. Und jene Verbündeten besaßen ihrerseits Verbündete, die regen Umgang mit Leuten hatten, auf welche die Beschreibung der Linyaari perfekt passte. Sinnigerweise sagte man diesen speziellen Leuten das Gleiche nach wie den Linyaari: durchweg recht hoch entwickelte und von Natur aus friedfertige und gesetzestreue Völker zu sein. Ganoosh, der es zwar nicht mochte, sich selbst an Regeln zu halten, schätzte es sehr, wenn andere das taten. Solche Leute waren umso leichter zu manipulieren. Bisweilen wünschte er sich deshalb sogar, dass auch sein Mündel etwas gesetzestreuer wäre. Andererseits, wenn sie das wirklich gewesen wäre, würde sie jetzt wahrscheinlich längst nicht mehr am Leben sein. Sie hätte ihm dann zwar sehr viel weniger Ärger gemacht, wäre jedoch zugleich auch sehr viel weniger nützlich gewesen.
Tatsächlich wartete er gegenwärtig sogar voller Ungeduld darauf, endlich wieder etwas von dem lieben Mädchen zu hören. Die Midas hatte sich nämlich schon sehr lange nicht mehr gemeldet. Wahrscheinlich versuchte das eigensinnige Kind zwar nur, ihren lieben Vormund zu ärgern und im Dunkeln tappen zu lassen. Dennoch behagte es ihm wenig, einfach nur untätig abwarten zu müssen.
Darüber, wie schnell Ikwaskwan sich als Herr der Lage erwiesen hatte, war er hingegen hoch erfreut. Seine Söldner traten derzeit höchst patriotisch als von der Föderation ausgesandte Friedenshüter auf und waren zu all jenen in weiter Ferne liegenden, nicht zur Föderation gehörenden Welten unterwegs, über die Ganooshs Informantennetz in Erfahrung gebracht hatte, dass es dort Außenposten der Linyaari gäbe.
Auf die uniformierten Truppen der Roten Krieger war eben Verlass. Sie würden die besagten Planeten unmissverständlich wissen lassen, dass jede weitere Hilfe und Unterstützung, die man den schändlichen Linyaari gewährte, als Vorschubleistung von Verbrechen gegen die Föderation gewertet werden und bedauerlicherweise eine nachhaltige Machtdemonstration der Föderalen Friedenshüter nach sich ziehen würde. Denn die Föderation könne es selbstverständlich nicht zulassen, dass ein derart gesetzloses Gesindel wie die Linyaari sich einfach ungestraft der gerechten Strafverfolgung entzog, nachdem die Flüchtigen jene interessante Sammlung von Gesetzesübertretungen begangen hatten, die Ikwaskwan und die anderen sich zusammengesponnen hatten. Wie Ganoosh vermutet hatte, waren die von den Linyaari frequentierten Welten ebenso ordnungsliebend, friedfertig und gesetzestreu wie die Linyaari-Besucher des Einhornmädchens es von ihrer eigenen Heimatwelt behauptet hatten.
Ganoosh fand es ausgesprochen schade, dass die Khleevi, die seinerzeit mit Hilfe von Ikwaskwans Männern auf Rushima besiegt worden waren, offenbar keine ihm bekannten Verbündeten hatten und augenscheinlich auch weder eine gemeinsame Sprachbasis mit irgendeiner anderen Spezies besaßen, noch den geringsten Kommunikationskontakt mit irgendwelchen Ganoosh zugänglichen Welten pflegten. Er war davon überzeugt, dass eine so mörderische Wildheit, wie sie sie dem Vernehmen nach an den Tag zu legen pflegten, für seine Geschäfte von hohem Wert sein könnte.
Mitten in diese Überlegungen hinein platzte plötzlich seine Komanlage und erwachte mit einem lauten Geprassel jenes statischen Rauschens zum Leben, das bei diesem Gerät gemäß Herstellergarantie niemals zu hören sein würde. Dann drang zuerst Kislas Stimme aus den knatternden Lautsprechern, und schließlich war auch ihr verschwommenes Abbild auf dem Komschirm zu sehen. »Ach, Onkel Edacki, wir haben auf ganzer Linie versagt! Paps ist schrecklich wütend auf mich, fürchte ich, und sagt, ich würde nicht dazu taugen, ein Sternenschiff zu befehligen. Bitte, bitte, bitte sei nicht auch noch du böse auf mich. Eigentlich ist ja sowieso die Mannschaft an allem schuld. Diese Schlappschwänze haben kalte Füße gekriegt, als ich Becker foltern wollte. Sie wollten mir noch nicht einmal erlauben, ihn richtig zu treten oder diese widerwärtige Katze zu töten.«
»Jetzt beruhige dich erst mal, Süße, und erzähl Onkel Edacki alles schön der Reihe nach. Du musst bedenken, dass die Besatzung der
Midas
nun mal ganz gewöhnliche
Firmenangestellte sind und keine Informationsbeschaffungs-Spezialisten. Ich hätte daran denken sollen, dir einen mitzuschicken, aber ich hatte diesbezüglich ganz auf deine angeborenen Talente gesetzt. Ich kann kaum glauben, dass du den Mann in die Finger gekriegt und trotzdem nicht herausbekommen hast, wo er die Hörner herhat, oder uns mehr davon beschaffen konntest.«
»Doch, doch, das habe ich schon geschafft. Zumindest habe ich den Ort gefunden, wo er die ersten Hörner herhatte. Aber dort waren keine mehr, und auch in seinem Beutel hatte er bloß noch ungefähr ein Dutzend davon.«
»Ich habe da so eine Ahnung, dass er dir noch längst nicht alles gesagt hat, Schatz. Frag ihn doch einfach ganz freundlich noch einmal.«
»Das ge-he-het nicht«, heulte sie auf.
»Er ist dir entkommen?«
»Nein – ich habe ihn irgendwie, na ja…« Sie machte das Geräusch eines Laserstrahls nach, der sich durch Fleisch brannte. Das konnte sie sehr gut, dabei war es eigentlich ein ziemlich schwierig nachzuahmendes und unangenehmes Geräusch.
»Hast du dich etwa von deinem Eifer hinreißen lassen, bevor du alles aus ihm rausgeholt hast, Kisla Manjari?«, wollte Ganoosh mit strenger Stimme von ihr wissen.
»Neiiin! Ehrlich, Onkel! Wir haben seinen Bordcomputer auf den Kopf gestellt, und dessen Datenbanken zufolge war es der richtige Planet und die richtige Stelle. Aber nachdem ich ihn niedergeschossen hatte, gingen plötzlich überall diese kleinen Explosionen hoch, und fast wäre auch die Midas getroffen worden. Also sind wir gestartet und haben ihn liegen lassen.
Wir können aber jederzeit wieder dahin zurück, wenn du möchtest, dass wir das tun, und uns sein Schiff schnappen und die Computerdateien noch mal durchgehen.«
»Nein, nein, Liebes, das würde höchstwahrscheinlich überhaupt nichts bringen. Ich hätte wissen müssen, dass Leute wie der jüngst verstorbene Herr Becker eben doch keine wirklich wertvollen Funde machen, die sie mit uns teilen könnten, ganz gleich, wie nett du ihn gefragt hast.«
»Du bist doch nicht böse, oder, Onkel? Vielleicht könntest du mich ja auf diese Schule schicken, du weißt schon, wo deine Informationsbeschaffungs-Spezialisten ihr Handwerk lernen.
Ich weiß bestimmt, dass ich bei dieser Arbeit sehr nützlich sein könnte, wenn du mir noch eine zweite Chance gibst.«
»Nicht doch, mein Goldstück, zerbrich dir deswegen nur nicht dein kleines Köpfchen. Natürlich bin ich nicht böse mit dir. Du hast doch mehr von den Hörner beschafft. Alle Hörner, die Herr Becker hatte. Und ich hege nicht die geringsten Zweifel, dass du, wenn es so eine Schule für Informationsbeschaffungs-Spezialisten gäbe, abgesehen von deinem kleinen Hang zur Ungeduld, im Handumdrehen die Klassenbeste wärst. Ich bin tatsächlich sogar überzeugt, dass du bei deinem Naturtalent dort mühelos als Ausbilderin tätig sein könntest.«
Er konnte sie inzwischen deutlich genug auf dem Komschirm sehen, um zu erkennen, dass sie vor Stolz über das Lob rot anlief. Positive Verstärkung funktionierte wirklich gut bei diesem Mädchen.
»In der Tat habe ich so viel Vertrauen in dich, dass ich dich und die Midas sogar mit einer neuen Mission beauftragen möchte.«
»Au, fein! Worum geht es denn? Darf ich dabei auch wieder Informationen aus jemandem rauskitzeln?«
»Aber gewiss, mein Schätzelchen, und das auch noch aus einem reichen, verhätschelten, frisch vermählten Flitterwöchnerpärchen, dessen eine Hälfte ein sehr enger persönlicher Freund eines deiner engsten persönlichen Feinde ist…«
»Von welchem?«, forschte sie begierig nach, und Edacki konnte sehen, wie sie im Geiste die Liste sämtlicher Leute durchging, auf die eine derartige Beschreibung zutraf. »Oh, Onkel, du meinst doch nicht etwa diesen gewieften alten Scheich, oder doch?«
»Na, wer hier wohl gewieft ist? Du hast es auf Anhieb erraten. Kluges Mädchen. Braves Mädchen. Ja, ich fürchte, diese dumme Kuh Yasmin hat sich entdecken lassen. Um ihren Kopf zu retten, hat sie auch noch das Verfolgerschiff verraten, das ich ihr und Harakamian nachgeschickt hatte. Nun ja, wenn ich ehrlich bin, hatte ich eigentlich auch nichts anderes von ihr erwartet. Jedenfalls hat Harakamians Schiff, die Shahrazad, gerade den Orbit von Rushima mit unbekanntem Ziel verlassen. Zum Glück hat es Yasmin aber anscheinend wenigstens nicht für notwendig erachtet, ihren Häschern auch von allen Reserve-Pulsgebern zu erzählen, die sie im Schiff verteilt hat. Wir sind also auch weiterhin ohne Schwierigkeiten in der Lage, die Spur der Shahrazad jederzeit wieder aufzunehmen.«
»Darf ich Yasmin für dich töten, wenn wir wieder zurück sind?«, bettelte Kisla. »Sie hätte das mit unserem Überwachungsschiff wirklich nicht ausplaudern dürfen.«
»Ich werde es mir überlegen. Hab mehr Geduld, vergiss das nicht, Liebling. Yasmin mag zwar ihre Fehler haben, aber sie könnte sich trotzdem noch einmal als nützlich für uns erweisen, falls es mir gelingt, sie aus der Hand dieser Siedler zu befreien – am besten aber erst, nachdem sie zur Strafe eine Zeit lang als Zwangsarbeiterin schuften musste; um sie daran zu erinnern, wer ihre wahren Freunde sind. Nein, ich möchte stattdessen, dass du die Shahrazad verfolgst, sorgsam hinter deinen Tarn- und Schutzschirmen verborgen, natürlich, bis du sie gefahrlos entern und die Harakamians gefangen nehmen kannst. Danach darfst du gerne jedes beliebige Mittel anwenden, das dir einfällt, um den vollständigen Kurs in Erfahrung zu bringen, den Hafiz einzuschlagen beabsichtigt, um die Heimatwelt des Einhornmädchens zu erreichen.«
Kisla strahlte: »Onkel Edacki, du bist einfach der Beste. Ich werde das unverzüglich für dich herausfinden.«
»Gut so, tu das, Zuckerstückchen… Und, Kisla? Herzchen?«
»Ja, Onkel?« Schon war ihr wieder die für sie so typische Ungeduld anzusehen, zusammen mit einer gewissen Abwehrhaltung, wie die eines Hundes, der Angst bekommen hat, dass man ihm den Leckerbissen, den man ihm gerade erst hingereicht hat, wieder wegnehmen könnte.
»Wenn du es herausgefunden hast, wirst du auf keinen Fall selbst dorthin fliegen. Übermittle mir einfach nur die Informationen, und behalte die Harakamians danach so lange in Gewahrsam, bis ich dir weitere Anweisungen erteile.«
»Oochh, Onkel!«
»Kisla!«, sagte er warnend.
»Also gut, in Ordnung. Aber darf ich ihnen wenigstens wehtun, während ich sie für dich festhalte? Auch dann, wenn ich die Informationen auf irgendeine andere Weise herausbekomme?«
»Dazu wird es noch reichlich Gelegenheit geben, mein Herzblatt, wenn wir erst einmal die Informationen haben, die du uns jetzt verschaffen sollst. Hafiz Harakamian hat viele Geheimnisse, und ich bin sicher, dass du viel Freude dabei haben wirst, ihm gut zuzureden und ihn dazu zu bringen, sich dir ganz anzuvertrauen. Du wirst gewiss alles aus ihm herausholen, was ich sonst noch von ihm wissen möchte und was ich dir zu gegebener Zeit noch sagen werde. Aber das kann erst mal warten. Und jetzt, husch, ab mit dir. Du hast einen Auftrag zu erledigen, Kommandantin Kisla!«
»Zu Befehl!«, bestätigte sie stolz und warf ihm noch einen Kuss zu, bevor der Komschirm schwarz wurde.
Einige Aspekte von Ganooshs Plänen liefen sogar besser, als er je hätte hoffen können.
Seine Suchschiffe hatten gleich eine ganze Kette von Planeten entdeckt, die von den Khleevi zerstört worden waren.
Obgleich die Planeten selbst betrüblicherweise alle keinerlei kommerziellen Wert mehr hatten, besaß einer von ihnen einen für Ganooshs Zwecke recht brauchbaren Mond. Mit Hilfe von schlüsselfertig gelieferten und bereits voll bezugsfähigen Biosphärenmodulen war er in der Lage, dort in kürzester Zeit eine ausreichend große Militär- und Experimentalstation zu errichten, um sämtliches Personal aufzunehmen, das er für seine weiteren Vorhaben benötigte. Ganoosh brachte dort seine Wissenschaftlerteams und Sicherheitskräfte unter. Den Ersteren wurde mitgeteilt, wonach sie bei ihren Untersuchungsobjekten Ausschau zu halten hatten, und den Letzteren, von wo sie die besagten Untersuchungsobjekte herbeischaffen sollten. Nichts hätte einfacher sein können.
Admiral
Ikwaskwan erstattete ihm über eine
relaisstationgestützte Fernstrecken-Komverbindung regelmäßig Bericht, und diese Meldungen fielen sowohl für Ganoosh als auch den Admiral stets höchst zufrieden stellend aus.
Nach und nach wurden immer mehr Völker und Welten ausfindig gemacht, zu denen die Linyaari Handelsbeziehungen unterhielten – zuweilen auf Grund von Informationen, die man den in Gewahrsam genommenen Linyaari entlockt hatte, sehr viel häufiger jedoch auf Grund von Hinweisen der Linyaari-Verbündeten selbst. Ein paar der aufgestöberten Einhorn-Freunde hatten sich zwar anfangs noch ein wenig widerspenstig gezeigt. Doch ein bisschen Überredungskunst, der man mit Hilfe einer geeigneten Machtdemonstration durch Ikwaskwans Truppen Nachdruck verlieh, brachte sie stets rasch zur Einsicht und dazu, den vorgeblichen Föderationsstreitkräften ihre Linyaari-Gäste bereitwillig auszuliefern sowie überdies die Positionen aller weiteren Himmelskörper preiszugeben, von denen ihnen bekannt war, dass dort Außenposten der Linyaari bestanden.
Inzwischen waren bereits zwei große, gut bewachte und gesicherte Wohntrakte der Mondstation fast bis an die Grenze ihres Fassungsvermögens mit den weißen, einhörnigen Humanoiden belegt. Wenn die Dinge weiter so gut liefen, würden bald noch sehr viel mehr hinzukommen. Je mehr Einhörner sie hatten, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass bald einer der Linyaari ihnen endlich die Position ihrer Heimatwelt offenbaren würde.
Als gerade wieder einmal eine neue Schiffsladung der weißen, silbermähnigen Geschöpfe wie eine Herde Schlachtvieh in die Gefangenenkuppel der Experimentalstation getrieben wurde, war dort zufällig auch Admiral Ikwaskwan zugegen, der sich ungehalten die Beschwerden der Wissenschaftler anhören musste. Die fantasielosen Forscher lamentierten, dass ihnen mittlerweile zwar jede Menge Versuchsobjekte zur Verfügung stünden, dass es ihnen jedoch nicht möglich sei, irgendwelche Fortschritte zu erzielen, wenn sie die Versuchsobjekte nicht endlich leibhaftig dabei beobachten könnten, wie sie das taten, wozu die Einhornwesen angeblich im Stande waren. Für eine friedfertige Spezies erwiesen sich die Linyaari augenscheinlich als außergewöhnlich störrisch. Sie schienen in der Lage zu sein, völlig ohne Worte miteinander zu kommunizieren, und gaben den Wissenschaftlern ständig das Gefühl, dass die Einhörner ausgiebig über sie diskutierten, statt umgekehrt, wie es eigentlich geplant gewesen war. Und das, obwohl die Linyaari, sobald sie einmal begriffen hatten, was die Weißkittel von ihnen wollten, in Gegenwart der Wissenschaftler nie auch nur ein einziges Wort sprachen, nicht einmal um sich zu beschweren.
