Anne McCaffrey
Elizabeth Ann Scarborough
Acornas Heimkehr
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Dieter Schmidt
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Acorna’s People« bei HarperPrism, New York Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung 12/2000
Copyright © der Originalausgabe 1999 by
Anne McCaffrey und Elizabeth Ann Scarborough Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagillustration: Agt. Schlück/Lundgren Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck
Verlagsnummer: 24970
Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger
V B. • Herstellung: Peter Papenbrok
Printed in Germany
ISBN 3-442-24970-8
www.blanvalet-verlag.de
Acorna hat es geschafft – endlich kann sie heimkehren zu ihrem eigenen Volk. Lange hat das Mädchen mit dem Horn auf der Stirn und den wundersamen Fähigkeiten warten müssen, um eine Spur zu ihrer Heimatwelt zu finden. Seit es als Kleinkind in einer Raumkapsel aufgefunden wurde, die mutterseelenallein durchs All trieb, ist das Einhornmädchen unter Menschen aufgewachsen und hat schon viele Abenteuer bestehen müssen. Nun jedoch steht Acorna vor der bislang größten Herausforderung ihres Lebens: der Begegnung mit ihren leiblichen Verwandten und dem Erforschen von Kultur, Geschichte und Bräuchen ihres eigenen Volkes…
Anne McCaffrey wurde in Massachusetts geboren und veröffentlichte 1954 ihren ersten Science-Fiction-Roman. Der große Durchbruch gelang ihr Ende der 60er Jahre, als sie ihre berühmte »Drachenreiter «-Saga begann. In den über 40 Jahren ihrer Karriere hat sie viele weitere Zyklen und Einzelromane veröffentlicht und wurde mit den wichtigsten Preisen des Genres ausgezeichnet. Anne McCaffrey gilt als eine der besten Science-Fiction-Autorinnen der Welt und lebt heute in Irland.
Elizabeth Ann Scarborough, geboren 1947 ist die ebenfalls bereits vielfach preisgekrönte Autorin von mehr als zwei Dutzend Science-Fiction- und Fantasy-Romanen. Sie lebt im US-Bundesstaat Washington.
Gewidmet Ryk Reaser,
wissenschaftlicher und
bergungstechnischer Berater
Eins
Auf dem Planeten Laboue, in der prunkvollen Hauptresidenz von Hafiz Harakamian, in einer der vielen hundert kostbaren, aus seltenen Edelhölzern handgefertigten Vitrinen, in denen er seine kleinsten und oftmals wertvollsten Sammlerstücke aufbewahrte, hatte Acorna einmal eine Kollektion von Eiern ausgestellt gesehen, die über und über mit funkelnden Juwelen besetzt und verziert gewesen waren. Vor Hunderten von Jahren von einem Mann namens Carl Fabergé für den Kronschatz eines russischen Zaren geschaffen, der nicht annähernd so wohlhabend gewesen war wie ihr jetziger Eigentümer, hatten diese Eier die Augen des jungen Mädchens förmlich geblendet mit ihren farbenprächtigen Glasuren, ihren goldenen Ziselierungen und Verschnörkelungen, ihrem verschlungenen Dekor und Zierbesatz aus Diamanten und glitzernden Edelsteinen sowie ihren winzigen, beweglichen Teilen – den filigran kunstgeschmiedeten Miniaturdioramen, die sich beim Öffnen aus dem Innern der Eier heraus entfalteten.
Jetzt, unermesslich weit von Onkel Hafiz’ Heim entfernt und viele Jahre später, schien es Acorna, als wären diese Eier auf magische Weise zu Riesengröße angeschwollen und hätten sich ins Weltall emporgeschwungen, wo ihre Farben in der Schwärze der Unendlichkeit sogar noch leuchtender strahlten, als es ihr aus ihrer Kindheit in Erinnerung war. Sie bildeten eine festlich geschmückte Flottille, deren majestätischer Anblick den Panoramaschirm der Balakiire beinahe zur Gänze ausfüllte.
Die Flottille hatte beständig an Größe zugenommen, seit die Balakiire aus dem Wurmloch aufgetaucht war, das sie dicht vor der Atmosphäre von Narhii-Vhiliinyar, der zweiten Heimatwelt der Linyaari, wieder in den Normalraum entlassen hatte.
Ergänzt wurde das Schauspiel durch eine augenscheinlich nicht enden wollende Abfolge von Linyaari-Raumfahrern, den Insassen dieser leuchtenden Schiffe dort draußen, deren Konterfeis eines nach dem anderen über den Komschirm paradierten, um die heimgekehrte Delegation der Balakiire willkommen zu heißen.
Melireenya hatte es übernommen, Acorna jedes Mal, wenn ein neues Gesicht auf dem Bildschirm auftauchte, mit dem betreffenden Offizier bekannt zu machen, sodass Acorna bald das Gefühl hatte, sie befände sich schon jetzt auf einem jener Empfänge oder Gesellschaften, die auszurichten ihr ihre Tante und Melireenya androhten, um sie in die Linyaari-Gesellschaft einzuführen und insbesondere, um ihr Kandidaten vorzustellen, die sich als Lebensgefährten für sie eignen könnten. Acorna war jedoch so hingerissen vom Spektakel der Schmuckeier-
ähnlichen Schiffe und dem Anblick der Heimatwelt ihres Volkes, die beinahe unmerklich rotierend hinter der Flottille schwebte, dass sie den Bildern auf dem Komschirm nur mit Mühe Aufmerksamkeit zu widmen vermochte.
Die Linyaari, die sie auf dieser Welt willkommen hießen, sahen ihr alle so ähnlich, dass ihre menschlichen Freunde sie glatt mit Acorna hätten verwechseln können. Die Haut der Gestalten auf dem Komschirm war blass, und sie besaßen golden schillernde, spiralenartig gedrehte, kegelförmige Kurzhörner, die ihnen aus der Stirn sprossen. Ihre Häupter wurden von Mähnen silberfarbigen Haares gekrönt, deren Wuchs sich im Nacken und an ihrem Rückgrat entlang fortsetzte. Genau wie bei Acorna waren auch ihre Beine mit Büscheln feinen, lockigen, weißen Haares bedeckt, das sie von den Knien bis zu den Knöcheln zierte, bis knapp oberhalb ihrer zweizehigen Füße. Ihre Hände besaßen, wie die von Acorna, nur jeweils drei Finger, jeder mit lediglich einem Gelenk in der Mitte und einem zweiten an der Stelle, wo der Finger an der Handfläche ansetzte.
Wenn sie bedachte, dass das einzige Leben, das sie bislang gekannt hatte, das einer Exotin unter lauter Andersgestaltigen gewesen war, konnte sie es kaum fassen, sich nun in der Gesellschaft von so vielen anderen ihrer Art zu befinden.
Sämtliche Einrichtungsgegenstände und Gerätschaften, die sie sehen und berühren konnte, waren von vornherein für Geschöpfe wie sie entworfen worden. Nichts brauchte eigens für ihre anatomischen Besonderheiten modifiziert zu werden.
Nichts an ihrem Äußeren war für die Linyaari ungewöhnlich.
Trotzdem, so sehr diese Wesen ihr auch glichen, so waren sie doch alle, sogar die Schwester ihrer Mutter und die anderen Anwesenden an Bord der Balakiire, immer noch Fremde für sie – Fremde, die ein besitzergreifendes Interesse an ihr bekundeten, ohne sie sonderlich gut zu kennen. Während die Menschen, unter denen sie aufgewachsen war, mittlerweile aufgehört hatten, sie wie ein Kind zu behandeln, schien sie in den Augen ihrer Linyaari-Schiffskameraden kaum mehr als eine Halbwüchsige zu sein.
Das war eine ungewohnte Erfahrung für sie. Acorna war als Kleinkind in einer Rettungskapsel aus dem Raumschiff ihrer Eltern ins All hinauskatapultiert worden, um sie vor jener tödlichen Explosion zu bewahren, die das Leben ihrer Eltern und der attackierenden Khleevi gefordert hatte. Kurz danach war sie gerettet worden und unter Menschen aufgewachsen.
Genauer gesagt, sie war von gleich drei Adoptivonkeln aufgezogen worden – Calum Baird, Declan ›Gill‹ Giloglie und Rafik Nadezda. Als diese Acorna damals gefunden hatten, waren sie als Erzschürfer tätig gewesen und hatten in den abgelegensten Sternengebieten am äußersten Rand des von Menschen besiedelten Teils der Galaxis gearbeitet.
Mittlerweile hatten sie sich jedoch auf andere Dinge verlegt.
Rafik beispielsweise war jetzt das amtierende Oberhaupt des Hauses Harakamian, des mächtigen Wirtschaftsimperiums, das von seinem Onkel Hafiz Harakamian, einem außergewöhnlich gerissenen Handelsbaron und vermögenden
Kuriositätensammler, gegründet worden war.
Als Acorna Hafiz das erste Mal begegnet war, hatte er sie seinen vielen Schätzen hinzufügen und sie als seine neueste Kostbarkeit zur Schau stellen wollen, zusammen mit den wunderschönen Fabergé-Eiern oder den unglaublich seltenen Singenden Steinen von Skarrness, die seinen Palastgarten bewachten. Ihren Wert als Sammlerstück hatte sie für Hafiz später allerdings schlagartig wieder verloren, als dieser erfuhr, dass sie keine einmalige Kuriosität, sondern lediglich die Angehörige einer zahlenstarken, nichtmenschlichen Fremdspezies war.
Acornas Beziehung zu Hafiz und jene zwischen Hafiz und Rafik hatten sich in der Folge so sehr verbessert, dass Acorna inzwischen den Namen Harakamian als Familiennamen führte, zusammen mit dem ihres selbstlosen und liebevollen Mentors Herrn Li. Der herzensgute Herr Li war vor ein paar Monaten verstorben, der robustere Onkel Hafiz jedoch hatte erst kürzlich zum zweiten Mal geheiratet und genoss in Gesellschaft seiner Ehefrau nun in vollen Zügen seinen Ruhestand.
Im Verein mit ihren Onkeln und Herrn Li war es Acorna gelungen, die Kinder zu befreien, die in den Sklavenlagern von Kezdet gefangen gehalten wurden, einem Planeten, dessen Wirtschaftskraft zu großen Teilen auf der Ausbeutung von Kinderarbeit gegründet hatte. Sie waren bei dieser Aufgabe tatkräftig von Pal, Judit und Mercy unterstützt worden, den hoch intelligenten und listigen Geschwistern der Kendoro-Familie, die selbst ehemalige Opfer der Sklavenlager waren.
Gemeinsam hatten Acorna und ihre Freunde entscheidend dazu beigetragen, die Missstände auf Kezdet zu beseitigen und den Planeten vom Gift des Rattenfängers zu befreien, jenem Rädelsführer, der für die abscheulichsten Misshandlungen der Kindersklaven verantwortlich gewesen war. In der Folgezeit hatten sie auf Maganos, einem von Kezdets Monden, eine Bergbau- und Schulungseinrichtung aufgebaut, um den Kindern, die sie vor den Gräueln der Arbeitslager gerettet hatten, dort eine neue Heimat zu schaffen und ihnen eine solide Ausbildung angedeihen zu lassen.
Später hatten Acorna und ihr Onkel Calum bei dem Versuch, die Heimatwelt des Einhornmädchens zu lokalisieren, dabei geholfen, eine Meuterei unter den Sternenfahrern niederzuschlagen, einer Gruppe von Menschen, die auf dem Kolonieschiff Haven als heimatlose Nomaden durchs All reisten. Nachdem die Kinder an Bord des Generationsraumers zunächst hilflos hatten mit ansehen müssen, wie ihre Eltern von den Meuterern ermordet wurden, waren sie in der Folge gezwungen gewesen, auch noch unfreiwillige Zeugen des weiteren Blutvergießens, Mordens und Raubens zu sein, auf die sich die neuen Herren des Schiffes verlegt hatten. Am Ende war es ihnen mit Acornas Hilfe aber doch gelungen, den Verbrechern die Macht wieder abzuringen und sie auszulöschen. Im Verlaufe dieses Kampfes hatten sie auch den berühmten Meteorologen Dr. Ngaen Xong Hoa gerettet, den Erfinder eines Verfahrens, mit dem man das Wetter beeinflussen konnte. Die Piraten, die das Schiff in ihre Gewalt gebracht hatten, hatten Dr. Hoas Erfindung missbraucht, um die Ökonomie und Ökologie des erst vor kurzem besiedelten Planeten Rushima zu zerstören. Die Meuterer wurden von den siegreichen Heranwachsenden der Haven in den Raum hinausgestoßen, als die Kinder die Kontrolle über das Raumschiff zurückeroberten, und erlitten so das gleiche Schicksal, das die Aufrührer auch ihren Opfern zugedacht hatten.
Als sie mit Dr. Hoa zurückkehrten, um den auf Rushima angerichteten Schaden wieder gutzumachen, wurden Acorna, ihre Adoptivfamilie und die Kinder der Haven von den Khleevi überfallen, einem bösartigen, käferähnlichen Fremdvolk, das auch für den Tod von Acornas Eltern verantwortlich war. Glücklicherweise war Acornas Tante Neeva mit einer Gesandtschaft von Narhii-Vhiliinyar früh genug eingetroffen, um die Menschheit vor dieser drohenden Invasion zu warnen. So konnten rechtzeitig alle Mittel der Häuser Harakamian und Li aufgeboten werden, um Acorna zu Hilfe zu eilen und die Khleevi in die Flucht zu schlagen.
Im Laufe all dieser Ereignisse war Acorna zu einer regelrechten Meisterin der Verkleidungskunst geworden und hatte ihr mit wundersamen Kräften ausgestattetes Horn ebenso dazu eingesetzt, etwa die vergiftete Bordatmosphäre eines ganzen Raumschiffes oder die Gewässer von Rushima zu reinigen, wie auch die Verwundeten der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu heilen, in die sie mehrfach unfreiwillig verwickelt worden war.
Zu ihren einzigartigen Gaben gehörte auch die Fähigkeit, auf scheinbar magische Weise schon aus der Ferne den Mineralgehalt jedes beliebigen Asteroiden bestimmen zu können, den ihre Onkel abzubauen beabsichtigten. Eine Begabung, die ihr bereits großen Respekt eingetragen hatte, als sie noch ziemlich jung gewesen war. In einem vergleichsweise kurzen Leben hatte Acorna also schon eine ganze Menge erlebt und auch geleistet. Sie fühlte sich infolgedessen meistens eigentlich nicht mehr wie ein Kind.
In Neevas Augen freilich, der Schwester von Acornas Mutter, einer Sonderbotschafterin oder Visedhaanye ferilii der Linyaari, war und blieb sie ein Füllen. Auch alle anderen Linyaari an Bord der Balakiire betrachteten Acorna als Halbwüchsige: Khaari, die Navigationsoffizierin oder Gheraalye malivii in der Linyaari-Sprache; Melireenya, die Leitende Kommunikationsoffizierin oder Gheraalye vekhanyii; und ebenso Thariinye, der junge Hüne, dessen genaue Aufgaben an Bord Acorna zwar immer noch nicht so recht klar waren, selbst nach all der Zeit nicht, die sie nun schon gemeinsam durchs All gereist waren, der jedoch trotzdem felsenfest davon überzeugt schien, dass die Mission ohne ihn niemals hätte Erfolg haben können. Ihre wundersamen Fähigkeiten, die bei ihren menschlichen Freunden als einzigartige Gabe gegolten hatten, waren bei ihrem eigenen Volk augenscheinlich ganz und gar alltäglich. Und viele dieser Fähigkeiten schienen bei den anderen, reiferen Linyaari obendrein auch noch sehr viel ausgeprägter entwickelt und vielfältiger geartet zu sein. So war beispielsweise keiner von ihnen auf Worte angewiesen, um sich untereinander verständigen zu können; sie waren alle mühelos im Stande, die Gedanken der anderen auf dem Schiff zu lesen – einschließlich jener von Acorna, ein Umstand, den sie zuweilen als ziemlich lästig empfand. Sie hatte also offenbar in der Tat noch sehr viel zu lernen, bevor sie sich wahrhaftig zu den Erwachsenen ihrer Spezies zählen durfte. Zum Glück waren ihre Artgenossen, sofern ihre Schiffskameraden typische Vertreter ihrer Spezies waren, anscheinend alle liebenswert und verständnisvoll.
»Khornya, das ist meine Berufskollegin im Gamma-Sektor, Visedhaanye ferilii Taankaril«, verkündete Tante Neeva.
Khornya war die Linyaari-Version von Acorna, dem Namen, den ihr ihre menschlichen ›Onkel‹ gegeben hatten. Neevas Worte lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder von dem fesselnden Anblick der Schiffe auf dem Panoramaschirm ab.
Acorna senkte grüßend ihr Horn, was ihr die Visedhaanye ferilii nachtat, eine Frau, die genau wie Tante Neeva, Khaari und Melireenya von unbestimmbarem Alter war, jedenfalls unbestimmbar für Acorna.
»Khornya«, fuhr Tante Neeva fort, nickte der Frau auf dem Komschirm zu und übermittelte Acorna die Gedankenbotschaft ihres Gegenübers: »Die Visedhaanye ferilii ist Mutter zweier stattlicher Söhne, die ihre Lebensgefährten noch nicht gefunden haben. Sie bedauert, dass sie zwar gerade im Begriff steht, zu einer Mission aufzubrechen, hofft aber, dass du nicht zögern wirst, dich jederzeit an die beiden zu wenden, wenn du Hilfe dabei brauchst, dich in deiner neuen Heimat einzuleben.«
Acorna lächelte und nickte der Frau ein weiteres Mal zu. Es waren keinerlei tatsächliche Worte zwischen ihrer Tante und der Würdenträgerin gewechselt worden. Augenscheinlich konnten die reiferen raumfahrenden Linyaari mit ihren Gedanken sogar die Weiten des Weltraums, zumindest jedoch beträchtliche Distanzen überwinden, um telepathisch miteinander zu kommunizieren. Zuweilen hatte Acorna das Gefühl, dass auch sie allmählich begriff, wie man das anstellte.
Aber sie fand die Prozedur sogar mit Leuten, die leibhaftig und mittelbar vor ihr standen, immer noch recht frustrierend.
Insbesondere, wenn ihre Telepathiepartner auf Gedanken reagierten, die sie, wenn sie es sich hätte aussuchen können, lieber nicht geäußert hätte. Leider beherrschte sie die Linyaari-Sprache einfach noch nicht fließend genug, um sich ausschließlich auf verbale Kommunikation beschränken zu können. Und die Mannschaft der Balakiire empfand die Notwendigkeit, sich mit ihr in gesprochenen Worten verständigen zu müssen, ohnehin als ziemlich beschwerlich.
Neeva versicherte ihr zwar, dass sie den Dreh schon bald herausbekommen würde, doch davon war Acorna selbst noch ganz und gar nicht überzeugt.
Das gleiche Spiel wiederholte sich jedenfalls auch im restlichen Verlauf ihrer Heimkehr; im Weltraum um ihre neue Heimatwelt herum tanzten Eierschiffe voller Acorna-ähnlicher Wesen, die ausnahmslos alle neugierig auf die ehemals tot geglaubte Tochter der erlauchten Feriila und des kühnen Vaanye zu sein schienen, die sich alle höflich erkundigten, wo sie die ganze Zeit über gewesen war und was sie getan hatte, die scheinbar alle ungebundene Söhne oder Neffen oder verwitwete Väter und Onkel besaßen, und die der Balakiire wie besorgte Hütehunde alle das Geleit bis zum Raumhafen gaben, um dort neben ihr zu Boden zu gehen.
Acorna tauchte hinter ihrer Tante Neeva und dicht vor Thariinye aus der Balakiire auf. Sie fand sich auf einem Landeplatz wieder, der mit einer unüberschaubaren Menge Linyaari angefüllt war, von denen ein paar sogar ein Willkommenstransparent hochhielten. Hinter den Uniformen tragenden, Acorna-ähnlichen Raumfahrern, die aus ihren Schiffen strömten, um sich der feiernden Menge anzuschließen, drängte eine Masse vielfarbiger Wesen von gleichartiger Gestalt wie jene der Raumfahrer auf die Landefläche vor und klimperte, blies, hämmerte, strich und zupfte auf, in und an einer bunten Vielfalt von Musikinstrumenten herum. Das ganze Raumhafenarsenal war mit fremdartiger, jedoch wundervoll harmonischer und fröhlicher Musik erfüllt.
Noch bevor Tante Neeva das Schauspiel erklären konnte, war Acorna überwältigt vor Glück. Das da war ihr Willkommenskomitee. Die Leute kannten sie nicht einmal und hatten trotzdem das große Blasorchester aufgeboten und den roten Willkommensteppich ausgerollt. Tante Neeva umarmte sie inbrünstig.
»Wir sind alle so froh, dich wiederzuhaben, Khornya«, sagte sie und deutete mit ausholender Geste auf die lächelnden Linyaari. Acorna traten Tränen in die Augen, als sie all denen, die hierher gekommen waren, um sie zu empfangen, ihren Dank zunickte.
Endlich würde sie wahrhaftig dazugehören. Endlich würde sie keine Abnormität mehr sein. Was für eine Erleichterung das sein würde! »Und ich bin so froh, hier zu sein, Tante Neeva«, erwiderte sie. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh.«
Tante Neeva blickte sie ein wenig verwirrt an, ein Gesichtsausdruck, den sie häufig aufzusetzen schien, wenn sie mit ihrer Nichte zu tun hatte. »Aber das hast du doch gerade getan, Kind«, meinte sie. »Das hast du gerade getan.«
Zwei
Die Condor schlingerte und bockte und schleuderte ihren Kapitän und den menschlichen Teil ihrer Mannschaft – beide wurden in Personalunion von Jonas Becker gestellt, dem Generaldirektor der Interplanetaren Bergungs- und Wiederverwertungsgesellschaft Becker mbH – gegen das Brückenschott. Ebenso schnell, wie Becker zu Fall gebracht worden war, wurde er auch wieder freigegeben und schwebte nun wie ein Balletttänzer in Zeitlupe zur Decke empor, derweil der Rest der Mannschaft, eine 20 Pfund schwere betagte, schwarz- und graufarbene makahomanische Tempelkatze, an ihm vorbeitrieb und die ausgefahrenen Krallen des Katers über das schrammten, was von Beckers rechtem Ohr noch übrig war.
»Verdammt noch mal, SB, hast du etwa schon wieder auf die GSS-Konsole gepinkelt?«, stöhnte Becker auf. SB, dessen voller Name Satansbraten lautete, knurrte in seiner Version eines freundlichen Schnurrens zurück. Seine Krallen fuhren rhythmisch ein und aus und kneteten glückselig die Luft, während zwischen seinen mächtigen Reißzähnen dicke Perlen freudigen Katzensabbers hervordrifteten. Sein gesundes Auge war in einem Ausdruck ekstatischer Katzenwonne geschlossen.
Becker hatte noch nie eine Katze gesehen, die Schwerelosigkeit so sehr liebte wie SB – freilich hatte er überhaupt noch nie eine Katze gesehen, die auch nur in irgendeiner Hinsicht so gewesen wäre wie SB. Der kurze, kupierte Schwanzstummel des Katers wedelte wie ein Steuerruder hin und her, während er durch den Raum schwebte.
Becker versetzte der Kontrollkonsole des Gravitations-Stabilisierungssystems einen wuchtigen Tritt, als er daran vorbeischwebte. Der Rückstoß ließ ihn unfreiwillig wieder in die Höhe segeln, wo er gegen die Steuerkonsole eines Raumjägers knallte, die über dem Pilotenpult der Condor an der Decke festgezurrt war. Es gab in seinem Schiff nämlich nicht übermäßig viel regulären Platz, um Ladung zu verstauen, deshalb nutzte Becker hierfür jeden Kubikzentimeter freien Raum. Allerdings war ihm auf diese Weise keine Stelle mehr verblieben, wo er hätte weich landen können, als die Bordschwerkraft sich nach ein paar weiteren ruckartigen Erschütterungen des Raumers neu aufbaute und stabilisierte, was Becker und SB wieder auf das Deck zurückpurzeln ließ.
Becker massierte sich die Hüfte. Er war damit gegen eine der Packkisten mit Katzenfutter gerammt, die er aus SBs ursprünglichem Heimatschiff geborgen hatte. Der Kater, der an diesen besonderen Frachtbehältern immer sehr interessiert war, zwängte sich zwischen die Kiste und Becker und rieb sich an beiden. Wie gewöhnlich war Becker überrascht, wie samtweich das Fell des Katers war, ganz im Widerspruch zu seinem Charakter. Becker hatte den kleinen Finger seiner rechten Hand verloren, als er seinerzeit versucht hatte, Satansbraten zu bergen. Die Katze war damals natürlich noch namenlos gewesen, der spuckende, fauchende, kratzende einzige Überlebende einer Weltraumhavarie, der zusammen mit den Leichen seiner früheren Schiffskameraden an Bord eines aufgegebenen makahomanischen Raumschiffes zurückgelassen worden war.
Über den Verlust seines zweiten Fingers sprach Becker nicht sonderlich gerne, doch es hatte etwas mit jener Zeit zu tun, die er als ›SBs Eingewöhnungsphase‹ bezeichnete, als der Kater sich so weit von seinen Verletzungen erholt hatte, um anfangen zu können, sich auf der Condor heimisch zu fühlen. Als Becker damals, kurz nachdem er Satansbraten aufgenommen hatte, ein paar auserlesene Stücke seines Inventars zum Verkauf zusammenstellen wollte, hatte er feststellen müssen, dass sie von einer gelblichen Flüssigkeit getränkt waren und schlimmer stanken als ein Moschusotter in der Brunft. Die Ursache hierfür war klar gewesen – und ebenso offensichtlich hatte es einer Lösung für dieses Problem bedurft.
Becker hatte deshalb in der Bibliothek nachgeforscht, die er aus einer Mülldeponie auf Clackamass 2 geborgen hatte. Er war ein geradezu fanatischer Sammler von Informationsträgern jeglicher Art: Druckwerken, Datenchips, was auch immer. Das kam ihm oft zugute, wenn er die diversen Gerätschaften aus seinem Lagerbestand identifizieren wollte oder gar herauszufinden versuchte, wie man sie wieder in Gang bringen oder bedienen konnte.
Er hatte sich durch einen erklecklichen Stapel modriger, zerschlissener Bücher wühlen müssen, bevor er endlich die Ausgabe von Katzenhaltung leicht gemacht gefunden hatte, die in der Kantine der Reservetoilette verstaut gewesen war. Das Buch behauptete, dass die einzige Möglichkeit, einen Kater wieder davon abzubringen, ›sein Territorium zu markieren‹, indem er es mit Duftmarken absteckte, darin bestünde, diesen Kater zu kastrieren. Infolge seiner Geschäfte war Becker damals gerade lichtjahreweit vom nächsten Tierarzt entfernt gewesen. Doch während seiner Kindheit, die er in einem landwirtschaftlichen Arbeitslager auf Kezdet verbracht hatte, hatte er oft bei entsprechenden Operationen an Kälbern und Ziegen mitgeholfen. Und da sich eine solche Sache seiner Ansicht nach bei einem Kater ja nicht allzu viel anders gestalten konnte, versuchte er kurzerhand, SB mit Bordmitteln in Eigenregie einem chirurgischen Eingriff zu unterziehen.
Wie sich allerdings herausstellte, war seine Ansicht gründlich falsch gewesen. Sein Vorhaben endete damit, dass sie sozusagen beide chirurgisch behandelt wurden – SB besaß nun einen Hoden weniger, und Becker besaß an Stelle seines rechten Ringfingers jetzt einen weiteren Stumpf, neben dem Stummel seines kleinen Fingers, den der Kater schon bei seiner ursprünglichen Rettung zerfetzt hatte. Ein Tier wie dieses musste man doch einfach lieben.
»Ist schon gut, mein Junge«, meinte er zu dem Kater und kraulte ihn hinter dem rechten Ohr, das, genau wie Beckers eigenes, nur noch teilweise vorhanden war. Das Schnurren des Katers nahm an Lautstärke zu, bis es sich so anhörte, als sei die Pilotenkabine von einem ganzen Rudel Löwen bevölkert. »Der Bordschwerkraftgenerator taugt ohnehin nichts mehr.«
Er wusste zwar, dass er irgendwo im Durcheinander seines Ladeguts ein Austauschgerät besaß, vermutlich sogar ein Besseres als das jetzige, das er erst vor sechs Monaten neu eingebaut hatte. Das Problem war nur, dass er diese Reparatur nicht im freien Raum vornehmen konnte. Seiner Erinnerung nach war das Ersatzteil, das er benötigte, so tief vergraben, dass er seinen gesamten Frachtraum würde ausräumen müssen, um es zu finden. Wie gewöhnlich war das Schiff nämlich viel zu voll gestopft, als dass es irgendwo in seinem Innern noch genügend Platz gegeben hätte, um das Frachtgut einigermaßen handlich umschichten zu können, während er es durchforstete.
Zur Not hätte er natürlich eine diffizile Umstapelaktion vornehmen und es doch irgendwie schaffen können, doch wozu die ganze Mühe?
»Also dann, Kater, es hat ganz den Anschein, als ob wir mal wieder auf ‘nen Dreckball runter müssten. Eigentlich hatte ich den nächsten zugemüllten Planeten da draußen ja auslassen und wieder Kurs in Richtung Zivilisation nehmen wollen. Aber so wie es aussieht, werden wir wohl zuerst einen weiteren Werkstatthalt einlegen müssen. Wenn ich den hier mitrechne, dürften wir dann, schätze ich, so ziemlich sämtliche Schiffsteile einmal komplett ausgetauscht haben, seit wir das letzte Mal daheim auf Kezdet waren – wir werden also eine praktisch brandneue Condor haben, wenn wir wieder dort landen.«
Das war nicht ungewöhnlich. Im Durchschnitt tauschte er den Großteil der Condor jedes Jahr etwa dreimal aus. Das war eine unvermeidliche Begleiterscheinung seines Berufs oder vielleicht auch nur der Persönlichkeitsstruktur jenes Menschenschlags, der Beckers Profession ausübte. Denn er hasste es schlicht, für irgendetwas den vollen Preis zu bezahlen, wenn doch so viele Ersatzteile, nur eben ein bisschen gebraucht, regelrecht auf der Straße herumlagen und man diese Schätze nur aufzusammeln brauchte. Er war Experte in der Kunst der Improvisation, des Umrüstens, der Behelfsreparaturen und der Notlandungen auf gottverlassenen, fernab jeder Zivilisation mitten im Weltraum gelegenen Felsbrocken. Becker hätte viele Reparaturen bei Bedarf zwar auch im freien Raum durchführen können, aber es war eben doch sehr viel leichter, irgendwo zu landen, wo es wenigstens ein bisschen Schwerkraft gab. Wo er einen Raumanzug anlegen und alles Zeug, das er nicht brauchte, einfach aus der Schiffsluke werfen konnte, während er das hervorkramte, was er brauchte. Wo er dann die Luke schließen, im Schiff wieder die nötigen Druck- und Sauerstoffverhältnisse herstellen, seine Reparatur durchführen und hinterher das zuvor ausgelagerte Frachtgut wieder bergen und neuerlich einladen konnte.
Zuweilen musste er bei diesen Reparaturstopps zwar ein paar ziemlich harte Landungen hinnehmen. Doch ein paar Kratzer mehr im Lack der Schiffshülle kümmerten ihn recht wenig, und die Condor war nicht sonderlich groß, sodass ihm schon kleinste Flecken flachen Geländes als Landeplatz genügten.
Also nahm er nun direkten Kurs auf den Planeten, den er für den vorliegenden, geringfügigen Störfall auserkoren hatte.
Sollte die Felskugel eine Sauerstoffatmosphäre aufweisen, würde er sogar das Katzenklo leeren und SB hinauslassen können, damit der Kater sein Geschäft zur Abwechslung mal wieder im Freien verrichten könnte.
Hin und wieder entdeckten sie auf den Himmelskörpern, auf denen sie einen Werkstattstopp einlegten, sogar einige ihrer besten Bergungsgüter. So war Becker erst vor kurzem auf eine ganze Kette von Planeten gestoßen, die zwar einerseits von irgendwem ziemlich gründlich fast all ihrer natürlichen Ressourcen beraubt worden waren, die jedoch andererseits bis zum Rand mit potenziell gewinnträchtigem Schrott und Schutt voll gestopft gewesen waren. Becker lebte für Schrott. Sein größter Kummer war, dass er es noch nicht geschafft hatte, irgendeine Methode auszutüfteln, um Zusatzfracht an der Außenhülle der Condor festzumachen. Bislang jedoch hatte er keine Möglichkeit gefunden, dies auf eine Art zu bewerkstelligen, die ihm gestattete, hinterher immer noch durch Planetenatmosphären fliegen zu können, ohne die Huckepack genommene Ladung bei Start oder Landung unfreiwillig gleich wieder zu verbrennen.
Die Condor landete auf einer Stelle, die im Umkreis von mehreren Kilometern der einzige Flecken ebener Erde zu sein schien. Rings um diese kleine Insel inmitten der verwüsteten Landschaft herum schien der gesamte Mutterboden und jegliche Vegetation bis auf den felsigen Untergrund hinab abgetragen worden zu sein. Hier jedoch wuchsen noch ein paar bläuliche, grasähnliche Pflanzen – jedenfalls bis die Ladetriebwerke der Condor sie versengten. Es war ein rauer Abstieg. Die Atmosphäre war ziemlich turbulent – wirbelnde Wolken verschiedener roter und gelber Gase erfüllten den Himmel. Aber das machte nichts. Seinen
Instrumentenanzeigen zufolge – sofern diese ordnungsgemäß funktionierten, und das schienen sie zu tun – konnte man die Luft da draußen trotzdem noch atmen. Und selbst wenn dem nicht so sein sollte, besaß er einen guten Schutzanzug, falls er einen benötigte. Das war der einzige Gegenstand an Bord, den Becker nicht nur fabrikneu aus erster Hand, sondern auch in modernster Ausführung und Qualität gekauft hatte. Er wusste schließlich nie, auf was für Umweltbedingungen er hier draußen im unerforschten Weltraum stoßen würde. Und obwohl er zwar den Großteil des Ausladens, Wiedereinladens und Umschichtens seiner Frachtgüter im Wesentlichen ohne übermäßige Kraftanstrengung mit seiner Robo-Hebebühne erledigen konnte, musste er doch zumindest einen Teil dieser Aufgaben nach wie vor von Hand erledigen, was bei einem minderwertigen Raumanzug fatale Unfallrisiken mit sich gebracht hätte.
Er brauchte anderthalb Tage, um sein Bordgravitationssystem zu reparieren. Den gesamten ersten Tag verwandte er darauf, mit SBs enthusiastischer Beteiligung all die herrenlos aufgefundenen Kleinfähren, Rettungskapseln und Kommandomodule in seinem Lagerbestand zu durchforsten und nach einer Schwerkraftanlage zu suchen, die in besserem Zustand war als jene, die er gegenwärtig benutzte. Wie gewöhnlich landete ein Großteil all dessen, was oben auf die Objekte gestapelt gewesen war, nach denen er suchte, dabei so lange auf dem planetaren Boden außerhalb seines Raumfahrzeugs, bis er fand, wonach er gesucht hatte.
Schließlich trieb er tatsächlich ein Ersatzsystem auf und ersetzte damit seine bisherige Bordanlage. Auch hierbei ›half‹
SB, indem er sich zwischen Becker und das zu drängen versuchte, an dem dieser gerade arbeitete. Jedes Mal, wenn Becker versuchte, an dem Bordtiger vorbeizukommen, brachte ihn SBs leises, drohendes Fauchen wieder davon ab. Als der Kater dieses Spiels müde wurde, setzte er sich neben Becker und hob regelmäßig eine Pranke, um eine einsame Kralle in den Oberschenkel des Mannes zu versenken. Nach einer Weile öffnete Becker schließlich resigniert wieder die Außenschleuse, und der Kater sprang hinaus, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Danach ging die Arbeit erstaunlich flott voran.
Bevor er daran ging, sein Bergungsgut wieder einzuladen, legte Becker seinen Schutzanzug an. Er achtete nämlich ein wenig sorgsamer auf seine eigene Haut, als der Kater es tat. Er schnappte sich eine Arbeitsleuchte, einen Sammelbeutel, eine Dose Katzenfutter, um seinen umherstreifenden Partner wieder an Bord zurückzulocken, sowie die Fernbedienung der Frachtschleuse und der Robo-Hebebühne. Anschließend öffnete er das Außenluk und verließ das Schiff. Jetzt brauchte er nur noch seinen Kram wieder zurück ins Schiff zu werfen und Satansbraten zu finden. Während er nach dem Kater Ausschau hielt, konnte er ja ebenso gut einen kleinen Ausflug unternehmen, um ein wenig die Gegend zu erkunden.
Das Gras in der Umgebung der Condor war bis auf eine Entfernung von etwa zehn Metern um den Standort des Raumfahrzeugs herum verkohlt, und Becker empfand aufrichtiges Bedauern deswegen. Denn überall im weiteren Umfeld seines Landeplatzes lag lediglich Tiefengestein verstreut, als ob irgendetwas in den Erdboden hineingegriffen, den Felsuntergrund nach oben gerissen und ihn umgerührt hätte. Was für ein öder Schuttplatz! Einzig dieser kleine Flecken wies irgendwelche echten Anzeichen von Leben auf.
Natürlich konnte es auch sein, dass der Planet gerade erst damit begann, Leben hervorzubringen, oder es konnte sich um ein gescheitertes Terraforming-Projekt handeln. Doch Becker mutmaßte eher, dass dieser Planet einstmals sehr lebendig gewesen war. Der kleine Flecken, auf dem er jetzt stand, war wahrscheinlich eines der letzten, wenn nicht gar überhaupt das letzte Überbleibsel jenes Lebens. Eine verdammte Schande, das Ganze – ohne Frage. Andererseits wiederum könnte er ohne Ruinen wie diese gar nicht im Geschäft sein. Das Problem war nur, dass die Verwüstung hier so vollständig war, dass selbst für ihn nicht mehr viel übrig geblieben war. Auf den anderen Planeten, auf die sie in letzter Zeit gestoßen waren, hatte es so ziemlich genauso ausgesehen. Jeder von ihnen hatte ein paar nutzlose Überreste aufgewiesen, die ihm den bedrückenden Eindruck vermittelt hatten, dass dort eine zuvor vollkommen intakte Zivilisation erst recht kürzlich vernichtet worden war.
Es war Satansbraten, der ihn aus seinem Sinnieren über die Vergänglichkeit allen Daseins herausriss.
In der Tat, es sah so aus, als ob der Kater etwas ausgegraben hätte und es nun mit den Pfoten hin und her schleuderte. Eine Weltraummaus? Nicht sehr wahrscheinlich, wo es doch in weitem Umkreis nicht das geringste Anzeichen von pflanzlichem oder tierischem Leben gab, mit Ausnahme von ihnen selbst und dem kümmerlichen Flecken Gras, den sie in Beschlag genommen hatten.
Was auch immer es sein mochte, SB war jedenfalls völlig vernarrt in es. Becker konnte zwar nichts hören, doch er konnte sehen, dass die Flanken des Katers sich vor lautem Schnurren heftig pumpend hoben und senkten.
Becker ging zu SB hinüber. Nach ein paar Metern gleißte etwas im Strahl seiner Arbeitsleuchte auf, und Becker bückte sich, um es zu untersuchen. Genau wie der Gegenstand, den SB traktierte, war auch dieses Ding lang und dünn; es war vielleicht einmal an einem Ende konisch spitz zugelaufen, aber diese Spitze war jetzt abgebrochen. Das Ding wies deutliche, wendelförmige Einrillungen auf, sah er, als er die daran haftenden Erdkrumen abwischte. Es funkelte im Licht, brach die von seiner weißen Oberfläche reflektierende Scheinwerferhelle in prächtige Schattierungen von Blau und Grün und tiefem Rot auf. Es sah aus wie ein großer, beschnitzter Opal. Hübsch. Becker stopfte es in den Sammelbeutel und schwenkte seinen Lampenstrahl im Kreis.
Das Licht blitzte auf mehreren weiteren Stücken wie dem auf, das er schon hatte. Alle waren zerbrochen und ragten aus dem Boden hervor. Er hob eine Hand voll weiterer Proben davon auf und notierte sich die exakten Koordinaten dieses Ortes, sodass er später jederzeit wieder hier zu landen im Stande sein würde, für den Fall, dass dieser Kram sich als wertvoll erweisen sollte. Dann packte er SB und machte sich auf den Rückweg zum Schiff.
Er beendete das Wiedereinladen seines Bergungsguts. Wie gewöhnlich ließ er dabei ein paar der entbehrlicheren Stücke zurück, um die Masse der Ladung an Bord etwas zu verringern. Auf diese Weise hatte er inzwischen Inventar über die ganze Galaxis verstreut. Zum Glück waren die meisten der Orte, an denen er das Zeug gehortet hatte, unbewohnt, sodass nichts wegkommen würde. Er würde es daher jederzeit wieder einsammeln können, wenn er irgendwann einen Absatzmarkt dafür fand. Als er seine Fracht schließlich wieder sicher an Bord verstaut hatte, schleifte er SB, der seinen neuen Schatz fest zwischen seine Fänge eingeklemmt hatte, auf das Schiff zurück.
Das Wichtigste zuerst, beschloss er. Er berechnete einen Kurs zurück nach Kezdet und hob dann von dem Planeten ab. Es war keineswegs so, dass er sonderlich scharf darauf gewesen wäre, nach Kezdet zurückzukehren. Er hasste diesen verdammten Ort, doch er war nun mal – leider – der Heimathafen der Condor. Das Schiff war ursprünglich auf Beckers Pflegevater eingetragen gewesen, Theophilus Becker, der Jonas von einer Arbeitsfarm weggekauft hatte, um ihm mit seinem Geschäft zu helfen, als der Junge zwölf Jahre alt gewesen war. Der alte Mann war zehn Jahre später gestorben und hatte das Raumschiff, seinen Geschäftsbetrieb und seine privaten Navigationskarten aller möglichen anderweitig nirgendwo verzeichneten Schleichwege und Abkürzungen durch verschiedenste Sternensysteme seinem Adoptivsohn hinterlassen. Seither hatte Becker jede nur mögliche Minute im Weltraum verbracht.
Als das Schiff den Gravitationstrichter des Planeten hinter sich gelassen hatte und der vorgesehene Kurs ordnungsgemäß anlag, übergab Becker die Steuerung des Raumers an den Bordcomputer. Zu erschöpft, um sich irgendetwas anderes zu essen zu machen, öffnete er eine weitere Dose von SBs Katzenfutter und aß deren Inhalt, bevor er sich für eine Mütze voll Schlaf niederlegte. Der Kater, den er natürlich sofort gefüttert hatte, nachdem die beiden auf das Schiff zurückgekehrt waren – andernfalls hätte er Becker nie in Ruhe gelassen, um irgendetwas anderes zu erledigen –, hatte es sich bereits auf dem Probensäckchen bequem gemacht, der die seltsamen Steine enthielt, die sie auf dem Planeten aufgelesen hatten.
Becker drückte den Kopf, der die Rückenlehne seines vor der Steuerkonsole verankerten Pilotensessels absenkte, und schlief in der Schiffszentrale. Seine eigentliche Koje war gegenwärtig mit Bergungsgut voll gestopft. Außerdem hätte er wegen der davorgestapelten Säcke voller Saatgut, die er vor ein paar Wochen gefunden und mitgenommen hatte, ohnehin nicht bis zu ihr vordringen können.
Er erwachte schließlich, als eine Pfote auf seiner Wange ihn wissen ließ, dass er sich besser erheben sollte, wenn er sich nicht einen weiteren Klaps einfangen wollte, diesmal mit ausgefahrenen Krallen. Er schaute auf, geradewegs in SBs große grüne Augen. Irgendetwas war anders mit dem Kater, aber er vermochte nicht zu sagen, was genau es war. Er schaffte etwas zu essen für sie beide herbei, überprüfte den Kurs und entleerte den Probenbeutel auf die Steuerkonsole.
Zeit, einmal einen genaueren Blick auf das zu werfen, was er da gefunden hatte.
Er glaubte nicht, dass er für den Umgang mit diesen Gesteinsproben Handschuhe anzulegen brauchte, da der Kater ja die ganze Zeit über, seit sie die Dinger gefunden hatten, eine davon im Maul herumgetragen hatte, ohne dass dies irgendwelche schädlichen Auswirkungen gezeitigt hätte. Also kramte er ein paar der wendelgerillten Steinkegel heraus und untersuchte sie mit einem Analysegerät. Keine Strahlung, nichts, was ihn vergiften, verbrennen, verkühlen oder stechen konnte. Doch das wusste er ja schon, nachdem er sie gerade mit bloßen Händen aus dem Beutel geholt hatte, ohne Schaden zu nehmen.
SB schaute aus nächster Nähe zu, als Becker die Objekte untersuchte, sie betastete, in den Händen drehte und mit einem Geologenhammer einen Splitter davon abzuschlagen versuchte. Die Steine fühlten sich irgendwie sonderbar an –
gaben fast eine Art Summen von sich, als ob sie lebendig wären. Vielleicht waren sie das ja sogar. Verdammt, wenn das hier intelligente Lebensformen waren, dann würde er sie zurückbringen müssen. Er würde das wohl noch mal von einem Experten überprüfen lassen müssen. Er ließ die Steine wieder in den Probenbeutel zurückplumpsen.
Sehr viel mehr gab es nicht zu tun, also legte er sich wieder schlafen. Als er diesmal aufwachte, fand er SB auf seiner Brust hockend vor. Becker glaubte, dass der Kater wohl auf seinem Arm geschlafen haben musste, weil seine rechte Hand kribbelte, als ob das Gewicht des Katers ihre Nerven abgeklemmt hätte. Sein rechtes Ohr fühlte sich auch komisch an.
In genau dem Moment begriff er plötzlich, was an dem Kater so anders war. Zwei grüne Augen erwiderten blinzelnd seinen Blick, das gesunde und dasjenige, das SB bei der Havarie verloren hatte. Das rechte Ohr des Katers war auch wieder ganz und makellos. An diesem Punkt von Beckers Feststellungen stand der Kater auf, drehte sich um, räkelte und streckte sich die halbe Länge von Beckers Bein entlang und fuhr ihm mit dem Schwanz übers Gesicht. Fassungslos erkannte Becker, dass der einstige Schwanzstummel länger geworden war und sich zu einem üppigen und schmucken Körperfortsatz gestreckt hatte, der jetzt recht stattlich hin und her wedelte. Unter dem Schwanz, ganz richtig, dieses fehlende Teil war auch wieder dorthin zurückgekehrt.
Becker hob seine rechte Hand und sah, dass die Stummel daran wieder zu vollwertigen Fingern nachgewachsen waren.
Seine Hände sahen wieder ganz genauso aus, wie sie es getan hatten, bevor er mit SB aneinander geraten war –
ausgenommen, dass die eine oder andere Narbe fehlte. Er griff sich ans Ohr. Das fühlte sich ebenfalls wieder unversehrt an.
Was im Namen der drei Monde von Kezdet ging hier vor? Wie hatte das geschehen können – nicht dass er sich etwa beschwerte. Die einzige Antwort, die ihm einfiel, lautete, dass sie auf diesem verwüsteten Planeten auf irgendeine Art von heilender Macht gestoßen sein mussten. Wenn der Planet zu solchen Mirakeln fähig war, war es ja kein Wunder, dass ihn jemand auf den Kopf gestellt hatte, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sobald er einen Teil seiner Ladung verkauft und sich mit frischer Verpflegung eingedeckt hatte –
er hatte das Katzenfutter allmählich satt –, würde er unverzüglich dorthin zurückkehren, um zu sehen, ob er das Rätsel zu lösen vermochte.
»Meine Güte, Satansbraten, wenn wir auf Kezdet ankommen, werden wir beide so verdammt gut aussehen, dass wir regelrecht aufpassen müssen, nicht für die Freudenhäuser einkassiert zu werden.« Nicht dass er nicht die Absicht gehabt hätte, selbst schnurstracks ein solches Haus aufzusuchen. Und er würde Satansbraten mitnehmen. Zur Hölle, schließlich nannte man diese Orte nicht umsonst auch ›Kätzchenhäuser‹.
Irgendwo dort mussten sich doch auch eine oder zwei Katzendamen auftreiben lassen, welche die Aufmerksamkeiten eines so stattlichen Weltraumreisenden, wie sein Kumpel es war, zu schätzen wussten.
Die Heimreise war wirklich angenehm. Zum einen stanken die Hauptkabine und der Frachtraum plötzlich nicht mehr.
Nicht einmal ein klein wenig. Becker musste sich immer wieder vergewissern, dass Satansbraten nach wie vor an Bord war, weil das ganze Schiff aufgehört hatte, nach Katzenpisse zu stinken. Das war zwar ein Gestank, an den man sich irgendwann gewöhnte, aber es war schon nett, sich wieder daran gewöhnen zu dürfen, ihn auch mal nicht zu riechen. Zum anderen kamen sie recht flott voran, obwohl das unkartografierte Gebiet, aus dem sie jetzt zurückreisten, in gewaltiger Entfernung von ihrer – nun, jedenfalls Beckers –
Heimatwelt lag.
Theophilus Becker war sehr viel mehr als bloß ein Schrotthändler – ähm – Bergungsgutmakler gewesen. Er war Bergungsgutmakler, Wiederverwertungs-Ingenieur und
Astrophysiker gewesen. Darüber hinaus hatte Jonas’ neuer Herr, der es vorgezogen hatte, ›Vater‹ genannt zu werden, zur Tollkühnheit geneigt. Der Mann hatte nichts so sehr geliebt wie einen wilden Ritt durch ein bockendes Wurmloch, wie das Zähmen unbeherrschbarer Quarks. Er hatte sich darauf verstanden, jene Orte ausfindig zu machen, wo Raum und Zeit sich wie ein Akkordeon zusammenfalteten und die von einem Raumfahrer, der genug Mumm besaß, um sie anzusteuern, als rasante Abkürzungen durcheilt werden konnten. Jonas hatte eine ganze Menge von Theophilus gelernt.
Daher dauerte es nur etwa einen Monat, bis Becker mit SB, der wie ein folgsames Hündchen neben ihm hertrottete, vor dem Eingang zu seinem Lieblingsamüsierbetrieb auftauchte.
Ein Mädchen, das er nicht kannte, kam an die Tür. Sie war vollständig bekleidet, mit einem langärmeligen bis zum Hals geschlossenen Overall, ganz und gar nicht die Art von Aufmachung, die er an diesem Ort gewöhnt war.
»Oh mein Gott, nicht schon wieder einer«, stöhnte sie auf.
»Sie hören sich nicht gerade erfreut an, mich zu sehen«, erwiderte er lächelnd und etwas verwirrt. Es war doch noch nie nötig oder gar üblich gewesen, Blumen oder irgendwelches anderes Grünzeugs hierher mitzubringen – sonst hatte es doch immer genügt, ein paar hundert Credits vorzuweisen, um das Werben um die Gunst der Damen hier mit Erfolg zu krönen.
»Wann werdet ihr Männer endlich mitkriegen, dass das hier jetzt ein anständiger Betrieb ist, der Sicherheitsgurte für Schweber herstellt? Die Didis sind Geschichte.«
»Geschichte?« Jonas kapierte gar nichts mehr. »Ich mag Geschichte. Was meinen Sie damit: Geschichte? Wo ist Didi Yasmin?«
»Im Gefängnis, wo sie hingehört. Wo sind Sie denn gewesen? In anderen Sphären?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ja«, bestätigte er. »Warum ist sie im Gefängnis?«
»Um Ihnen das zu erklären, habe ich jetzt wirklich nicht genug Zeit«, antwortete das Mädchen. »Aber Sie könnten ja mal versuchen, ein paar der Kinder auf Maganos danach zu fragen – kleine Mädchen, die sie in die Prostitution gezwungen hat.« Voller Verachtung starrte sie ihn an.
»He, mit mir aber nicht! Nein, Sie brauchen mich gar nicht so anzuschauen. Ich mag große Mädchen – erwachsene Mädchen, Frauen, um genau zu sein. Ich habe noch nie – ähm…«
Die Aufmerksamkeit seiner Empfangsdame wurde von Satansbraten abgelenkt, der sich an ihren Fußgelenken rieb. Sie griff nach unten und tätschelte ihn, hob ihn dann auf. »Was für ein hübsches Kätzchen«, säuselte sie.
»Meine Dame, das würde ich nicht tun«, warnte Becker sie.
»Er wird Ihnen den Arm abreißen.«
Doch SB, der Verräter, lag friedlich schnurrend in ihren Armen, stupste mit seinem Kopf gegen ihr Kinn und erschlich sich schamlos Streicheleinheiten von ihr. Becker wünschte, er könnte es genauso machen.
»Wie heißt er?«, fragte das Mädchen.
»SB«, wich Becker aus.
»Und wofür steht das?« Jetzt kraulte sie den Wanst des Verräters. Er war ganz weiß. Becker hatte keine Ahnung gehabt, dass der Bauch des Katers weiß war. Bei ihm hatte SB
noch nie irgendwelche Andeutungen gemacht, dass er gerne gekrault werden würde. Ganz im Gegenteil.
»Süßer Bursche«, log Becker, da er genau wusste, dass die Wahrheit bei ihr nicht gut ankäme. »Ich habe ihn an Bord eines verlassenen Raumschiffswracks gefunden – seine Leute sind bei einem Unfall umgekommen, und ihn hatte es auch ziemlich schlimm erwischt.«
Er hoffte, dass ihn das in ihren Augen von einem gewöhnlichen Kinderschänder zu einem Kinderschänder aufwertete, der offenbar wenigstens zu Tieren anständig war.