»Setzt sie meinetwegen unter Drogen«, schlug Ikwaskwan vor. »Oder packt sie in Kälteschlafbehälter, bis ihr sie braucht.
Das ist mir völlig egal.«
»Das habe ich mir doch gedacht!«, schallte eine laute, nasale Linyaari-Frauenstimme durch die Biosphärenkuppel. »Admiral Ikwaskwan! Sind das hier Ihre Leute? Da muss irgendein schrecklicher Irrtum vorliegen. Sie wissen, wer ich bin. Bitte weisen Sie Ihre Männer an, mich und meine Mannschaft und den Rest unserer Leute auf der Stelle freizulassen.«
Ikwaskwan erkannte die Dame zuerst nicht. Für einen kurzen Augenblick stand ihm das Herz still, und er glaubte schon, wahrhaftig Harakamians Nichte Acorna gefangen zu haben.
Doch nein, die Frau hatte irgendetwas… Älteres an sich.
»Gnädige Frau, ich fürchte, Sie sind mir gegenüber im Vorteil.
Kennen wir uns irgendwoher?«, rätselte er mit einer höhnischen, gezierten Verbeugung.
»Dann werde ich Ihrer Erinnerung eben auf die Sprünge helfen«, antwortete sie und zerrte ihre Wärter näher zu Ikwaskwan hin. Dieser bedeutete ihnen, sie loszulassen. »Ich bin Visedhaanye ferilii Neeva aus dem Volk der Linyaari von Narhii-Vhiliinyar. Ich verlange auf der Stelle zu erfahren, was diese unerhörte Einkerkerung meiner Person und meiner Landsleute zu bedeuten hat. Die aufgebauschten Anklagen, die Ihre Handlanger als Vorwand benutzt haben, um uns hierher zu entführen, sind so offenkundig lächerlich, dass ich höchst verwundert darüber bin, wie es Ihnen überhaupt gelungen ist, uns mitzunehmen, ohne dass unsere Gastgeber scharfen und förmlichen Protest eingelegt haben.«
»Ihre Gastgeber hatten bei diesen Transaktionen eine Menge zu gewinnen, Visedhaanye, wenn Sie wissen, was ich meine«, erwiderte Ikwaskwan. »Außerdem waren wir im Stande, sie davon zu überzeugen, dass sich Ihr Volk in Ihrem eigenen Raumsektor hier ja möglicherweise nichts zu Schulden kommen lassen hat, dass Sie in unserem Sternenreich aber unbestreitbar einen in höchstem Maße kriminellen, zerstörerischen Einfluss ausgeübt haben. Man kann Ihnen nur dazu gratulieren, so viele hoch moralische, rechtschaffene Verbündete gefunden zu haben.«
»Neeva, spar dir deinen Atem«, warf eine andere der Neuankömmlinge ebenso laut wie ihre Vorderrednerin ein, als ob die Linyaari sie alle für schwerhörig hielten. »Hier liegt kein Irrtum vor. Es ist doch ganz offensichtlich: Er ist kein uns wohl gesonnener Verbündeter mehr.«
»Sehr scharfsinnig beobachtet, werte Dame. Ich stelle die Dienste meiner vortrefflichen Söldnertruppen nun einmal stets demjenigen zur Verfügung, der mir das höchste Angebot zu machen vermag. Und wie Sie sehen können, hat der höchste Bieter seit unserer letzten Begegnung gewechselt. So läuft das Geschäft eben.«
(Neeva! Bist du es wirklich? Oh, meine geliebte Gefährtin, wie ich mich danach gesehnt habe, dich wieder zu sehen, wenn auch nicht hier und jetzt!)
Ikwaskwan fand es recht belustigend zu beobachten, wie der Kampfgeist Neeva urplötzlich verließ, als ihre Aufmerksamkeit von den anderen ihrer Art gefesselt wurde, die schon länger in der Mondstation waren. Er hoffte sehr, dass die Wunderdinge, die man sich über diese Spezies erzählte, wofür ein handfester Beweis jedoch bislang noch ausstand, auch wirklich zutrafen. Andernfalls stellten sie, zumindest soweit es ihn betraf, nichts als eine völlig überflüssige Vergeudung von wertvoller Luft und Nahrung dar.
Er zuckte die Achseln und überließ sie den Wissenschaftlern.
Er fand es höchste Zeit, wieder einmal für eine Weile in sein Stammlager zurückzukehren und dort ein Wiedersehen mit Nadhari zu feiern. Er hatte da nämlich ein paar recht spezielle Pläne im Sinn, für die er sie gut gebrauchen konnte. Er beabsichtigte, sie in den Dienst von Ganoosh zu stellen, ob sie nun damit einverstanden war oder nicht.
Mit dem prickelnden, wenn auch zuweilen etwas allzu ablenkenden Machtkampf zwischen ihnen beiden wäre es zwar dann zumindest für den Augenblick vorbei. Aber sie wieder und immer wieder zu brechen, würde fraglos ein noch berauschenderes Gefühl sein. Natürlich läge der eigentliche Sinn und Zweck des Ganzen darin herauszufinden, wie vollständig diese angeblich zu wahren Wundern der Medizin fähigen Linyaari sie wieder würden zusammenflicken können.
Und sie würde ihm das natürlich niemals vergeben, doch genau das machte ja einen Teil des Spaßes aus. Denn das eigentliche Vergnügen bei der Eroberung einer Frau bestand schließlich darin, stets die Oberhand zu behalten und sie sich so gefügig zu machen, dass sie am Ende völlig zerschlagen war. Und zerschlagen würde Nadhari bald schlimmer sein, als sie es je zuvor in ihrem Leben gewesen war. Um aber auch wirklich sicherzustellen, dass er derjenige blieb, der die Oberhand behielt, und es nicht etwa andersherum ausging, nahm er eine Abteilung der besten Soldaten mit, die er hatte und die nicht von ihr ausgebildet worden waren.
Als der im Stammlager der Roten Krieger noch verbliebene Kommunikationsoffizier das Komgerät in ihrem Quartier summen ließ, um Nadhari mitzuteilen, dass ein Komgespräch für sie eingegangen sei, und sich zu erkundigen, ob er es zu ihr durchstellen solle, fragte sie zunächst: »Der Admiral, nehme ich an?«
»Eigentlich nicht, Frau Oberst, nein«, antwortete der Offizier.
»Es ist jemand anderes. Aber der Admiral hat gestattet, dass Ihnen die Komverbindung weitervermittelt wird und Sie mit den Leuten reden dürfen, sofern Sie es wollen.«
»Stellen Sie schon durch«, befahl sie barsch. Seit dem Tag, an dem Ganoosh jenes Komgespräch mit Ikky geführt hatte, hatte sie mit niemandem in der Außenwelt mehr Kontakt aufnehmen dürfen und war unter Aufsicht gestellt worden.
Ikky hatte zwar die ganze Zeit so getan, als wäre überhaupt nichts Besonderes los, doch ihr war natürlich nicht entgangen, dass er plötzlich mit der Vorbereitung irgendeines Großeinsatzes beschäftigt war, den er vor ihr verheimlichte.
Sie hatte das böse Spiel dennoch mitgemacht und versucht, sich so unbeteiligt wie möglich zu geben, während sie mit sämtlichen Sinnen auf eine Gelegenheit gelauert hatte, das Blatt wieder zu wenden, zu fliehen oder zumindest eine Nachricht abzusetzen, um die Kendoros von der unheiligen Allianz zwischen Ganoosh und Ikwaskwan in Kenntnis zu setzen.
Zum Glück musste sie die Fassade eines folgsamen Soldaten und vergleichsweise gefügigen Weibchens nicht allzu lange aufrechterhalten, weil Ikky nicht lange danach mit fast allen Truppen und Schiffen zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen war.
Sie bestätigte die Freigabetaste ihres Komgeräts. »Oberst Kando?« Die unsichere Frage kam von einem jungen Sternenfahrermadchen, an das Nadhari sich noch von dem Überfall der Khleevi auf Rushima her erinnerte.
»Ja?«
»Wir würden uns gerne Ihrer Dienste als Kampfausbilderin versichern, bitte«, sagte das Mädchen.
Nadhari sah, wie sich eine zweite Gestalt auf den Komschirm drängte. Als das Gesicht richtig zu sehen war, erkannte sie voller Erleichterung, dass es Pal Kendoro gehörte.
Ihr war natürlich klar, dass Ikky das Gespräch von seinen Vertrauensleuten überwachen ließ, deshalb überlegte sie krampfhaft, was sie ihren Freunden auf dem Schirm sagten könnte, um sie über die Lage hier zu informieren, ohne dass man ihr die Verbindung mitten im Wort kappte.
»Hallo, Pal, lange nicht gesehen. Betreibst du heutzutage etwa eine Kindertagesstätte?«, frotzelte sie.
»Das weißt du doch besser, Nadhari«, verneinte Pal. »Hör zu, wir sind hergekommen, weil wir deine Hilfe in Anspruch nehmen möchten, und auch die des Admirals, wenn er verfügbar ist. Wir würden gerne bei euch landen und von Angesicht zu Angesicht mit dir reden, wenn das möglich ist.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Pal. Es steht mir im Augenblick nicht frei, Gäste zu empfangen, und der Admiral ist sowieso nicht da.«
»Wie dem auch sei, wir sind den ganzen weiten Weg hierher gekommen, nur um mit dir zu reden, und werden jetzt nicht einfach wieder unverrichteter Dinge abziehen. Wir bitten daher dringend um Landeerlaubnis. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Acorna und ihr Volk in Gefahr schweben. Das Haus Harakamian hat uns bevollmächtigt, deine Dienste und die des Admi…«
»Dies ist kein guter Zeitpunkt, um darüber zu reden, Pal«, fiel ihm Nadhari ins Wort. »Der Admiral weiß bereits…«
Ihre Verbindung wurde plötzlich unterbrochen, und stattdessen schaltete sich die geschmeidige, freundliche Stimme von Feldwebel Erikson ein: »Landeerlaubnis gewährt, Haven. Kommen Sie einfach rein, und bringen Sie Ihr Schiff vorsichtig runter. Wir haben derzeit jede Menge freie Plätze.«
Verdammt! Wie konnte sie die Haven jetzt noch warnen?
Erfreut und überrascht stellte sie fest, dass sich die Irisblendentür ihres Quartiers auf ihre Berührung hin wie gewohnt öffnete, also hatte man sie nicht unter Hausarrest gestellt. Hinter dieser ganzen Geschichte steckte irgendeine Falle. Das wusste sie genau, und wenn sie irgendwie verhindern konnte, dass die Haven da hineintappte, dann musste sie es auch versuchen. Sie spurtete zum Haupthangar hinüber.
Das Hangardach stand offen, und die Haven setzte bereits zur Landung an, noch ehe sie damit fertig war, ihren Raumanzug und die Schwerkraftstiefel überzuziehen. Sie winkte dem Schiff durch das Panoramafenster zwischen dem Hangar und der Personenschleuse mit beiden Armen zu und versuchte, die Haven dazu zu bringen, wieder abzudrehen. Doch natürlich verstand man sie nicht. Dort glaubte man wahrscheinlich, dass sie das Schiff begrüßen wollte. Verdammt! Wenn sie einen Felsbrocken gehabt hätte, hätte sie ihn jetzt geworfen. Die Haven setzte schließlich so vertrauensselig auf wie ein Kind, das sich auf dem Schoß seiner Mutter niederließ.
Unmittelbar danach tauchte wie durch Zauberei plötzlich Ikwaskwans Flaggschiff über dem Raumschiffdock auf. Es hatte die ganze Zeit über in seinen Tarnschirm gehüllt dort gewartet, begriff sie. Wahrscheinlich hatte Ikky die anfliegende Haven schon aus einiger Distanz geortet und sich dann auf die Lauer gelegt. Offenbar hatte er irgendetwas mit der Haven vor, denn Erikson hätte den Sternenfahrern natürlich niemals eine Landeerlaubnis erteilt, wenn ihm nicht Ikky ausdrücklich den Befehl dazu gegeben hätte.
Was führte der Admiral nun schon wieder im Schilde?
Im Landehangar gab es einen riesigen Komschirm mit Lautsprechern. Dieser leuchtete jetzt auf und zeigte Ikkys Gesicht. Nadhari setzte ihren Helm auf und trat durch die Schleuse in die Raumschiffhalle hinaus. Trotz ihres massigen Druckanzuges fühlte sie sich irgendwie nackt, so ganz ohne Feuerwaffe.
Das riesenhafte Gesicht auf dem Komschirm blickte auf sie nieder, als wäre sie ein Bakterium unter dem Mikroskop.
»Nadhari, du hast mir ja gar nicht gesagt, dass du Besuch erwartest. Sonst hätten wir doch versucht, schon früher zu Hause zu sein. Heute ist wirklich mein Glückstag! Ich werde dich wieder sehen, und obendrein noch diese tapferen Sternenfahrerkinder.«
Tapfer? Oh Gott, wenn er sich so verlogen freundlich gab, dann war es auch um die Kinder geschehen. Doch wenn er sein falsches Spiel tatsächlich weiterhin durchziehen wollte, dann konnte sie ebenso gut versuchen, noch einen eigenen Beitrag beizusteuern. Ihr Helmmikrofon funktionierte und hatte Funkkontakt mit dem Komschirm. »Das kam ganz überraschend. Sie sind im Auftrage des Hauses Harakamian hier, um sich unserer Dienste zu versichern. Sie haben uns ein bemerkenswertes Angebot mitgebracht, Admiral«, erklärte sie, und hoffte fast, dass ihr Versuch tatsächlich klappen könnte.
Geld war schließlich Ikkys Muttersprache. Womöglich konnte ihn das Haus Harakamian ja bestechen und Ganoosh überbieten?
Doch als das Flaggschiff neben der Haven zur Ruhe gekommen war und sich das Dachschott des Hangars über beiden Raumern geschlossen und die Halle sich wieder mit Luft gefüllt hatte, betätigte Ikky vom sicheren Cockpit seines Schiffes aus eine Waffe, deren Existenz Nadhari nicht einmal geahnt hatte. Die Atmosphäre in der Landhalle wurde plötzlich sonderbar grünlich, und ein stark giftig riechender Nebel füllte nach und nach die gesamte Halle.
Voll entsetzter Faszination starrte sie auf die Schwaden, als Erikson und fünf weitere Söldner aus dem Basisinnern in die Luftschleuse traten. Sie trug einen klobigen Raumanzug und war in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die sechs Neuankömmlinge trugen lediglich Atemschutzmasken und waren bewaffnet. Einem von ihnen riss sie die Maske herunter, und Erikson brach sie ein Bein, trotzdem schosen sie nicht auf sie. Stattdessen wurde sie von dreien der Söldner gepackt und festgehalten, während der Vierte ihr den Helm abnahm. Dann richtete er seine Waffe auf sie und drückte ab. Als der Betäubungsstrahl sie traf, war das Letzte, das sie sah, bevor die Welt um sie herum schwarz wurde, Eriksons selbstgefälliges Grinsen.
Sie war nicht bei Bewusstsein, als Ikwaskwans Leute die Haven enterten, nachdem Rote Krieger mit Atemschutzmasken ihre Hauptschleuse aufgebrochen hatten, damit das Gas in der Landehalle auch ins Innere der Haven dringen konnte. Einer nach dem anderen wurden die Sternenfahrer aus ihrem eigenen Schiff herausgetragen und an Bord des Admiralraumers verbracht, während Nadhari von Ikwaskwan höchstpersönlich sanft aufgehoben und später ebenso sanft auf der Koje in seinem Quartier an Bord des Flaggschiffs angekettet wurde.
Davon bekam sie ebenfalls nichts mit. Danach brach das Flaggschiff mitsamt der unerwartet hinzugekommenen menschlichen Fracht wieder zu Ganooshs Stützpunkt im Linyaari-Raumsektor auf. Die Haven blieb allein im Hangar zurück, einsam und augenscheinlich leer.
Sechzehn
»Satansbraten!«, schrie Becker auf, und der Kater machte einen Satz rückwärts, als ob er sich verbrüht hätte. Doch dem Vierbeiner fehlte nichts. Überhaupt nichts. »He, Kumpel, ich hab mächtig Prügel bezogen, und soweit ich sehen konnte, hast du auch ganz gut was abgekriegt. Warum tut uns dann nichts weh? Und falls wir schon gestorben und im Himmel sein sollten, dann ist es hier oben aber um einiges dunkler, als in der Werbung behauptet wird.«
»Sahtiisbatiin?«, wunderte sich eine Stimme. Die Stimme des Katers war es nicht. Der war gerade vollauf damit beschäftigt, sich inbrünstig zu putzen und argwöhnisch nachzuprüfen, ob noch alles an ihm in unversehrtem Zustand war. Eine graue, sich ungelenk bewegende, klobige Gestalt tauchte auf und beugte sich über Becker. Das Gesicht war lang gestreckt, und die Stirn machte einen eingebeulten Eindruck. Verfilztes, verdrecktes Haar umrahmte das Antlitz. Die Gestalt deutete auf den Kater.