»Und mein Name ist Jonas. Jonas Becker. Wie heißen Sie?«
»Khetala«, gab sie Auskunft.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte er.
»Das Gleiche kann ich von Ihnen allerdings nicht behaupten, Herr Becker. Sie werden feststellen, dass sich auf Kezdet einiges geändert hat, seit die Didis und der Rattenfänger das bekommen haben, was ihnen gebührte. Vielleicht haben Sie die Bumsschuppen ja für ein harmloses Vergnügen gehalten, aber ich wurde gezwungenem einem davon zu arbeiten, ehe die Dame Epona uns befreit hat. Ich vermag Ihre Einstellung daher nicht zu teilen.«
»He, das verstehe ich doch. Ich war ja selbst Sklavenarbeiter auf einer Farm, wurde aber dann von dort rausadoptiert.
Ich…« Sie starrte ihn mit versteinerter Miene an. Sogar er wusste, dass das nicht dasselbe war. Schuldbewusst brach er mitten im Satz ab, verstummte verstört und griff stattdessen nach SB, was dieser prompt mit einem abwehrenden Prankenhieb beantwortete. Ungerührt vom Widerstand des Katers löste Becker ihn trotz der schmerzhaften Blessuren, die er dabei erlitt, mit festem Griff aus Khetalas Armen. »Wir –
ähm – war nett, Sie kennen zu lernen –, wir machen uns jetzt wohl besser wieder auf den Weg.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Haus.
Etwas Gutes hatte die Begegnung mit ihr jedenfalls gehabt.
Er war jetzt ganz und gar nicht mehr in der Stimmung für das, was er stets als Liebe hatte durchgehen lassen. Nun denn, es war also an der Zeit, stattdessen wieder an die Arbeit zurückzukehren. Er hatte ja schon immer gemeint, dass Geldverdienen ein recht annehmbarer Ersatz für die meisten Vergnügungen war.
Bevor er sich jedoch der Plackerei unterzog, einen Lastschweber anzumieten und seine Fracht zu löschen, holte er noch ein paar Erkundigungen über den gegenwärtigen Stand der Dinge auf dem Markt ein. Erleichtert stellte er fest, dass die Dame Epona, die den Planeten so gründlich von seinen Übeln gesäubert hatte, offenbar nichts gegen Gerümpel einzuwenden gehabt hatte, vermutlich jedenfalls zumindest so lange nicht, wie dessen Lieferanten damit nicht die Straßen und Plätze verschandelten.
Der Nanowanzenmarkt etwa, den er schließlich ansteuerte, gedieh nach wie vor prächtig. Er machte dort noch rasch einen Rundgang, bevor er sich selbst am Verkauf zu beteiligen gedachte. Wie er dabei missmutig feststellen musste, wurde es zunehmend schwieriger, ein wirkliches Schnäppchen aufzutreiben. Ein Kerl, der früher für die Red-Planet-Sanierungsgesellschaft gearbeitet hatte – eine Firma, die Planeten in ihren unberührten Urzustand zurückversetzen sollte, nachdem sie all ihrer Bodenschätze beraubt worden waren –, bot zwar sogar die von ihm eigenhändig geborgene, originale Marssonde feil, die zudem immer noch in perfektem Zustand war (wahrscheinlich, weil sie von Anfang an nie funktioniert hatte). Doch der Bursche verlangte so viel dafür, dass man damit genauso gut gleich einen von Grund auf neuen Planeten hätte zusammenbauen können. Becker schüttelte den Kopf und zog weiter. Dann entdeckte er noch einen fantastischen Verkaufsstand für Mineralienliebhaber. Vier neue Edelsteinarten, die er noch nie zuvor gesehen hatte, taten es ihm dort besonders an – Bairdit, Giloglit, Nadezdit und Acornit. Bairdit war ein bunt schillerndes, undurchsichtiges Gestein mit einer kiesigen, kristallinen Oberfläche, die kreuzweise rot und gelb schraffiert war – wahrscheinlich Eisen- und Schwefelablagerungen. Giloglit besaß die Farbe von Serpentin, war jedoch halb durchsichtig und wies wolkig-trübe Einschlüsse auf. Nadezdit war ein purpurfarben-transparentes, goldgesprenkeltes Mineral, und Acornit war ein blau-grüner Edelstein, der in seinem Kern zur prächtigsten Tiefentransparenz aufklarte, die er jemals bei irgendeinem Gestein, ob nun natürlichen oder künstlichen Ursprungs, gesehen hatte. Der Klang der vier Mineralnamen kam ihm irgendwie vertraut vor, doch er konnte sich nicht recht erklären, warum.
Hungrig geworden, suchten er und SB die Imbissstände auf.
Einer bot ein scharf gewürztes Fleischgericht an, das ein Werbeschild als die planetare Spezialität von Ma’aowri 3
anpries. Für Becker roch es ausgesprochen gut, SB allerdings schnupperte nur ein einziges Mal daran und scheute angewidert davor zurück. Als Becker es noch einmal versuchte, bedachte SB ihn mit einem Blick, der sich nur schwer ergründen ließ, der Becker jedoch den Verdacht hegen ließ, dass die Fleischeinlage dieses Gerichts möglicherweise ein wenig allzu artverwandt war – ob nun mit ihm oder mit SB, da war er sich nicht sicher –, um sie bedenkenlos genießen zu können. Danach schlenderte er an Ständen mit merkwürdig geformten Früchten, billigem Fruktosezuckerwerk und wächserner Schokolade, verschiedenen gerösteten Tieren, ein paar ziemlich bizarren Gemüsen und diversen anderen Delikatessen vorbei, die zu fremdartig waren, als dass er sie hätte identifizieren können. Am Ende begnügte er sich mit einer guten, altmodischen Gyrostasche und einer Tasse Kaffee, bevor er zu dem Marktstand zurückkehrte, den er angemietet hatte, und damit begann, den Inhalt seines Lastschwebers auszuladen und auf seiner Verkaufsfläche auszubreiten.
Nachdem Becker seine Waren so verlockend wie möglich zur Schau gestellt hatte, setzte er sich erschöpft in den thronähnlichen Kommandantensessel, den er aus einem ansonsten völlig zerstörten percenezatorianischen Kampfwagen ausgebaut hatte. SB ließ sich auf dem Mineraliensäckchen nieder, das sie bei ihrem letzten Halt gefüllt hatten. Der Probenbeutel war mittlerweile zu seiner bevorzugten Schlafstelle geworden. Er hatte sich zudem gerade mal bereitgefunden, sich vom kleinsten und zersplittertsten Stück dieses sonderbaren opalähnlich aussehenden Minerals zu trennen. Becker bewahrte dieses Bruchstück in seiner Hosentasche auf, als mögliche kostenlose Dreingabe, um den Verkaufsabschluss eines anderen Gegenstands aus seinem Warenangebot zu versüßen. Der Stein war auffällig genug, um eventuell jemanden zu dem Entschluss zu verleiten, dass seine Frau ohne dieses Kleinod nicht mehr leben könne.
Was die Verkäufe anging, ließ sich der Tag allerdings ziemlich langsam an – es kamen bloß die üblichen kaufunwilligen Schaulustigen und ein paar reiche junge Burschen vorbei, die nach Zubehör suchten, um ihre Billigschweber aufzumotzen. Becker überlegte, dass er hier einfach das verscherbeln würde, was er eben losschlagen konnte, und dann nach Twi Osiam Weiterreisen würde, wo er ein paar größere Tauschgeschäfte und Vorratskäufe zu tätigen beabsichtigte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt seiner Überlegungen schlenderte sie vorbei, mit ihrem Gefolge im Schlepptau.
Sie war eigentlich nicht sein Typ – zu jung, zum einen. Sie hatte eine Figur wie ein zwölfjähriger Junge, der schon vor ein oder zwei Jahren den Hungertod gestorben war. Ihr Haar war hinten lang und lockig und vorne spitzsträhnig. Doch sie war modisch und teuer in die Pelze und Felle diverser, mittlerweile ausgestorbener Tierarten gewandet. Verblüffend, dass Kleidung, die so viel kostete, so wenig von etwas zu verdecken vermochte, was sich, in seinen Augen zumindest, eigentlich überhaupt nicht zu enthüllen lohnte.
Ihr Gefolge bestand aus vier Männern, die ein bisschen älter waren als sie und sich alle aufgeregt hinter ihr her drängten.
»Wartet da«, befahl sie ihnen in einem Tonfall, den sich Becker SB gegenüber niemals hätte herausnehmen dürfen, wenn er wusste, was gut für ihn war. »Halloo«, flötete sie ihn zuckersüß an. Also doch, er hatte Recht gehabt! Er hatte seine natürliche, umwerfende Stattlichkeit wiedergewonnen, und jetzt fanden ihn Frauen so unwiderstehlich, dass er dessen bald müde werden würde. Außer bei Khetala vielleicht, merkwürdigerweise. Aber erst mal hierzu.
»Selber halloo«, erwiderte er. »Was kann ich für Sie tun, Prinzessin?«, fragte er in richtiger Einschätzung genau der Artigkeit, die sie bevorzugte. SB hingegen hatte unzweideutig nicht die Absicht, den Versuch zu unternehmen, dieser Kundin zu schmeicheln. Er machte einen Buckel und sträubte aggressiv das Fell. Sein mittlerweile vollständig wieder hergestellter Schwanz hätte eine ausgezeichnete Flaschenbürste abgegeben, seine Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, die Ohren flach an den Kopf angelegt; und er fauchte wie eine ganze Wanne voll zischelnder Giftvipern. Becker stellte sich vor ihn, um den Blick seines Katers auf diese zweifellos gut betuchte Kundin ebenso zu verstellen wie den Blick der Kundin auf ihn.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mich beraten«, antwortete sie.
»Man hat mir gesagt, Sie wüssten einfach alles, was man über geringfügig gebrauchte Ausrüstung nur wissen kann.«
»Nicht alles, aber mehr als die meisten«, stimmte er ihr zu.
»Ich bin gerade dabei, ein bescheidenes Unternehmen aufzubauen, und es wäre mir eine große Hilfe, wenn ich dazu eine winzig kleine Handelsflotte ganz für mich allein hätte. Ein paar sehr preisgünstige Raumschiffe hätte ich zwar schon an der Hand, aber die bräuchten alle hier und da Ersatzteile, und deshalb habe ich mich gefragt – habe ich gehofft, um genau zu sein –, dass Sie vielleicht ein paar entsprechende Sachen haben.«
»Was denn, zum Beispiel?«
Sie schnippte mit den Fingern, und einer der Männer tauchte auf und trug mechanisch eine ganze Liste von Raumschiffinstrumenten, -ausrüstung, -systemen und -teilen vor. Becker hegte den Verdacht, dass der Mann nicht aus Fleisch und Blut war, sondern ein mit menschlichem Äußeren versehener Roboter. Zum einen hielt er nämlich während der ganzen fünfzehn Minuten, die es dauerte, um die Einkaufsliste der Dame herunterzurattern, nicht ein einziges Mal inne, um Luft zu schöpfen. Zum anderen pinkelte SB ihm auf den Fuß und zerfetzte ihm den Unterschenkel, während er redete, wovon der Kerl nicht die geringste Notiz zu nehmen schien.
»Aber ja, das habe ich alles«, erklärte Becker nach Ende des Vortrags und schaute sich den Kerl nochmals genauer an.
Tatsächlich. Ein Androide. Sein Fuß und Unterschenkel qualmten leicht. Also auch noch ein billiges Modell. Lausig schlechte Verkabelung. »Wollen Sie die Sachen selbst abholen, oder soll ich das Zeug zu einem Hangar Ihrer Wahl liefern? Ein Teil davon liegt sowieso noch an Bord meines Schiffs.« Mit ihrer Wunschliste würde die Dame sein Frachtlager praktisch leer kaufen, ein Umstand, der ihn ein bisschen nervös machte. Bei einem Verkauf dieser Größenordnung würde er genug Geld herausschlagen müssen, um seine Ausgaben so lange abdecken zu können, bis er wieder einen hinreichend großen neuen Warenbestand angesammelt hatte. Zum Glück hatte er ohnehin schon geplant, zu all den verwüsteten Planeten zurückzukehren und sämtliche Sachen aufzulesen, die er das letzte Mal dort zurückgelassen hatte. Und wenn er schon mal dabei war, würde er auch nachsehen, was genau auf jener allerletzten Welt eigentlich diese Heilwirkung auf ihn und SB gehabt hatte.
»Oh«, kommentierte die Dame mit gekünstelter Stimme,
»wie viel?«
Becker nannte seinen Preis. Das ungefähr Sechsfache dessen, was das Zeug wirklich wert war. Sie lächelte und machte methodisch ein geradezu lächerlich niedriges Gegenangebot.
Er erwiderte mit einem Preis in Höhe von mehr als dem Vierfachen dessen, was die Ware einbringen musste, woraufhin das Feilschen erst richtig losging. Sein Problem dabei war jedoch, dass er hier fast einen Ausverkauf verhandelte. Die Transaktion würde ihn so lange aus dem Geschäft werfen, bis er sich wieder mit Nachschub an Bergungsgut versorgt hatte. Er wollte daher genügend Gewinn herausholen, um sich selbst und SB für eine schöne lange Weile über Wasser halten zu können, plus genug Überschuss, um vielleicht wenigstens ein bisschen Urlaub nehmen zu können, vorzugsweise irgendwo, wo es immer noch Didis oder Freudenhäuser gab.
»Hören Sie, ich sage Ihnen was«, schlug er daher vor.
»Eigentlich hatte ich Ihnen das gar nicht zeigen wollen. Aber Sie sind eine hübsche Dame, und ich kann sehen, dass Sie einen ausgezeichneten Geschmack haben. Sie zahlen mir den Preis, den ich ursprünglich gefordert hatte, und ich gebe Ihnen das hier gratis obendrauf.« Er griff in seine Tasche und zog jenes Bruchstück der wendelgerillten Steine heraus, das SB
ihm gelassen hatte. »Geben Sie diesen Edelstein Ihrem Juwelier, der kann ihn zerlegen und ein prächtiges Geschmeideensemble daraus machen, das Sie…«
Die Augen der Frau wurden riesengroß, als sie den Stein sah, und sie riss ihn ihm aus der Hand. Sie begann zu lachen. Schön klang dieses Lachen nicht. »Wo haben Sie das her?«
»Hab’s gefunden«, antwortete er mit einem Achselzucken.
»Gefunden?« Sie lachte erneut. »An wem? Ich meine, wo?«
»Also, das kann ich Ihnen natürlich nicht verraten«, verweigerte er die Auskunft. »Seien Sie doch einfach froh, dass Sie ihn haben und sonst niemand. Ein seltener Fund, Prinzessin.« Ein Teil von ihm dachte, dass er ihr, wenn sie schon von dem kleinen Brocken so begeistert war, vielleicht auch den Rest der Steine zeigen sollte. Doch das hätte bedeutet, zu versuchen, SB von dem Probenbeutel herunterzubekommen. Und offen gesagt mochte er den Kater sehr viel lieber als diese Frau. Er bedauerte schon jetzt zutiefst, ihr diese Probe umsonst überlassen zu haben – nun ja, abgesehen davon, dass er sie für die Waren, die sie brauchte, sehr viel mehr bezahlen ließ, als sie eigentlich gewollt hatte.
»In der Tat«, bestätigte sie. »Wie schade, dass Sie nicht mehr davon besorgen können. Ich hätte da einen ausgezeichneten Absatzmarkt im Sinn.« Sie schob ihm ihre magere Brust entgegen. »Wir könnten möglicherweise sogar eine Partnerschaft eingehen.«
»Zu blöd, hab ich mal wieder Pech gehabt. Aber Sie wissen ja, wie das ist«, bedauerte er achselzuckend. »Manchmal stolpert man einfach über eine gute Sache und findet sie dann hinterher nie mehr wieder.« Er würde sich von keinem Einzigen dieser Rillensteine mehr trennen, bevor er nicht erfahren hatte, was die Frau darüber wusste, dass sie sich so sehr für den einen interessierte, den er ihr überließ. Die Dinger waren jemand anderem wahrscheinlich eine Menge mehr wert als das, was sie ihm anbot.
»Zu schade«, pflichtete sie ihm bei, die Augen genauso ehern und zusammengekniffen wie die von SB. Aus irgendeinem Grund schien sie an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Schön.
Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Sie übergab ihm ein dickes Bündel Credits. Sie waren im Namen der Dame Kisla Manjari ausgestellt. Er zählte sie und steckte sie ein.
»Prima. Der Handel gilt.«
»Wenn Sie also beiseite treten würden, werde ich meine Leute Ihren Lastschweber wieder beladen lassen und ihn benutzen, um meine Waren damit abzutransportieren«, forderte sie ihn auf.
»Ist mir recht. Komm her, SB«, wandte er sich an den Kater, ging in die Hocke und griff nach dem Probenbeutel, auf dem SB hockte. Der Kater fauchte und spuckte die Frau erneut an.
»Oh nein, nichts da«, protestierte diese. »Ich habe gerade alles gekauft, was sich hier an diesem Stand befindet, einschließlich diesem räudigen Vieh da. Ich kenne nämlich ein Labor, das hoch erfreut sein würde, so ein Exemplar zu kriegen.«
»Tut mir Leid, meine Dame«, widersprach Becker. »Sie haben nur das gekauft, was auf der Liste stand, die Ihr angesengter Androidenfreund hier vorgelesen hat. Und der Kater steht nicht auf dieser Liste. Ich kann ihn unter keinen Umständen verkaufen. Die Föderationsgesetze verbieten das.
SB hier ist nämlich keineswegs ein Vieh. Er ist mein Partner.
Eine intelligente Lebensform. Das eigentliche Gehirn unseres Geschäftsbetriebs.«
»Ich will ihn haben«, forderte die Frau dennoch und gab ihren Männern ein Zeichen. SB hinterließ blutige Kratzspuren auf Beckers Arm, als der Kater blitzschnell an ihm hochkletterte, über Beckers Schulter hinwegsprang und davonjagte, um zwischen den Marktständen zu verschwinden. Becker fasste sich unwillkürlich an den Arm und ließ den Probenbeutel dabei auf seinen Fuß fallen, besann sich jedoch rasch, hob ihn wieder auf und nestelte hastig an der Öffnung des Beutels herum, um ihn wieder zu verschließen, ehe Kisla sehen konnte, was er da in der Hand hatte. Er wagte nicht, sich beim Aufheben allzu gründlich umzusehen, sodass er nicht bemerkte, dass einer der Steine aus dem Beutel gerutscht und unter eine Sauerstoff-Wiederaufbereitungseinheit gerollt war.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er Verstand besitzt«, sagte Becker und grinste zu seiner Kundin hoch, um sich zu vergewissern, dass sie weiterhin seinem Blick begegnete und nicht etwa allzu scharf auf etwas anderes starrte. »Tut mir wirklich Leid. Ich würde Ihnen ja helfen, Ihr Zeug aufzuladen, aber ich muss jetzt meinen Partner wieder finden.«
Er richtete sich auf, klemmte den Probenbeutel lässig hinter seinen Gürtel und versuchte, ihn nicht klappern zu lassen, als er davonmarschierte.
Drei
Nichts auf dieser Welt wünschte sich Acorna im Augenblick mehr als leckeres Gras und einen schönen langen Galopp.
Doch bevor sie auch nur ansetzen konnte, dies zu sagen, hatten die anderen ihren Gedanken alle schon aufgefangen.
»Eine Mahlzeit? Was für eine großartige Idee«, rief ein nahebei stehender Würdenträger aus, als ob Acorna ihren Wunsch laut ausgesprochen hätte. Man hatte ihn ihr bereits per Bildschirm vorgestellt, doch sie konnte sich nicht mehr erinnern, wer genau er war. Irgendjemand sehr Wichtiger.
»Ja, etwas zu essen und ein schöner Dauerlauf. Was für eine wunderbare Idee!«, pflichtete Thariinye bei, und auch andere stimmten mit nickenden Köpfen und weiteren bejahenden Gesten zu. Der junge Mann hatte ebenfalls laut gesprochen.
Keiner von ihnen hatte anscheinend jenen Teil ihrer Gedanken aufgefangen, in dem es darum gegangen war, dass sie das Galoppieren und Grasen eigentlich ganz für sich allein hatte machen wollen, während der Wind ihr ungestüm durchs Haar wehte, dort drüben in dem Feld unter ihnen. Bedauernd schob sie den Gedanken als ungesellig beiseite, denn so mochte sie nicht erscheinen, insbesondere jetzt nicht, wo sie wirklich einen guten Eindruck auf ihr angestammtes Volk machen wollte.
Also lächelte und nickte sie und achtete darauf, nicht niedergetrampelt zu werden, als die versammelten Massen aus dem Raumhafengelände hinausströmten und sich in die breite Ebene ergossen, die den Landeplatz von der Stadt trennte. Die Ebene war üppig mit lieblichen Gräsern bewachsen, deren Art ihr zwar unbekannt war, die jedoch köstlich nach Zitrone und Pfeffer schmeckten, mit einem Hauch von Zimt.
Die Leute, die sich der Besatzung der Balakiire angeschlossen hatten, um deren Heimkehr zu feiern, zupften diese Gräser fröhlich aus und kauten sie genüsslich, während sie von einer Ecke zur anderen schlenderten, miteinander plauderten, lachten und einander zuriefen. Acorna warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf einen der Linyaari in ihrer Nähe. Er war nicht weiß wie ihre weltraumfahrenden Reisegefährten, sondern hatte eine tiefrote Körperfarbe, mit einer stattlichen schwarzen Mähne. Andere in der Menge waren schwarz, braun, golden mit weißem Haar, oder grau mit Haupthaaren, die leicht mit einer dunkleren Tönung gesprenkelt waren.
Neeva lächelte ihr zu, als sie ihren Gedanken auffing. »Du hast nicht gewusst, dass es uns in verschiedenen Farben gibt?«
Mehrere der Grasenden warfen ihnen verdutzte Blicke zu und sahen dann höflich wieder weg.
»Wir sollten uns jetzt entweder mit gesprochenen Worten unterhalten, oder du musst deine Gedanken enger bündeln und ganz auf mich konzentrieren, mein Liebes«, forderte Neeva Acorna auf. »Du sendest nämlich ziemlich stark, weißt du, und wirst den halben Planeten an deinen innersten Gedanken teilhaben lassen, wenn du nicht aufpasst.«
»Entschuldigung. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, meine Gedanken so im Zaum zu halten, dass nicht jeder mithören kann. Ich weiß immer noch nicht so recht, was oder auch nur wann ich sende.«
»Du bist eine sehr starke Telepathin, Liebes, auch wenn dir das alles noch ziemlich neu ist. Du neigst dazu – nun, manchmal brüllst du ein bisschen. Die meisten Leute werden zwar nicht absichtlich in deine Gedanken eindringen, aber du musst versuchen, deine telepathische Signalkraft besser zu kontrollieren. Hier ist es nicht mehr so wie an Bord unseres Raumschiffes, wo wir anderen auf Grund der langen Zeit, die wir in enger Gemeinschaft verbracht haben, in ständigem telepathischem Einklang miteinander standen. Die Leute hier auf Narhii-Vhiliinyar hingegen pflegen die Gedankensprache meist nur innerhalb ihrer eigenen Verwandtschaftsgruppen oder unter engen Freunden zu benutzen. Bei Ereignissen wie diesem hier verwenden sie in der Regel die Lautsprache, sowohl um ihre eigene Privatsphäre zu wahren, als auch um zu vermeiden, unfreiwillig in die Gedanken von anderen einzudringen. Die meisten würden ebenso wenig versuchen, deine privaten Gedanken mitzuhören, wie sie versuchen würden, deine laut ausgesprochenen, aber privat gemeinten Kommentare zu belauschen.«
»Ich werde versuchen, künftig besser aufzupassen«, versprach Acorna bedächtig und beobachtete, wie sowohl weiße als auch farbige Linyaari sich mit überkreuzten Beinen auf die Wiese setzten oder sich einfach flach auf den Boden legten und sich weiterrollten, um an einem neuen Fleck zu knabbern, wenn sie ihren alten Platz abgegrast hatten.
Niemand schien sich auch nur im Mindesten daran zu stören, wenn dabei seine Kleidung schmutzig wurde. Acorna beschloss, dass es Zeit für einen Themenwechsel war.
»Niemand hat mir gegenüber je erwähnt, dass es die Linyaari in verschiedenen Farben gibt. Ich war etwas überrascht, das ist alles. Du und alle anderen Linyaari, denen ich bis heute begegnet bin, sind weiß, genau wie ich. Deshalb habe ich einfach angenommen, dass wir alle die gleiche Farbe hätten.«
Neeva machte ein missmutiges Gesicht. »Die Färbung unserer Körper, oder besser, deren Farblosigkeit, bei jenen unter uns, die den Weltraum bereisen, war noch bis vor kurzem etwas, worauf wir sehr stolz waren. Es zeigt unseren Leuten, wer und was wir sind und wo wir gewesen sind. Die Weißfärbung wird bei uns auch ›das Sternenkleid anlegen‹
genannt, denn wir tragen dadurch das Weiß und Silber der fernen Sterne. Ein Raumfahrer oder eine Raumfahrerin legt seine oder ihre einstige Naturfarbe ebenso stolz ab, wie ein heranwachsendes Kind seine oder ihre Spielsachen beiseite legt. Wir wissen zwar nicht genau warum, aber die natürliche Körperfarbe eines Liinyar bleicht im Laufe seiner oder ihrer ersten Fahrt zu den Sternen stets zu Weiß aus.«
»Das ist also nicht genetisch bedingt, wie die Hautfarbe bei den Menschen?«, fragte Acorna.
»Nicht die weiße Färbung, nein«, bestätigte Neeva. »Seit der Evakuierung allerdings, während derer auch viele Linyaari, die es vorgezogen hätten, ihre ursprüngliche Pigmentierung beibehalten zu können, diese unfreiwillig verloren haben, wurde das Sternenkleid, zumindest in manchen Kreisen, zunehmend als eine Abnormität angesehen, die man behandeln müsse. Unsere Wissenschaftler wurden sogar aufgefordert, die Entfärbung als ein ›Leiden‹ zu erforschen. Soweit ich gehört habe, vertreten sie inzwischen die These, dass der Farbwechsel durch eine Kombination mehrerer Faktoren bewirkt wird: der während einer interstellaren Raumreise über längere Zeit anhaltende Mangel an natürlichem Sonnenlicht, welcher die Zerstörung gewisser fotosensitiver, Pigment produzierender Bestandteile unseres epidermalen Gewebes verursacht; und das Fehlen bestimmter Nährstoffe in unserer Bordnahrung, die ausschließlich in Pflanzen vorkommen, die auf Vhiliinyar heimisch sind und die in hydroponischen Anlagen einfach nicht gedeihen wollen. Zwar können wir diese Pflanzen als Saatgut lagern und mit Raumschiffen zu neuen Welten mit geeigneter Umwelt transportieren, um sie dort wieder in natürlicher Umgebung aufzuzüchten. Während der Raumreise selbst aber müssen wir schlicht und einfach ohne sie auskommen, was besagte Auswirkungen auf unsere Pigmentierung zur Folge hat. Als Ergebnis dieser beiden Prozesse verlieren Linyaari-Raumfahrer im Laufe einer interstellaren Weltraumfahrt üblicher Länge sämtliche Färbung ihrer Haut.«
Acorna schaute auf ihre eigenen Arme und Hände hinunter, versuchte sie sich in Rot oder Schwarz oder irgendeiner der anderen Farben vorzustellen, die sie rings um sich herum sah.
»Werde ich jetzt auch die Farbe wechseln, wo ich doch jetzt in der Sonne bin und die richtigen Nährstoffe zu essen bekomme?«
In rascher Folge stellte Acorna sich selbst erst der Reihe nach in jeder der Farben vor, die sie an den umstehenden Leuten erspäht hatte, und zum Schluss mit einem leuchtend purpurnen Leib und einer violetten Mähne. Ganz im Widerspruch zu dem, was Neeva über höfliches Weghören gesagt hatte, verfolgten in ihrer Umgebung offenbar alle diese Gedankenbilder mit. Um sie herum erhob sich ein allgemeines Gelächter, ein paar Umstehende runzelten aber auch missbilligend die Stirn.
Woraufhin sie absichtlich ein Bild von sich selbst ausstrahlte, das sie in allen Regenbogenfarben zeigte. Überall auf der Wiese verstummten die Gespräche, und das Gelächter verwandelte sich in beschämtes Hüsteln. Selbst die Stirnrunzler sahen plötzlich verwirrt aus, und viele starrten sie mit höflich befremdetem Gesichtsausdruck an. Hmm.
Neeva lachte. »Wie du siehst, Khornya, wirst du lernen müssen, deine Sendereichweite genauer zu kontrollieren, wenn du Gedankenbilder ausstrahlst. Einige unserer Leute haben keinerlei Sinn für Humor, und die werden jetzt glauben, dass du gar keine von uns bist, sondern irgendeiner merkwürdigen, nur entfernt mit uns verwandten biologischen Abart der Linyaari entstammst und dein Leben begonnen hast als ein –
wie heißt die kleine Eidechse aus diesen Vids? Dieses Reptil, das die Farben wechselt?«
»Ein Chamäleon«, gab Acorna errötend Antwort. »Kann ich eine Entschuldigung senden?«
»Vielleicht wäre es besser, die Sache für den Augenblick einfach auf sich beruhen zu lassen«, erwiderte Neeva, immer noch belustigt. »Andernfalls werden sie dein Erröten sehen und noch glauben, dass du ihnen damit mitzuteilen versuchst, du wärst ursprünglich rosa gewesen. Aber um deine Frage zu beantworten, Schwestertochter: einmal im Sternenkleid, immer im Sternenkleid. Die verschiedenfarbigen Linyaari, die du hier siehst, sind alle jünger als du; sie wurden erst auf Narhii-Vhiliinyar geboren, nach der Evakuierung.« Sie seufzte und stand auf. »Weißt du, seit der Zeit kurz nach dem Verschwinden deiner Eltern habe ich nicht mehr allzu viel Zeit auf diesem Planeten verbracht. Womöglich stehen die Experten, die das Sternenkleid als eine Krankheit betrachten, ja inzwischen schon kurz davor, eine ›Lösung‹ zu finden.
Vielleicht könnte ich also wieder grau mit Flecken werden, wenn ich das wollte. Zufälligerweise will ich das aber ganz und gar nicht. Mir gefällt, was ich bin.«
Nachdenklich kaute Acorna auf einem Mund voll des nach Zimt schmeckenden Grases herum. Als sie mehrere unverhohlen verärgerte Blicke auffing, verminderte sie rasch die Intensität ihres Grübelns. Sie hatte den unmissverständlichen Eindruck, dass es rüpelhaft war, gleichzeitig zu kauen und Gedanken auszusenden. Du liebe Güte, jetzt war sie erst so kurze Zeit hier, und schon musste sie befürchten, dass man ihr nachsagen würde, sie wisse sich nicht zu benehmen. Es war wirklich schwer, sich einzugewöhnen, wenn man die Regeln nicht kannte…
Sie senkte ihre Stimme, trat näher zu ihrer Tante hinüber und versuchte angestrengt, nicht zu laut zu denken. Allmählich begann sie sich ziemlich überfordert zu fühlen. Zum einen empfing sie selbst dann, wenn ihr niemand willentlich Gedanken zusandte, unablässig ein dem hörbaren Geplauder und Gelächter unterlagertes, irritierendes Hintergrundraunen aus zufälligen Gedankenfetzen. Zum anderen hatte ihre Tante ihr zwar erzählt, dass die Evakuierung erst stattgefunden hatte, nachdem Acornas Eltern mit ihr als Kleinkind Vhiliinyar verlassen hatten und zu einem Vergnügungsausflug aufgebrochen waren. Aber irgendwie hatte Acorna doch gedacht, dass Narhii-Vhiliinyar dem Ort, den sie in ihren Träumen sah, etwas ähnlicher sein würde, als es der Fall war –
jenem wundervollen Land mit seinen wogenden Hügeln, die sich zu mit Schneekappen gekrönten Gebirgen erstreckten; einem Land, das von kristallklaren Flüssen und Strömen durchzogen war, die sich als Wasserfälle in smaragdgrüne Seen und Tümpel ergossen, wenn sie nicht durch grüne Felder und mit Wildblumen bedeckte Wiesen mäanderten. Niedliche, knuddelige Pelztiere tranken aus den Gewässern jenes Traumreichs, und überall jagten trillernde Vögel durch die Lüfte.
Hier jedoch war es fast völlig flach, gab es kaum Hügel, fehlten auffällig jegliche Gebirge und erstreckten sich die endlosen Ebenen bis zum konturenlos fernen Horizont. Sie sah zudem nur das Volk der Linyaari, keine andere größere Lebensform. Dies hier war zwar trotzdem ein hübscher Ort, doch ihm fehlte die atemberaubende Szenerie und die erstaunliche Vielfalt der Flora und Fauna aus ihren Träumen.
Andererseits hatte sie natürlich noch nicht den ganzen Planeten gesehen. Es war ja unwahrscheinlich, dass der gesamte Globus überall so aussah wie hier. Womöglich gab es hier doch noch eine Menge sehr viel interessanterer Landstriche.
Ein älterer weißer Liinyar gesellte sich zu Acorna und Neeva.
»Visedhaanye Neeva«, sprach er Acornas Tante an und neigte grüßend den Kopf.
»Welche Ehre, Sie wieder zu sehen.«
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Visedhaanye.«
»Gestatten Sie mir, Ihnen Khornya vorzustellen, die Tochter meiner Schwester. Khornya, Aagroni Iirtye ist einer der Gründer von Narhii-Vhiliinyar. Seine Mannschaft hat diese Welt ausfindig gemacht. Er hat die mit der Umgestaltung des Planeten beauftragte Kommission geleitet, die über das entschieden hat, was unser Volk benötigen würde, um hier überleben zu können. Und er hat all die Programme und Verfahren auf diesen Bedarf zugeschnitten und in die Tat umgesetzt, die erforderlich waren, um ein neues Habitat für uns zu schaffen.«
»Eine beachtliche Verantwortung, Aagroni«, meinte Acorna beeindruckt.
»Es freut mich, dass Sie das einsehen, junge Dame«, erwiderte
Iirtye. »Ich konnte nämlich nicht umhin
mitzubekommen, wie enttäuscht Sie über das Fehlen gewisser topografischer und biologischer Elemente waren, deren Reize uns auf der alten Heimatwelt erfreuten.«
»Oje! So sehr ich mich auch zu lernen bemühe, nicht so laut zu denken, Aagroni, scheine ich es einfach nicht zu schaffen, den Lautstärkeregler in meinem Kopf zu finden.« Sie lächelte zerknirscht und hoffte, dass er Sinn für Humor hatte.
Doch den hatte er augenscheinlich nicht: »Ich sehe durchaus keinen Grund, warum Sie Ihre ehrliche Meinung nicht offen verkünden sollten«, antwortete er stirnrunzelnd. »Aber Sie müssen begreifen, wie wenig Zeit wir für die Vorbereitungen hatten. Einige der Landschaftsmerkmale unserer alten Heimatwelt waren nicht nur unnötig, sondern zuweilen sogar gefährlich. Eine möglichst flache und weitgehend eintönige Planetenoberfläche bot unter den gegebenen Umständen die besten Voraussetzungen für eine zügige und effektive Umweltanpassung an unsere Grundbedürfnisse. Dieser Planet bot eine derartige Oberfläche. Und was die Fauna angeht: Die für unser Überleben wirklich wesentlichen Spezies – einzellige Lebensformen, wirbellose Tiere und ein paar der kleineren Wirbeltiere wie beispielsweise Vögel und Reptilien – hatten wir im Zuge der planetaren Umgestaltungsarbeiten bereits sämtlich eingeführt. Und im nächsten Schritt waren wir gerade dabei, Brutpopulationen auch der größeren Wirbeltiere zusammenzustellen, als man uns informierte, dass die Evakuierung unseres Volkes unverzüglich stattfinden müsse.
Die Khleevi-Invasoren hatten Caabye erobert…«
»Das war daheim auf Vhiliinyar der von unserer Sonne aus gerechnet dritte Planet, Khornya«, warf Neeva erklärend ein.
»Wir hatten also keine Zeit mehr zu verlieren. Unser Volk von Vhiliinyar fort und in Sicherheit zu bringen hatte absolute Priorität. Wir mussten dazu unsere gesamte Flotte mobilisieren
– genauer gesagt, all jene Raumschiffe, die den Planeten nicht schon verlassen hatten.«
Acorna brauchte nicht in Iirtyes Gedanken einzudringen, um zu erkennen, dass er damit eine posthume Rüge an ihre Eltern richtete, weil sie Vhiliinyar in einer so kritischen Zeit eines wertvollen Fluchtraumers – und obendrein des Direktors der Waffenforschung, was Titel und Amt ihres Vaters gewesen war – beraubt hatten. Obwohl sich Acorna beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte, wie ausgerechnet ihre Eltern hätten vorhersehen sollen, dass der kritische Augenblick so rasch kommen würde, wo die Geschwindigkeit der endgültigen Khleevi-Invasion doch auch alle anderen vollkommen überrascht hatte. Ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, dass ihre Eltern den Planeten überhaupt verlassen hätten, wenn sie auch nur den Hauch einer Vorahnung von dem Schicksal gehabt hätten, das ihrer im All harrte. Doch sie hatte nicht die Absicht – jedenfalls, sofern sie es vermeiden konnte –, diesen Mann auf eine dieser offenkundigen Feststellungen hinzuweisen.
»In Erwartung einer Khleevi-Invasion hatten wir diese neue Welt hier bereits mit ausreichend Wohngebäuden, Ausrüstung und Vorräten ausgestattet, um uns wenigstens das erste Jahr über die Runden zu bringen. Um den nunmehr tatsächlich vorrückenden Invasoren zu entfliehen, haben wir unser Volk in rasender Eile in die Kolonieschiffe gepfercht. Wir luden zwar auch alles an Tieren ein, was wir noch auftreiben konnten, aber diese Populationen waren sehr klein und gediehen hier nicht, wahrscheinlich mangels ausreichender Genvielfalt. Wir haben deshalb inzwischen Suchschiffe ausgeschickt, um auf anderen Welten ähnliche Lebensformen aufzustöbern, die jene heimischen Tierarten ergänzen und ersetzen könnten, die wir an die Khleevi verloren haben.«
»Ich wollte Sie keineswegs kritisieren, Aagroni«, erwiderte Acorna leise. »Sie haben die Last der Verantwortung dafür tragen müssen, unser Volk zu retten und diese neue Welt zu erschaffen. Niemand, am allerwenigsten ich, könnte daran irgendetwas falsch finden. Ich hatte nur über jene Welt nachgedacht, die ich aus meinen Träumen kenne.«
»Ja, das habe ich gesehen«, erwiderte er, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.
Neeva und Acorna tauschten Blicke aus.
(Ich hatte geglaubt, telepathisch begabt zu sein bedeutet, dass jeder jeden versteht), flüsterte Acorna ihrer Tante zu.
Neeva tätschelte Acornas Schulter und erwiderte – verbal –
gleichfalls flüsternd: »Manche Leute können nichts hören außer ihre eigenen inneren Stimmen, die ihnen so laut zubrüllen, dass sie der Einbildung erliegen, dieses Gebrüll käme von anderen. Der Aagroni war Zoologe, bevor er dem hiesigen Planetargestaltungs-Projekt zugeteilt wurde. Der Verlust so vieler unserer heimischen Tierarten hat ihn innerlich zerrissen.«
Mitfühlend starrte Acorna dem Mann hinterher, der im Gewühl der Menge verschwunden war.
»Mach dir seinetwegen keine Gedanken, Khornya«, tröstete Neeva sie. »Der Mann ist ein unverbesserlicher Perfektionist.
Und all seinen Bemühungen zum Trotz ist diese Welt, genau wie alle Welten, nun mal nicht perfekt. Natürlich war auch Vhiliinyar keineswegs vollkommen, aber daran erinnert sich jetzt niemand mehr. Also zählt der Aagroni nicht die Leben, die er gerettet hat, oder die Leben all der Kinder, die auf dieser neuen Welt geboren wurden, wenn er seine Leistungen beurteilt. Stattdessen reagiert er pikiert auf jede noch so geringste Klage über das Wetter, das Fehlen von Tieren, die eintönige Landschaft oder die Umweltstörungen und Naturumwälzungen, wie sie auf einem gerade erst bewohnbar gemachten Planeten nur allzu häufig vorkommen.«
Gerade als Neeva ausgeredet hatte, schlitterte ein junges Mädchen völlig außer Atem auf sie zu und stolperte fast über die eigenen Füße, so eilig hatte sie es, sie zu erreichen.
»Verzeihen Sie, Visedhaanye Neeva«, platzte die junge Person heraus. Ihr Leib war von einem hellen Mokkabraun und ihr Haar von einem dunkleren Braun, das von großen weißen Flecken geziert wurde. Vor lauter Hast, ihre Botschaft schnellstmöglich zu übermitteln, stammelte sie beinahe: »Die Viizaar Liriili wünscht Sie sofort zu sehen, in einer Angelegenheit von gewisser Dringlichkeit.«
»Die Viizaar Liriili?«, entfuhr es Neeva. »Wann ist Liriili denn Viizaar geworden?«
»Vor einem Ghaanye, Visedhaanye Neeva«, antwortete das Mädchen. »Als Viizaar Tiilye zurücktrat, um sich dem Haar ha Liirni zu widmen.«
Acorna rief sich das Vokabular ins Gedächtnis, das sie vermittels des LAANYE gelernt hatte, eines Übersetzungsgerätes, das Linyaari-Botschafter für gewöhnlich dafür einsetzten, um sich in Lernschlafsitzungen die Sprachen fremder Spezies anzueignen. In ihrem Fall allerdings hatte man einen LAANYE für die andere Übersetzungsrichtung umprogrammiert, damit sie die Linyaari-Sprache schneller erlernen konnte. Ein Viizaar war demnach irgendeine Art von hohem politischem Amt. Der andere Begriff, den das Mädchen benutzt hatte, schien ›höhere Bildung‹ zu bedeuten. Und Acorna war bereits geläufig, dass ein Ghaanye ein Zeitmaß war, das ungefähr eineindrittel Jahren Galaktischer Standardzeitrechnung entsprach.
»Wir wollten gerade aufbrechen, um Bericht zu erstatten«, meinte Neeva mit besonderer Wärme in ihrer Stimme, um das Mädchen zu beruhigen, einer Wärme, die allerdings in krassem Widerspruch zu der Bestürzung stand, die Acorna in den von ihrer Tante ausgestrahlten Emotionen spürte. »Ich weiß ja, dass Liriili ganz versessen darauf ist, Khornya kennen zu lernen.«
Das Botenmädchen musterte Acorna rasch, sogar ein wenig scheu, von Kopf bis Fuß. »Du bist also die, die von den Khleevi gefangen genommen wurde«, sagte sie. »Wie hast du denn wieder fliehen können, bevor man dich gefoltert und getötet hat?«
»Von den Khleevi gefangen genommen? Aber ich wurde doch gar nicht von den Khleevi gefangen genommen«, widersprach Acorna verwirrt. Die Botin und sie schlossen sich Neeva und Melireenya an, als diese in Richtung der zur Stadt führenden Straße aufbrachen. Khaari hatte im Begrüßungskomitee alte Freunde entdeckt und war, dem lebhaften Mienenspiel nach zu schließen, in eine angeregte Unterhaltung mit ihnen vertieft. Thariinye, flankiert von zwei jüngeren weiblichen Linyaari, folgte Acorna und der Botin.
Acorna fing einen mentalen Wortwechsel zwischen ihrer Tante und Thariinye auf.
(Thariinye, wo könnte dieses Kind bloß die Idee herhaben, dass Khornya eine Gefangene der Khleevi gewesen wäre?), fragte Neeva.
(Von mir nicht! Ich habe nur gesagt, dass die Wesen, die Khornyas Rettungskapsel nach dem Tod ihrer Eltern aufgelesen haben, barbarisch und in mancherlei Hinsicht Khleevi-ähnlich sind. Ich habe nie behauptet, dass man sie gefangen gehalten hätte), redete der junge Mann sich heraus.
Acorna und das Botenmädchen sahen einander an. Acorna selbst konnte die telepathische Kommunikation, die zwischen den Erwachsenen stattfand, nur allzu deutlich mithören. Doch dem zufolge, was Acorna inzwischen gelernt hatte, begann sich die Fähigkeit des Gedankenlesens bei den Kindern der Linyaari erst in der Pubertät zu manifestieren. Und dieses Mädchen hier war unverkennbar noch im vorpubertären Alter.
»Ich wurde nicht von den Khleevi entführt«, sagte Acorna daher zu der jungen Liinyar. »Ich bin bei Angehörigen einer Fremdspezies aufgewachsen, die sich ›Menschen‹ nennen.
Meine Adoptivonkel waren sehr nett, genau wie viele der anderen Menschen, denen ich begegnet bin. Ich bin überzeugt, dass auch ihr insbesondere etwa Herrn Li als ausgesprochen…
Linyaari-ähnlich empfunden hättet. Ist das das richtige Wort?
Es gab zwar auch ein paar andere Menschen, die ziemlich barbarisch waren, das stimmt. Aber mein Kontakt mit den raueren Seiten der Menschheit hat sich in Grenzen gehalten.«
Das Mädchen schien hierüber tief enttäuscht zu sein, und für einen Augenblick meinte Acorna schon, der Grund dafür könnte jene Art von Blutrünstigkeit sein, die sie von den Kindern auf Kezdet her kannte.
»Tut mir Leid, dass ich da etwas missverstanden habe«, entschuldigte sich das Mädchen. »Ich hatte dich nicht kränken wollen. Ich hatte nur gehofft, dass du tatsächlich eine Gefangene der Khleevi gewesen wärst. Ich meine, nicht dass ich dir irgendwas Böses wünschen würde. Aber besonders, als ich bemerkt habe, dass du so unversehrt aussiehst, hatte ich gehofft, dass du die Folterungen durchgestanden und sie überlebt hättest, weil… Na ja, das ist im Augenblick nicht so wichtig. Du hast sie nicht durchmachen müssen, und ich bin froh, dass es dir gut geht. Mein Name ist übrigens Maati. Du bist Khornya, nicht wahr?«
»In deiner – unserer Sprache, ja. Zu Hause hat man mich Acorna genannt«, erläuterte Acorna und machte den sprunghaften Themenwechsel mit, da das Mädchen angesichts ihres Irrtums offenkundig viel zu verwirrt war, um sich sehr verständlich ausdrücken zu können. Acorna hatte große Schwierigkeiten, die Gedanken des Kindes zu lesen, und fragte sich, ob das womöglich daran lag, dass Linyaari-Kinder der Telepathie nicht mächtig waren. Eines machte das Beispiel des Mädchens jedenfalls deutlich: Dieses Unvermögen bedeutete nicht nur, dass die Kinder nicht im Stande waren, fremde Gedanken zu empfangen, sondern auch, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht nonverbal auszusenden vermochten, weder bewusst noch unbewusst.
»Acorna? Das ist ja ein sonderbarer Name«, meinte Maati.
»Khornya allerdings auch, was das angeht. Was ich meine, ist: Das Wort bedeutet ›ein Horn‹. Aber wir haben doch alle ein Horn, und niemand hat mehr als eins, also was ist so Besonderes daran?«
»Da, wo ich gelebt habe, hat sonst niemand ein Horn gehabt«, klärte Acorna sie auf.
»Kein Horn? Aber wie haben sie sich denn dann geheilt, wenn sie sich verletzt haben oder krank wurden? Und was, wenn das Wasser in dem Bach, aus dem sie trinken wollten, schlammig war, oder wenn es einen Brand gab und ihre Luft voller Rauch war? Wie haben sie das in Ordnung gebracht?«
»Manchmal gar nicht. Wenn sie verletzt oder krank waren und ich nicht zur Hand war, dann sind sie zu Ärzten gegangen, die sie mit allen möglichen Gerätschaften und Tinkturen und Pillen wieder gesund gemacht haben. So gut sie das vermochten, jedenfalls. Und wenn das Wasser schlammig war, haben sie entweder schlammiges Wasser getrunken, oder sie blieben durstig. Wenn die Luft rauchig war, dann haben sie eben die geatmet, oder sie sind woanders hingegangen, wo die Luft sauberer war. Wie gesagt: Außer, wenn ich zur Hand war.«
»Dann bin ich aber überrascht, dass sie dich nach Hause gelassen haben, wenn sie so rückständig sind und du ihnen von so großem Nutzen warst«, sagte Maati eigensinnig.
Acorna seufzte und nahm von weiteren Versuchen Abstand, die menschliche Gesellschaft zu erklären.
Sie überschritten gerade den Rand der Wiese. Der Himmel war von einem klaren, wolkenlosen Türkis. Acorna sah, dass die Straße, die von der Stadt zum Raumhafen führte, jetzt direkt vor ihnen lag. Auf dieser Straße erwarteten sie mehrere Männer in kunstvoll verzierten Uniformen; jede Uniform prangte in einer anderen Farbe. Neben ihnen, von Schabracken bedeckt, die mit Schmuckbändern und Juwelen besetzt waren und farblich zu den Uniformen ihres jeweiligen Betreuers passten, standen vierbeinige Tiere, die ein wenig wie Pferde aussahen – außer dass sie Hörner hatten, genau wie die Linyaari.
»Hohe Dame«, begrüßte sie einer der Männer, wobei er es natürlich auf Linyaari sagte, »unsere Ahnen werden Sie nun zum Domizil der Viizaar tragen.«
»Reiten? Auf den Ahnen?« Neeva klang schockiert. »Wann haben wir denn angefangen, die Ahnen als Transportmittel zu benutzen?«
»Ahnen?«, erkundigte sich Acorna verblüfft. Sie streckte die Hand aus und berührte die samtene Nase eines der in prachtvolle Schabracken gewandeten Wesen. So aus der Nähe betrachtet erinnerten sie sie immer noch vornehmlich an die Pferde ihres Onkels Hafiz; mit den kleinen Bärtchen am Kinn sahen sie aber auch ein ganz klein wenig wie Ziegen aus. Sie waren zudem etwas leichter gebaut als die Pferde, die sie in den Ställen von Onkel Hafiz gesehen hatte. Ganz eindeutig jedoch waren sie jetzt als etwas anderes identifizierbar, mit dem Acorna von ihren menschlichen Gefährten ihr ganzes Leben lang in Verbindung gebracht worden war. »Das sind ja Herrn Lis Ki-lin!«, rief sie aus. Sie schaute Neeva an: »Du hast mir nie von ihnen erzählt.«
»Nun, nein«, gab Neeva zu. »Man spricht außerhalb der Heimatwelt nicht von den Ahnen, noch nicht mal im Kreise der engsten Gefährten. Sie haben etwas dagegen, dass Fremdweltler, wie linyarii sie auch sein mögen, von ihnen erfahren. In der Vergangenheit hatten sie gewichtige Gründe, sich vor anderen Spezies zu fürchten. Nicht vor den Linyaari, natürlich. Die Linyaari haben sich, nach der großen Tragödie der Ahnen und ihrer Errettung durch die Beschützer der Ahnen, ja aus ihnen entwickelt, aber ihre Art ist langlebig und anpassungsfähig. Dies sind daher Nachfahren der ursprünglichen Spezies. Die meisten von ihnen sind weitaus älter als irgendeiner von uns. Ihre gesamte Spezies, alle Ahnen, blieben so, wie sie schon immer waren, unverändert seit jenen fernen Tagen, als unsere eigene Art erst noch geboren werden musste.«
An den Mann in der fuchsienfarbenen Uniform gewandt, der neben dem mit einer fuchsienfarbenen Decke ausgestatteten Einhorn stand, wiederholte Neeva jetzt ihre Frage: »Reiten?
Auf den Ahnen?«
Acornas normalerweise so ausgeglichene Tante war unverkennbar so fassungslos, dass sie fast schrie, ohne es zu wollen.
Der fuchsienfarbig gewandete Mann rieb sich die Schläfen und verzog schmerzlich das Gesicht. Ganz langsam und bedächtig, als wäre er es nicht gewöhnt, Worte laut auszusprechen, erklärte er: »Richtig, Visedhaanye Neeva. Es ist der ausdrückliche Wunsch dieser Ahnen, dass Sie und Ihre Mannschaft auf den Rücken dieser Ahnen nach Kubiilikhan reiten. So ist es Brauch.«
»Brauch? Seit wann? Mir ist nichts davon bekannt, dass wir jemals auf ihren Rücken geritten wären, seit – nun, seit es die Linyaari überhaupt gibt.«
Der Mann rieb sich nun die Stirn um sein Horn herum, als ob er immer noch gegen Schmerzen ankämpfen musste, und sagte: »Es ist im Laufe der letzten anderthalb Ghaanyi Brauch geworden, Visedhaanye. Seit die Ahnen bemerkt haben, dass wir immer noch keine Schweber haben und unsere Raumfahrer deshalb zu Fuß vom Raumhafen nach Kubiilikhan gehen mussten. Die Ahnen meinen, dies sei würdelos. Sie finden, dass der Anblick einer Horde von zweibeinigen Wesen, die ohne jegliches Zeremoniell einfach nur die Straße zur Hauptstadt hinuntergehen, nicht den gebührend feierlichen und dem Anlass angemessenen Rahmen bietet, der dem Stellenwert unserer Raumfahrer zukommt.«
»Also, das ist seltsam«, wunderte sich Melireenya. »Daheim auf Vhiliinyar haben die Ahnen nie sonderlich viel von Raumfahrern gehalten. Ihnen sind im Weltraum einfach zu furchtbare Dinge zugestoßen, wie ihr ja wisst.«
»Im Laufe der Evakuierung haben die Ahnen erkannt, hohe Dame, welch wichtige Aufgaben diejenigen heutzutage für unser Volk leisten, die den Gefahren des Weltraums so tapfer trotzen.«
»Ich verstehe nicht ganz«, meldete sich Acorna und fühlte sich ein bisschen wie jenes Mädchen, das in einer ziemlich sonderbaren alten Geschichte, die sie an Bord des Prospektorenraumers ihrer Onkel einmal gelesen hatte, in ein tiefes Hasenloch gefallen war. »Diese Ki-lin hier sind unsere Ahnen, und sie wollen, dass wir auf ihnen reiten, weil es hier keine Schweber gibt? Warum gibt es denn hier keine Schweber? Ist es nicht furchtbar mühsam, sich auf diesem Planeten von der Stelle zu bewegen, wenn man nur zu Fuß gehen oder womöglich reiten kann – auf den Ahnen?«
Aagroni Iirtye, der ebenfalls zu der Gruppe gehörte, die von den Boten zusammengerufen worden war, um zum Domizil der Viizaar geleitet zu werden, ergriff das Wort. Als ob sie schwachsinnig wäre, wollte er von ihr wissen: »Wie viel Platz glauben Sie, gibt es auf einer Raumflotte, die nur eine einzige Chance hat, um das Volk eines ganzen Planeten mit gerade mal dem Allernötigsten zu evakuieren, das ihnen helfen soll, zu überleben? Schweber sind groß. Sie beanspruchen lebenswichtigen Platz, der für andere Fracht besser genutzt ist.