»Nicht doch, Mann, Satansbraten. Satans Braten. Es ist ein Scherz.«
»Sahtas Bahtiin.« Die Gestalt bemühte sich nach Kräften, doch ihre Zunge schien ihr nicht recht gehorchen zu wollen.
»So ungefähr. Aber wie gesagt, eigentlich ist es nur ein Scherz. Sicher, man könnte auch sagen, ein Schimpfwort. Aber bestimmt nicht böse gemeint. Eher irgendwie als Spitzname.
Du weißt schon, wie Teufelsviech, Höllenkröte, Kratzbürste, so in der Art. Als ich SB hier – oder Sahtas Bahtiin, wenn du darauf bestehst – damals gefunden habe, hat er sich aufgeführt wie der Leibhaftige und mich ganz schön malträtiert, dabei wollte ich ihm doch nur helfen. Na ja, und so bin ich halt auf den Namen gekommen. Dem hat er eigentlich seither auch alle Ehre gemacht. Obwohl, wenn man ihn etwas näher kennt…
aber lassen wir das.«
Die Gestalt streichelte SB über den Rücken, und der Kater richtete sich auf, um sich der zertrümmert und missgestaltet wirkenden Hand entgegenzurecken. Becker hatte vorhin schon gedacht, dass mit dieser Hand irgendetwas nicht stimmte, und jetzt sah er, dass jedem Finger ein Gelenk fehlte und dass die Hand nicht genug Finger aufwies. Die Füße des Burschen sahen auch ganz verwachsen aus. Sie ähnelten eher Ziegenfüßen – Spalthufen – als den Füßen eines Menschen.
»Sahtas Bahtiin Khleevi?«, wollte die Gestalt wissen – ein Kerl, entschied Becker, der gesamten Körperhaltung und Statur des Wesens nach zu schließen.
»Nein, Sahtas… Satansbraten ist nicht, was auch immer du gesagt hast. Satansbraten ist ein Kater. Ein Makahomanischer Tempelkater, um genau zu sein. Makahomanische Tempelkatzen sind die reinrassigen Nachfahren eines uralten Katzengeschlechts, das irgend so ein uralter Makahomanischer Katzengott erschaffen hat. Sie sind die Beschützer der Tempel von… äh… Makahoma. Deshalb sind sie auch so wilde Kämpfer. Ich schätze, dass SB die Condor inzwischen irgendwie als seinen Tempel betrachtet und mich – ich muss für ihn dann wohl so was wie der Papst gewesen sein –
mindestens! Deswegen ist der kleine Bursche auch mitten in Kislas Bande reingestürmt, obwohl er sich doch mühelos hätte in Sicherheit bringen können. Braves Kätzchen«, lobte er und tätschelte SB, der seinerseits jedoch nur ein wenig knurrte.
Erst in diesem Augenblick bemerkte Becker, dass der merkwürdige Bursche ein kleines, kastenförmiges Gerät besaß, das er zwischen sich und Becker gelegt hatte. Becker berührte es. »Was ist das?«
Sein Gegenüber deutete auf Beckers Mund, verknotete seine Finger und warf das Schattenbild einer aufgeregt schnatternden Ente an die Wand, die vom flackernden Schein des in – der Höhle? – brennenden Feuers beleuchtet wurde. Vermutlich war es eine Höhle, in der sie sich befanden. Aber wann hatte der Bursche eigentlich das Feuer angezündet? Becker konnte sich an kein Feuer erinnern. Vielleicht hatte er sich ja doch noch nicht hundertprozentig erholt. Anscheinend hatte er immer noch Aussetzer durch Ohnmachtsanfälle.
Also – Beckers Mund, der schnatterte – oder vielleicht auch sprach – und dann machte der Mann mit beiden Händen eine schwungvolle Bewegung, die unmissverständlich einen Austausch bedeutete – und deutete schließlich auf seinen eigenen Mund. »Linyaari.«
»Ist das dein Name? Linyaari? Ich heiße Becker…. Ich.
Becker«, wiederholte er und kam sich dabei vor wie die Hauptfigur aus einem dieser uralten Meisterwerke des klassischen Films: Tarzan. Er deutete auf sich: »Becker.« Auf den Kater, der sich neuerlich erhob, um sich wieder streicheln zu lassen: »Satansbraten.« Wieder auf sich: »Becker.« Dann deutete er noch einmal auf den Mann und fragte: »Linyaari?«
Jetzt bewegte der Mann beide Hände und beide Arme gleichzeitig und machte eine ausladende Geste, die wohl entweder die ganze Höhle oder womöglich den ganzen Planeten darstellen sollte. »Linyaari.« Dann deutete er auf sich.
»Aari.«
»Ari? Du heißt Ari? Hallo, Ari. Jonas Becker. Vielen Dank auch für die Rettung.«
»Viiliin Thaank!«, erwiderte Aari. »Haalo, Biickir.« Feuchte Rinnsale zogen sich durch den Schmutz auf seinem Gesicht und glitzerten im Feuerschein. »Haalo, Sahtas. Bahtiin.« Der Kater kletterte auf Aaris überkreuzte Beine und begann zu schnurren.
Im Laufe der Zeit – wie viel Zeit genau verstrich, vermochte Becker allerdings nicht zu sagen – verbesserten sich Aaris Kenntnisse der bei den Menschen gebräuchlichen interstellaren Verkehrssprache immer mehr. Aari ermutigte Becker, möglichst viel zu sprechen, und fügte die neuen Worte, die Becker dabei ins Spiel brachte, seinem Wortschatz erstaunlich schnell hinzu. Für Becker allerdings war Aaris Übersetzungs-und Sprachlerngerät – denn darum handelte es sich bei dem kleinen Kasten, den Aari gleich zu Anfang hervorgezaubert hatte – keine sonderliche Hilfe bei seinen Bemühungen, sich im Gegenzug Linyaari anzueignen. Wobei dieses Wort, wie Becker mittlerweile herausgefunden hatte, sowohl Aaris Muttersprache als auch das Volk bezeichnete, dem er angehörte, jenes Volk, das einst auf diesem Planeten gelebt hatte.
Der Groschen fiel endlich, nachdem Becker ausreichend Schlaf nachgeholt hatte, um wieder leidlich klar denken zu können. Auf diesem Planeten hier hatte er die Hörner gefunden. Jene Hörner, von denen Reamer und auch andere anfangs irrtümlich angenommen hatten, dass eines davon ein ganz besonderes Horn wäre – das der Dame Acorna, des Einhornmädchens. Dies musste ihr Volk sein. Die Linyaari.
Das gleiche Volk wie das von Aari.
Abgesehen davon, dass dieser Bursche hier kein Horn auf der Stirn hatte. Vielleicht hatten nur Linyaari-Frauen Hörner?
Unwahrscheinlich – ausgesprochen ungern betrachtete sich Becker die Verletzung auf Aaris Stirn etwas genauer. Dann erbrach er, was von der letzten Hand voll Katzenfutter noch übrig gewesen war. Na großartig, bald würde er wohl auch noch Haarbälle auswürgen.
Was er beim Betrachten von Aaris Stirn unverkennbar gesehen hatte, war eine Stelle, an der wahrscheinlich doch einmal ein Horn gesessen hatte. Jetzt war da nur noch ein tiefer, teilweise vernarbter Krater, der den Burschen so aussehen ließ, als ob seine Stirn gewaltsam eingedellt worden wäre.
Aari bemerkte seine Blicke und zog sein verfilztes Haar so tief über die Wunde herab, wie es nur irgend ging. Er schüttelte den Kopf und weinte wieder.
»Aari, Kumpel, was ist hier geschehen? Was ist mit dir passiert?«
»Khleevi«, antwortete er und machte dann dort, wo sein Horn hätte sein müssen, ein paar Handbewegungen, die Becker erneut einen heftigen Brechreiz verursachten. Nur hatte er jetzt nichts mehr im Magen, das er hätte erbrechen können, genau wie es da nichts mehr auf Aaris Stirn gab, mit dem irgendjemand ihn hätte foltern können.
»Wie zum Teufel bist du bloß entkommen? Wie hast du überlebt?«, fragte Becker nach.
»Vhiliinyar«, war das einzige Wort von Aaris Antwort, das Becker eindeutig hörte, und danach verstand er den Rest dessen, was geschehen war, auf irgendeine komische Weise, ohne sich erinnern zu können, dass Aari etwas gesagt hätte.
Zuerst glaubte Becker schon, dass Aaris
Universalübersetzerkasten womöglich
doch
in beide
Richtungen funktionierte. Dann jedoch ließ irgendetwas ihn begreifen, dass er und Aari vielmehr wechselseitig ihre Gedanken lasen – und die eines dritten Geistes ebenfalls.
Ganz vorsichtig hakte SB eine einzelne Kralle tief in Beckers Bein, was Becker über jeden Zweifel erhaben deutlich machte, dass SB ihrer beider Gedanken sowohl hören als auch verstehen konnte und ihnen auch Gedanken von sich zu übermitteln im Stande gewesen wäre, wenn er Wert darauf gelegt hätte. Doch der Kater bevorzugte eben die Körpersprache. So wie es aussah, wollte SB schlicht, dass Becker endlich den Versuch machte, die Katzensprache zu erlernen. Es war wahrscheinlich unter der Würde einer Katze, die Sprache der Menschen zu sprechen. Und dann traf es ihn wie ein Blitz.
»He, du bist ein Telepath! Und wir sind auch welche, wenn wir mit dir zusammen sind!«
Aari schüttelte den Kopf und hob eines der Hörner auf, machte eine fließende Bewegung mit seinen Händen und eine Austausch bedeutende Geste zwischen seinem Kopf, dem von Becker und jenem von SB. Dann deutete er auf seine Stirn, machte mit der Hand eine wischende, verneinende Geste und ließ den Kopf sinken.
»Wir verstehen einander also nur wegen der Hörner telepathisch, wie?«, fragte Becker.
Aari seufzte tief, schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass dies nicht der Fall war, zuckte die Achseln und blickte Becker ratlos an. Wieder hakte SB seine Kralle in Beckers Bein und fixierte ihn abermals mit einem starren Blick, der Beckers mittlerweile gehörig durchgerütteltem Verstand sagen zu wollen schien, dass SB seine Gedanken schon immer gelesen hatte; nur kümmerte ihn einfach nicht sonderlich, was Becker dachte. Und dass nun auch er selbst die Gedanken des Katers zu lesen vermochte, schätzte Becker, lag wohl schlicht daran, dass – nun, dass in Wirklichkeit auch er SBs Gedanken immer schon gelesen hatte, sich dessen jedoch erst jetzt bewusst geworden war, weil er einfach nichts Besseres zu tun hatte.
Aari lächelte ein wenig, woraus Becker schloss, dass der Linyaari seine Überlegungen mitverfolgt hatte.
Aari übermittelte ihm telepathisch in paar behutsame Bilder, die ihn mit seinem Horn zeigten, wie er sich wortlos mit anderen Leuten verständigte, die genau wie er aussahen. Also war er doch ein Telepath gewesen, als er sein Horn noch besessen hatte. Auch gut.
Becker fragte kein zweites Mal nach, was mit dem Horn ihres Lebensretters passiert war. Aari jedoch zeigte ihnen mit grimmiger Entschlossenheit von sich aus, wie es gewesen war, als die Khleevi ein Ende mit ihm zu machen beschlossen hatten und ihm, da sein Leib schon zerschunden war, nun sein Horn herausschnitten, auf eine besonders langsame und schmerzhafte Weise. Dann machte er einen Sprung zurück, um ihnen zu zeigen, wie er in Gefangenschaft geraten war. Aari war während der Khleevi-Invasion auf Vhiliinyar zurückgeblieben, um seinem Bruder zu Hilfe zu eilen, der schwer verwundet hier in dieser Höhle festgesessen hatte – viel zu weit vom Raumhafen entfernt, als dass sie noch Hilfe von den während der großen Evakuierung mit dem gesamten Rest ihres Volkes abfliegenden Schiffen hätten herbeiholen können.
Und auch Aari hatte ihn nicht rechtzeitig erreichen können, um ihn zu heilen.
Die Khleevi hatten Aari erwischt, als er gerade draußen unterwegs war, um für die Bergung seines Bruders ein Seil zu beschaffen. Dann hatten sie mit den langen, langen Folterungen ihres Gefangenen begonnen, hatten ihn die ganze Zeit mit Sonden und immer wieder neuen Sonden malträtiert, ganz als ob sie sich an seiner Qual weiden wollten. Sie hatten von früheren, ihnen von den Linyaari entgegengesandten Diplomatenschiffen ein paar dieser Übersetzerkästen erbeutet –
LAANYE nannte Aari die Geräte – und sie dazu eingesetzt, um sich mit ihm zu verständigen, um ihn zu verhören, wobei sie jedoch letztlich wenig erfuhren, was von irgendeinem Nutzen für sie sein konnte. Jenes Wissen hingegen, das sie möglicherweise wirklich aus ihm herausholen wollten, hatte er nicht preisgegeben.
Über seinen Bruder oder den neuen Planeten, den sein Volk gefunden hatte, hatte Aari nichts verraten. Die alles andere in seinem Verstand überlagernden Gedanken waren sein unendliches Leid gewesen. Sein Bruder musste seinen Verletzungen inzwischen erlegen sein, und so trauerte er seinetwegen und trauerte umso mehr, je schlimmer die Khleevi ihn misshandelten, genau wie auch seinen Planeten. Er trauerte um den Verlust seines Volkes, die gleichzeitige Zerstörung seines eigenen Leibes und des Leibes seiner Heimatwelt, ihn quälten seine Schmerzen und die Erinnerungen an bessere Zeiten. Und die ganze Zeit über standen die Khleevi daneben, machten sich lustig über ihn und weideten sich an der methodischen Verwüstung der Schönheit und Lebenskraft eines ganzen Planeten und eines seiner Kinder, des Einzigen, dessen sie habhaft geworden waren.
»Haben sie auch all diese anderen Leute umgebracht?«, wollte Becker wissen. »Ich habe doch all diese Hörner gefunden.«
»Nein«, erklärte Aari, was Becker zutiefst erleichterte, und ging dann mit einem brennenden Holzspan als Leuchte tiefer in die Höhle hinein. Der hintere Teil war über und über mit Hörnern und Knochen angefüllt, die, wo immer es möglich gewesen war, sorgsam zu einzelnen Skeletten zusammengelegt waren. »Das hier sind die Gebeine meiner Vorfahren. Als du das erste Mal hier gelandet bist, hast du unseren Friedhof entdeckt. Die Restenergie der Hörner hat diesen einen Flecken am Leben erhalten, während der Rest der Welt unterging. Die Khleevi haben von diesem heiligen Ort nie erfahren, und ich habe ihnen nichts erzählt. Als sie mich erwischt haben, war ich weit genug von hier entfernt.
Als die zunehmende Instabilität von Vhiliinyar, die sie mit ihren Zerstörungen ausgelöst hatten, sie wieder von hier vertrieb, ließen sie mich zurück – sie dachten, ich wäre bereits tot. Ich habe mich dann hierher zurückgeschleppt und bin zwischen den Hörnern auf dem Gräberfeld
zusammengebrochen. Im Schlaf heilten die Hörner die meisten meiner Wunden – du kannst dir nicht vorstellen, in welchem Zustand ich vorher war. Ich hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einen Liinyar. Aber die Khleevi hatten mir irgendetwas angetan, das verhinderte, dass die Hörner mich vollständig heilen konnten, wenn auch umgekehrt nichts, was die Khleevi getan haben, die Heilkraft der Hörner völlig zu unterbinden vermochte.
Und so…« Seine Augen rollten ein wenig nach oben, dorthin, wo einst sein Horn gewesen war. »Und so hat selbst die Heilkraft der Hörner mich nicht völlig wiederherstellen können, denn die Heilkraft der Linyaari liegt nicht allein in ihren Hörnern, sondern auch in der lenkenden Intelligenz und dem Mitgefühl des Heilers. Nach all den Folterungen, die mir die Khleevi angetan hatten, war ich nicht mehr im Stande, aktiv an meiner Heilung mitzuwirken. Die Hörner haben daher lediglich wieder das zusammengefügt, was zerbrochen war.
Mit Ausnahme meines eigenen Horns. Selbst sämtliche Hörner unserer Toten zusammengenommen vermochten nicht, mir mein eigenes Horn zurückzugeben.
Dennoch, meine Heilung war weit genug gediehen, dass ich ein paar der Hörner aufsammeln konnte, die ganz zuoberst auf dem Boden lagen, und zu dieser Höhle zurückkehren konnte.