Und sie sind leicht ersetzbar, Lebewesen hingegen nicht.«
Acorna konnte nicht anders. Darauf musste sie einfach antworten: »Selbstverständlich müssen die Lebenden an erster Stelle kommen, Aagroni. Aber war es nicht schwierig, diesen Planeten zu besiedeln, ohne über irgendeine Art von einfachem Bodentransportmittel zu verfügen?«
»Wir hatten Stufen, Rampen und Leitern… und wir hatten Beine, junge Dame!«, wehrte sich der Wissenschaftler. »Und jedes Transportschiff hatte eine Orbitalfährenflottille an Bord, die vollkommen ausreichte, um Personen und Versorgungsgüter zwischen den verschiedenen, rund um den Planeten verteilten Ansiedlungsorten hin und her verfrachten zu können. Unsere jetzigen Wohnbauten und Gerätschaften sind nämlich vernünftigerweise mühelos transportabel, und die komplexeren Maschinerien, die wir in unserer heimischen Umgebung brauchen, hat unser Volk schon seit jeher auf ein Minimum beschränkt. Schweber waren deshalb im Chaos der Evakuierung schlicht ein verzichtbarer Luxus; sie hätten wertvollen Platz vergeudet, den wir brauchten, um die Ahnen auf unsere neue Heimatwelt zu transportieren. Die Ahnen sind schließlich empfindungsfähige, intelligenzbegabte Lebewesen.
Wir konnten sie wohl kaum der nicht existenten Gnade der Khleevi überlassen.«
Er schüttelte den Kopf angesichts der Dummheit seiner Artgenossen und ließ sich von einem der Einhornbetreuer zu dem ihm zugewiesenen Ahnen führen.
»Und später«, ergänzte jemand mit leiser Stimme, »hat sich der Rat zwar letztendlich doch dazu durchgerungen, neue Schweber zu ordern. Aber das ist jetzt schon fast ein ganzes Ghaanye her, und auf die Auslieferung dieser Bestellung warten wir heute noch.«
»Ich verstehe nicht ganz«, wunderte sich Acorna. »Wollen Sie damit sagen, dass seit der Evakuierung drei Jahre vergangen sind und noch nicht einmal ernsthaft damit begonnen wurde, die Schweber zu ersetzen?«
»Schon gut, Liebes«, beschwichtigte Neeva sie. »Du musst nicht alles auf einmal verstehen. Für Erklärungen wird es später noch mehr als genug Zeit geben.«
»Ich bin nur überrascht, dass… ach, was soll’s. Da die Ahnen ein solches Opfer nun einmal bringen möchten, teilt ihnen doch bitte mit, dass ich dies wirklich zu schätzen weiß«, kapitulierte Acorna und nickte mit ihrem Horn in Richtung der Einhörner. Sie drehte sich zu Neeva um und flüsterte ihr als leise Nachbemerkung zu: »Ich war nur überrascht, dass die Linyaari keine gewöhnlichere Bodenbeförderung haben, wo sie doch so eine prächtige, hoch technisierte Raumflotte besitzen.« Sie deutete zu den vielen gelandeten Schiffen hinüber, die sich nicht weit entfernt Rumpf an Rumpf aufreihten wie bunte Eier in einem Eierkarton.
»Die Raumschiffe haben wir bei der Evakuierung notwendigerweise mitgebracht. In der Eile, von unserer alten Heimat wegzukommen, bevor die Khleevi eintrafen, haben wir alles eingesetzt, was irgendwie flugtauglich war. Die Schweber allerdings waren entbehrlich, ebenso wie viele andere technologische Errungenschaften, die wir daheim auf dem alten Planeten tagtäglich benutzt haben. Wir haben uns stattdessen darauf konzentriert, den biologischen Reichtum der Heimatwelt zu retten. Und wie es bei jeder Zwangsumsiedlung der Fall ist, sind natürlich Dinge unterwegs verloren gegangen«, erläuterte Neeva.
»Wir haben alles, was wir brauchen, um überleben zu können«, setzte einer der Einhornbetreuer in ihrer Nähe hinzu, der die leise geführte Unterhaltung mitgehört hatte. »Die Ahnen in ihrer Weisheit offenbaren uns den Pfad der Wahrheit, wie gewöhnlich. Durch ihr Beispiel zeigen sie uns, wie wir das, was wirklich wichtig ist, als Ersatz für jenes einsetzen können, was weniger wichtig ist.«
»Man braucht Zeit und Credits, um eine transplantierte Welt wieder mit allem Nötigen auszustatten«, bekräftigte Melireenya, während ihr, nach einer tiefen Verbeugung vor einem mit einer blauen Schabracke bedeckten Einhorn, dessen Betreuer beim Aufsteigen half. »Zum Glück war unsere Raumflotte den Anforderungen gewachsen, die wir ihr abnötigten, sowohl während der Evakuierung als auch jetzt.
Die hochwertige Technik und der Kauf von Qualitätsware hat sich letztlich ausgezahlt, als wir am dringendsten darauf angewiesen waren.«
»Die Schiffe wurden gar nicht auf eurer alten Heimatwelt gebaut?«, fragte Acorna überrascht.
»Nur teilweise. Sie wurden von Fremdherstellern, die uns mit Handelsgütern beliefern, auf anderen Welten zusammengebaut und dann zu uns gebracht, damit Linyaari-Technokünstler sie unserem spezifischen Bedarf und Geschmack entsprechend ausstatten konnten.«
»Ich verstehe. Aber warum auf anderen Welten? In Anbetracht des LAANYE und der anderen Gerätschaften, die ich bei euch gesehen habe, hatte ich gedacht, dass ihr – wir –
eine technologisch sehr hoch entwickelte Gesellschaft wären, mit einer Infrastruktur, die eine Industrie von beträchtlichem Ausmaß unterhalten kann.«
»Die Fähigkeit dazu zu haben ist nicht das Wichtigste, Kind«, warf ein anderes Mitglied des Linyaari-Begrüßungskomitees ein.
Der Betreuer des Acorna zugedachten Ahnen räusperte sich und übermittelte: »Die Ehrwürdige Großmutter sagt, dass die Beschützer der Ahnen in den Tagen ihrer eigenen Großmutter eine planetare Schwer- und Fertigungsindustrie in großem Maßstab unterhielten. Aber das war sehr unweltbelastend. Die Produktionsanlagen vernichteten wertvolle Weideflächen und mussten entweder von lebendigen Arbeitern betrieben werden, die eigentlich sehr viel lieber anderswo gewesen wären, oder aber von mechanischen Arbeitern, die selbst auch wieder industriell produziert werden mussten.«
Ein weiterer Einhornbetreuer schaltete sich mit einem rhythmischen Singsang ein, als würde er eine Litanei rezitieren: »Es war ein schädliches System, das im Laufe der Zeit immer mehr und mehr Weidegrund verschlang. Aber zum Glück machten sich die Beschützer der Ahnen die Raumfahrt zu Nutze und verlagerten einen Großteil unserer Fabrikationsindustrie auf andere Welten, deren Bewohner sich nicht daran störten, dass sie dadurch ein Leben ohne angemessene Weideflächen führen mussten. Deshalb verfügen wir heutzutage zwar über eine zahlenstarke Gemeinde von Technokünstlern, die herausragende theoretische Konstrukteure und Ingenieure sind. Der allergrößte Teil unserer tatsächlichen Fertigung aber wird unter Linyaari-Aufsicht auf anderen Welten betrieben.«
»Was sehr gut ist«, unterstrich Melireenya, »weil wir immer einen hohen Bedarf an Weideland haben.«
Eine in ein langes, vielfarbiges Gewand gekleidete Liinyar ergänzte: »Das Beispiel der Beschützer der Ahnen war uns unsere gesamte Geschichte hindurch ein Vorbild. Die meisten unseres Volkes sind davon überzeugt, dass ein Leben, in dessen Mittelpunkt Pflanzen und Lebewesen stehen, sehr viel mehr linyarii ist als das Hantieren mit Metallen und Werkzeugen.«
»Unser Volk hat allerdings nichts dagegen, dass andere ihr Leben damit verbringen, mit Metallen und Werkzeugen zu arbeiten«, kommentierte Neeva trocken. »Und sogar ein paar Linyaari finden Erfüllung darin, genau das zu tun. Genau wie ein paar von uns ihr Leben im Weltraum oder auf anderen Planeten verbringen. Unser Volk treibt mit anderen Welten Handel, um von dort all jene Waren, Güter, Halbfertigteile oder Techniken zu beziehen, auf deren Fremdherstellung und
-belieferung wir angewiesen sind.«
»Und was bieten wir im Gegenzug als Tauschware an, wenn wir selbst gar keine Handelsgüter herstellen?«, wollte Acorna wissen.
»Denk doch mal nach, Acorna«, forderte Thariinye sie auf.
»Was für Probleme haben Industriegesellschaften, die wir beheben können?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab.
»Umweltverschmutzung natürlich! Bei ihren Herstellungsverfahren entstehen Giftstoffe, die wir neutralisieren können.«
»Aber eingedenk des mahnenden Beispiels der Ahnen«, meldete sich der Betreuer von vorhin wieder zu Wort, »weihen unsere Botschafter, Gesandten und Handelsleute niemanden in das Geheimnis um die wahre Quelle dieser unserer Fähigkeit ein.«
»Selbstverständlich nicht«, pflichtete ein weiteres Mitglied des weißhäutigen Linyaari-Begrüßungskomitees bei. »Unsere Handelspartner wissen nicht, dass die reinigende Macht in unseren Hörnern liegt. Sie glauben vielmehr, dass es sich um ein technisches Verfahren handelt – und von jenen kleinen Geräten ausgeht, die wir stets mit uns führen, um sie glauben zu machen, dass diese die Umweltverschmutzung und Vergiftung auf ihren Welten so wirkungsvoll beseitigen.
Natürlich haben sie längst herausgefunden, dass diese Geräte nur in der Hand von Linyaari-Technikern funktionieren.«
»Auf diese Weise, vom Vorbild der Ahnen und der Beschützer der Ahnen profitierend, kann der allergrößte Teil unseres Volkes einer pastoralen Lebensweise nachgehen, die unbelastet von allen Vorgängen ist, welche jene Dinge beeinträchtigen würden, die wir am höchsten schätzen«, schloss ein goldfarbiger Liinyar die Ausführungen ab.
Mit einer Mischung aus Belustigung und Unmut warf Neeva ein: »Zum Glück für all jene, die ausschließlich eine ländliche Lebensweise pflegen, hat unser Volk aber keine stupide Herdenmentalität. Obgleich wir zuweilen telepathisch miteinander kommunizieren, heißt das keinesfalls, dass wir alle stets derselben Meinung sind oder gar alle genau gleich denken. Es gibt im Gegenteil viele unter uns, die eine endlose Pastoralidylle als geisttötend langweilig und öde empfinden.
Manche Linyaari ziehen es daher vor, sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen, sich an den Herausforderungen und Abenteuern der Raumfahrt zu erfreuen oder anderen Tätigkeiten technologischer Art nachzugehen. Es gibt unter unseren Artgenossen viele Erfinder, die all jene Geräte, Techniken und Programme entwickeln, die unser Volk benötigt, und die außerplanetarische Technologien für unsere Zwecke anpassen. Wir Raumfahrer dienen unserem Volk als Botschafter und Händler, um neue Märkte für die Fertigkeiten und Handelswaren der Linyaari zu erschließen und jene Bedarfsgüter in unsere Heimat zurückzubringen, die unser Volk nicht selbst herstellen möchte.«
»Und wir sind froh, dass ihr das tut, Visedhaanye, und sehr wohl dankbar für die vielen Annehmlichkeiten, Verbesserungen und Neuerungen, die ihr uns bringt – solange ihr nur nicht versucht, eure Arbeit hier zu verrichten oder gar von uns verlangt, dass wir uns euch da draußen anschließen«, meinte ein weiterer weißhäutiger Liinyar mit einem leichten Schaudern. »Eine Reise durch die Schwärze des Weltraums dürfte den meisten von uns für ihr ganzes Leben vollauf genügen. Wie ihr es fertig bringt, den Großteil eures Lebens im Innern einer riesigen Maschine zu fristen, ganz gleich, wie wunderschön sie auch ausgestattet sein mag, ist mir wahrhaftig unbegreiflich.«
»Ich muss zugeben«, gestand Khaari ein, »dass auch ich mich nach Ghaanyi in einem Raumschiff aufrichtig darauf freue, wieder nach Hause zu kommen – zu dem ländlichen Leben, in dem man nicht in einem Hydroponikbeet, sondern in einem echten Garten grast oder auf einer Wiese mit Käfern und Vögeln und würzigen Leckerbissen in Gestalt von Wildblumen und -kräutern.«
»Allerdings gibt es hier nicht allzu viele Vögel, hohe Dame«, merkte der olivgrün gekleidete Betreuer des mit einer olivgrünen Schabracke behängten Ahnen, auf dem Khaari ritt, bekümmert an.
»Der Ehrwürdige Urgroßvater hier vermisst ihren Gesang schmerzlich.«
»So wie ich«, pflichtete ihm der Aagroni traurig bei. »So wie ich.«
Vier
Kisla Manjaris Zorn darüber, dass ihr der Schrotthändler und seine Wildkatze als Opfer durch die Lappen gegangen waren, verflüchtigte sich rasch, als ihr sandalenbeschuhter Fuß schmerzhaft gegen einen harten Gegenstand auf dem Boden prallte. »Autsch!«, entfuhr es ihr. Sie bückte sich, um das, was sie für einen im Weg liegenden Stein hielt, aufzuheben und Becker wütend hinterherzuschleudern. Dann jedoch erkannte sie, was es wirklich war.
»Zwei Einhorn-Hörner? Das Mädchen hatte doch nur eines, Paps«, wandte sie sich an ihren Vater, eine Gestalt, die nur sie allein wahrzunehmen vermochte. Sie sah ihn so, wie sie ihn inzwischen immer sah, in sein feinstes Festgewand gekleidet, während das Blut gerade erst begann, aus der Wunde in seinem Hals herauszuströmen, so wie es an jenem Tag herausgesprudelt war, als er starb. »Wo ist das andere hergekommen? Der Schrotthändler hat behauptet, er hätte mir das Einzige gegeben. Er hat behauptet, er hätte keine anderen.
Er hat gelogen, dieser pöbelgeborene Weltraumabschaum.«
»Du darfst niemals zulassen, dass jemand damit durchkommt, uns anzulügen, Kisla. Du solltest ihn bestrafen«, belehrte ihr Vater sie.
»Oh ja! Das werde ich tun, Paps, selbstverständlich werde ich das tun. Ich werde es ihm schon zeigen. Aber wenn diese Hörner hier echt sind, welches davon ist dann ihres, was glaubst du?«
»Kisla, ich glaube, dass das hier eine gewichtige Angelegenheit ist, die du mit deinem Onkel Edacki besprechen solltest. Er wird dich beraten und dir helfen können.«
»Ja, Paps, genau das werde ich tun«, versprach sie. Sie drehte sich zu ihren Lakaien um. Die Androiden waren Kislas vermeintliche Selbstgespräche gewöhnt und schenkten ihnen daher längst keine Aufmerksamkeit mehr. »Ich will, dass ihr den Lastschweber fertig beladet und danach beim Schiffsregisteramt Halt macht, um den Namen des Schrotthändlers herauszufinden und zu erfahren, wo er seinen Raumer gelandet hat. Wir werden ihm später einen Besuch abstatten. Doch zunächst muss ich meinen Vormund aufsuchen. In der Zwischenzeit bringt ihr die Sachen hier in meinen Privathangar und sorgt dafür, dass die Werftarbeiter unverzüglich anfangen, die brauchbaren Teile in meine Raumschiffe einzubauen. Wartet dort meine weiteren Anweisungen ab.«
»Wie Sie befehlen, Herrin Kisla«, versicherte das neueste Modell unter ihnen beflissen. Da die meisten von Onkel Edackis menschlichen Bediensteten zu langsam und zu dumm waren, um ihren Ansprüchen zu genügen, hatte er ihr stattdessen vier seiner Humanoidroboter als persönlichen Mitarbeiterstab überlassen. Sie waren gefügig und heulten oder bluteten nicht dauernd, wie es die menschlichen Bediensteten taten.
Graf Edacki Ganoosh schenkte seinem Mündel ein gemessenes, anerkennendes Lächeln, als er die Kegelhörner, die sie ihm gebracht hatte, eingehend mit den Händen befühlte.
Kisla Manjari litt zwar an einer schweren psychotischen Störung, gewiss, dennoch war sie keineswegs so schwachsinnig, wie viele Leute annahmen. Und vielleicht würde ihre Verrücktheit ja im Laufe der Zeit wieder nachlassen. Es war schließlich auch nicht anders zu erwarten gewesen, als dass es einem jungen Mädchen einen Schock versetzte, wenn es mit eigenen Augen mit ansehen musste, wie ihr Vater zuerst ihre Mutter und danach sich selbst umbrachte, weil er vor den Augen der angesehensten Bürger von ganz Kezdet als Erzkrimineller entlarvt worden war. Edacki war in jener Nacht ebenfalls zugegen gewesen, und ihn hatte es mit Sicherheit schockiert. Da Kisla ein ziemlich egoistisches Mädchen war, hätte man annehmen können, dass der schlimmste Schock dieser Nacht die Enthüllung gewesen wäre, dass sie von ihren Eltern nur adoptiert worden und eigentlich als illegitime Tochter einer Prostituierten zur Welt gekommen war. Doch als sich herausgestellt hatte, dass ihre Eltern gestorben waren, bevor der Staat sämtlichen Besitz ihrer Eltern hatte konfiszieren können, und dass sie, Kisla, die Alleinerbin war, schien sie jenen Teil der Schrecknisse aus ihrem Gedächtnis verdrängt zu haben. Den Großteil des Manjari-Wirtschaftsimperiums hatte die Regierung dann zwar trotzdem beschlagnahmt. Doch Graf Edacki, als der amtlich bestätigte Vormund des Mädchens, hatte erfolgreich angeführt, dass die Jugendliche selbst keine Kriminelle war und man ihr somit gewisse Eigentumsrechte zumindest an den legitimen Geschäften des Barons belassen müsse. Diese stellten ein solides Treuhandvermögen dar, das groß genug war, um Kislas Lebensunterhalt zu sichern, ihre Ausbildung zu bezahlen und für den Rest ihres Lebens ein erkleckliches Einkommen zu garantieren. Im Stillen hegte Graf Edacki allerdings den Verdacht, dass das Mädchen darüber hinaus auch Kenntnis von gewissen geheimen Beteiligungen und Konten hatte, die von der Regierung noch nicht entdeckt worden waren.
Beteiligungen und Konten von beträchtlichem Wert, glaubte er. Konkretes hatte er aber noch nicht herausgefunden. Es war aber auch eine schwierige Aufgabe, das Vertrauen eines verwaisten Kindes zu gewinnen. Der Graf war daher aus mehr als nur einem Grund sehr erfreut darüber, dass Kisla beschlossen hatte, ihm die Einhorn-Trophäen zu zeigen.
»Ausgezeichnet, meine liebe Kisla. Das hast du gut gemacht«, lobte er sie, während er mit den Fingern die Hörner liebkoste und sich fragte, ob es stimmte, was die Legenden über solche Gehörne und ihre aphrodisischen Eigenschaften behaupteten.
»Das brauchst du mir nicht zu sagen, Onkel«, brauste Kisla auf. »Du sollst mir helfen, herauszufinden, warum es zwei davon gibt und welches davon diesem Mädchen gehört, das für den Tod meiner Eltern und den Raub meines Eigentums verantwortlich ist.«
»Nicht so hitzig, Kleines«, wies er sie zurecht und legte die Hörner beiseite, um aus dem mit labendem rosafarbenem Gallertschlamm aus den wohlriechenden Sümpfen des haidanischen Regenwaldes gefüllten Badebecken zu steigen.
Da er seinen Kammerdiener auf Kislas Verlangen hin aus dem Raum geschickt hatte, war der Graf gezwungen, sich eigenhändig in seinen Bademantel aus purpurfarbenem Plüsch zu wickeln. Danach machte er es sich auf der bettähnlichen Liegestatt bequem, die das Gelbecken ringsum einfasste.
»Obwohl es sicherlich möglich ist, dass eines dieser Hörner Acorna gehört hat, glaube ich doch, dass, wenn sie tatsächlich gestorben wäre, uns die Nachricht von ihrem Tod längst erreicht hätte – und das ist nicht der Fall. Allerdings könnten die Hörner sehr wohl von den anderen ihrer Art stammen.«
»Was für andere?«, verlangte Kisla zu erfahren.
»Nun, die anderen Einhornwesen natürlich, die vor ein paar Monaten gekommen sind, um das Mädchen abzuholen.«
»Davon weiß ich ja gar nichts!«, entrüstete sich Kisla.
»Mein Liebes, du warst damals noch tief in Trauer.
Außerdem warst du mit den juristischen Schwierigkeiten betreffs deines Erbes beschäftigt, die dir dein so tragisch verstorbener Vater hinterlassen hat. Ich fand, dass es damals nicht der richtige Zeitpunkt war, um dich mit diesen Nachrichten zu belasten. Oh ja! Es waren vier andere, soweit ich weiß. Es scheint, dass Acorna doch keine Göttin war, wie die kleinen Kinderarbeiter geglaubt haben, sondern lediglich ein fremdes, nichtmenschliches Wesen. Aber da sie offenbar tatsächlich so hoch entwickelt ist, wie man bei Geschöpfen dieser Art gemeinhin annimmt, hat sie es übernommen, das zu korrigieren, was sie als unsere weniger glücklichen sozialen Verhaltensweisen und wirtschaftlichen Praktiken betrachtet hat.«
»Dann könnten diese Hörner also denen gehört haben, diesen anderen Einhorn-Fremdwesen, die hergekommen waren, um sie zu holen?«, fragte Kisla. Sie konnte sehen, wie in Onkel Edackis Augen ein Plan zu reifen begann.
»Oh ja. Oder irgendwelchen anderen ihrer Rasse, obwohl sie unserer Spezies ja eigentlich völlig unbekannt waren, ehe deine kleine Freundin hier eintraf.«
»Sie ist keine Freundin von mir«, fauchte Kisla scharf.
»Gewiss nicht, das weiß ich doch. Ich habe nur einen Scherz gemacht. Als Erstes gilt es natürlich den Schrotthändler zu befragen. Wenn es zwei von diesen Dingern hier gibt, dann könnte es auch noch mehr davon geben, und er wird uns verraten müssen, wo er sie herbekommen hat.«
»Um den werde ich mich kümmern«, bot Kisla an.
»Gut, mein Liebes. Aber sei vorsichtig. Wir wollen doch nicht, dass er stirbt, bevor wir alles erfahren haben, was wir wissen müssen. In der Zwischenzeit, denke ich, werden wir wohl oder übel einen dieser Hornkegel opfern müssen, um seine Eigenschaften und seine Zusammensetzung zu ermitteln.
Ich habe geradezu märchenhafte Dinge über diese Acorna gehört. Dass ihr Horn heilen und reinigen könnte, und sogar –
nein, jetzt bringe ich Gerüchte und alte Legenden durcheinander.«
Kisla hatte sich während dieser Worte auf der Kante der Badeliege direkt neben seinem Kopf niedergelassen; jetzt beugte sie sich über ihn und sprach ihm ins Ohr: »Nicht dass du uns missverstehst, Onkel. Wenn man Profit aus diesen Dingern schlagen kann, dann wollen wir das natürlich tun, Paps und ich. Am allermeisten aber wollen wir dieses Mädchen und ihre gesamte Familie und alle ihre Freunde tot sehen, sie auf die gleiche Weise sterben sehen, wie sie meine Familie umgebracht und alle meine Freunde vertrieben hat.«
Der Graf lächelte zu seinem Mündel hoch. Die Wahrheit war zwar, dass Kisla niemals irgendwelche Freunde gehabt hatte, doch es würde nichts nützen, das zu erwähnen. Oder sie darauf hinzuweisen, dass sie im selben Atemzug einerseits von dem verstorbenen Baron Manjari, ihrem Adoptivvater, gesprochen hatte, als wäre er immer noch am Leben, andererseits jedoch zugleich eingestanden hatte, dass ihre ganze Familie tot war.
Graf Edacki tätschelte Kislas Hand. »Hab keine Angst, Kind.
Ich denke, dass man, wenn diese Hörner sich wahrhaftig als so nützlich herausstellen, wie man es von ihnen behauptet, Acorna und ihre Artgenossen schon bald in der ganzen Galaxis jagen wird, so wie man auch auf jede andere Kreatur mit einem eingebauten Schatz Jagd machen würde. Es gibt zwar schon Leute, die nach ihnen suchen. Aber mit denen hier« – er tippte auf eines der Hörner – »und ein paar gründlichen Nachforschungen sowie der geschickten Nutzung von ein paar meiner Verbindungen, denke ich, können wir es so einrichten, dass wir die Ersten sein werden, denen es gelingt, sie zu finden.«
Nachdem das Mädchen verschwunden war und ihre Handlanger Beckers Lastschweber mit den Waren beladen hatten, die sie gekauft hatte, und dann ebenfalls aufgebrochen waren, kroch SB wieder unter dem Tisch hervor, unter dem er sich versteckt hatte, sprang hinauf und verteilte die dort liegenden Steine so, dass er es sich zwischen ihnen bequem machen konnte.
Genau dort fand Becker den Kater später, wie er das Streicheln und Tätscheln der Kinder des Mineralienhändlers genoss und träge einen der kleineren und wertvolleren Edelsteine zwischen seinen Vorderpfoten hin und her kugelte.