Aber die Khleevi hatten mich lange festgehalten, und mein Bruder hatte lange verletzt in der Höhle gelegen und auf meine Rückkehr gewartet, darauf, dass ich käme, ihn zu retten und zu heilen. Er war daher schon bei den Ahnen, selbst die Hörner konnten nichts mehr für ihn tun.«
»Aber du kannst auch ohne dein Horn immer noch Gedanken lesen und all das, richtig? Weil du schon vorher ein Telepath warst, und…«
»Die Hörner sind wie… ähm… Dinger auf Geräten zur drahtlosen Kommunikation?« Aari hielt die Hände hoch, um mit ihnen eine Stabantenne anzudeuten, und Becker nannte ihm das gesuchte Wort. »Sie strahlen unsere Gedanken ab, die eigentliche Fähigkeit dazu liegt jedoch in den Linyaari. Ohne mein Horn kann ich mich telepathisch nicht bemerkbar machen. Ich weiß nicht, wie. Aber von so vielen, vielen Hörnern umgeben, habe ich viele Antennen. Und du hast hier auch Antennen, und Sahtas Bahtiin auch.«
»Ich glaube, ich verstehe allmählich«, meinte Becker. »Aber sag mir doch, warum du dich nicht bemerkbar gemacht hast, als ich das erste Mal hier war?«, wunderte er sich. »Ich hätte dir doch geholfen. Ich hätte dich zu deinem Volk bringen können, auf ihrer neuen Welt.«
»Du hast die Gräber unserer Vorfahren geschändet und beraubt«, erklärte Aari mit einem kleinen Achselzucken. »Ich dachte, du bist womöglich ein Khleevi, nur mit einer anderen Gestalt. Außerdem empfinde ich… Scham… über mein Aussehen. Ich möchte mein Volk nicht wieder sehen… nun, genauer gesagt, möchte ich nicht, dass sie mich so sehen, wie ich jetzt bin.
Sie
würden vor meinem Anblick
zurückschrecken. Aber ich konnte nicht zulassen, dass die sterblichen Überreste unserer Vorfahren noch einmal geschändet würden. Als du wieder abgeflogen bist, habe ich deshalb die Gebeine ausgegraben und hierher, an einen neuen Ort, umgebettet.«
»Also deshalb waren dort keine Hörner mehr. Weißt du, Aari, es ist sehr gut, dass du das getan hast – wegen dieses Görs, das du ja gesehen hast, als sie mich als Fußball missbraucht hat. Sie ist ganz wild auf die Hörner, sie hat irgendetwas mit ihnen im Sinn, und ich kann dir beinahe garantieren, dass es nichts Erfreuliches ist. Nur gut, dass dein Heimatplanet hier rechtzeitig beschlossen hat, ihr mit ein paar Explosionen Feuer unterm Hintern zu machen…«
Aari deutete erneut auf sich selbst.
»Du hast das gemacht?«, staunte Becker. »Wie?«
Aari ging in den hinteren Bereich der Höhle und holte dort etwas hervor, das augenscheinlich eine gemeingefährliche Waffe war. Er deutete darauf, sagte: »Khleevi«, machte ein detonationsähnliches Geräusch und legte das Gerät danach wieder weg.
»Übrigens, gibt es hier irgendwo vielleicht etwas zu essen?«
»Oh, aber natürlich. Entschuldige bitte meine grobe Unhöflichkeit.« Aari beugte sich zu Boden, es gab ein rupfendes Geräusch, und dann kehrte er mit einer großen Hand voll Gras zurück.
SB drückte es besser aus, als Becker das vermocht hätte. Er sah das Gras nur kurz an und miaute jämmerlich.
Aari schien am Boden zerstört, und abermals erhaschte Becker den Eindruck überwältigender Scham.
»Du wirst verhungern, weil ich dich nicht mit dem versorgen kann, was du zum Überleben brauchst. Sahtas Bahtiin wird auch verhungern«, entsetzte Aari sich.
»Nicht, wenn wir etwas dagegen unternehmen können. Wir müssen nur einen Weg finden, um irgendwie wieder in die Condor reinzukommen. Auf meiner Fernbedienung hat unser Schätzchen Kisla ja leider einen Stepptanz hingelegt.«
Die drei kehrten zu dem ehemaligen Linyaari-Gräberfeld zurück. Das Gras dort war bereits im Absterben begriffen, wurde ohne die Leben spendende Kraft der Hörner überall braun und brüchig. Becker fand die Bruchstücke seiner Fernbedienung genau dort wieder, wo Kisla sie hatte liegen lassen. Das Gerät war so vollständig zertrümmert, dass nicht einmal er es mehr zu reparieren vermochte.
Versuchsweise probierten sie auch ein paar Hörner durch, doch erwartungsgemäß schienen selbst Hörner bei elektronischem Gerät machtlos zu sein. Nun denn, eigens für solche Notfälle hatte Becker ja immer noch ein paar alternative Zugangsmöglichkeiten parat. Keine einfachen, keine bequemen, doch er hatte sie.
Indem er sich auf Aaris Schultern stellte, bekam er eine Heckflosse der Condor zu fassen und konnte sich daran bis in Reichweite eines speziellen, in der Nähe der Hauptschleuse gelegenen Bereichs der Außenhülle hochhangeln.
Er berührte die Stelle und pfiff gleichzeitig die ersten Takte von »Dixie«, was sein Öffnungskode war. Der hier von außen unsichtbar in die Schiffshülle eingebaute Tonumsetzer verwandelte Beckers Pfeiftöne in einen digitalen Code. Danach brauchte er sich nur noch wieder schnell genug an der Heckflosse entlang zurückzuhangeln und sich zu Boden fallen zu lassen, ehe die Robo-Hebebühne sich aus dem der Schleuse vorgebauten Schacht auf seinen Schädel herabsenkte.
Becker und SB kletterten an Bord und fielen mit Heißhunger über die Kombüse her. Danach schnappte er sich die Ersatz-Fernbedienung, die er in einem Ventilationsschacht versteckt hatte, und schließlich kehrten er und SB mit einem Beutel voll gefriergetrocknetem Gemüse wieder zu Aari auf den Planetenboden zurück.
Der Liinyar war gerade emsig damit beschäftigt, sorgfältig gehäufte Armladungen Gebeine zur Condor zu schleppen.
»Ich muss meine Scham endlich überwinden und euch bitten, mich nach Narhii-Vhiliinyar zu bringen, der neuen Heimat meines Volkes. Ich muss die sterblichen Überreste unserer Vorfahren von hier fortschaffen. Diese Welt ist inzwischen sogar für die Toten kein sicherer Ort mehr.«
Für Markel waren die Luftschächte der Haven fast so etwas wie seine Heimat. Hier, in diesem Labyrinth aus Kriechgängen, Ventilationstunneln und Zu- sowie Abluftkanälen hatte er sich versteckt und durch das ganze Schiff bewegt, nachdem die palomellaischen Verbrecher seinen Vater ermordet hatten.
Ob sie nun eine Kampfausbildung genossen haben mochten oder nicht, einen Vorteil hatten die Sternenfahrer gegenüber den Roten Kriegern allemal: Sie kannten ihr Raumschiff inund auswendig. Als offenkundig geworden war, dass sie in eine Falle getappt waren, hatte Markel als Versteck für die jüngeren Kinder und die ›Gäste‹ der Haven natürlich gleich das Lüftungssystem vorgeschlagen. Also verkrochen sich er, Johnny Greene und Khetala, zusammen mit der Reamer-Familie und allen Sternenfahrern unter fünf Jahren, in größter Eile in den voluminösen, von Deck A nach Deck D führenden Haupt-Luftschächten, die man ohne größeren Aufwand vom Rest des Schiffes abschotten und behelfsmäßig mit einer eigenen Sauerstoffversorgung ausstatten konnte.
Von allen, die sich dort versteckten, war sich allein Markel bewusst, dass in diesem Bereich des Ventilationssystems seinerzeit viele der Meuterer den Tod gefunden hatten, als sie versucht hatten, ihm, Acorna, Calum Baird und Dr. Hoa durch die Luftschächte zu folgen, nachdem Markel Acorna aus ihrer Gefängniszelle befreit hatte. Die Palomellaner waren hier durch eben jenes Giftgas umgekommen, das sie eigentlich Markel und seinen Freunden zugedacht hatten. Als er nun, flach an den Boden gedrückt, ohne zu sprechen und vor lauter Anspannung sogar kaum atmend, in dem horizontal verlaufenden Belüftungstunnel lag, zusammen mit vielleicht hundert anderen Leibern, die sich in der gleichen Weise über die ganze Länge dieses Untersystems der
Luftversorgungsanlage verteilt hatten, vermeinte er, den Gestank des damals hier eingesetzten Giftgases immer noch riechen zu können. Doch natürlich war das Unsinn. Es war viele Monate her, seit sie die Palomellaner überwältigt, vergast oder in den Weltraum gestoßen hatten.
Er wartete auf die Schreie seiner Schiffskameraden unter ihm
– auf die Stimmen von ‘Ziana und Pal, die Befehle brüllten, eine Kapitulation anboten, irgendetwas. Ihre Gesichter waren auf dem Komschirm zu sehen gewesen, als sie mit Nadhari Verbindung aufgenommen hatten, deshalb konnten sie sich nicht auch vor den Angreifern verstecken. Sonst hätten ihre Gegner vielleicht erkannt, dass sie im Inneren des Raumschiffes gar nicht alle Sternenfahrer vorgefunden hatten.
Doch er hörte nur sehr wenig von unten zu sich heraufdringen
– keine Schreie, keine Rufe, nur Seufzer und leise schlurfende Geräusche, bevor schließlich die Stiefel der Feinde über die Decks der Haven stampften und sich danach mit noch schwererem Tritt wieder zurückzogen.
Wenig später spürte er, wie der Lärm eines eilig startenden Raumschiffs den Boden der Landehalle draußen erbeben ließ.
Von unmittelbar unter ihm jedoch war immer noch kein Laut zu hören.
Markel hatte sich strategisch günstig über einigen Ausrüstungsschränken auf die Lauer gelegt, ein wenig abseits von den anderen, sodass er, falls man ihn entdeckte, glaubhaft behaupten könnte, dass er allein sei. Oder dass er, falls man die anderen entdeckte, umgekehrt diesem Schicksal entgehen und somit seinen Kameraden helfen könnte, zu fliehen.
Johnny Greene lag unmittelbar über seinem Dienstraum, der Rechen- und Navigationszentrale der Haven. Khetala, Reamer und ein paar der älteren Kinder hatten sich gleichmäßig zwischen den jüngeren Kindern verteilt, um sie ruhig zu halten. Nicht dass es selbst unter den Allerjüngsten viele gegeben hätte, die nicht zu kämpfen und auch in Belastungssituationen außerordentlich besonnen zu handeln vermocht hätten. Doch die jüngeren Kinder waren nun einmal zugleich die Kleinsten und somit für die mehr als ausgewachsenen Roten Krieger auch am leichtesten zu überwältigen.
Markel holte tief Luft, hielt den Atem an und öffnete die luftdichte Wartungsklappe im Boden des Luftschachts, die den Zugang in den Raum unter ihm darstellte. Der beißende Gestank irgendeines Gases stieg empor, drang ihm in die Nase, ließ ihm das Wasser in die Augen schießen und machte ihn sogar mit angehaltenem Atem schläfrig. Es gelang ihm, die Wartungsklappe schnell wieder zu verschließen, ehe noch mehr Gift hereindrang. Dann stieß er die angehaltene Luft erleichtert wieder aus und wartete ab, bis seine Benommenheit nachließ, wobei er sich gleichzeitig überlegte, was er als Nächstes unternehmen sollte.
Er wusste nicht, um was für eine Art Gas es sich handelte –
seiner eigenen Reaktion darauf nach zu schließen, war es dazu gedacht, die Betroffenen zu betäuben, wenn nicht gar umzubringen. In den Schränken des Raumes unter ihm lagerten unter anderem auch Atemschutzmasken. Wenn es ihm also gelang, den Atem lange genug anzuhalten, um hinunterzusteigen, sich eine dieser Gasmasken zu besorgen und sie anzulegen, dann könnte er sich welche für die anderen besorgen. Er könnte auch nach dem Verbleib ihrer Schiffskameraden forschen und nachsehen, welchen Schaden die Haven genommen hatte.
Gerne hätte er seinen Plan noch einmal mit Johnny durchgesprochen, doch der war eine gehörige Strecke weit weg, und die Zeit drängte. Bevor sie sich in ihre Verstecke begeben hatten, hatten sie sich ohnehin alle darauf verständigt, dass alle anderen so lange warten würden, bis sie etwas von Markel hörten, oder dass sie wenigstens zuerst jemanden losschicken würden, der in seinem Schlupfwinkel nachsah, bevor irgendjemand außer ihm etwas unternahm.
Denn darüber waren sich alle einig gewesen: Markel war der anerkannte Experte der Mannschaft, was das Lüftungssystem der Haven anging. Der Admiral der Schachtratten, sozusagen.
Der Schachtrattenadmiral hielt neuerlich den Atem an und öffnete die Wartungsklappe ein zweites Mal. So schnell es ging, stieg er hindurch und ließ sich hinuntergleiten, wobei er gleichzeitig die Wartungsklappe hinter sich zufallen ließ, um nicht zu viel Gas in das Belüftungssystem eindringen zu lassen, in dem seine Kameraden sich versteckten.
Das ganze Manöver war recht knifflig und kostete ihn wertvolle Sekunden. Grünliche Gasschwaden durchzogen den Raum. Er hielt weiterhin krampfhaft den Atem an, legte sich flach auf den Boden und kroch zu einem der unteren Ausrüstungsschränke hinüber. In Bodennähe war die Luft immer besser, falls er doch atmen müsste, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Er rechnete damit, dass genau das eintreten würde. Denn die Wartungsklappe, durch die er hereingekommen war, lag in der Mitte des Lagerraumes, und die Gerätespinde waren an den Wänden entlang aufgereiht. Er konnte sie von hieraus nicht sehen.
Dann stieß seine Hand, die er nach vorne gestreckt hatte, um die Gasbrühe um ihn herum mit einer Art schwimmendem Kriechen zu durchqueren, an etwas Weiches und Warmes. Er hob den Kopf, bis seine Augen auf gleicher Höhe waren wie seine Hand. Annella! Vor ihm lag Annella Carter, von dem Gas zu Boden gestreckt, jedoch zum Glück immer noch atmend, wenn auch nur sehr flach. Als er näher kroch und sich fragte, wie um alles in der Welt er es schaffen sollte, seinen Atem auch nur eine einzige Sekunde länger anzuhalten, sah er, dass sie eine Atemschutzmaske in der ausgestreckten Hand hielt. Ihre andere Hand umklammerte zwei weitere Gasmasken und lag in der Nähe einer offenen Spindtür. Er begriff sofort, dass sie diese Masken geholt hatte, um sie ihm und den anderen im Belüftungssystem zu bringen, was ihr aber nicht mehr gelungen war, da sie schon zu viel von dem Gas eingeatmet hatte. Es hatte sie das Bewusstsein verlieren lassen, noch bevor sie ihre eigene Atemmaske aufsetzen konnte.
Er setzte sich eine ihrer Masken auf, rückte sie sorgfältig zurecht und legte dann auch ihr eine an. Sobald er Johnny und ein paar der anderen einen ebensolchen Atemschutz gebracht hatte, konnten diese sich darum kümmern, die Giftschwaden aus dem Schiff abzusaugen und durch frische Atemluft zu ersetzen sowie Annella wieder wachzubekommen, falls das ihrer Maske nicht schon allein gelang. Zuvor jedoch musste er versuchen, die anderen Giftopfer zu retten. Er lud sich so viele Atemmasken auf, wie er tragen konnte, huschte geduckt in den Korridor hinaus und dann den nächsten Gang entlang, der zur Rechen- und Navigationszentrale führte. Nirgendwo sah er weitere Körper liegen, weder lebend noch tot. Die Tür zu dem Lagerraum mit den Ausrüstungsschränken war hinter ein paar davorgelehnten Röhren verborgen gewesen, deshalb hatten die Roten Krieger sie – und Annella – übersehen, als sie die Haven geentert hatten. Markel wünschte, er wüsste, was hier geschehen war, während sie in ihrem Versteck gehockt hatten.
Ehrlich, er würde mal mit Johnny darüber reden müssen, die Lüftungsschächte künftig mit Vidüberwachungsgeräten auszurüsten. Vielleicht auch noch mit ein paar Kojen und fließendem heißem und kaltem Wasser und mit batteriebetriebener Beleuchtung. Er musste angesichts dieser Vorstellung selber grinsen.
In der Rechen- und Navigationszentrale angekommen, stieg er auf einen Stuhl, klopfte gegen die auch hier in der Raummitte angebrachte Wartungsklappe des darüber hinwegführenden Ventilationstunnels und wartete, bis sie von innen aufgezogen wurde. Schnell streckte er Johnny eine Atemschutzmaske entgegen, der sie packte und sogleich auch nach den anderen Gasmasken griff, die ihm Markel darbot.
Dann schloss sich die Luke wieder – Markel nahm an, dass da oben jetzt alle die Masken überzogen. Kurz darauf begannen endlich Johnny und weitere maskierte Sternenfahrer von der Decke herunterzufallen. Markel schickte sie zu dem Raum, in dem Annella lag, um für ihre in den Luftschächten verbliebenen Kameraden weitere Atemschutzausrüstungen zu holen.
All dies vollzog sich in einer unheimlichen, grünen Stille. Die einzigen Geräusche im Schiff waren die wie Kettengeklirr klingenden Laute, die beim Öffnen und Schließen von Schranktüren, Schachtklappen und Schleusenschotten entstanden, sowie das leise Rascheln, das die phantomgleichen Bewegungen von Markels Schiffskameraden begleitete –
vielleicht auch die elfengleichen Bewegungen, im Falle einiger der kleineren Kinder.
Markel selbst brach in Richtung der Hauptschleuse auf, ständig auf der Hut und mit einem gezückten Handlaser bewaffnet, den er sich zwischenzeitlich besorgt hatte. Er hielt Ausschau nach irgendwelchen Eindringlingen, die womöglich an Bord zurückgeblieben waren. Es gab keine. Ebenso wenig hatten sie einen seiner Freunde zurückgelassen.
Außerhalb des Raumschiffs war das Gas sogar noch dichter als drinnen, stellte Markel fest, als er sich ausschleuste.
Sorgfältig schloss er das große Hauptluk der Haven wieder hinter sich und machte sich dann auf die Suche nach den Ventilationskontrollen des Landehangars. Es dauerte nicht lange, bis er die rundum transparente und mit einer eigenen Personenschleuse ausgestattete Überwachungskabine des gewaltigen Hangars entdeckte. Wie er schon von außen erkennen konnte, war diese gasfrei. Er schleuste sich ein und konnte drinnen endlich wieder unbeschadet seine Maske abnehmen. Er sah sich gründlich um, studierte die Kontrollkonsolen und fand nach ein paar Versuchen schließlich die Bedienelemente, mit denen sich das im Hangardach eingelassene Riesentor öffnen und schließen ließ, das den Raumschiffen gestattete, im Hangar niederzugehen und wieder daraus abzuheben.
Dieses Tor öffnete er jetzt. Mit rasender Geschwindigkeit wurde das gefährliche Gas aus der Hangarhalle in das darüber herrschende Vakuum des Weltraums hinausgesaugt. Als sich schließlich auch die letzte grüne Schwade verflüchtigt hatte, schloss Markel das Hangardach wieder, stellte die Sauerstoffgemisch- und Druckregler auf die üblichen Normwerte und aktivierte die Belüftungsrotoren und Filteranlagen. Kurz darauf war die Luft in der Raumschiffhalle wieder einwandfrei. Zufrieden mit seinem Erfolg kehrte Markel zur Haven zurück und ließ die Innen- und Außenschotten ihrer großen Hauptschleuse diesmal alle gleichzeitig aufgleiten, um den starken
Luftumwälzungsanlagen der Landehalle zu ermöglichen, das noch im Innern des Raumschiffs verbliebene Betäubungsgas herauszusaugen und auszufiltern. Nach kurzer Zeit tauchte Johnny Greene an der Schleuse auf, um zu berichten, dass die Bordluft inzwischen fast überall wieder nahezu giftfrei war.
Außerdem meinte er: »Rocky hat das heilende Horn benutzt, um Annella zu helfen. Sie wird bald wieder auf den Beinen sein.«
»Schön. Hier ist auch alles klar. Ich bin schon mindestens zehn Minuten hier draußen, und es hat immer noch keiner versucht, mich umzubringen. Ich glaube nicht, dass wir hier noch allzu viele von Ikwaskwans Handlangern antreffen werden.«
»Umso besser. Sollten wir die Gastfreundschaft, die uns der Admiral so freundlich angeboten hat, dann vielleicht nicht doch noch annehmen?«
Mit Johnnys Hilfe öffnete Markel die vom Landehangar in den eigentlichen Stützpunkt führende Luftschleuse und durchsuchte vorsichtig zwei der angrenzenden Stationsräume.
Sie waren leer, genau wie alle weiteren Räumlichkeiten, auf die sie stießen. Offenbar hatte der Admiral seine Roten Krieger hier tatsächlich bis auf den letzten Mann abgezogen. Diesen letzten Mann fanden sie schließlich auch noch: Johnny hatte entdeckt, wo die Sicherheitszentrale der Station lag, und den Wächter, der dort Dienst tat, konnten sie mühelos überwältigen. Es gab nur diesen einen. Er hatte sich gerade eine Vidaufzeichnung des Überfalls auf die Haven angesehen.
Wie gelähmt standen Johnny und Markel minutenlang über dem Körper ihres bewusstlosen Gefangenen und starrten gebannt auf den Vidschirm, der zeigte, wie zuerst Nadhari Kando überwältigt und dann ihre Schiffskameraden mit Gas betäubt und an Bord von Ikwaskwans Flaggschiff geschleppt oder getragen wurden, auf dessen Hülle die – wahrscheinlich gefälschten
– Insignien eines Raumschiffes der
Föderationsstreitkräfte angebracht worden waren. Das also hatten die Stiefelschritte zu bedeuten gehabt, die Markel in seinem Versteck vernommen hatte. Von ohnmächtiger Wut erfüllt legten Markel und Johnny sämtliche Überwachungssysteme der Sicherheitszentrale lahm und durchsuchten dann den Rest des Söldnerlagers. Sie sammelten alle Waffen und Lebensmittelvorräte zusammen, die sie finden konnten, und darüber hinaus – eine nachträgliche Eingebung von Johnny – auch sämtliche Uniformen, die sie aufzustöbern vermochten. Aus den Nebenräumen des Landehangars nahmen sie schließlich noch alle Raumanzüge mit. Johnny überspielte eine Kopie der im Hauptcomputer der Sicherheitszentrale gespeicherten Kursdaten von Ikwaskwans Flaggschiff auf einen mobilen Datenträger. Der Wächter dort war immer noch bewusstlos, also fesselten sie ihn und nahmen ihn mit.
Sie mussten dreimal zwischen der Haven und dem Stationsinnern hin und her pendeln, um ihre Beute auf das Sternenfahrerschiff zu schaffen. Nach ungefähr 45 Minuten verschwand Markel schließlich mit der letzten Ladung im Arm endgültig in der Haven. Johnny, der hierfür einen der erbeuteten Raumanzüge angelegt hatte, öffnete von der Hangar-Überwachungskabine aus das Ausflugstor der Landehalle und kehrte dann über die Luftschleuse wieder in die Haven zurück, um den Start einzuleiten. Als das Sternenfahrerschiff sich weit genug von der Söldnerstation entfernt hatte, legte Johnny einen neuen Kurs an, um dem Flaggschiff der Roten Krieger zu folgen.
Siebzehn
Außer vor seinem Vater hatte Becker in seinem ganzen Leben noch nie Ehrfurcht vor jemandem empfunden – bis er Aari begegnet war. Seine Hochachtung vor dem verstümmelten Liinyar nahm während ihrer Reise von der alten zu der neuen Heimat der Linyaari von Tag zu Tag zu. Aari wusste genau, wie man dort hingelangte. All den Foltern zum Trotz, die er hatte erdulden müssen und die jeden anderen in den Wahnsinn getrieben hätten, hatte er das Wissen um die Fluchtroute der Linyaari, das ihm seit seiner frühesten Jugend eingehämmert worden war, nicht nur fehlerfrei im Gedächtnis behalten, sondern es auch mit eisernem Willen vor den Khleevi geheim gehalten.
Um die Gebeine der Linyaari in Beckers Schiff verladen zu können, hatte Aari als Erstes die Condor, die dank Kisla Manjari ja derzeit fast leer war, gründlich aufgeräumt. Becker besaß noch immer das Geld, das Kisla ihm daheim auf Kezdet gezahlt hatte, jenes Geld, mit dem sie nahezu den gesamten Warenbestand aufgekauft hatte, der sich in den Laderäumen der Condor befunden hatte. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, war Becker allerdings fast bereit, zu wetten, dass mit Kislas Credits auch irgendetwas faul war. Dieser giftigen kleinen Irren traute er inzwischen alles zu.
Als er die Frachträume und anderen Staumöglichkeiten ausreichend gesäubert und vorbereitet hatte, ging Aari dazu über, die bereits vor der Condor bereitliegenden Gebeine einzuladen und danach auch den Rest aus der Höhle zu holen, in der er sie zeitweilig in Sicherheit gebracht hatte. Im Schiff bahrte er sie überall dort, wo er ein geeignetes Plätzchen finden konnte, ehrfurchtsvoll nebeneinander auf – jedes der Linyaari-Skelette, angefangen vom jüngsten, dem seines Bruders, bis hin zu den allerältesten Bruchstücken. Becker half ihm dabei, bis Aari den Roboter entdeckte. Beide Männer begriffen sofort, wie nützlich der Androide bei der gegenwärtigen Aufgabe sein konnte. Also konzentrierte Becker sich im Folgenden darauf, die wegen seiner zweiten Landung auf Vhiliinyar unterbrochene Instandsetzung des Roboters zu Ende zu bringen. Die Elektronik musste er weiterhin auf herkömmliche Weise reparieren, doch diesbezüglich war Beckers Tüftelei ja ohnehin schon ziemlich weit gediehen. Beim Flicken der zerfetzten Plasthaut hingegen war ihm die Heilkraft der Linyaari-Hörner nun eine große Hilfe. Und so war der umprogrammierte, nunmehr ästhetisch ausgesprochen gefällige und vor allem äußerst hilfsbereite KEN640 alsbald wieder im Geschäft, diesmal jedoch nicht mehr als Handlanger von Kisla Manjari, sondern als offizieller Hilfswärter der Condor-Gebeinkammern. Mit KEN640S Hilfe konnten die restlichen Skelette im Rekordtempo in die Frachträume der Condor umgebettet werden. Aari schlief jede Nacht dort, umgeben von den Gebeinen seiner Vorfahren, als deren Hüter er sich betrachtete.
Doch auch tagsüber fühlte sich Aari außerhalb der Gebeinkammern nicht sonderlich wohl, da es ihm ohne die Gegenwart der dortigen Hörner sichtlich schwerer fiel, sich mit Becker zu unterhalten. Er versuchte jedoch weiterhin beharrlich, seine Kenntnisse der Menschensprache zu verbessern, ebenso wie Becker beharrlich versuchte, die Sprache der Linyaari zu erlernen, während Satansbraten weiterhin keinerlei Interesse bekundete, irgendetwas anderes als Katzisch zu sprechen. In der Zwischenzeit behalfen sich Aari und Becker bei einem Großteil ihrer Gespräche eben mit Körper- und Zeichensprache. Und da selbst dies eine sehr viel angeregtere Konversation darstellte, als er es in den Jahren der trauten Zweisamkeit mit seinem Kater gewohnt gewesen war, genoss Becker die Reise und besonders die Gesellschaft Aaris sehr.
SB empfand das augenscheinlich ebenso. Denn er bezeugte Aari jene Art von verschmuster Zuneigung, die er Becker zu gewähren bislang als noch nicht angemessen erachtet hatte.
Ständig hockte er auf Aaris Schoß und schlief auch nachts zunehmend häufiger neben ihm, im bordeigenen Linyaari-Friedhof.
Der KEN-Roboter wiederum erwies sich neben seinem Dienst als Friedhofswärter auch sonst als große Hilfe, etwa beim regelmäßigen Entleeren und Säubern des Katzenklos. Er war zwar nicht gerade der schlaueste Androide im Universum, doch dank der neuen Programmierung, die Becker ihm verpasst hatte, stellte er inzwischen wenigstens keine Fragen mehr wie: »Möchten Sie, dass ich ihm den Arm aus dem Schultergelenk reiße, oder ziehen Sie es vor, wenn ich ihm auf schmerzvolle und verstümmelnde, wenn auch noch nicht lebensbedrohliche Weise ein Auge ausschlage, Herrin Kisla?«
Es hatte Aari und Becker erheblich mehr Zeit und Mühe gekostet, KEN640 einige dieser sozial ganz und gar unverträglichen Äußerungen und Geisteshaltungen auszutreiben, als Becker für die rein technische Reparatur seines Körpers hatte aufwenden müssen. Androiden seiner Art mochten zwar Computer mit Beinen und greiffähigen Händen sein, doch ihr Computer diente nur dazu, eben diese Beine und Hände auf eine leidlich nützliche Weise einzusetzen.
Ansonsten war KENS Zentralprozessor jedoch geradezu ein Idiot, verglichen beispielsweise mit dem Schiffscomputer der Condor.
Mit KEN konnte Becker außerdem Gin Rommee spielen, wenn Aari einmal nicht nach Gesellschaft zu Mute war, was ziemlich häufig vorkam. Nun, man brauchte ja auch kein Raumschiffwissenschaftler zu sein, um zu begreifen, warum ein Bursche, der von seinem Volk zurückgelassen worden war, der seinem Bruder gegenüber versagt zu haben glaubte, weil dieser gestorben war, während er selbst von fremdartigen Invasoren, die zugleich seine Heimatwelt zerstört hatten, langsam zu Tode gefoltert worden war – warum ein solcher Bursche dann und wann ein bisschen Zeit für sich allein brauchte. Und Becker war sogar Raumschiffwissenschaftler, wenn auch ein idiosynkratisch privat und autodidaktisch ausgebildeter Raumschiffwissenschaftler.
Allerdings verbrachte Aari beileibe nicht seine gesamte ungesellige Zeit damit, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Seine Kenntnisse der Menschensprache machte vielmehr sprunghafte Fortschritte, wenn er sich beispielsweise stundenlang uralte Kinofilme oder moderne Vidserien anschaute, die in den Datenspeichern des Bordcomputers in großer Auswahl zur Verfügung standen, oder wenn er in den gedruckten Büchern aus Beckers Sammlung stöberte.
»Kennst du das hier, Joh?«, fragte er nach einer dieser Lesestunden beispielsweise einmal, wobei er Beckers Vornamen als eine Art durch die Nüstern geblasenes Schnauben aussprach. Er fuchtelte mit dem Buch Katzenhaltung leicht gemacht herum. Becker, der sich vorsichtshalber rasch umblickte, stellte zu seiner Erleichterung fest, dass SB im Augenblick einmal nicht wie ein pelziger Blutegel an dem Liinyar hing.
»Klar. Überspring aber lieber den Teil über die Einmischung in das Sexualleben von Katzen. Ich habe es versucht, und SB
fand das gar nicht lustig, was wiederum mir wenig Freude bereitet hat. Wenn er richtig schlecht gelaunt ist, könnte unser Kater hier nämlich selbst diesen Khleevi-Käfern den Marsch blasen.«
Aari sah ihn verwirrt an und zog sich wieder in eine der jetzt von Gerümpel befreiten Kojen der neu verteilten Mannschaftsquartiere zurück, um dort seine Studien darüber fortzusetzen, wie man vor ein paar Hundert Jahren Katzen zu halten pflegte.
Becker erkannte seine Condor inzwischen fast nicht mehr wieder. Denn nach Aari hatte der KEN-Roboter das Schiff so gründlich aufgeräumt, dass jetzt sämtliches Inventar ordentlich verstaut und katalogisiert war und es mittlerweile wahrhaftig Platz gab, um sich überall frei bewegen zu können. Becker war sich allerdings gar nicht so sicher, ob ihm das überhaupt gefiel.
Früher war es irgendwie heimeliger gewesen.
Nach einer Weile stellte er zudem fest, dass ihm die Anwesenheit von zwei zusätzlichen – na ja, eineinhalb zusätzlichen – Leuten an Bord auf Dauer doch irgendwie zu viel war. Also wies er den KEN-Roboter an, sich nach Erledigung seiner täglichen Haushaltspflichten jeweils so lange abzuschalten, bis man ihn erneut brauchte. Aari wiederum war die meiste Zeit ohnehin mit Studieren oder Brüten (oder beidem) beschäftigt, sodass er kein sonderliches Problem darstellte. Am meisten störte Becker jedoch, dass SB
neuerdings den größten Teil seiner Zeit mit Aari verbrachte –
Becker ging der lästige Kater tatsächlich doch sehr ab.
Er begann bereits, sich als ziemlichen Trottel anzusehen, weil er geglaubt hatte, SBs Versuch, ihn vor Kisla und ihren Männern zu retten, bedeutete, dass der Kater Zuneigung für ihn empfand. Dabei hatte der treulose Kerl seine Schmusekätzchen-Seite etwa Khetala gegenüber schon bei ihrer allerersten Begegnung oder auch jetzt diesem Burschen Aari gegenüber weitaus mehr offenbart, als er es Becker gegenüber jemals getan hatte. Just als Becker diese Überlegungen anstellte, fühlte er plötzlich einen vertrauten Schmerz in seinem Schenkel und schaute nach unten, wo er SB
erblickte, der freudig mit dem Schwanz hin und her wedelte und Becker von unten herauf erwartungsvoll anstarrte.
Kaum hatte Becker ihm die gewünschte Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, sprang ihm der Kater auf die Schultern, räkelte sich um seinen Nacken und schnurrte mit einer Lautstärke und in einer Tonart, die dem rostigsten Klapperkasten-Triebwerk eines schrottreifen Alteisen-Transportraumschiffs alle Ehre gemacht hätte. »Nanu, SB, seit wann bist du denn auch bei mir so verschmust? Hast du etwa doch was für mich übrig?«
SB beugte sich vor, rieb sein Gesicht kosend über das von Becker und markierte ihn damit als sein Eigentum – allerdings auf eine der weniger Anstoß erregenden Weisen aus seinem Repertoire. Becker wurde plötzlich bewusst, dass es eigentlich wenig verwunderlich war, wenn SB sich ihm so selten von dieser Seite zeigte, da er sich um derartige Gunstbezeugungen des Katers ja im Grunde bisher noch nie wirklich bemüht hatte.