Der Stein wechselte glitzernd die Farbe, von Blau über Grün zu Aquamarin und dann wieder zurück zu Blau, wenn der Kater ihn von der einen Pranke zur anderen rollte.
»Schöne Katze, mein Herr«, meinte ein etwa fünf Jahre alter Junge. »Was woll’n Sie für die haben?«
Becker zog eine Augenbraue hoch und sah ihn belustigt an.
»Das ist schon das zweite Angebot, das ich heute bekommen habe.«
»Du bissja blöd, Deeter«, warf ein Mädchen von ungefähr sieben mit dem gleichen roten Haar und den gleichen Sommersprossen wie der Junge ein. »Man kauft un’ verkauft Katzen wie die hier doch nich’. Kannste denn nich’ seh’n, dass das ‘ne Makahomanische Tempelkatze iss? Die sin’ heilig, weißt du. Die gehört wahrscheinlich zu der Religion von dem Herrn hier. Ich wette, er iss’n Priester oder sowas.«
»Mindestens Papst«, pflichtete ihr Becker bei. »Er, meine ich. Ich arbeite nur für ihn.«
Der Inhaber des Verkaufsstandes kramte gerade in einer Kiste herum, und als er sich diesmal wieder aufrichtete, erinnerte sich Becker endlich auch an seinen Namen.
»Reamer! Du bist Rocky Reamer!«, rief er aus.
»Hast es erraten, Kumpel«, bestätigte der Mann. Es war unverkennbar, dass er der Vater der Kinder war. Er hatte das gleiche rote Haar und die gleichen Sommersprossen. »Und, sag mal, ich dachte, ich hätte dich auch wieder erkannt. Aber wenn du der Kerl bist, den ich meine, dann siehst du ein bisschen verändert aus. Du bist doch Joe Becker, oder?«
»Joe, Jonas, wie du willst«, antwortete Becker. »Stimmt, der bin ich: Becker. Weißt du, was? Gerade ist mir eingefallen, warum mir die Namen dieser Steine da, die ich mir erst vor ein paar Stunden angeschaut habe, so bekannt vorkamen. Was hießen die noch mal? Giloglit, Bairdit und Nadezdit?«
»Stimmt genau«, sagte Reamer. »Die stammen aus neuen Gesteinsablagerungen, die von diesen Kindern da oben auf Maganos entdeckt wurden, und sind nach den Onkeln der Dame benannt. Siehst du den hier, mit dem Rot und Gelb drin, das ein bisschen wie ein Schottenkaro aussieht? Der ist nach Calum Baird benannt, der ist ein kaledonischer Kelte, genau wie ich. Wir waren mal im selben Geologiekurs. Der serpentinfarbene Stein heißt nach diesem irischstämmigen Partner von Calum, Declan Giloglie. Und der Auffällige hier hat den Namen seiner Neureichheit höchstselbst, des Erben und jetzigen Geschäftsführers des Hauses Harakamian, Rafik Nadezda.«
Becker grinste. »Hab ich’s mir doch fast gedacht! Also hat ihn Rafiks Onkel jetzt endgültig zum Erben eingesetzt, wie?
Dabei habe ich nie sagen können, ob er den alten Mann nun eigentlich gehasst oder bewundert hat.«
»Ein bisschen von beidem, schätze ich. Du kennst die Burschen also?«
»Klar doch, wir sind einander schließlich jahrelang um dieselben Felsbrocken herum hinterhergejagt. Allerdings haben sie nach unbewohnten Planeten gesucht, während ich nach bewohnten oder früher mal bewohnten Welten Ausschau gehalten habe. Insofern sind wir einander nicht allzu sehr in die Quere gekommen.«
SB hatte den Edelstein, mit dem er die ganze Zeit gespielt hatte, inzwischen vom Tisch hinuntergefegt und vergnügte sich nun mit einem Bindfaden, den Deeter vor ihm herumbaumeln ließ.
Becker hob den Kristall vom Boden auf. »Und wie hast du den hier genannt?«
»Das ist Acornit.«
»Woher stammt er? Von einem Planeten, auf dem alles pflanzliche Leben gleichzeitig auch mineralisch ist? Kann man daraus womöglich bereits versteinerte Eichen wachsen lassen?«
Eine Sekunde lang war Reamers Gesicht völlig Verständnis-und ausdruckslos, dann grinste er und gluckste.
»Nein, du Dummkopf«, antwortete an seiner Stelle das kleine Mädchen. »Weißt du denn gar nichts? Der iss natürlich nach unserer Dame benannt!«
»Ich dachte, sie heißt Epona…«, wunderte Becker sich.
»Sofern wir dieselbe Dame meinen, heißt das. Mir hat man nämlich erzählt, dass das auf Maganos die Dame Epona gewesen sei, und ihr habt doch gesagt, dass Gill und Calum und Rafik sich dieser Tage auch dort rumtreiben.«
Auf diesen Einwand hin wirkte das kleine Mädchen plötzlich etwas verunsichert und wandte sich Hilfe suchend zu ihrem Vater um, der erläuterte: »Nicht doch, das ist sozusagen nur einer ihrer Titel. Siehst du, sie und der alte Herr Li – er ist übrigens dieses Jahr gestorben, wusstest du das?«
»Delszaki Li ist gestorben? Verdammt, und ich dachte, der würde ewig leben, trotz des Schwebestuhls.«
»Nein, am Ende hat es ihn doch erwischt. Wie sich herausgestellt hat, war er der Kopf der Befreiungsbewegung, der wir Kezdets Rettung verdanken. Li hatte schon einiges an Grundlagenarbeit für die Revolution geleistet, aber richtig Bewegung kam erst in die Sache, als Gill und seine Kumpel die Herrin hier runterbrachten. Sie wusste zwar nicht viel über Politik, aber eines wusste sie genau: dass sie es einfach nicht mit ansehen konnte, wie Kinder in die Sklaverei verkauft wurden. Sie hat gerade mal etwa ein Jahr gebraucht, um die Schmuddelhäuser und den Rattenfänger zu Fall zu bringen und das Ausbildungs- und Bergbauzentrum auf Maganos hochzuziehen. Natürlich hat es geholfen, dass sie außerdem ein Bündnis zwischen den Häusern Harakamian und Li geschmiedet hat, sodass sie fast unbegrenzte Finanzmittel zur Verfügung hatte. Jedenfalls sind die Kinder regelrecht abergläubisch, was sie betrifft, und einige von ihnen haben sogar geglaubt, sie wäre eine Art Göttin – je nachdem, was für eine Religion es da gegeben hat, von wo sie hergekommen waren. Also nennen sie sie Epona, Dame Lukia oder die Herrin des Lichts. Ihr richtiger Name aber ist Dame Acorna Harakamian-Li.«
»Vielleicht sollte ich mal bei meinen alten Kumpels vorbeischauen«, meinte Becker. »Diese Dame würde ich zu gerne kennen lernen. Ich war ja als Kind selbst ein Arbeitssklave. Wenn mein Adoptivvater nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich längst krepiert.«
Reamer zerzauste das rote Haar seiner Sprösslinge. »Ich sag dir was, Kumpel: Zu wissen, dass diese Läden dicht gemacht worden sind, lässt mich wahrhaftig besser schlafen. Jetzt muss ich mir nämlich keine Sorgen mehr machen, dass meine Rangen in die Erzgruben geschickt werden, falls mir irgendetwas zustoßen sollte, oder dass sie etwas noch Schlimmeres erleiden.«
Becker dachte eine Minute lang nach, dann zog er den Probenbeutel hervor, fischte sorgsam einen der irisierend schillernden Wendelsteine heraus und hielt ihn in der geschlossenen Hand verborgen, die er erst dann ein kleines bisschen öffnete, als er sie Reamer entgegenstreckte, um diesem einen Blick auf den Inhalt zu gewähren. »Wenn ich schon mal dabei bin: Ich glaube, ich habe gerade einen großen Fehler gemacht, als ich einen davon einem Kunden überlassen habe. Das hier stammt zwar nicht von Maganos, aber ich habe trotzdem noch nie irgendwo irgendwas Ähnliches gesehen.
Weißt du vielleicht, was das sein könnte?«
»Hei-ei-eiliges Hämatit!«, stieß Reamer hervor und berührte das Ding so behutsam, als hätte er Angst, dass er sich daran verbrennen könnte. »Wo hast du das her, Becker?« Seine Stimme war diesmal nicht sehr freundlich, und seine blauen Augen hatten einen Ausdruck eisiger Kälte angenommen.
»Kinder, ich möchte, dass ihr die Katze jetzt mal in Ruhe lasst und euch ein paar Süßigkeiten holen geht«, ordnete er an und ließ jedem eine Creditmünze in die Hand fallen.
»Aber Papa…«
»Ab mit euch!«
Sie rannten davon, und SB stieß ein enttäuschtes, für seine Verhältnisse jedoch erstaunlich schicksalsergebenes Miauen aus und schaute seinen neuen Freunden nach, als sie in der Menge verschwanden.
»Deswegen siehst du also anders aus. Dir hat ein Ohr gefehlt, als ich dich das letzte Mal gesehen habe!«, stellte Rocky fest.
Es klang wie eine Anschuldigung.
»Und was willst du damit sagen?«
»Die Leute erzählen, dass das Horn der Dame heilen kann.
Und dann tauchst du hier auf, mit einem Horn wie ihrem, und einem völlig wieder hergestellten Ohr – was glaubst du denn, was ich davon halten soll?«
»Jetzt aber mal halblang, ja? Verdammt! Ich habe es gefunden, mein Wort drauf. Hält deine Dame eigentlich überall den Daumen drauf? Rottet die Kinderarbeit aus, schließt die Freudenhäuser, und jetzt willst du mir an die Gurgel gehen, nur weil sie auch so ein Horn hat wie meines? Na und? Vielleicht hat sie ihres ja am selben Ort gefunden wie ich.«
»Das glaube ich weniger«, erwiderte Reamer eisig.
»Nein? Und warum nicht? Könnte doch sein.«
»Völlig ausgeschlossen. Ihres wächst ihr mitten aus der Stirn.
Jedenfalls war es noch so, als sie das letzte Mal von irgendwem gesehen wurde, den ich kenne.«
Fünf
Die Besatzung der Balakiire und die Würdenträger des Begrüßungskomitees ritten auf den Ahnen mit allem Gepränge und Zeremoniell in Kubiilikhan ein, das diese ihnen irgend zu verleihen vermochten. Wenn es Würde war, mit der die Ahnen jene auszustatten suchten, denen sie auf ihnen zu reiten erlaubten, fürchtete Acorna jedoch, dass dies in ihrem Fall wohl eine ziemlich hoffnungslose Sache war. Ihre langen Beine baumelten so haltlos unter dem Bauch der Ahnin herum, auf der sie ritt, dass ihre Füße fast bis zu den Spalthufen des Einhorns hinunterreichten.
Die Ahnen zu reiten machte ihre Reise zudem gewiss auch nicht schneller. Sie brauchten vielmehr fast eine Stunde, um die vier oder fünf Kilometer zwischen dem Raumhafen und der Stadt zurückzulegen, die auf den ersten Blick eine reine Zeltsiedlung aus mächtigen, edelsteinfarben getönten, mit Goldborten und prächtigen Quasten verzierten Pavillons in der Größe von Zirkuszelten zu sein schien, wie sie Acorna von den Abbildungen aus den Vids und Büchern ihres Onkels Hafiz her kannte. Auf ihren eigenen Beinen wäre es fraglos sehr viel schneller gegangen. Den Ki-lin aus der Legende sagte man nach, dass sie sehr flink zu Fuß wären. Die Ahnen hingegen beschränkten sich auf ein gemessenes Schreiten.
Vielleicht liegt es ja an ihrem hohen Alter, dachte Acorna und spürte prompt, wie diese Unterstellung mit einem mentalen Rüffel beantwortet wurde.
(Wir sind noch genau so rüstig wie immer, du unverschämtes Gör, und könnten dich in einem Wettrennen noch jederzeit und an jedem Ort schlagen – stell uns doch auf die Probe!) Hoppla! Sie war sich sicher, dass sie ihre Mutmaßung weder besonders laut gedacht noch sie bewusst ausgestrahlt hatte, und es schien auch niemand anderes ihren Gedanken aufgefangen zu haben. Die Ahnin aber, auf der Acorna ritt, wandte den Kopf ein Stück weit um, verdrehte ein Auge zu ihr her, starrte sie ziemlich herausfordernd an und schnaubte.
Der Betreuer der Ahnin bemerkte das Augenrollen. Er beschleunigte seinen Schritt, begab sich von der Seite zum Kopf seines Schützlings, streichelte die Nase der Ahnin und warf Acorna einen vorwurfsvollen Blick zu.
In diesem Moment erreichte die Reiterschar die ersten Bauten der Linyaari-Siedlung. Da der Raumhafen in so unmittelbarer Nähe lag und sie zur Viizaar gebracht werden sollten, nahm Acorna an, dass dieser Ort wohl die Hauptstadt des Planeten sein musste, obwohl er gar nicht besonders groß zu sein schien.
Die zirkuszeltähnlichen Gebäude der Stadt ballten sich um ein noch größeres, zentrales Zirkuszelt. Rings um die hohe Mittelspitze dieses Zelts erhoben sich wiederum zeltähnliche Türme aus dem Hauptdach, die genau aus der Mitte der jeweiligen Dachbahndreiecke entsprangen. Aus unmittelbarer Nähe betrachtet, ähnelten die Behausungen von Kubiilikhan jedoch weniger Zelten als vielmehr Pavillons, wie Acorna sie in Vids über mittelalterliche Nomadenlager auf der antiken Erde gesehen hatte. Jeder Pavillon war, genau wie die Gewänder der Einhornbetreuer und der Ahnen selbst, in einem anderen leuchtenden Farbton gehalten und verschwenderisch mit Schleifen, Bändern, Bannern, Bordüren, Fransen und Quasten aus kontrastierenden Metallen, Geweben oder Tauen geschmückt.
Die Pavillons besaßen keine Fenster der Art, wie Acorna sie gewohnt war. Doch jede Wandfläche der vieleckigen Rundformzelte war von einem großen, bogenförmig überdachten, nach außen hin offenen Zugang durchbrochen, und bei manchen Pavillons hatte man einige Wandabschnitte sogar ganz entfernt.
»Schauet das wundervolle Kubiilikhan, unsere größte Stadt, geehrte Dame«, forderte der Einhornbetreuer sie auf.
»Sie ist – sehr farbenprächtig«, antwortete Acorna höflich.
Und versuchte auch haargenau das Gleiche zu denken. Der Betreuer legte seine Stirn dennoch ein wenig in Falten, was bedeutete, dass ihr einige ihrer geheimen Erwägungen offenbar doch entschlüpft sein mussten. »Aber bei Regen müsst ihr doch schrecklich unter der Feuchtigkeit leiden.«
Maati, die an der Spitze der Prozession dahingetrabt war, hatte sich etwas zurückfallen lassen und lachte nun auf: »Nicht doch, warte nur, bis du absteigst. Verzeih mir, Urgroßmutter, aber das muss sie einfach sehen!«, meinte das Mädchen mit einem liebevollen, aber nicht übermäßig ehrerbietigen Klaps auf die Nase von Acornas Einhorn. Die Ahnin schnaubte, allerdings recht warmherzig, dachte Acorna. Ganz so, wie eine nachsichtige Großmutter sich einem geliebten, wenn auch ungestümen Enkelkind gegenüber verhalten würde.
Acorna stieg mit einem dankbaren, an das Einhorn gerichteten Hornnicken ab, das sie ihrerseits jedoch ignorierte.
Sie folgte Maati, die jetzt mit der Hand über eine Wand des großen purpurnen Pavillons strich, die wie Seide aussah. »Fühl mal!«, forderte Maati sie auf.
Acorna streckte die Hand aus und berührte das Gewebe.
Überrascht stellte sie fest, dass es hart und unnachgiebig war.
Als sie mit einem Fingerknöchel dagegen klopfte, vernahm sie einen metallisch hellen Klang. »Es ist fest?«, fragte sie.
»Ja, und man kann seine Poren so öffnen, dass es mühelos Luft durchlässt – aber keine Feuchtigkeit.«
»Und euch wird nicht kalt, im Winter – ihr habt doch eine kalte Jahreszeit hier?«
»Sicher, uns wird kalt, wenn wir draußen grasen. Aber danach können wir einfach wieder reingehen, die Zeltklappen schließen und die Wandgewebeporen so einstellen, dass sie die Luft erwärmen, wenn sie ins Innere strömt. Sehr wissenschaftlich, das alles«, erläuterte sie, als hoffte sie, dass dies Acorna gefallen würde.
»Das ist es gewiss«, pflichtete ihr Acorna bei.
Neeva winkte sie ins Zelt. »Komm mit, Khornya. Liriili ist keine sonderlich geduldige Person.«
Acorna folgte ihr, mit Melireenya und Khaari im Schlepptau.
Maati hastete nach vorne, um sich vor Neeva an die Spitze zu setzen, und während sich Acornas Augen noch an das trübere Licht im Innern des Pavillons gewöhnten, hörte sie Maati bereits sagen: »Große Viizaar Liriili, ich bringe Ihnen Visedhaanye ferilii Neeva, die Mannschaft des Raumschiffes Balakiire und Khornya, Schwesterkind von Visedhaanye Neeva und Tochter der verstorbenen Vaanye und Ferrila, Ehre ihrem Andenken.«
Viizaar Liriili saß, wie Acorna schließlich erkennen konnte, hinter einem Schreibtisch. Wie die anderen Raumfahrer hatte auch sie eine helle Körperfarbe und eine silberne Mähne. Ihre Augen, deren Blick sich mit dem von Acorna kreuzte, waren von einem tiefen, zinnfarbenen Grau. Ihr goldenes Horn war mit glitzernd silbernen Fäden umwickelt, und sie trug eine Robe, die so geschnitten war, dass sie ihrer recht kräftigen Figur schmeichelte, und die aus einem Gewebe bestand, das perfekt mit den Schmuckfäden um ihr Horn harmonierte. Ihre Mähne war um ihr Gesicht herum und in ihrem Nacken kurz geschnitten, und ihr Gesicht war ein bisschen länglicher als das aller anderen Linyaari, denen Acorna bisher begegnet war.
Tatsächlich erinnerte ihr Antlitz sogar stark an das der Ahnen.
Thariinye entschlüpfte ein unwillkürlicher Gedanke, den auch Acorna auffing: (Was für eine Schönheit!) Die Augen der Viizaar blitzten auf, als ihr Blick einen Moment lang auf dem stattlichen jungen Mann haften blieb, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschäftlichen zu. »Visedhaanye Neeva, meine liebe Melireenya, Khaari, mein Kind, Thariinye, wir sind alle so froh über eure Rückkehr, insbesondere angesichts der schrecklichen Gefahren, denen ihr euch gestellt habt, um andere zu warnen. Und am allermeisten, Khornya, sind wir beglückt, dass du endlich zu uns zurückgekehrt bist.«
»Und ich bin beglückt, hier zu sein«, versicherte Acorna ihr.
»Sie werden sich doch auf dem Empfang heute Abend zu uns gesellen, Viizaar Liriili?«, erkundigte sich Neeva.
Liriili lächelte. »Ich werde dort sein, aber gewiss, Visedhaanye Neeva. Es wird Sie freuen zu erfahren, dass Ihre Anweisungen sämtlich befolgt wurden und alles bereit ist, so wie Sie es wünschten. Unglücklicherweise jedoch werden mit Ausnahme von Thariinye weder Sie noch die Mitglieder Ihrer Rumpfmannschaft dort sein, fürchte ich. Denn gerade, als Sie von Bord Ihres Schiffes gegangen sind, habe ich eine dringende Botschaft von einer unserer Handelsmissionen erhalten. Ich muss dies unter vier Augen mit Ihnen besprechen, und danach werden Sie unverzüglich wieder abreisen müssen, sobald Sie Ihr Schiff neu betankt und mit frischen Vorräten beladen haben.«
»Aber mein Lebensgefährte wartet auf mich!«, rief Khaari aus.
»Er befindet sich auf eben jenem Handelsposten, Khaari«, ließ Liriili sie wissen. »Das ist einer der Gründe, warum ich wünsche, dass gerade die Balakiire diese spezielle Aufgabe übernimmt.«
»Aber was ist mit Khornya?«, wollte Neeva wissen.
»Nun, sie wird selbstverständlich hier bleiben und ihr Volk kennen lernen und die Feier besuchen, ganz wie Sie es geplant haben. Aber da sie Ihre lenkende Hand sicherlich schmerzlich vermissen wird, werden in Ihrer Abwesenheit stattdessen wir versuchen, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht einsam fühlt und alles lernt, was sie zu wissen braucht.«
»Entschuldigen Sie, Viizaar Liriili…«, Acorna unterbrach die Würdenträgerin so höflich wie möglich. Doch sie konnte es nicht ausstehen, wenn man über sie sprach, als ob sie gar nicht anwesend wäre.
»Ja, Khornya?«
»Es ist nur, dass – nun, obwohl ich mich sehr darauf gefreut hatte, all diese gesellschaftlichen Ereignisse zusammen mit meiner Tante und meinen Freunden zu erleben, würde ich auf die Teilnahme doch lieber verzichten, wenn ich dort ganz allein hingehen soll. Ist es möglich, den Empfang zu verschieben, sodass ich sie auf ihrer Mission begleiten kann?«
Liriili lachte. »Meine liebe Khornya, allein wirst du ganz bestimmt nicht sein! Ich werde dort sein, und Thariinye, und der Großteil der vornehmsten kubiilikhanischen Gesellschaft, einschließlich vieler junger Männer, die nur allzu begierig darauf sind, deine Bekanntschaft zu machen!«
»Schon, Herrin, aber ich würde dennoch lieber bei meiner Tante bleiben. Vielleicht kann ich bei der Mission ja von Nutzen sein.«
»Du bist sehr jung und hast noch viel zu lernen«, entgegnete Liriili, als wäre die Angelegenheit damit abgeschlossen.
»Khornya ist eine sehr tüchtige junge Dame, Liriili«, teilte Neeva der Viizaar mit und übermittelte ihr mentale Bilder von einigen der Abenteuer, die Acorna erlebt hatte.
»Ich bin sicher, dass sie das ist, Visedhaanye Neeva«, sagte Liriili, wandte sich dann Acorna zu und wiederholte: »Ich bin sicher, dass du das bist, mein Liebes. Aber du bist in unseren Sitten und Gebräuchen noch nicht bewandert genug, um eine so delikate Mission wie diese zu unternehmen, die großes Fingerspitzengefühl verlangt. Und auf der Rückreise wird wahrscheinlich ohnehin kein Platz für dich an Bord sein. Oder für Thariinye, was der Grund ist, warum wir auch ihn nicht mitschicken werden. Deshalb könnt ihr zwei jungen Leute ebenso gut gleich hier bleiben und euch eine schöne Zeit machen. Den Empfang zu verschieben ist zudem schwerlich möglich. Hier haben sich alle so sehr abgemüht, ihn vorzubereiten, dass viele, viele Leute bitter enttäuscht sein würden, wenn du nicht zugegen wärst. Geh also jetzt mit Maati, sei ein braves Mädchen.«
»Entschuldigen Sie meine Beharrlichkeit, Viizaar, aber worum geht es denn bei dieser Mission?«, ließ Acorna sich nicht beirren. »Vielleicht könnte ich helfen. Ich habe viele gute Freunde in hohen Stellungen.«
Die Viizaar bedachte sie mit einem übertrieben geduldigen Blick. »Das mag ja alles sein, Khornya. Aber wen auch immer du kennst und was auch immer du vorher getan hast, ist ohne jeglichen Belang für diese Mission, deren Natur ich nicht mit dir besprechen kann, weil du in der Kunst der mentalen Verständigung einfach nicht erfahren genug bist. Man hat mich nämlich verlässlich informiert, dass du in unbedachten Momenten sogar deine flüchtigsten Überlegungen über den ganzen Planeten ausstrahlst. Du könntest auf diese Weise Informationen enthüllen, die ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verbreitet wissen möchte. Während der Abwesenheit deiner Tante kann Thariinye deine Ausbildung in unseren Kommunikationsarten und -sitten fortsetzen. Jetzt geh bitte mit Maati und mach dich frisch. Es ist nicht mehr viel Zeit, bevor deine Schiffskameraden wieder fort müssen, und ich muss sie noch einweisen. Vertraulich.«
»Jawohl, Herrin«, fügte sich Acorna widerwillig, wobei sie sich mehr wie ein Schulmädchen fühlte, als sie dies jemals in dem Alter getan hatte, in dem sie eines hätte sein können.
»Entschuldigen Sie, Liriili«, meldete sich Neeva zu Wort und unterschlug in ihrer Verärgerung den Amtstitel der Würdenträgerin. »Ich würde mich gerne noch von meiner Nichte verabschieden, ehe wir wieder in den Weltraum zurückgeschickt werden – sofern Sie noch ein paar Augenblicke erübrigen könnten, bevor Sie uns unseren Auftrag erläutern. Ich habe dreieinhalb Ghaanyi darauf warten müssen, sie zu finden, und wer weiß, wie viel Zeit nun abermals vergehen wird, bevor ich sie wieder sehe!«
»Na schön, aber machen Sie’s kurz, bitte. Wir haben viel zu besprechen«, gab Liriili nach und wandte ihre Aufmerksamkeit sodann den anderen Anwesenden zu.
Nachdem sie Acorna aus dem Pavillon nach draußen begleitet hatte, berührte Neeva mit ihrem Horn das ihrer Nichte, und Acorna umarmte ihre Tante impulsiv so fest, als wolle sie sie nie mehr loslassen, was sie in der Tat auch am liebsten getan hätte.
Neevas Augen waren voller Tränen, als sie schließlich doch wieder eine Armeslänge voneinander entfernt standen. »Oh, diese unerträgliche Frau!«, verwünschte sie die Viizaar.