Ihre Beziehung war bislang von einem eher rauen und spröden Umgang miteinander geprägt gewesen. Wie es je nach Sichtweise zwischen harten Kerlen oder stolzen Katern eben üblich war, die einander zwar mochten, dies jedoch selten auch offen zu bekunden wagten. Selbstverständlich mochte Satansbraten ihn, sogar sehr. Andernfalls hätte sich der Kater doch sofort ein neues Quartier gesucht, als die Condor nach seiner Rettung aus dem Havarieraumer das erste Mal wieder auf einem besiedelten Planeten niedergegangen war.
Becker stellte ferner überrascht fest, dass er in vielem sogar zu denken pflegte wie eine Katze, und er musterte SB
misstrauisch. Der Kater, dessen Fell von einer dünnen weißen Knochenstaubschicht aus den Linyaari-Gebeinkammern bedeckt war, blinzelte ihm dreimal fröhlich zu und verstärkte sein Schnurren noch.
Nach dieser Begebenheit verbrachte der Kater im restlichen Verlauf der Reise ein wenig mehr Zeit auf der Brücke, und nach einer Weile tat Aari das auch, stellte Becker Fragen über die Dinge, die er gerade studierte, und probierte neu erlernte Wörter an ihm aus, um seine Aussprache zu verbessern.
Becker versuchte im Gegenzug, mehr Linyaari-Wörter und
-Sätze zu lernen. Der kleine, auf Linyaari LAANYE genannte Kasten übersetzte, nachdem Becker mit technischer Unterstützung durch Aari ein wenig daran herumgebastelt hatte, hierzu jetzt in beide Richtungen gleichzeitig.
Schließlich gelangten sie in Rufweite von Narhii-Vhiliinyar.
»Soll ich sie selbst anfunken, oder wird es sie weniger in Panik versetzen, wenn du das übernimmst?«, fragte Becker Aari.
»Meine Aussprache in Linyaari ist noch nicht so gut, wie sie es eigentlich sein sollte.«
»Ich werde mit ihnen sprechen, aber lass die Bildübertragung ausgeschaltet«, erwiderte Aari. Er hatte sich, als er sich das erste Mal in Beckers Rasierspiegel selbst erblickt hatte, völlig entsetzt bei seinen Knochen verkrochen und war von dort mehrere Tage lang nicht mehr wegzulocken gewesen. »Ich…
ich möchte mein Volk nicht erschrecken.«
Er tat es trotzdem.
Becker wurde zum ersten Mal eines weiblichen Liinyar angesichtig, als die Dienst habende Kommunikationsoffizierin des Planeten, ein weißhäutiges, weißhaariges Mädchen mit einem hübschen, glänzend wendelgerillten Kegelhorn, das ihr aus der Stirn spross, Aari aufforderte: »Bitte justieren Sie Ihre Vidübertragung nach, Condor, wir empfangen kein Bild von Ihnen.«
»Narhii-Vhiliinyar Raumhafen, hier spricht Aari vom Klan Nyaarya«, wiederholte Aari. »Die Bilderfassungseinheit unserer Komanlage ist derzeit nicht funktionsfähig. Wir bitten um Landeerlaubnis.«
Zunächst herrschte eine Zeit lang Schweigen, in der die Komdiensthabende vermutlich mit jemand anderem Rücksprache hielt, dann war ihre Stimme mit einem sehr ungläubigen Unterton wieder zu hören: »Aari vom Klan Nyaarya ist im Zuge der Evakuierung von Vhiliinyar vor dem Angriff der Khleevi verloren gegangen. Bitte justieren Sie Ihre Vidübertragung nach und identifizieren Sie sich ordnungsgemäß.«
Aaris Stimme war äußerst angespannt, als er erklärte: »Ich wurde auf Vhiliinyar von den Khleevi gefangen genommen, konnte ihnen jedoch wieder entkommen und wurde erst vor kurzem vom Kapitän und der Mannschaft der Condor gerettet.
Ich habe die Gebeine unserer Vorfahren aus dem heiligen Gräberfeld geborgen, um sie vor Plünderern in Sicherheit zu bringen und sie ihren Kindern zurückzubringen, damit diese sie wieder unbehelligt und würdig bestatten können. Jetzt erteilen Sie uns bitte Landegenehmigung, damit ich zu meiner Familie zurückkehren kann.«
»Wirklich?« Die Funkerin vergaß vor lauter Verblüffung die Funkdisziplin und die förmliche Amtssprache und verfiel stattdessen ins alltagssprachliche Linyaari: »Du konntest den Khleevi wahrhaftig wieder entfliehen, nachdem sie dich schon in ihren Klauen hatten? Ich werde mich zuerst noch mal bei offizieller Stelle rückversichern müssen, wegen der Landeerlaubnis, aber… willkommen daheim, Aari! Alle werden furchtbar froh sein, dich wieder zu sehen!«
Als ihr Abbild endlich wieder auf dem Komschirm auftauchte, hatte der schon bei ihrem Anflug zur Neige gehende Treibstoffvorrat der Condor einen mittlerweile bedrohlichen Tiefstand erreicht.
Die Kommunikationsoffizierin hatte wieder ein verschlossen amtliches Gesicht aufgesetzt und teilte ihnen mit: »Aari, das Schiff darf lange genug landen, um dich abzusetzen und es einem euch entgegengeschickten Empfangskomitee zu ermöglichen, deine Identität zu überprüfen. Aber sämtliches Nicht-Linyaari-Personal an Bord des Raumfahrzeugs muss an Bord verbleiben, und das Schiff selbst muss unverzüglich wieder abfliegen, sobald du ordnungsgemäß identifiziert wurdest und man uns deine mitgebrachte Fracht ausgehändigt hat.«
»Sag ihr, dass wir keinen Treibstoff mehr haben«, warf Becker ein.
»Die Condor muss aber Treibstoff nachtanken«, leitete Aari weiter.
»Erlaubnis verweigert«, lehnte die Kommunikationsoffizierin barsch ab.
»Gib mir das Ding«, fuhr Becker auf und nahm Aari das tragbare Komgerät aus der Hand. »Hören Sie, werte Dame, ich weiß ja, dass ihr Leute eine Menge durchgemacht habt«, begann er im besten Linyaari, das er zu Stande brachte. »Aari hat mir das alles erklärt. Aber er hat durch was auch immer es sein mag, das ihr Leute als Hölle verwendet, gehen müssen, und auch ich und meine Mannschaft haben eine Menge durchgemacht, um ihn hierherzubringen. Sie könnten also zumindest so viel Anstand besitzen, uns nicht zuzumuten, mit nicht mal genug Treibstoff wieder starten zu müssen, um damit wenigstens den nächsten Hafen erreichen zu können.«
Es folgte ein weiteres langes Schweigen, bevor die Liinyar wieder auftauchte, um zu erklären: »Landegenehmigung erteilt. Bereiten Sie sich darauf vor, dass wir an Bord kommen, sobald sie aufgesetzt haben.«
Die Condor wurde von der Flugkontrolle auf einem Feld außerhalb des regulären Raumhafens zu Boden dirigiert, da die Landeplätze der Linyaari allesamt tiefe, eiförmig ausgeschachtete Hohlgruben waren, die sich zwar hervorragend zur Aufnahme der gleichfalls eiförmigen Linyaari-Raumer eigneten, auf Grund der falschen Heckform der Condor jedoch für das Schiff des Bergungsguthändlers nicht in Frage kamen. Nach der Landung setzte Becker von der Brücke aus die in einem Vertikalschacht vor seiner Hauptschleuse installierte Robo-Hebebühne in Betrieb und begann sie zu Boden zu lassen. Er war in ein Gespräch mit Aari vertieft und bemerkte daher nicht, wie SB in den Gleitschacht sprang, der zur Fluchtkappe des Katzen-Notausstiegs hinabführte. Vor dem äußeren Hauptluk angekommen, betätigte er den per Drucktaste auslösbaren Öffnungsmechanismus der Fluchtklappe, sprang hinaus und landete elegant draußen auf der Plattform des sich absenkenden Schleusenfahrstuhls, um dort sein eigenes Begrüßungskomitee zu bilden.
An Bord der Condor ließ Aari Becker derweil wissen, dass er froh darüber war, dass der Inspektionstrupp der Linyaari zu ihm an Bord kommen würde und es nicht andersherum erforderlich sein würde. Er hatte augenscheinlich fast ebenso viel Angst davor, seine eigenen Leute wieder zu sehen, wie er sich je vor den Khleevi gefürchtet hatte.
Becker schaltete die Außenbordkamera der Hauptschleuse ein und sah auf dem von ihr übertragenen Bild, wie Satansbraten von der Schleusen-Hebebühne nach unten getragen wurde. Unten am Boden standen vier der weißen Einhornwesen, drei Frauen und ein Mann, zwei braune männliche Linyaari sowie eine kleine, scheckige weibliche Liinyar und sahen verblüfft zu, wie der Kater sich allmählich zu ihnen herabsenkte. Die kleine Scheckige klatschte begeistert in die Hände, pflückte rasch ein paar Blumen und streckte sie SB entgegen. Dann hob eine weiße Liinyar ihn auf und übergab ihn an die Kleine, woraufhin etliche der Umstehenden ihn zu streicheln begannen. Kurz darauf stiegen eine der weißen Frauen sowie der weiße und die beiden braunen Männer auf die Hebebühne. Die Männer sahen aus, als seien sie nicht übermäßig glücklich darüber.
Mitten in der Nacht tauchte Thariinye vor der Eingangsklappe von Großmamas Pavillon auf und bestand darauf, dass Großmama, Acorna und Maati alle drei Hals über Kopf aufstehen, sich für einen langen Marsch ankleiden und auf der Stelle mit ihm zum Pavillon der Viizaar hinübereilen müssten.
Als sie dort ankamen, waren Viizaar Liriilis Augen um die Pupillen herum ganz weiß, und Acorna konnte ihren Angstschweiß riechen, eine durchdringende, ziegenhaft stechende Ausdünstung.
Großmama wollte wissen: »Was im Namen der Ahnen ist jetzt schon wieder los?« Keiner von ihnen fragte, ob das Problem nicht auch bis zum Morgen warten könne.
»Ein fremdes Raumschiff dringt in unsere Atmosphäre ein«, berichtete Liriili. »Es weigert sich, Bildkontakt mit uns aufzunehmen. Aber die Person, die uns als Erste angefunkt hat, behauptet, Maatis Bruder Aari zu sein, der seit der Evakuierung zusammen mit Maatis anderem Bruder Laarye als auf Vhiliinyar verschollen gilt. Du weißt ebenso gut wie ich, Großmama, wie absolut unvorstellbar es ist, dass irgendjemand den Khleevi oder der Vernichtung des Planeten entkommen sein könnte.«
Acorna räusperte sich. »Ich bin entkommen.«
»Was?«, entfuhr es Liriili, was Acorna mühelos als das auffasste, was es in Wirklichkeit bedeuten sollte: »Wie kannst du es wagen, mich zu unterbrechen?«
»Jeder hatte geglaubt, dass bei der Explosion des Raumschiffs meiner Eltern alle an Bord umgekommen seien, aber ich habe trotzdem überlebt. Vielleicht ist das Maatis Bruder ja auch gelungen.«
Maati, die ihre Brüder nie kennen gelernt hatte, warf verstörte Blicke von einem Erwachsenen zum anderen. Die Aufregung hatte jegliche Schläfrigkeit von ihr abfallen lassen.
»Ich glaube, es ist ein Trick«, behauptete Liriili.
»Wie sollte das denn möglich sein?«, widersprach Großmama. »Niemand weiß von Aari und Laarye, nur ein paar von unseren eigenen Leuten.«
Liriili schüttelte heftig den Kopf. »Jeder, den wir ins All hinausgeschickt haben, ist schlagartig spurlos verschwunden, ohne auch nur ein Abschiedssignal senden zu können«, stellte sie fest. »Ich bin daher genötigt, davon auszugehen, dass ihnen etwas zugestoßen ist. Wenn sie nicht den Khleevi in die Hände gefallen sind, dann sind sie wahrscheinlich Opfer irgendeines anderen bösartigen Fremdvolks geworden, eines Feindes, der etwas über uns erfahren will. Man könnte einige unserer Leute gefangen genommen und verhört haben, alles aus ihnen herausgeholt haben, was ihren Peinigern helfen könnte, um an unseren Verteidigungssystemen vorbeizukommen.«
»Sicher«, räumte Großmama ein. »Das könnte sein. Aber es kann genauso gut sein, dass Aari tatsächlich irgendwie den Weg nach Hause gefunden hat. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie.«
»In einem fremden Fahrzeug, mit einem sehr übellaunigen Fremden, der ein grauenhaft schlechtes Linyaari spricht, wie Saari uns wissen ließ, die Komdiensthabende am Raumhafen.
Hier ist eine Aufzeichnung des Komgesprächs.«
Sie spielte ihnen das Vid vor.
»Das ist ein Mensch!«, meinte Acorna, als sie Beckers radebrechende Stimme vernahm.
Liriili starrte sie finster an. »Das hatte ich mir schon gedacht.
Einer von deinen Leuten. Wer ist es?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Acorna. »Nach einem meiner Freunde klingt er ebenfalls nicht.«
»Nicht?« Liriili war überrascht. Acorna fühlte beinahe gegen ihren Willen eine gewisse Belustigung in sich aufsteigen. Die Viizaar hörte sich an wie eine Figur aus einem alten Witz, den sie einmal gehört hatte: »Hallo, ich bin Mirajik. Ich komme vom Mars.«
»Hallo, ich bin Sarah von der Erde.«
»Von der Erde? Ach, sag mal, ich habe einen Freund, der auch von da kommt. Kennst du John Smith?« Die Viizaar schien nicht einsehen zu können, dass Acorna, nur weil sie ein paar Menschen kannte, nicht automatisch auch diesen kennen musste, den es irgendwie vor die Haustür von Narhii-Vhiliinyar verschlagen hatte.
»Nein«, wiederholte Acorna, wobei sie versuchte, in ihrer Antwort weder ihre Belustigung noch ihre freudige Erregung mitschwingen zu lassen. Es wäre schön, sich wieder mit jemandem in der Sprache unterhalten zu können, mit der sie aufgewachsen war. »Aber wenn Sie einen Dolmetscher brauchen, Viizaar, würde es mich freuen, Ihnen auf jede nur mögliche Weise behilflich zu sein.«
»Du wärst zweifellos von großem Nutzen, Khornya«, sagte Großmama. »Ich bin überzeugt, dass die Viizaar dich auch aus genau dem Grund zu dieser Beratung hinzugezogen hat. Ich bin als die Älteste des Rates hier; und Maati, weil sie, sollte es wahrhaftig Aari sein, der da in unsere Mitte zurückkehrt, natürlich nicht fehlen darf, um ihren Bruder daheim willkommen zu heißen…. Und Thariinye?« Das Letzte war eine an Liriili gerichtete Frage.
»Thariinye beherrscht die Sprache von Khornyas Adoptivvolk ebenfalls und kann somit als zweiter Dolmetscher aushelfen.«
Acorna gab ein protestierendes Geräusch von sich. Was Liriili wirklich meinte, war, dass Thariinye kontrollieren sollte, ob sie wahrheitsgemäß übersetzte oder nicht.
»Ich halte diese Gruppe bewusst klein«, fuhr die Viizaar fort.
»Als Begleitschutz werden wir noch ein paar kräftige junge Männer mitnehmen. Ansonsten besteht keinerlei Veranlassung, dass gleich der ganze Planet hiervon erfahren sollte, ehe wir nicht die genauen Absichten dieses Eindringlings herausgefunden haben. Sicherheitshalber habe ich allerdings meine Vize-Viizaar beauftragt, sich bereitzuhalten und die Stadt notfalls zu evakuieren, falls wir hier wahrhaftig den Vorboten einer neuen Invasion vor uns haben. Ich kann nur hoffen, dass wir unsere Flucht dann noch rechtzeitig einleiten können.«
»Was ist mit den Schiffen, die Khornya und ich neulich gesehen haben, Liriili?«, fragte Thariinye. »Ich bin ein guter Pilot. Ich könnte bestimmt jedes von ihnen fliegen. Und eine Mannschaft dafür könnte ich aus den Senioren der Raumflotte zusammenstellen, die sich aus dem aktiven Dienst in den Ruhestand zurückgezogen haben.«
»Ich hoffe zwar sehr, dass es nicht nötig werden wird, dich zu einem entsprechenden Versuch aufzufordern, aber es ist ein lobenswerter Gedanke«, meinte Liriili.
»Ehe wir alle in verschiedene Richtungen davonrennen, denke ich, wir sollten besser zuerst einmal nachschauen, was da eigentlich auf uns zukommt«, ergänzte Großmama besonnen. »Es besteht keine Veranlassung, die Ahnen jetzt schon zu beunruhigen. Außerdem bewegen sich die Ahnen selbst bei einem Notfall in einem gemächlichen Tempo.«
»Stimmt«, bestätigte Thariinye. »In einem so gemächlichen Tempo, dass eine Großinvasion uns längst alle ausgelöscht hätte, bevor wir auch nur in die Nähe des Raumhafens gekommen sind.«
Mit einem angedeuteten Nicken pflichtete Liriili seiner scherzhaften Bemerkung bei – aber auch nur, weil sie von Thariinye kam, dachte Acorna – und neigte dann huldvoll den Kopf, um ihre Zustimmung zu Großmamas Vorschlag zu bekunden. Daraufhin brachen sie gemeinsam auf: die Viizaar, Großmama, Thariinye, Maati, Acorna und zwei junge Burschen, die den von Liriili erwähnten Begleitschutz stellten.