»Wenn das hier nicht eine wirklich wichtige Mission ist, werde ich sie vor dem Rat zur Rechenschaft ziehen lassen!«
»Du meinst wirklich, dass sie dich ohne guten Grund wieder hinausschicken würde?«, wunderte Acorna sich. »Wo du doch gerade erst so lange fort warst?« Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, dass man, wenn doch jeder die Gedanken und Gefühle des anderen lesen kann, freundlicher miteinander umgehen würde.«
»Das tun wir auch, aber mit den Eifersüchteleien und Unsicherheiten und dem ganzen anderen Ballast, den man eben so mit sich herumschleppt, wenn man ein empfindungsfähiges Intelligenzwesen ist, müssen wir uns gleichwohl immer noch herumschlagen. Und Liriili hat von diesen Gefühlen erheblich mehr abbekommen als nur einen gerechten Anteil. Sie ist zwar keine wirklich schlechte Person und kann außerdem sowieso nicht viel anstellen, ohne dass es vorher vom Rat abgesegnet werden muss. Aber sie ist unserer Familie ganz und gar nicht wohl gesonnen. Ich bezweifle zwar, dass sie versuchen würde, dir vorsätzlich Schaden zuzufügen, aber zähle andererseits auch nicht darauf, dass sie dir helfen wird. Geh ihr einfach so weit wie möglich aus dem Weg, bis wir wieder zurück sind, wenn du kannst.«
»Ich werde mir Mühe geben, Neeva. Aber komm bitte bald wieder zurück, ja?«
Neeva strich ihrer Nichte mit den Fingern liebevoll übers Gesicht und lächelte. »Wir werden unser Bestes tun, mein Kind. Das weißt du doch. Aber jetzt wirst du brav mit Maati in meinen Pavillon hinübergehen und dich für das Fest heute Abend zurechtmachen. Ich habe veranlasst, dass man dir ein paar Sachen vorbeischickt, die du anprobieren kannst. Ich wünschte, ich könnte dabei sein und die Gesichter der jungen Burschen sehen, wenn sie dich zu sehen kriegen!«
»Leb wohl, Mutterschwester, ich wünsche dir eine sichere Reise und eine baldige Rückkehr.«
»Leb wohl, Schwesterkind, bis zum nächsten Wiedersehen.«
»Gehen wir da entlang, durch den Lustgarten«, schlug Maati vor, nahm Acorna bei der Hand und zog sie vom Pavillon der Viizaar fort. »Ich nehme immer diesen Weg, wenn ich kann.«
»Warum – oh, ich sehe schon«, entfuhr es Acorna, als das Kind einen Pfad betrat, der gleich mit mehreren Akkordreihen jener Singenden Steine von Skarrness gepflastert war, von denen auch Onkel Hafiz in seiner Wohnanlage auf Laboue einige besaß.
»Genau, schau her«, forderte Maati sie auf und begann, ohne auf ihre Begleiterin zu warten, mit gezielten, spielerischen Hopsern quer durch den Lustgarten des Viizaar- Amtszeltes zu hüpfen, wodurch sie eine kleine Melodie zum Erklingen brachte.
Acorna lächelte, klatschte Beifall und tat es Maati mit einer jener Melodien nach, die sie immer auf den Steinen von Onkel Hafiz gehüpft hatte. Es fiel ihr jetzt ebenso schwer, weiterhin unglücklich zu sein, wie es seinerzeit der Fall gewesen war, wenn der Gesang der Steine ertönte.
Maati ging ihr auch auf dem restlichen Weg voran und führte sie zu einem auf der anderen Seite der Stadt gelegenen Pavillon. »Das ist das Heim der Visedhaanye. Oooooh, schau dir nur diese Kleider an!«
Als sie den Pavillon betraten, war es, als ob sie in einen überreichlich bestückten, begehbaren Kleiderschrank schreiten würden. Kleidungsstücke jeder Farbe, jeden Schnitts und jeder Art waren auf allen verfügbaren Ablageflächen ausgebreitet und hingen von jedem möglichen Vorsprung herab. In nicht minder großer Fülle lagen dort auch funkelndes Geschmeide und kleine, spitze Gegenstände, die wie Hüte aussahen und die Größe und Form von Acornas Stirnhorn hatten. Sie waren auf verschiedenste Weisen mit Juwelen, Blumen, Bommeln, Schleifen oder Goldfäden und Bändern verziert.
»Bommeln?«, brach es fassungslos aus Acorna heraus.
Maati kicherte. »Die sind derzeit der allerletzte Schrei, besonders bei den bunthäutigen Mädchen, die gerade in die Gesellschaft eingeführt werden sollen.« Sie steckte einen der fraglichen Aufsätze auf ihr etwas kleineres Horn. Die gelben und rosafarbenen Bommeln daran wirkten zusammen mit ihrer dunklen Körperfarbe und ihrem marmorierten Haar unbestreitbar festlich und gar nicht mal so albern, wie Acorna gefürchtet hatte.
»Warum schmücken die Leute ihre Hörner überhaupt?«
»Nun, es ist nicht bloß ein Schmuck. Die Hornhauben sind bis zu einem gewissen Grad auch wirksame TelepathieDämpfer«, erläuterte Maati. »Das ist recht hilfreich, etwa beim Flirten. Denn wenn beispielsweise ein Mädchen einen Jungen mag, braucht sie das auf diese Weise nicht gleich offen zu zeigen und er umgekehrt auch nicht. Bevor irgendwer die Gedanken eines anderen liest, kann man damit sozusagen erst mal schauen, wie die Person, die man mag, sich so aufführt, oder ob es nicht noch jemand anderen, jemand Interessanteren gibt.«
»Ich verstehe«, meinte Acorna. »Wann fängt das Fest an?«
Maati zuckte die Achseln. »Es beginnt bei Mondaufgang, in etwa drei Stunden.«
»Dann mache ich mich wohl besser an die Arbeit«, stellte Acorna fest. Die Abendroben waren für ihren Geschmack samt und sonders viel zu sehr mit kitschigem Zierrat überladen, mit Schichten um Schichten verschiedenfarbener Röcke, wobei Überkleid und Oberteil teils von oben bis unten mit Rüschen, Spitze, Krausen, Schleifchen und Blumen bedeckt waren.
Glücklicherweise hatte das Leben in einer Gesellschaft, in der die Frauen für gewöhnlich sehr viel kleiner waren als sie, und die gelegentliche Notwendigkeit, ihr Horn mit einem kunstvollen Kostüm zu tarnen, Acorna gelehrt, sich als geschickte Änderungsschneiderin zu betätigen. Sie kniff die Augen zusammen, um die verwirrende Überfülle der Ornamente auf den Gewändern zu verwischen und stattdessen eine Vorstellung von ihrer Grundfarbe zu bekommen. Sich langsam um die eigene Achse drehend, erspähte sie ein liebliches, dezent malvenrosafarbenes Brokatgewebe und griff danach. Es war das Unterkleid eines Gewands, das aus zahllosen, übereinander getürmten Lagen schrill regenbogenfarbener Rockschichten bestand, die sich von der Taille bis zu den Fußgelenken wie ein Ballett-Tutu aufbauschten.
Ohne diese überlagernden Rauschröcke war das Unterkleid allerdings doch ein bisschen zu durchsichtig. Also sah sie sich nochmals um, bis sie entdeckte, dass einer der fließenden, schleierähnlichen Überröcke einer anderen Robe eine wunderschöne Fliederfarbe aufwies, die sowohl ihren eigenen Körperteint als auch die Farbe des malvenrosanen Unterkleides aufs Prächtigste ergänzte. Das würde gehen.
Als sie schließlich gebadet und ihr Haar getrocknet hatte, schlüpfte sie in das malvenrosafarbene Kleid und legte sich einen langen Streifen des fliederfarbenen Stoffs um. Wie eine Schärpe führte sie diese Textilbahn unter dem einen Arm hindurch und heftete sie nach einigem Ausprobieren auf der gegenüberliegenden Schulter mit einer eindrucksvollen Brosche zusammen, auf der mit Silber eingefasste, fahle Amethyste und Rhodolitgranate prangten. Zu dieser Brosche gab es sogar passende Ohrringe.
Danach gelang ihr noch, in der Masse der Schuhe, die überall dort, wo keine Kleider oder Juwelen lagen, verteilt waren, fliederfarbene Slipper aufzustöbern.
»Und dein Horn?«, erinnerte Maati sie.
»Oh, richtig«, dankte ihr Acorna und schnappte sich die fliederfarbene Hornhaube, die zu ihrer Schärpe passte. »Das bedeutet also dann, dass niemand anderes mehr meine Gedanken lesen kann?«
»Nun, zumindest nicht mehr sehr deutlich. Du weißt schon, wenn man beispielsweise daran denkt – also, über Fortpflanzung und so, du weißt schon, dann kann die andere Person nicht…«
Der Versuch des jüngeren Mädchens, erwachsen zu klingen, als sie von Paarungsritualen sprach, mit denen sie noch gar nichts zu schaffen hatte, ließ Acorna belustigt aufglucksen.
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Ich werde also versuchen, meine Gedanken nicht zu laut auszustrahlen, damit ich die Dämpfungswirkung der Hornhaube nicht übertöne.«
Sie nahm die Einhornkappe noch einmal genauer in Augenschein. »Aber dieses Blauregen-Umgebinde hier muss noch weg.«
»Vielleicht wenigstens ein paar Blüten am Stirnansatz deines Horns?«, schlug Maati vor, als sie bestürzt mit ansehen musste, wie die Zierbommeln und die purpurnen Blütentrauben der Blume, die Acorna offenbar Blauregen nannte, achtlos zu Boden fielen.
»Ja, das sieht nett aus. Danke.«
»Dabei ist dieser Hornschmuck doch so hübsch«, sagte Maati traurig, als sie die ausgesonderten Blumen aufhob.
Acorna blieb unerbittlich. »Weniger ist mehr«, erklärte sie.
Maatis verblüffter Gesichtsausdruck zeigte, wie ganz und gar unfassbar ein derartiger Gedanke für sie zu sein schien.
Kaum hatte sich Acorna fertig angekleidet, als auch schon eine ganze Schar von Schneiderinnen, Juwelieren und Schustern über den Pavillon hereinbrach, um die von ihr nicht benötigte Ware wieder fortzuschleppen.
»Gleich morgen früh werden wir Ihnen noch unsere Kollektionen für Tageskleidung zur Begutachtung vorbeibringen, Khornya.«
»Oh, machen Sie sich bitte keine Umstände«, lehnte die Angesprochene ab. »Wenn Maati mir zeigt, wo Ihre Werkstätten liegen, werde ich liebend gerne selbst bei Ihnen vorbeischauen und mir ansehen, wo Sie diese hübschen Sachen anfertigen.«
Sie hatte sich ihre Hornbedeckung mittlerweile schon fest aufgesetzt und konnte sich eine diplomatische Flunkerei somit gefahrlos leisten. Die Schöpfer der beiden Kleider, die Acorna ausgeschlachtet hatte, um daraus ihre eigene Kreation zusammenzustellen, versuchten ihre Missbilligung zu verbergen, ein paar der anderen jedoch betrachteten sie mit unverhohlen prüfender Miene.
Als auch der Letzte der Bekleidungslieferanten mitsamt seinen Waren abgezogen war, was einen nunmehr ungehinderten Blick auf Neevas Möbel ermöglichte und dem Pavillon zumindest den Anschein einer wohnlichen Behausung zurückgab, traf Thariinye ein.
»Oh, tut mir Leid, Khornya«, entschuldigte er sich – was ihm sichtliche Mühe bereitete – mit verbal geäußerten Worten. »Ich dachte, du wärst inzwischen fertig mit dem Ankleiden.«
»Aber ich bin doch fertig angezogen!«, protestierte sie und drehte sich rasch einmal um die eigene Achse. »Gefällt es dir?«
Einen Moment lang sagte er gar nichts, dann bemerkte er mit einem Ausdruck der Erleichterung auf seinem Gesicht, dass sie ihre Hornkappe trug, wie sie ihren ornamentalen Gedankenschild im Geiste nannte. Er schenkte ihr ein breites, falsches Grinsen und nickte so heftig mit dem Kopf, dass sie schon befürchtete, er würde sich das Horn herunterschütteln.
Nun ja, er war schließlich erst ein heranreifender Diplomat.
Hier im Herzen der Linyaari-Kultur gab es wohl wenig Gelegenheit zur Lüge, und so war er in dieser Kunst eben noch recht ungeübt. Vermutlich sollte sie es ihm schon hoch anrechnen, dass er überhaupt merkte, wann ein wenig höfliche Schwindelei angebracht war.
Hastig setzte Thariinye eine eigene Hornkappe auf, die perfekt zu seinem Kostüm passte. Genau auf der Kappenspitze thronte ein dreidimensionaler, stilisierter roter Stoffvogel, der das Dekorelement all der anderen Vögel wiederholte, die auf seinem wallenden Wams und der um seine Taille geschlungenen Bauchbinde aufgesteppt, aufgestickt und aufgenäht waren sowie in gepolsterter Variante wie Epauletten auf jeder seiner Schultern und nicht zuletzt keck auf einer übergroßen Schamkapsel hockten.
Acorna täuschte höflich einen plötzlichen Hustenanfall vor, um jenen Teil ihrer Reaktion auf diesen Anblick zu kaschieren, der nicht von ihrer Hornkappe verborgen wurde. An den Modegeschmack der Linyaari würde sie sich wohl erst noch gewöhnen müssen. Seltsam – auf all ihren bisherigen Reisen quer durch die Galaxis hatte sie doch noch nie auch nur einen Augenblick lang eine ethnozentrische Haltung an den Tag gelegt, hatte sie nie auch nur in Erwägung gezogen, dass die Bekleidung oder Sitten anderer lächerlich sein könnten. Sie vermutete, dass die Linyaari-Sitten sie deswegen sehr viel mehr berührten, weil diese ja letzten Endes ihre Sitten waren und man von ihr erwartete, dass sie sich diese ebenfalls zu Eigen machte. Eine ihrer Verkleidungen als Didi hätte hier wohl nicht das mindeste Aufsehen erregt, ihr eigener, natürlicher Stil hingegen tat das zweifelsohne.
»Ich habe unsere Mannschaftskameraden noch verabschiedet, als sie zu ihrer neuen Mission aufgebrochen sind«, wechselte Thariinye das Thema. Acorna war froh, dass sein Ton so ernst ausfiel. Das half ihr, die Fassung endgültig wiederzugewinnen.
Sie hörte jedoch auch eine Andeutung von Kritik aus seiner Stimme heraus, als ob sie selbst auch hätte dort sein müssen, um ihren Freunden auf Wiedersehen zu sagen. Aber Thariinye hatte doch sicherlich mitbekommen, wie die Viizaar ihr ausdrücklich befohlen hatte, sich auf das anstehende Ereignis vorzubereiten?
Sie sprachen kein Wort, als sie abermals die Singenden Steine überquerten. Stattdessen genossen sie deren Melodie, die harmonisch mit der aus einem Pavillon herausdringenden Linyaari-Musik verschmolz, der sogar noch größer war als jener, den die Viizaar bewohnte. Dieser hier war auf der Außenseite mit Unmengen von Blumengebinden dekoriert, und flatternde Wimpel und Stoffbänder ergänzten die üblichen goldenen Quastenverzierungen. Leute strömten scharenweise hinein – treffender war es vielleicht zu sagen, dass sich von Linyaari-Leibern gebildete Blütenkonglomerate formten und in den Pavillon hinein oder nach draußen auf die Tanzfläche drifteten, die sich rings um das Festzelt herumzog, sodass das Ganze wie ein sich drehendes Karussell aussah, das ausschließlich aus Einhörnern bestand.
So lächerlich die Kleider der Frauen und die Gewänder der Männer einzeln betrachtet auch aussehen mochten, in ihrer Gesamtheit boten sie einen geradezu atemberaubenden Anblick; sie erinnerten an ein fruchtbares Feld aus vielfarbigen Blüten, das mit funkelnden Edelsteinen gesprenkelt und sogar von Bändern durchzogen war, die verblüffend echt wie fließendes Wasser wirkten.
Etliche der Männer hatten ähnliche Vogelkostüme an wie Thariinye, während die Gewandungen anderer andere Tiere oder auch Naturelemente wie Feuer und Wasser zum Thema hatten. Ein oder zwei Trachten waren auch mit Stickereien bedeckt, deren Muster an die der Linyaari-Raumflotte erinnerten. Ein paar hatten Sternenhimmelmotive für ihre Bekleidung gewählt. Die Gesamtwirkung all dessen war sehr viel ansprechender, als Acorna es sich vorgestellt hätte.
Zu ihrer Überraschung diente das riesige Zelt selbst nicht zum Tanzen, sondern wurde lediglich für das Empfangsdefilee und das Festessen benutzt. Die sättigende Wirkung der Äsung vom Nachmittag hatte schon wieder nachgelassen, und so sahen die Futterbeete und -terrassen, auf denen alle möglichen Arten von Pflanzen direkt aus dem Mutterboden wuchsen, mit dem das Innere des Pavillons bedeckt war, geradezu köstlich aus. In der Mitte wies der Pavillon an Stelle des üblichen Zeltdachgewebes ein großflächiges Rund aus durchsichtigem Material auf, das tagsüber Sonnenlicht einließ. Jetzt waren die Dreiecksfassetten dieses weiten Oberlichts sogar nach außen geklappt, um eine frische Brise hereinzulassen und einen ungehinderten Ausblick auf den Sternenhimmel zu gewähren, der noch bis vor kurzem Acornas Heimat gewesen war.
»Ah, Khornya, Thariinye«, hieß die Viizaar sie willkommen.
»Bitte stellt euch neben mich, um eure Gäste zu begrüßen.
Mein Adjutant wird euch jeden einzeln vorstellen.«
Thariinye rettete sie beide, indem er erwiderte: »Gewiss, Viizaar Liriili. Aber gönnen Sie uns zuvor noch einen Augenblick, um uns ein wenig zu stärken? Ich habe – das heißt, weder Khornya noch ich haben seit unserer Landung etwas gegessen.«
Die Viizaar strahlte ihn erneut gewinnend an. »Aber natürlich, mein lieber Junge. Allerdings fürchte ich, dass die Schlange der Wartenden, die Acorna kennen lernen möchten, schon ziemlich lang ist. Warum pflückst du also nicht einfach ein paar Happen der saftigsten Kräuter für sie und bringst sie ihr zum Probieren?«
Thariinye widersprach aufs Zuvorkommendste: »Das würde ich liebend gerne tun, Viizaar. Aber leider macht es mir Khornyas eigentümliche Kinderstube gänzlich unmöglich zu erraten, was wohl ihren Geschmack treffen könnte.«
Die Viizaar warf einen anzüglichen Blick auf Acornas Garderobe. »Ich sehe, was du meinst. Na schön. Aber kommt rasch wieder zurück. Die Warteschlange wird immer länger.«
Der ausgestreckten Hand der Viizaar folgend, welche auf eine Reihe von Festgästen deutete, die schon aus dem Pavillon hinaus ins Freie und quer über die Tanzfläche mäanderte, erkannte Acorna, dass die Viizaar nicht übertrieben hatte.
»Also dann eben nur ein kleiner Happen«, versprach Acorna versöhnlich. Doch die Viizaar reagierte nicht auf ihre Bemerkung.
Das Innere des Pavillons war eindrucksvoller angelegt als jeder von Hafiz Harakamians Palastgärten, erkannte sie, als sie Thariinye durch die Menge folgte, die sich nur mäßig an den prachtvollen Blumen und dem blattreichen Grünzeug labte, das vom Boden bis zum Dach auf raffiniert gestalteten Stufenplattformen spross und blühte, wobei kleine Rampenwege die Ebenen miteinander verbanden wie Pfade, die einen Hügel hinaufführten. Ein Springbrunnen im Zentrum des Landschaftsgebildes plätscherte und sprudelte und bewässerte funkelnd ein paar besonders saftig aussehende Schilfpflanzen und Gräser. Thariinye hätte sich keine Sorgen wegen Acornas Nahrungsvorlieben zu machen brauchen. Ihr schmeckte alles davon. Wenigstens die heimischen Speisen ihres Volkes trafen Acornas Geschmack voll und ganz.
Nachdem sie ein paar der Pflanzen auf der unteren Ebene probiert und eine Hand voll davon zum Mitnehmen gepflückt hatte, um sie zu kauen, während sie die lange Gästeschlange begrüßte, sagte sie schließlich pflichtbewusst zu Thariinye:
»Ich schätze, dass wir jetzt wohl besser wieder zurückgehen.«
»Nur keine Eile«, widersprach der gelassen. »Das dort ist ohnehin nur eine reine Formsache. Der Viizaar ist sehr wohl klar, dass du und ich für einander bestimmt und dass die anderen nur dazu da sind, um das Auswahlverfahren deines Lebensgefährten gerecht erscheinen zu lassen.«
Acorna blickte zu ihm auf, blinzelte mehrmals ungläubig und sagte das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam, einen Ausspruch jener Art, die Delszaki Li zu verwenden pflegte, wenn er sich mit etwas völlig Absurdem konfrontiert sah. »Wirklich? Das ist ja interessant.« Plötzlich erschien ihr eine Rückkehr zur Gästeschlange eigentlich sehr verlockend.
»Die anderen Gäste…?«, wiederholte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue und einer Handbewegung zurück zum Empfangsdefilee. »Wir wollen doch nicht, dass sie uns für taktlos halten.«
»Ja, natürlich – halt, warte! Sind das etwa Rapunzeln? Ich frage mich, wo sie die herhaben! Ich glaube nicht, dass sie auf dem alten Planeten heimisch waren. Möchtest du einmal etwas wahrhaftig Himmlisches probieren?«
»Später vielleicht«, lehnte sie ab und setzte sich in Richtung auf die Schlange in Bewegung.
»Ganz wie du möchtest«, sagte er. »Geh doch schon einmal vor. Mich kennen ja bereits alle. Du bist es, mit der sie Bekanntschaft schließen wollen.«
Acorna war zugleich belustigt und verärgert. Wie schnell die Prioritäten des jungen Mannes sich doch ändern konnten! Sie schlüpfte zurück zum Empfangsdefilee, wo sie sich neben der Viizaar einreihte, die gerade widerwillig in ein Gespräch mit der ältesten Liinyar vertieft war, die Acorna je gesehen hatte.
Das Antlitz der Frau wies wahrhaftig Runzeln auf, und die Haut ihres Nackens und ihrer Wangen hing ein wenig altersschlaff herab. Acorna fand dieses Zeichen von Sterblichkeit inmitten so vieler glatter und makelloser Gesichter sonderbar beruhigend. Der Adjutant der Viizaar –
ein weiß- und silberfarbener Raumveteran wie Acorna selbst, die Viizaar oder die betagte Dame – nahm ihre Rückkehr mit Erleichterung zur Kenntnis.
»Großmama Naadiina hat die Schlange die ganze Zeit aufgehalten, während Sie fort waren. Der Rest der Leute ist schon am Verhungern«, flüsterte der Sekretär. Der männliche Liinyar vor ihr war genauso jung oder sogar noch jünger als sie, wie Acorna sehen konnte, da seine Haut goldfarben und sein Haar von einem blassen Cremeton war. »Nun denn, Khornya, dies hier ist der Erbspross des Klans Rortuffle«, begann er aus dem Gedächtnis zu zitieren, ohne von einer Liste ablesen zu müssen. »Hiirye, dies ist Khornya.«
Acorna versuchte ihr Bestes, huldvoll zu Hiirye zu sein, und schenkte ihm ein breites Lächeln. Er trat verstört einen Schritt zurück und schlug ihre ihm entgegengestreckte Hand aus.
Stattdessen zog er den Adjutanten beiseite und flüsterte ihm eilig etwas zu, ehe er sich zurückzog. Auch mehrere andere männliche Linyaari verließen die Warteschlange und folgten ihm.
Acorna wünschte sich wieder einmal, sie wäre besser im Gedankenlesen. »Was war denn mit dem los?«, fragte sie den Adjutanten, doch der Sekretär hatte sich schon zur Viizaar umgewandt und eine in hektischem Flüsterton geführte Beratung mit ihr begonnen. Großmama Naadiina machte derweil kehrt, um den Platz in der Reihe einzunehmen, der von dem jungen Hiirye aufgegeben worden war. Acorna sah, dass der Junge, anstatt sich zum Essen hinüber zu begeben, die Warteschlange entlang zurückmarschiert war und sich aufgeregt mit anderen Leuten darin unterhielt. Jede Person, mit der er sprach, verließ abrupt das Fest.
»Also wahrhaftig, Kind«, tadelte Großmama sie. »Diese Veranstaltungen, die Liriili uns so beharrlich aufdrängt, sind zwar schrecklich ermüdend. Aber musstest du wirklich so feindselig werden?«
»Feindselig?«, wunderte sich Acorna verblüfft.
»Du hast diesem Jungen gegenüber auf äußerst aggressive Weise deine Zähne entblößt. Ich bin sicher, er hält dich jetzt fälschlicherweise für einen dieser…« Großmama sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand anderes mithörte, brachte dann ihre Lippen nahe an Acornas Ohr und raunte: »…
Khleevi. Du hast den armen Burschen zu Tode erschreckt.«
»Ach du meine Güte!« Jetzt erinnerte Acorna sich wieder an das Befremden über den eigenartigen Brauch der Menschen, ihre Zähne zu fletschen, das sie in einigen Gedankenbildern ihrer Tante und ihrer Schiffskameraden beiläufig mitbekommen hatte. Neeva und die anderen hatten auf Grund ihres Kontaktes mit Acornas Menschenfreunden allerdings längst begriffen, dass ein offenes Lächeln bei den Hornlosen als eine Geste des guten Willens galt. Wäre Thariinye nur nicht seinem Appetit erlegen, er hätte dies hier auf der Stelle aufklären können! Sein Lächeln und seine galante Lüge über ihr Kleid vorhin hatten ihr seine Bereitschaft gezeigt, versuchsweise einige der ihr vertrauten Sitten zu übernehmen, um ihr all das hier leichter zu machen. Zumindest hatte sie das zu diesem Zeitpunkt noch geglaubt. Jetzt allerdings war sie sich da nicht mehr so sicher. Womöglich hatte er seine Zähne in Wirklichkeit doch im Linyaari-Sinne dieser Geste entblößt?
Was konnte sie bloß tun, um den verheerenden Eindruck zu korrigieren, den sie gerade zu hinterlassen schien?
»Beruhige dich, Mädchen. Du siehst ja aus, als würdest du gleich in tausend Stücke zerbrechen«, riet Großmama ihr.
»Aber was werden sie bloß von mir denken?«
Großmama schnaubte abfällig. »Nichts anderes, als was du selbst von ihnen denken solltest, insbesondere von Liriili –
dich für diese Geschichte hier in die Öffentlichkeit zu zerren, bevor du auch nur ein Mindestmaß an Muße und Zeit hattest, um dich von deiner Reise zu erholen und einen Happen zu essen! Und bevor man dich ordentlich in deine neue Heimat eingeführt hat und du Gelegenheit hattest, die Leute auf normale Weise kennen zu lernen! Es war einfach unverzeihlich, dass sie Neeva und die anderen fortgeschickt und dich, abgesehen von diesem eingebildeten jungen Hengst Thariinye, unter völlig Fremden allein gelassen hat.« Sie schnaubte erneut. »Diese jungen Leute machen immer so ein Aufhebens um ihre Kultiviertheit, dabei ist doch schlichte Rücksichtnahme und Freundlichkeit die unabdingbare Voraussetzung jeglicher Kultiviertheit. Das habe ich Liriili auch gerade unmissverständlich gesagt, als du diesem jungen Esel deine Zähne gezeigt hast. Zwar ist es natürlich nicht sein Fehler, aber ich glaube, an deiner Stelle hätte ich genau das Gleiche getan.«
»Oh, aber sehen Sie, ich habe doch gar nicht versucht, jemandem die Zähne zu zeigen – ich meine, sicher, ich habe meine Zähne entblößt. Aber da, wo ich herkomme, bei den Leuten, bei denen ich aufgewachsen bin, zeigt man eben seine Zähne, wenn man freundlich oder glücklich ist – es ist ein Ausdruck der Begrüßung und der Herzlichkeit, ganz und gar nicht einer der Feindseligkeit. Eigentlich hat man mir zwar gesagt, dass dies bei Ihrem – unserem – Volk nicht so gesehen wird, aber ich war ein wenig verwirrt, und…«
»Na, na, Kind. Mir musst du das doch nicht erklären.«
Sie packte Acorna entschlossen am Ellbogen und führte sie auf das allerhöchste Terrassenbeet, dorthin, wo die köstlichsten Pflanzen wuchsen. Mit einem langen und ziemlich schrillen Linyaari-Ausruf, der etwas schauerlich wie »Hööört her!«, klang, gebot Großmama Naadiina der Musik, den Tänzern und den Gesprächen Einhalt und zog damit sämtliche Blicke auf sich und Acorna.