Als sie das Raumschiff niedergehen sah, entspannte sich Acorna. Das Heck sah nach einem herkömmlichen Föderationsraumer aus, doch was da ein Stück weit aus der Rumpfunterseite herausragte, war ganz eindeutig ein mytheranischer Giftmüll-Auswurfschacht, und die Schiffshülle selbst bestand aus einem eigentümlichen Flickwerk verschiedenster Metallplatten, ganz zu schweigen von der recht exzentrischen Bauweise des Bugs. Wo die Zugangsschleuse hätte sein müssen, befand sich etwas, das wie eine Art flacher Vorbau aussah. Als das Schiff ausgesprochen hart aufsetzte, ließ es den Boden erzittern. Das Triebwerk klang, als würde es sich jeden Moment in seine Bestandteile auflösen. (Das ist kein Kampfschiff, Liriili), beruhigte sie die Viizaar lächelnd in der Gedankensprache. Sie wurde zum Glück immer besser in dieser Art der Verständigung, denn gesprochene Worte wären in dem Gebrüll, das der landende Raumer veranstaltete, völlig untergegangen. (Es ist überhaupt kein Schiff irgendeiner bestimmten Art. Für mich sieht es aus wie ein zusammengeflicktes Schrotthändlerschiff.) (Der Fremde an Bord behauptet, dass es keinen Treibstoff mehr hat), erwiderte Liriili. (Er verlangt, dass wir es wieder auftanken.)
(Ich würde ihm glauben), meinte Acorna. (Dieses Ungetüm da sieht aus, als könnte es jede Hilfe gebrauchen, die es kriegen kann.)
(Es könnte ein Trick sein), warnte Thariinye, (um uns in trügerischer Sicherheit zu wiegen.)
(Bei mir funktioniert er jedenfalls), kommentierte Großmama. (Und… spürt es denn niemand außer mir? Ich nehme die unverkennbare Ausstrahlung eines Liinyar an Bord wahr.)
(Das habe ich auch sofort gespürt), bestätigte Liriili. (Aber irgendetwas an seiner Aura ist nicht in Ordnung. Irgendetwas ist schrecklich falsch.)
Der Landetriebwerkslärm verstummte und wurde von einer Abfolge anderer Geräusche ersetzt, zuerst einem Krachen, dann einem Zischen und dann dem bedächtigen Summen einer hydraulischen Plattform, die sich langsam aus dem mytheranischen Giftmüll-Auswurfschacht herabsenkte.
Plötzlich klatschte Maati in die Hände und deutete nach vorne. »Da, seht!«, rief sie laut. »Schaut euch den pelzigen kleinen Fremden an! Er muss von so weit hergekommen sein, mit diesem großen alten Schiff! Ich wette, er hat auch Hunger und braucht nicht nur Treibstoff.« Sie rannte zu einem Flecken leidlich gesund aussehenden Grases hinüber und rupfte ein paar Büschel davon aus, zusammen mit ein paar purpurnen Blumen, von denen Acorna wusste, dass sie sehr schmackhaft waren.
Großmama traten Tränen in die Augen, und ihre Stimme klang ein wenig erstickt, als sie sagte: »Der kleine Fremde erinnert mich an einen Pahaantiyir. « Acorna fing das Gedankenbild eines pelzigen, katzenähnlichen Geschöpfes auf.
»Das tut er wirklich, nicht?«, bestätigte Liriili und schien selbst den Tränen nahe zu sein. »Ich hatte einen süßen kleinen Pahaantiyir, als wir noch daheim lebten, aber er ist mir kurz vor der Evakuierung weggelaufen und ich konnte ihn nicht mehr rechtzeitig wieder finden.«
Maati streckte ihren Arm aus und versuchte, den ›Fremden‹
mit ihrem Büschel saftiger Gräser und Blumen zu sich zu locken. »Die werden dir bestimmt köstlich munden, fremdes Wesen«, versprach sie höflich.
»Das bezweifle ich«, wandte Acorna ein. »Das hier sieht mir sehr nach einer Makahomanischen Tempelkatze aus. Die sind Fleischfresser, glaube ich.«
Die Katze warf ihr einen entrüsteten Blick zu, machte einen zierlichen Schritt nach vorne, um an den Blumen zu schnüffeln, und begann dann eine davon zu essen. Nur eine.
Sämtliche Linyaari sahen ihr voller Ehrfurcht zu. Dann setzte sich das Geschöpf auf die Hinterbacken, musterte sein Publikum selbstzufrieden und begann sich sauber zu lecken.
Acorna griff Maati über die Schulter, hob die Katze hoch, nahm sie in die Arme und reichte sie dann an Maati weiter. Die junge Liinyar quiekte vor Freude, als das Wesen sich an ihren Hals kuschelte und zu schnurren begann.
»Der Fremde mag mich!«, jubelte Maati.
»Ich würde mich davon an deiner Stelle nicht allzu sehr beeindrucken lassen«, riet Acorna ihr mit einem Lächeln.
»Dieser Bursche hier ist wahrscheinlich nicht der Schiffskapitän. Und ein Liinyar scheint er auch nicht zu sein, also ist er wohl auch kaum dein Bruder.«
Thariinye und die anderen jungen Männer streichelten das Tier nun ebenfalls, sogar Liriili tat es ihnen nach.
»Es ist so weich«, meinte Maati glückselig.
»Da sie uns die Fahrstuhlplattform heruntergeschickt haben, wollen sie vielleicht, dass wir damit an Bord kommen«, mutmaßte Acorna.
»Es könnte eine Falle sein«, unkte Thariinye.
»Soweit ich gehört habe, wenden Katzen die Kunst der Gedankenbeeinflussung nur dann an, wenn sie auf der Suche nach einem Heim oder einer Mahlzeit sind«, beruhigte Acorna ihn. »Ich bezweifle sehr, dass dieser Bursche hier ein Spion ist.
Ich würde aber gerne nachschauen, wer sich sonst noch im Schiff befindet. Vielleicht wissen sie ja Neues von meinen Freunden.«
»Du gehst da nicht ohne mich rauf«, widersprach Thariinye.
»Außer… äh… außer wenn du es für das Beste hältst.«
»Ich finde, ihr solltet beide gehen«, mischte sich Liriili ein und verschränkte energisch die Hände hinter dem Rücken, um sich davon abzuhalten, die Katze weiter zu streicheln. »Aus genau diesem Grund habe ich ja nach euch schicken lassen.
Und ihr zwei – begleitet sie.«
»Jawohl, Viizaar«, quittierten die zwei jungen Männer den Befehl im Chor.
»Ich möchte auch mitkommen, um nachzusehen, ob da noch mehr sind, von diesen… Kaaats«, bat Maati.
»Miiau?«, sagte das pelzige Geschöpf.
»Du wirst so lange hier bleiben, bis wir wissen, ob es da oben sicher ist«, lehnte Liriili ab.
»Aber Sie haben doch gesagt, mein Bruder…«
»Zumindest jemand, der behauptet, dein Bruder zu sein, ja.
Es ist besser, wenn Khornya und Thariinye den Erstkontakt übernehmen. «
Achtzehn
Acorna trat auf die Plattform, und die Männer folgten ihr.
Auch die Katze sprang von Maatis Armen herunter, eilte herbei und hockte sich neben sie.
Die Plattform hob sich, glitt in den darüber liegenden Vertikalschacht hinein und stieg darin weiter, bis sie auf gleicher Höhe lag wie der durch eine Schleuse führende Zugang zu einem der Decks. Dort erwartete sie ein untersetzter, lockenköpfiger Mann mit einem borstigen Schnurrbart und beobachtete ihre Ankunft. Als die Hebebühne zum Stillstand gekommen war, streckte er eine Hand aus, um Acorna hereinzuhelfen. »Hallo zusammen… meine Dame, Jungs«, begrüßte er sie mit einer tiefen und etwas rauen Stimme. »Ich weiß nicht recht, welchen Spruch ich vom Stapel lassen soll… ›Wir kommen in Frieden‹ oder ›Bringt mich zu eurem Anführer‹. Aari hat mir erzählt, dass ihr an fremden Besuch nicht gewöhnt seid.«
Die Katze sprang von der Plattform herunter und auf die Schultern des Mannes, wo sie sich um seinen Nacken wand.
»Wie ich sehe, habt ihr unseren Anführer ja schon kennen gelernt, beziehungsweise unser selbst ernanntes, Pfoten schüttelndes Willkommenskomitee.«
Das unfreiwillig Komische war, dass er die für die Menschensprache typischen Redewendungen, die er verwendete, wortwörtlich in der Sprache der Linyaari wiedergab. Acorna verstand ihn zwar trotzdem, ebenso jedoch verstand sie den verwirrten Ausdruck auf den Gesichtern der anderen drei Linyaari.
»Mein Name ist Jonas Becker«, fuhr der Mann fort, als die Linyaari-Männer ebenfalls von der Hebebühne ins Schiff getreten waren. »Ich bin der Kapitän der Condor, sowie Generaldirektor, Vorstandsvorsitzender und – bis vor kurzem –
Chefkoch und Tellerwäscher der Interplanetaren Bergungs-und Wiederverwertungsgesellschaft Becker mbH. Es hatte eigentlich mal Becker und Söhne mbH heißen sollen, aber mein Vater ist nicht dazu gekommen, das Firmenschild auszuwechseln, bevor er starb, also führt der Betrieb immer noch nur einen Becker im Namen. Und wer seid ihr?«
Acorna grinste erneut und genoss den Umstand, dass Becker, den sie auf Anhieb mochte und von dem sie sehr positive Energiewellen empfing, wissen würde, dass sie damit ein freundliches Gesicht machte, während die anderen wahrscheinlich den Eindruck hatten, dass sie dem Fremden furchtlos die Zähne zeigte. Der Mann vor ihr erinnerte sie sehr an ihre drei geliebten Onkel. Er strahlte die gleiche Art von individualistischer und unabhängiger Intelligenz, Neugier und Güte aus. »Meine Pflegeväter haben mir den Namen Acorna gegeben«, antwortete sie. »Auf Linyaari – unserer Sprache –
nennt man mich Khornya.«
»Bingo!«, rief er aus. »Ich meine: im Ernst? Jetzt habe ich schon so viel über Sie gehört, Dame Acorna, nichts als gute Dinge, und dann sind Sie doch glatt die erste Person, der ich bei meiner Ankunft hier begegne. Freut mich, Sie kennen zu lernen, gnädige Frau, und das meine ich ganz ehrlich. Ich war früher mal Landarbeitssklave auf Kezdet, als ich noch ein Knirps war, und was Sie für diese Kinder dort getan haben, war einfach großartig, wie man mir erzählt hat. Ihre Papas kenne ich übrigens auch. Anständige Kerle, das.«
Thariinye räusperte sich auf irgendwie bärbeißige, männliche Art. »Uns ist gesagt worden, dass man Ihnen zu landen erlaubt hat, weil Sie behauptet haben, dass ein Liinyar an Bord sei?«
Beckers Auftreten veränderte sich unmerklich, um ebenso bärbeißig wie Thariinye, jedoch doppelt so drohend zu klingen: »Ich habe das nicht behauptet. Das hat Aari selbst getan.«
Acorna legte Becker sanft eine Hand auf den Arm. »Mein Volk ist an Besucher von außerhalb nicht gewöhnt. Die Linyaari haben ein paar schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht, besonders in letzter Zeit. Bitte seien Sie daher nicht gekränkt. Darf ich Ihnen Botschafter Thariinye vorstellen, der zu jenen Linyaari gehört hat, die nach Maganos gekommen sind, um mich nach Narhii-Vhiliinyar zurückzubringen? Und diese beiden hier sind« – sie las rasch in ihren Gedanken –
»Iiryn und Yiirl.«
Becker nickte, eine knappe, wachsame und nicht annähernd so freundliche Geste, wie er sie ihr bezeugt hatte. »Jungs«, nahm er sie zur Kenntnis. »Nun ja, Aari ist plötzlich ein bisschen scheu geworfen, als er Sie hat kommen sehen, und hat sich in die Frachträume verdrückt, um die Gebeine für den Abtransport vorzusortieren. Ich schätze, wenn wir jeder ein paar Arme voll Knochen mit runternehmen, haben wir sie in null Komma nichts ausgeladen.«
Die Erwähnung der Knochen ließ Thariinye und die beiden anderen Männer sichtlich blasser werden. Becker musterte sie gründlich von Kopf bis Fuß und Acorna auch. Dann sagte er:
»Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich werde mal kurz nachsehen, was KEN SO treibt und wo Aari bleibt. Er arbeitet da hinten wahrscheinlich so hart, dass er gar nicht mitbekommen hat, wie Sie an Bord gekommen sind.«
(Das ist ein sehr sonderbares Verhalten für jemanden, der so lange Zeit von uns getrennt war), wunderte sich Iiryn.
(Na ja, er ist eben ziemlich alt, stammt noch aus der Zeit vor der Evakuierung), erwiderte Yiirl. (Vielleicht ist er ja vergesslich.)
(Du warst diesem Becker gegenüber ja wirklich sehr freundlich), beschwerte sich Thariinye.
(Er ist ein anständiger Mann), entgegnete Acorna. (Konntest du das nicht spüren?)
(Hmpf. Nein. Mir hat er nicht die gleiche Energie entgegengebracht wie dir. Er ist sehr feindselig und misstrauisch und kann, würde ich sagen, ziemlich gewalttätig werden.)
(Wir sollten kein Urteil über ihn fällen, ohne ihn zuvor näher kennen gelernt zu haben), rügte Acorna ihn.
(Darauf besteht glücklicherweise wenig Aussicht), murrte Thariinye. (Dir ist natürlich klar, nehme ich an, dass er und sein Schiff unverzüglich wieder von hier verschwinden müssen, sobald er seine Treibstoffvorräte ergänzt hat? Ihre Gegenwart befleckt uns und bringt uns alle in Gefahr.) (Ich sehe nicht, wie), dachte Acorna gerade zurück, als Becker mit äußerst besorgter Miene wieder auftauchte und sie mit gekrümmtem Finger zu sich winkte. Thariinye wollte schon vorpreschen, als Becker ihn zurückhielt: »Nichts da, Kumpel. Vorerst nur die Dame Acorna, bitte.« Dann begann er eine Leiter emporzuklettern, die zu den anderen Decks führte.
»Na schön«, gab Thariinye nach. »Aber versuchen Sie bloß keine komischen Sachen mit ihr, oder ich werde Sie das bitter bereuen lassen.«
(Na, na, Thariinye), tadelte Acorna ihn im Vorübergehen, (das klang aber ziemlich feindselig und aggressiv, und vielleicht sogar gewalttätig.)
Sie kletterte zum Oberdeck hinauf, wo Becker auf sie wartete.
»Aari ist ziemlich schlimm dran, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Dame Acorna«, begann Becker. »Als ich ihn kennen gelernt habe, war ich schwerer verletzt, als er es ist, und hatte damals noch nie normale Leute seiner Art gesehen. Aber wenn ich mir jetzt Sie so anschaue… nun, machen Sie sich auf einiges gefasst. Diese Khleevi haben ihn ganz schön übel zugerichtet. Ihm fehlt das Horn, das ist der augenfälligste Schaden. Aber dem Aussehen von euch anderen nach sind da auch noch etliche andere Sachen, die ebenfalls nicht richtig ausgeheilt sind. So wie er es mir erklärt hat, war er ziemlich fertig, als er auf dem Friedhof zusammengebrochen ist und die geballte Kraft all dieser alten Hörner ihn geheilt hat. Aber die Khleevi haben irgendwas mit ihm angestellt, das den Heilungsprozess stark beeinträchtigt hat. Ohne jemanden, der wusste, was zu tun war und die Heilung in die richtigen Bahnen lenken konnte, sind seine Knochen einfach wieder da zusammengewachsen, wo ein gebrochenes Ende an das andere gestoßen ist, so schief, wie sie eben gerade lagen. Ich schätze, dass ihn erst jetzt, wo er beinahe wieder daheim und endgültig in Sicherheit ist und er nicht mehr ständig auf der Hut sein muss, der Schock über all das, was er durchgemacht hat, wirklich einzuholen beginnt. Ich habe ihn gerade ganz zusammengekrümmt in einer Ecke liegend vorgefunden, wie er sich die Augen ausgeweint hat. Ich dachte, wenn Sie vielleicht allein mit mir zu ihm gehen und mit ihm reden würden, ihm sagen würden, dass alles gut wird und dass seine Leute sich darauf freuen, ihn zurückzubekommen, dass es ihm dann besser gehen würde.«
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Acorna dem Mann, dankbar für sein Einfühlungsvermögen dem ehemaligen Gefangenen der Khleevi gegenüber.
Ihre Schritte klapperten auf den metallenen, offenen Gitterstegen, die sie auf ihrem Weg zu den Räumlichkeiten überquerten, die auf einem regulären Schiff wohl als Frachträume und Mannschaftsquartiere bezeichnet worden wären. Als sie Becker ins Innere eines dieser Frachträume folgte, vernahm sie das Klappern von Knochen auf Knochen.
Dann tauchte ein Monster vor ihr auf.
Sogar als entstellte und verkrüppelte Missgestalt war Aari um etliches größer als Becker und überragte selbst Acorna. Doch seine Gelenke bildeten völlig widersinnige Winkel, und auf seinem Rücken erhob sich ein riesiger Buckel. Seine Beine beugten sich beim Bewegen falsch, und sein Kopf stand auf bizarre Weise schief – und der Anblick dieser eingebeulten, klaffend vernarbten Stirn drehte ihr beinahe den Magen um.
Sie versuchte, seinen Anblick auf einer rein physischen, optischen Ebene in sich aufzunehmen und nicht darüber nachzudenken, keinerlei Reaktion darauf zu zeigen. Der verwundete Ausdruck in seinen von furchtbaren Qualen gepeinigten Augen jedoch verriet ihr, dass er sie bereits durchschaut hatte, noch ehe sie einen einzigen Gedanken gesendet oder er ihn aufgefangen hatte.
Sie streckte ihm die Hand entgegen – eine Hornberührung wäre in diesem Fall nicht angebracht, da ihr Gegenüber doch kein Horn besaß, um diesen Linyaari-Gruß erwidern zu können. »Ich werde Khornya genannt. Ich wurde im Weltraum geboren, nach der Evakuierung, und bin selbst gerade erst hier angekommen. Aber trotzdem: Willkommen zu Hause.«
Er nickte ihr knapp zu, und obwohl er gefasst zu klingen versuchte, bebte seine Stimme doch, als er antwortete: »Ich war Aari. Ich danke dir.«
Und dann hörte sie hinter sich das Getrappel von hart besohlten Füßen auf metallenen Gitterrosten näher kommen.
Die drei Linyaari-Männer traten hinter ihnen in den Frachtraum und schnappten hörbar nach Luft.
(Was ist das?)
(Ich glaube, mir wird schlecht!)
(Die haben dich wirklich übel zugerichtet, wie?), von Thariinye.
Acorna trat rasch auf ihn zu, ehe Aari sich noch tiefer in den Frachtraum zurückziehen konnte. Sie nahm seine Hände in die ihren, und dieses Mal legte sie ihr Horn an seine Wange, um zu heilen, zu besänftigen. (Sie sind jung und töricht und haben nicht die geringste Ahnung von der Welt da draußen), entschuldigte sie die anderen Linyaari. (Ich bin sicher, dass die Ärzte hier dich im Handumdrehen wieder gesund machen können.)
Thariinye, der zwar unbedacht, jedoch gewiss nicht vorsätzlich unfreundlich war, begriff seine Taktlosigkeit sofort.
Er trat ebenfalls zu ihnen hinüber und berührte, mit nur leichtem Unbehagen, den Neuankömmling seinerseits mit seinem Horn. (Khornya hat Recht. Ich war unhöflich und grausam. Wir werden unverzüglich nach den Ärzten schicken.)
»Vielleicht möchtet ihr Leute Aari ja zuerst in ein Krankenhaus oder eine Klinik oder so was in der Art bringen, bevor wir mit dem Ausladen der Gebeine eurer Vorfahren beginnen?«, schlug Becker vor, und Acorna wurde bewusst, dass auch er, wenngleich wohl nur in eingeschränktem Maße, eindeutig die Fähigkeit besaß, Gedanken zu lesen.
»Ich werde hinausgehen und die Angelegenheit mit der Viizaar besprechen. Aber, mein Bruder«, meinte Thariinye zu Aari, »würdest du dich nicht wohler fühlen, wenn wir dir die Ärzte herbrächten, bevor du deine kleine Schwester und deine alten Freunde wieder triffst?«
Aari warf ihm einen von Bitterkeit erfüllten Blick zu. »Du meinst, damit ich sie nicht erschrecke? Du bist sehr rücksichtsvoll, mein Bruder.«
»Gut, das wäre also dann geklärt«, stellte Becker fest. »Ich denke, wir werden das Löschen der Knochenladung erst mal verschieben, bis eure Mediziner sich Aari angesehen haben –
ob hier oder dort, ist mir gleich. Aber vorerst seht ihr zu, dass ihr von meinem Schiff runterkommt, Leute. Die Dame Acorna ist hier jederzeit willkommen und kann uns aufsuchen, wann immer sie möchte. Aber der Rest von euch tut mir einen Gefallen und wartet so lange, bis ich euch eine goldrandgesäumte, gedruckte Einladung schicke, in Ordnung?
Sagt eurer Anführerdame, dass ich immer noch Treibstoff brauche und hoffe, dass sie einen ausreichend langen Schlauch haben, um das Zeug vom Tank auf dem Raumhafen bis hierher zu pumpen, da ich ja selbst nicht dahin kann.«
(Sehr feindselig und aggressiv), raunte Thariinye Acorna im Vorbeigehen zu.
»Das habe ich gehört!«, rief Becker ihm nach.
»Ich denke, ich sollte auch gehen«, sagte Acorna. »Sie werden jemanden brauchen, der zu Ihren Gunsten auftritt.
Nicht dass meine Meinung bei der Viizaar viel Gewicht hätte, aber wenn Großmama Naadiina, die Ratsälteste, mich unterstützt, dann wird sie mir wohl oder übel doch zuhören müssen.«
Aari lächelte fast, als er aufmerkte: »Großmama weilt also immer noch unter uns?«
»Frisch und munter«, bestätigte Acorna.
»Ich würde sie gerne sehen. Sie wird nicht vor mir erschrecken, höchstens Trauer empfinden. Großmama war immer freundlich zu Laarye und mir, als wir noch klein waren.«
»Sie hat sich um deine kleine Schwester gekümmert, seit eure Eltern…«
Schmerz durchzuckte sein Gesicht, und ihr wurde plötzlich klar, dass er, wenn seine Eltern auf der Suche nach ihm verschollen waren, bevor sie Vhiliinyar erreicht hatten, bis jetzt nicht hatte wissen können, dass er sie hier nicht wieder in die Arme würde schließen können. »Oh, das tut mir schrecklich Leid. Auf diese Weise hättest du es nicht erfahren sollen «, entschuldigte sie sich zutiefst betroffen.
Beschwichtigend legte er ihr seine zerschmetterte Hand auf die Schulter. »Ich wusste, dass sie nicht mehr am Leben sein konnten, andernfalls wären sie längst hier gewesen, um mich zu begrüßen. Es war meine Entscheidung, auf Vhiliinyar zurückzubleiben, nicht etwa ihre, mich im Stich zu lassen. Du hast nur bestätigt, was ich ohnehin schon wusste.«
Acorna beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen, woraufhin Becker sie mit der Hebebühne wieder alle gemeinsam auf den Boden hinabließ. Dieses Mal blieb der Kater entschlossen an Bord; er saß fürsorglich zwischen Aaris Beinen.
»Es freut mich, Ihnen berichten zu können, Graf Edacki, dass die Experimentalstation jetzt voll betriebsfähig ist und dass die Testreihen bereits begonnen haben.« Admiral Ikwaskwan übermittelte seinem Auftraggeber diese Nachricht auf seinem privaten und abhörsicheren Hyperfunkkanal. »Unsere Techniker nehmen sich gerade die Bordrechner der Linyaari-Raumschiffe vor, die wir in unseren Besitz gebracht haben, und versuchen eine Methode zu entwickeln, um die darin enthaltenen Navigationsprogramme und Kursdaten zu ihrer Heimatwelt zu entschlüsseln. Aber es scheint, als ob diese Art Programme mit einem Selbstlöschungsschutz gesichert sind, der alles Wissenswerte vernichtet hat. Und wir haben noch nicht herausgefunden, wie diese… Geschöpfe… die solcherart vernichteten Daten eigentlich wiederherzustellen beabsichtigen, um jemals wieder auf ihre Heimatwelt zurückkehren zu können.«
»Vielleicht könnten Sie unsere Gäste ja freundlich überreden, Ihnen die aus den Computern verschwundenen Informationen verbal preiszugeben«, schlug Ganoosh vor.
»Nun, dem steht leider ein kleines Problem entgegen, Graf.
Mit Ausnahme von drei Gefangenen, denselben Personen, die vor ein paar Monaten bei uns aufgetaucht sind, um dieses Acorna-Mädchen abzuholen, spricht keine dieser…
Kreaturen… irgendetwas, das auch nur annähernd unserer Sprache ähnelt. Wir haben zwar versucht, die drei, die uns verstehen können, zu Dolmetscherdiensten zu zwingen. Aber sie verweigern sich, und es gibt keine Möglichkeit, sie umzustimmen. Folter ist wirkungslos. Sie haben keine Silbe gesagt, obwohl sie die Schmerzen unübersehbar gespürt haben.
Sie werden zudem ziemlich schnell wieder gesund. Oder sterben. Wir hätten beinahe die Botschafterin… Sowieso…
verloren, die Einhornfrau, die Acornas Tante ist. Zumindest hat sie behauptet, dass sie das wäre. So genau lässt sich das nicht sagen, sie sehen ja alle völlig gleich aus. Man hat schon Mühe, die Männer von den Frauen zu unterscheiden.«
»Hmmm… zeigen sie sich genauso widerspenstig, wenn sie ihre anderen Kräfte demonstrieren sollen?«
»Oh nein, Graf. Das haben wir fest im Griff. Man steckt einfach ein oder zwei von ihnen in eine mit Giftgas geflutete Gaskammer, und schon ist die Luft da drinnen so sauber und süß wie ein Frühlingslüftchen, wenn man sie wieder rauslässt.
Man flößt einem von ihnen Abflussreiniger ein, und ehe man sich’s versieht, ist die Brühe schon kristallklares Trinkwasser.
Das ist alles gründlich dokumentiert. Sie können künftig Giftmüll einfach in die Landschaft kippen, so viel Sie nur wollen, oder verseuchen, was immer Ihnen in den Sinn kommt
– wir haben hier ein Allheilmittel dagegen. Natürlich bin ich nicht sicher, wie hoch ihre Leistungsfähigkeit außerhalb einer kontrollierten Umgebung ist.«
»Eine so gezierte Wortwahl ist doch sonst gar nicht Ihre Art, Admiral.« Ganoosh lächelte. »Sie meinen, wenn sie nicht in Gefangenschaft sind. Nun, da wären noch ein paar andere kleine Tests, die ich Sie durchzuführen bitte. Ich habe die von meinem Mündel befehligte Midas zwischenzeitlich auf einen neuen Kurs einschwenken lassen. Aber sie müsste bald schon bei Ihnen eintreffen, und zwar mit einem sehr wichtigen Gast an Bord, wie ich hoffe, und womöglich auch mit einigen Informationen hinsichtlich der Position des zentralen Brutstalls unserer lieben gehörnten Freunde. Darüber hinaus wird sie ein paar Hörner mitbringen, die wir ihren ursprünglichen Besitzern abgenommen haben. Ich möchte, dass Sie einige Testreihen veranlassen, um herauszufinden, welcher qualitative Unterschied zwischen der Leistungsfähigkeit des Horns auf einem lebendigen Tier und dem eines Horns besteht, das getrennt vorliegt. Wenn dieser Unterschied nicht allzu erheblich ist, nun, dann…«
»Ich verstehe vollkommen, Graf Edacki. Was ich bei dieser Gelegenheit übrigens auch noch gerne berichten würde: Ich habe mir da eine höchst interessante und unterhaltsame Methode einfallen lassen, um die Heilkraft der Hörner auf die Probe zu stellen.«
»Und die wäre?«, fragte Ganoosh neugierig.
»Indem ich das Konzept der römischen Amphitheater und der Gladiatorenwettkämpfe wieder belebt habe. Sie erinnern sich doch gewiss an meine Partnerin Nadhari Kando?«, erwiderte der Admiral.
»Sie haben sie doch nicht etwa in unser kleines Geheimnis eingeweiht, oder etwa doch? Diese Frau war im Bunde mit diesem mitleidigen Jammerlappen Delszaki Li«, warnte ihn der Graf mit Abscheu in der Stimme.
»Wir scheinen das Problem von Nadharis allzu weichem Herz vermittels einer großzügigen Verabreichung gewisser Drogen, die Feindseligkeit und Aggressionen hervorrufen, gelöst zu haben. Das scheint ihre Hemmschwellen gegen Gewaltanwendung erfolgreich auf Null zu senken, wobei diese allerdings ohnehin nie übermäßig ausgeprägt waren.«
Ikwaskwan grinste wölfisch.
»Daran kann ich mich aus einem anderen Komgespräch entsinnen, das wir beide geführt hatten«, bestätigte Ganoosh anzüglich.
»Der Zufall hat uns eine Schiffsladung Kinder in die Hände gespielt, Feinde Ihres verstorbenen Partners, des Rattenfängers, wie ich hinzufügen sollte. Es hat den Anschein, dass diese Gören gehofft hatten, Nadhari als Ausbilderin anheuern zu können, um sie in der Kunst des Krieges zu unterweisen. Deshalb habe ich sie bei mir aufgenommen. –
Hier, werfen Sie mal einen Blick darauf«, forderte er ihn auf.
Der Admiral schaltete ein neues Bild auf den Komschirm von Ganoosh, sodass dieser nun in eine grob zu einem Amphitheater umgebaute Biosphärenkuppel blickte, in der man entlang der Kuppelwandung eine nach außen hin ansteigende, ringförmige Zuschauertribüne aufgebaut hatte.
Die auf den Tribünenbänken sitzenden Söldner waren durch schützende Mauern aus verstärktem Plastbeton von der Zentralarena getrennt. Genau in der Mitte dieser Kampfbühne, mit zwei langen, an ihrem Hals und einem Fuß angebrachten Ketten an eine dicke Säule gefesselt, stand Nadhari Kando, jene geschmeidige, gefährlich aussehende Frau, die Ganoosh das letzte Mal in Ikwaskwans Gesellschaft gesehen hatte. Sie war mit Dolchen und Peitschen bewaffnet. Ein kurzes Stück entfernt trieben ein paar mit Laser-Treibstangen bewaffnete Söldner ein hoch gewachsenes, recht hübsches junges Mädchen in die Reichweite von Nadharis Waffen. Das Mädchen war in etwas gekleidet, das offenbar Ikwaskwans Vorstellung von einer auf das absolut Nötigste reduzierten römischen Toga entsprach. Bewaffnet war es nur mit einem Dolch und einem Netz.
Ein qualvoller Schrei erhob sich von irgendwoher aus dem Hintergrund: »‘Ziana! Nein!«
»Ist das ihr Name?«, fragte Ganoosh.
»Ja, Graf. Das ist Andreziana Sternenkind, die Kapitänin jener Sternenfahrerkinder, von denen ich gesprochen habe.
Wie rührend. Sie versucht mit Nadhari zu reden, den Drogenschleier zu durchdringen und ihr Innerstes zu erreichen, sehen Sie? Aber Nadhari wird ihr natürlich ebenso wenig zuhören, wie die Löwen einst auf die Christen gehört haben.«
»Und die männliche Stimme, die gerade zu hören war und die ihren Namen auf so zärtliche Weise gerufen hat?«
»Das dürfte Pal Kendoro gewesen sein, Graf Edacki. Genau wie Nadhari selbst ein ehemaliger Lakai von Delszaki Linyaari. Sogar ein Freund von Nadhari. Von der alten Nadhari natürlich, nicht von diesem neuen, verbesserten Modell.«
»Es ist höchst unsportlich und ungalant von Ihnen, Admiral, dieses süße Kind da so ganz auf sich gestellt in die Arena rauszuschicken, um gegen eine kampferprobte Irre anzutreten.
Darf ich Ihnen einen Verbesserungsvorschlag machen?«
»Aber natürlich, Graf, gerne.«
»Ketten Sie die beiden Liebenden aneinander und schicken Sie sie zusammen raus. Zwei verliebte Schmeißfliegen mit einem Kriegerweib schlagen, die eine an der Klatsche hat.« Er fing an zu glucksen. »Oh, das ist ganz nach meinem Geschmack! Das ist es wirklich! Ich werde auf der Stelle zu Ihnen rauskommen müssen, um diese einzigartige Darbietung mit eigenen Augen miterleben zu können. Sparen Sie dieses Schauspiel für mich auf, ja?«
»Nicht nötig, Graf. Ganz gleich, wie schlimm Nadhari sie verwundet oder, wenn sie Glück haben, einer von ihnen sie verletzt – die Linyaari werden zweifelsohne bereit sein, diese unschuldigen Geschöpfe wieder vollständig zu heilen. Wir können Nadhari und die Kinder also bis in alle Ewigkeit immer wieder einsetzen, wenn die Heilkräfte dieser Einhörner tatsächlich so gut funktionieren, wie man uns glauben gemacht hat.«
»Vortrefflich, Admiral, vortrefflich! Wie ich diese kleinen Vergnügungen vermisst habe – jene Art Spiele, die die Didis ersonnen hatten, um mein Interesse zu wecken, damals, in den alten Zeiten, bevor das Einhornmädchen aufgetaucht ist. Wie außerordentlich passend, dass ausgerechnet ihre eigene Spezies derartige Vergnügen wieder möglich und erschwinglich machen wird.«
Neunzehn