Acorna entdeckte, dass derweil sowohl die Viizaar als auch ihr Adjutant den Pavillon mit besorgten Gesichtern hastig verließen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass die Reaktion der Menge mehr mit Liriilis Abgang als mit ihrem eigenen gesellschaftlichen Fehltritt zu tun hatte.
»Meine Kinder, ihr habt euch alle hier versammelt, um unsere lang verloren geglaubte Anverwandte Khornya kennen zu lernen, die Tochter der so beklagenswert umgekommenen Feriila und Vaanye. Sie ist erst heute Nachmittag – wie viele von euch wissen, weil ihr ja selbst dort wart – auf diesem Planeten eingetroffen, nach einer viele Monate währenden Reise. Ihre engste Verwandte und ihre einzigen Bekannten unter uns mussten sofort wieder zu einer neuen Mission aufbrechen und das Kind hier bei uns zurücklassen. Sicher, ihr Akzent ist fremdartig und ihr Kleid eher ein bisschen altmodisch. Und weil sie nicht anständig unterwiesen wurde, hat sie einen möglichen Lebensgefährten mit einem Gesichtsausdruck begrüßt, der bei jener Kultur, aus der sie kommt, anders gedeutet wird als in unserer eigenen. Aber sie ist ein anständiges Mädchen, das kann ich sehen, ein liebenswertes Mädchen, und sie würde sich freuen, einen jeden von euch später kennen zu lernen, sobald sie Gelegenheit gehabt hat, sich auszuruhen, ihre Gedanken zu sammeln, sich hier zurechtzufinden und ein oder zwei anständige Mahlzeiten in den Magen zu kriegen.«
Als Großmama diese Worte sprach, hörten viele Leute auf zu tanzen. Doch statt ihre Aufmerksamkeit der alten Dame zuzuwenden, starrten sie auf die Wandklappen des Pavillons, durch die Liriili verschwunden war, als ob sie darauf warten würden, dass dort irgendetwas passierte. Etwas für sie weitaus Wichtigeres als Großmamas tadelnder Klaps auf ihre kollektiven Finger. Sie warteten wohl darauf, dachte Acorna, dass Liriili zurückkehrte und erklärte, welche dringende Angelegenheit sie dazu veranlasst hatte, sich davonzustehlen.
Sechs
»Kisla, mein Schatz, du siehst arg erschöpft aus«, bemitleidete sie Onkel Edacki.
»Stimmt, ich gestehe, dass dieser schreckliche Schrotthändler und sein bösartiges Vieh mich ziemlich aus dem Gleichgewicht geworfen haben, Onkel. Er hat mich betrogen –
hat behauptet, er würde alles verkaufen, und dann doch die Katze behalten und dazu noch mehr von diesen Hörnern, von denen er angeblich keine weiteren besessen hat. Man kann heutzutage wirklich niemandem mehr trauen.«
»Nein, wahrhaftig nicht, Liebes. Es ist eine raue, grausame Welt da draußen, und es betrübt mich, dass du das schon so früh in deinem Leben hast erfahren müssen. Aber zum Glück bin ja ich da, um dich zu beschützen und dafür zu sorgen, dass du dich nicht unnötig verausgabst. Wenn du nämlich diesen Schrotthändler haben willst, dann brauchst du doch nur deine Androiden loszuschicken, um ihn und seine Katze einzukassieren und seine Computerdateien nach Informationen darüber zu durchsuchen, wie er an diese Hörner gelangt ist. Es gibt keinen Grund, warum du deswegen selbst losziehen solltest.«
»Aber ich darf doch dabei sein, wenn er verhört wird, oder, Onkel? Und diese abscheuliche Katze behalten, um damit zu spielen?«
»Was auch immer du möchtest, Liebste. Aber du willst dazu bestimmt in Bestform sein, also troll dich jetzt und lass deinen Onkel Edacki die Sache in die Hand nehmen.«
»Ich bin überzeugt, dass du am besten weißt, wie man so etwas macht.«
»Ich werde aber die Hörner dazu brauchen, mein Schatz.«
Ihr Gesicht nahm jenen gerissenen, berechnenden Ausdruck an, der ihn so sehr an ihren unbeweint verstorbenen Vater erinnerte. »Eins kann ich dir überlassen, schätze ich. Das andere werde ich behalten.« Sie händigte ihm das stärker beschädigte der beiden aus: »Hier, du bekommst das da. Ich glaube, das andere Horn, das ich hier habe, ist wahrscheinlich ihres.«
Er seufzte und lächelte ganz so, als ob es ihm nichts ausmachen würde, dass er ihr dieses Mal nachgab. »Eins wird sicherlich genügen, danke, Kisla. Und jetzt ab mit dir. Überlass den Rest mir.«
Als sie gegangen war, machte er sich sofort auf seine ureigene Weise ans Werk. Als erste Maßnahme zog er ihre Maschinenmenschen aus dem Hangar ab, wo sie Kislas frisch erworbene Waren ausgeladen hatten.
»KEN637 wie ich von deiner Herrin erfahren habe, hattet ihr Anweisung, den Aufenthaltsort eines Raumfahrzeugs herauszufinden, das einem gewissen Händler von Bergungsgütern gehört?«
»Es liegt im Außenbezirk des Raumhafens, auf Landeplatz Nummer Vier Neun Acht, Herr«, berichtete der Roboter.
»Sehr schön. Ich möchte nun, dass du zusammen mit deinen Freunden diesem besagten Herrn einen Besuch auf seinem Schiff abstattest und ihn in mein Lagerhaus einlädst, das in der Todo-Straße Nummer neunzehn.«
»Ich weiß, welches Sie meinen, Herr.«
»Gut, und bringt auch sein Haustier mit. Aber zuerst soll er euch noch sämtliche Zugriffskodes zu seinen Computerdateien verraten. Und falls er nicht da ist, wenn ihr bei seinem Schiff ankommt, verschafft euch diesen Zugriff selber. Eure Herrin wünscht nämlich zu erfahren, wo er das Horn erworben hat, das er ihr gegeben hat.«
»Gewiss, Herr. Welchen Grad an Gewalt sollen wir dabei anwenden?« Im Unterschied zu den Robotern in den antiken Science-Fiction-Epen besaßen die bei Edacki Ganooshs diversen Wirtschaftsunternehmen beschäftigten Androiden keinerlei lästige Programmierungen, die sie daran gehindert hätten, menschlichen Wesen Schaden zuzufügen.
»Solange keine der Komponenten unwiderruflich beschädigt wird, dürft ihr bis zum Maximum gehen.«
»Verstanden, Herr.«
Danach rief Ganoosh mit einer Berührung seiner Fingerspitze die umfangreichen Datenbestände über das Einhornmädchen und ihre Verbündeten auf. Viele dieser Dateien waren noch von Kislas verstorbenem Vater, dem Baron, zusammengestellt worden.
Edacki filterte eine ganze Reihe nützlicher Querverbindungen aus dem Material heraus. Der erste Name, der ihm auffiel, war der von Admiral Ikwaskwan, dem Anführer der Roten Krieger von Kilumbemba, einer Söldnertruppe, die Ganoosh von Zeit zu Zeit schon selbst angeheuert hatte. Der Grund, warum dieser Name seine besondere Aufmerksamkeit erregte, lag darin, dass er ohnehin schon seit einiger Zeit die Absicht gehabt hatte, in einer anderen Angelegenheit mit dem Admiral Verbindung aufzunehmen.
Es wäre im Kilumbemba-Imperium zwar jetzt schon später Abend. Doch der Admiral war Geschäftsmann, sodass er, sofern er derzeit nicht schon anderweitig verdingt war, zweifelsohne auch um diese Tageszeit höchst erfreut sein würde, von Ganoosh zu hören. Zunächst lieferte der Komschirm ein paar Augenblicke lang nichts als statisches Rauschen, dann jedoch offenbarte er einen Teileinblick in einen augenscheinlich menschenleeren Raum, und plötzlich ertönte auch Ikwaskwans Stimme. In einem Tonfall, der Ganoosh verriet, dass der Komruf den Admiral gerade bei irgendetwas gestört haben musste, hörte er Ikwaskwan von außerhalb des Vidbildes her fluchen: »Nadhari! Bei den Göttern, Frau, das ist geschäftlich. Kannst du mich nicht verdammt noch mal erst losbinden, bevor du eingehende Komgespräche annimmst?«
»Aber klar doch, Ikky«, schnurrte eine tiefe, sinnliche Frauenstimme. »Und wenn ich das tue, dann darf ich doch annehmen, dass ich dein Wort habe?«
»Sicher, Gebieterin. Ich werde nie wieder einschlafen, wenn du meinen Rücken mit Ölen eingerieben hast, bevor ich nicht auch das Gleiche mit dir gemacht habe.«
»Na also, es geht doch!« Jetzt war ein Kussgeräusch zu hören. »Ich weiß ja, dass es dir schwer fällt, Ikky, dich nach all den Jahren des Vergewaltigens und Brandschatzens noch daran zu erinnern, dass wir Frauen auch unsere Bedürfnisse haben.
Aber in einer Verbindung wie der unseren ist es unabdingbar, dass du diese beachtest und ausgiebig befriedigst. Nun gut, dann will ich deine Würde mal wieder herstellen.«
»Bitte, meine heißblütige Blume.« Das Geräusch eines weiteren, längeren Kusses erklang. Eines sehr viel längeren Kusses. Ganoosh räusperte sich vernehmlich.
»Ah! Nadhari, darf ich vorstellen: Graf Edacki Ganoosh.
Graf, haben Sie meine Stellvertreterin schon kennen gelernt, Oberst Nadhari Kando?«
»Habe ich«, erwiderte Ganoosh. »Wenngleich wir einander nie offiziell vorgestellt wurden.« Die Frau hatte an der Seite von Delszaki Li gestanden und ihn die ganze Zeit über mit bedrohlich finsterer Miene angestarrt, als sie einander begegnet waren. Sie hatte ausgesehen, als ob sie mit Freude jedem den Kopf abbeißen würde, der auch nur einen einzigen schiefen Blick in Richtung ihres Arbeitgebers zu werfen wagte. Jetzt stand sie nackt und unübersehbar weiblich, wenn auch auffallend muskulös, hinter Ikwaskwan. Ganoosh war von ihrem Anblick allerdings sexuell ebenso wenig berührt, als wenn er irgendein anderes gefährliches Raubtier betrachtet hätte. Sie musterte ihn mit einem langen Starren, das ihm das Gefühl gab, als ob er derjenige wäre, der unbekleidet war, oder als ob er zwar angezogen sein mochte, jedoch nur so, wie man eine Jagdbeute oder Mahlzeit ausstaffierte. Dann hüllte sie ihre geschmeidigen Muskeln langsam in ein mit glitzernden Feuerwerksmotiven gemustertes Gewand.
»Hmm«, knurrte sie in seine Richtung, murmelte dann Ikwaskwan zu: »Die Offiziere werden wohl schon auf ihre Einweisung warten«, wandte sich um und verschwand.
Ikwaskwan zeigte Ganoosh ein ziemlich albernes Grinsen, zwinkerte und zuckte die Achseln, als wollte er sagen:
»Frauen!«
Ganoosh antwortete mit einem höflichen Glucksen, das sehr viel nachsichtiger war, als ihm tatsächlich zu Mute war. Nicht einmal hart gesottene Söldner waren heutzutage noch vom gleichen Kaliber wie früher.
»Admiral, ich will gleich zur Sache kommen. Wie Sie wissen, hat unsere Regierung hier auf Maganos eine tief greifende, gegen ihre korrupten Elemente gerichtete Säuberungswelle hinter sich, sodass wir dank der guten Werke von Delszaki Li und seinem Mündel endlich von der Tragödie der Kindersklaverei befreit wurden.«
»Ich hatte schon geraume Zeit vor, diesbezüglich meine Glückwünsche zu übermitteln, Graf«, meinte der Admiral trocken. »Aber ich habe einfach noch nicht die passende Grußkarte gefunden, um meiner Begeisterung angemessen Ausdruck zu verleihen.«
»Na, na, Sie haben doch keinen Grund, verbittert zu sein, bloß weil das Ihre Leute um die profitablen Einkünfte gebracht hat, die sie dafür erhalten haben, dass sie unsere Einrichtungen von Zeit zu Zeit mit Kriegswaisen belieferten. Sicherlich haben Sie doch auch erkannt, dass dieses schreckliche Unrecht uns zwar von einer moralischen Verwerflichkeit geläutert, aber gleichzeitig auch ein gewaltiges Loch in das Arbeitskräfteangebot unserer Planetarwirtschaft gerissen hat.«
»Soweit ich verstanden hatte, wollten Sie doch zu verstärkter Automatisierung übergehen?«
»Was aber grauenhaft teuer ist, wie Sie wissen. Einigen von uns – mir zum Beispiel – ist daher der Gedanke gekommen, dass wir, statt hochwertige Maschinen für Arbeiten einzusetzen, die sehr viel preiswerter von Menschen geleistet werden könnten, vielleicht lieber eine andere Quelle für Arbeitskräfte ausfindig machen sollten. Womit Sie ins Spiel kämen. Sie haben doch von Zeit zu Zeit Anlass, in Kriegen zu kämpfen, bei denen die eine oder die andere Seite anschließend vollkommen vernichtet am Boden liegt.«
»Wenn meine Truppen beteiligt sind, ist das unweigerlich der Fall«, bestätigte der Admiral.
»Statt nun die Verwundeten zu exekutieren oder die Überlebenden, sofern es überhaupt welche gibt, entweder abzuschlachten oder verhungern zu lassen, warum bringen Sie sie nicht einfach zu uns? Wir könnten sie umerziehen und in nützlichen neuen Berufen ausbilden. Wir würden dadurch Leben retten und das Universum zu einem besseren Ort machen. Dagegen könnte doch wahrhaftig niemand Einwände erheben!«
»Hmpf«, sinnierte der Admiral und strich mit den Fingerknöcheln über seinen Schnurrbart. »Das einzige Problem dabei ist, dass ein derartiges Vorgehen meinen Truppen ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Milde abverlangen würde. Wenn wir sonst mit der Verliererseite abgeschlossen haben, sind die nämlich für gewöhnlich nicht mehr in der Verfassung, für sich selbst oder irgendjemand anderen zu arbeiten.«
»Das bringt mich auf etwas anderes. Eigentlich eher eine Frage. Ich habe Gerüchte gehört – möglicherweise alles Raumfahrergarn – über irgendwelche Heilkräfte, die dieses Einhornmädchen unter Beweis gestellt haben soll, Sie wissen schon, das Mündel des verstorbenen Herrn Li.«
»Sie war, nicht zu vergessen, zugleich auch das Mündel von Hafiz Harakamian«, mahnte ihn der Admiral. »Die Dame Acorna ist jemand, mit dem wahrlich nicht zu spaßen ist, wie ich aus eigener Erfahrung sehr wohl weiß.«
»Wirklich? Erzählen Sie mir davon, unbedingt!«
»Zum einen ist sie nicht bloß irgendein Mädchen. Sie gehört zu einer nichtmenschlichen Spezies von Einhornwesen. Eines sehr hoch entwickelten Fremdvolks, von dem niemand auf dieser Seite des Universums je zuvor gehört hatte, das aber augenscheinlich schon seit geraumer Zeit Kontakte zu anderen Welten geknüpft hat. Meine Truppen hatten ein Bündnis mit Li und Harakamian geschlossen, gegen einen alten Feind dieser Linyaari, wie sie sich nannten. Zusammen haben wir einen Planeten namens Rushima befreit. Hinterher – ich konnte es selbst kaum glauben – haben die Dame Acorna und die anderen ihrer Spezies die Verletzungen sämtlicher Verwundeten so spurlos geheilt, als ob es sie nie gegeben hätte. Ich habe gehört, dass sie ein- oder zweimal sogar jemanden von den Toten wieder erweckt haben soll, allerdings war ich bei diesen Vorkommnissen nicht persönlich zugegen.
Aber nicht nur das, ein paar junge Renegaten an Bord eines Raumschiffs der Sternenfahrer hat man auch sagen hören, dass sie die vergiftete Luft an Bord ihres Schiffes gereinigt hätte.
Und die Leute von Rushima behaupten, dass sie ihnen ein magisches Gerät gegeben habe, um das verunreinigte Wasser zu klären, das ihre Welt überflutet hatte. Sie haben damit die gesamte Wasserversorgung des Planeten gereinigt. Wie ich höre, soll es ihr Stirnhorn sein, womit sie das alles bewirkt.«
Ganoosh schnurrte innerlich geradezu vor Entzücken. »Wie wunderbar! Wie märchenhaft! Denken Sie doch nur, wenn Sie einen Linyaari-Heiler in Ihren Reihen hätten, oder jemanden, der über die Macht ihrer Hörner verfügte, dann könnten Sie alle Ihre Verwundeten jederzeit augenblicklich heilen und Schlacht um Schlacht immer wieder dieselben Krieger in den Kampf zurückschicken. Ihre Truppen wären praktisch unsterblich.«
»Hmmmm, richtig…«
»Und diese armen Seelen, die Sie mir zur Umschulung schicken würden, ebenso. Offen gesagt, einige der Arbeiten, für die bislang Kinder eingesetzt wurden, dürften für Erwachsene ein wenig risikobehafteter sein. Das könnte zu einer erhöhten Anzahl von Arbeitsunfällen und -Verletzungen führen. Wie wunderbar wäre es deshalb auch hier, wenn wir derartige Heilkräfte besäßen, um uns diese Arbeiter allzeit gesund und produktiv zu erhalten.«
»Soweit ich weiß, geben sich die Angehörigen von Acornas Volk für derartige Dinge aber nicht her, Graf. Ich denke, Sie machen sich da ganz und gar falsche Hoffnungen.«
»Vielleicht hat ihnen nur noch niemand das richtige Angebot gemacht?«
»Sie sind«, der Admiral spuckte aus, »Pazifisten. Sie wollten ja noch nicht einmal kämpfen, um ihren eigenen Planeten vor diesen riesigen Käferwesen zu retten, die wir vernichtet haben, um Rushima zu befreien. Allerdings haben sie wirklich eine Heidenangst vor denen.«
»Hmmm – ob diese Käferwesen wohl irgendwelche Verbündete haben, frage ich mich?«
»Wie man mir berichtet hat, ist die einzige Verwendung, die die für Verbündete haben, die einer Bereicherung ihres Speisezettels.«
»Nun, möglicherweise ist es ja auch gar nicht erforderlich, ein Mitglied dieser Fremdspezies zur Verfügung zu haben, zu dem das Mädchen gehört, um die ihnen zugeschriebenen Wunder zu bewirken. Wenn die Macht allein in ihren Hörnern liegt, dann bräuchte man doch lediglich eben so ein Horn.«
»Schon, aber wo sollte man denn eines dieser Dinger herbekommen?«
Ganoosh grinste. »Ich bin ein findiger Mann. Und ich weiß unsere kleine Unterhaltung sehr zu schätzen, Admiral. Denken Sie doch einfach mal über das nach, was ich gesagt habe.
Schauen Sie, ob Sie nicht mit einem Vorschlag, einem Angebot für eine Lösung dieser kleinen Probleme aufwarten können. Unterdessen werde ich weitere Nachforschungen in dieser Sache anstellen.«
»Das werde ich tun, Graf. Aber – ähm – verwenden Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht, beim nächsten Mal doch bitte den Kode, den wir damals gemeinsam ausgearbeitet haben, als ich den letzten Auftrag für Sie erledigt habe. Nadhari ist ziemlich weichherzig und gefühlsduselig im Hinblick auf ihre früheren Gefährten. Ich würde sie ungern aufregen…«
»Ich verstehe vollkommen, Admiral. Einen guten Tag, und ähm, Sieg und Ruhm Ihren Armeen.«
»Das Gleiche wünsche ich Ihnen auch, Graf.«
Hafiz Harakamian, wie? Es gab ein oder zwei interessante Fußnoten zu seiner Person in Manjaris Dateien. Zum Beispiel war da seine erste Frau, deren Tod Manjari vorzutäuschen geholfen hatte, als die Dame von ihrer Ehe enttäuscht war, weil ihr Ehemann ihr zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung spendete. Sie hatte deshalb gewünscht, in das Scheinwerferlicht der Sexindustrie zurückzukehren, das sie vor ihrer Ehe gerade erst zu erobern begonnen hatte, jenes Geschäftszweigs, der eine der Säulen von Manjaris Imperium gewesen war. Eben diese Ehefrau hatte sich, als ihre Schönheit zu schwinden begann, schließlich in eine profitable Position als Didi in einem Freudenhaus zurückgezogen. Sie war dort eine besondere Favoritin von Manjari gewesen, weil sie zugleich im Besitz eines umfangreichen Schatzes an Informationen über ihren früheren Gemahl gewesen war, etwa über dessen Geschäfte und Partner, und weil sie – wie äußerst hilfreich – sogar die Baupläne und Sicherheitssysteme seines Anwesens auf Laboue gekannt hatte.
Auf Betreiben des Mündels ihres einstigen Ehemanns musste das arme Mädchen inzwischen gemeinsam mit den anderen Didis im Gefängnis schmachten. Ganoosh schnalzte mit der Zunge. Wie traurig. Wie unsagbar traurig. Glücklicherweise würde er, Graf Edacki Ganoosh, jedoch im Stande sein, am Ende doch noch alles gut für sie ausgehen zu lassen.
Er ließ sich auf seine Liegestatt zurücksinken, die Hände auf dem Bauch gefaltet und mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Familienzusammenführungen hatten immer etwas so Rührendes an sich. Er musste wahrhaftig dafür Sorge tragen, dass es auch zu einem solchen Wiedersehen zwischen dieser armen, vom Schicksal übel entlohnten Dienerin und ihrem als Witwer hinterbliebenen Ehemann kam, der sich, wie unglückselig für die Dame, erst kürzlich neu verheiratet hatte.
Die Informationen, die sie Manjari im Laufe der Jahre geliefert hatte, würden sich als nützlich erweisen, um diese Wiedervereinigung als eine gebührende Überraschung zu gestalten, wie sie derartige Ereignisse so unvergesslich machten.
Und selbstverständlich würde sie ein Hochzeitsgeschenk dabeihaben müssen. Ganoosh nahm das Einhornstück in die Hand, hielt es hoch und spielte damit, stellte sich vor, dass er spüren konnte, wie dessen viel gerühmte Heil- und Läuterungsenergie durch seinen Körper strömte. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen, nicht wahr? Geläutert zu werden war wahrlich das Letzte, was er wollte. Er ergriff ein schweres, kristallenes Raumornament und zerstampfte das Horn zu Pulver. Na also. Das war doch schon ein Anfang. Ein bisschen behielt er für sich selbst – möglicherweise wirkten die aphrodisischen Kräfte des Horns ja in Pulverform ebenso gut, zudem konnte man das Mittel auf diese Weise sehr viel leichter in das Getränk eines ahnungslosen Opfers mischen. Er selbst brauchte selbstverständlich kein solches Stimulans. In anderen deren niedrigste emotionale und körperliche Reaktionen hervorzubringen genügte ihm zu diesem Zweck vollauf.
Mit einer Prise eines chemischen Zusatzes vermengt, der aus einem seiner anderen Geschäftszweige stammte, und zusammen mit einem bisschen jener Art von Verlockung, der Harakamian bekanntermaßen gerne zu erliegen bereit war, war das hier der perfekte Köder. Wenn irgendjemand wusste, wo das Einhornmädchen und ihre Artgenossen waren oder wie man den Planeten finden konnte, auf dem sie lebten, dann war es Harakamian.
Mit dem richtigen Überbringer, dem richtigen Köder und einer gebührend dramatisch übermittelten Fabel um die Herkunft des Geschenks – natürlich keiner allzu übertriebenen Geschichte, nur gerade wirkungsvoll genug, um Edackis Rivalen in die richtige Richtung zu lenken – würde Harakamian sich ziemlich wahrscheinlich hinreichend Sorgen um das Wohl und Wehe seines Mündels machen, um sich persönlich von ihrem Wohlbefinden überzeugen zu wollen.
Und wo Harakamian hingehen konnte, da konnte auch Ganoosh hingelangen. Oder Kisla. Die liebe kleine Kisla, die sooo dringend vom Schmerz über den Tod ihrer geliebten Eltern geheilt werden musste und die nicht zögern würde, jedes einzelne Einhornwesen eigenhändig im Schlaf zu ermorden.
Nadhari Kando nahm noch rasch eine Dusche, ehe sie ihre Uniform anzog, um ihre Truppen zu inspizieren. Als die Ultraschallwellen ihre Haut von allen Schweiß- und Sexspuren säuberten, verspürte sie den Drang, sich auch von noch etwas anderem reinzuwaschen. Edacki Ganoosh, hmm? Also, welchen Grund mochte der wohl haben, Ikky anzurufen?
Ganoosh war zwar nicht vom gleichen Kaliber wie der Rattenfänger – zumindest war er das zu Manjaris Lebzeiten noch nicht gewesen –, und die Ermittlungen im Umfeld der illegalen Kinderarbeits- und Sexindustrien hatten nichts Handfestes zu Tage gefördert, was die geschäftlichen Aktivitäten von Ganoosh mit denen von Manjari in Verbindung gebracht hätte. Doch er war der testamentarisch eingesetzte Vormund von Manjaris Adoptivtochter, diesem völlig verkorksten kleinen Luder. Außerdem verwaltete er die wenigen legitimen Unternehmen, die der Kezdeter Rat Kisla Manjari zu behalten erlaubt hatte, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Denn man hatte peinlich genau darauf geachtet, nicht etwa das Kind für die Verbrechen ihrer Adoptiveltern zu bestrafen.
Und jetzt rief ausgerechnet dieser Mann Ikky in privaten Geschäften an. Das klang gar nicht gut für die Hoffnungen, die sie mittlerweile in den Admiral gesetzt hatte. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Verblendung. Er war ein gut aussehender Mann, topfit, stählern wie sie selbst und recht geschickt in jener Art Spiele, an denen sie Gefallen fand. Mit ihm das Lager zu teilen, in der weitesten Bedeutung dieses Ausdrucks, war ein bisschen wie ein guter Tag in der Schlacht, hielt den Körper in Form und den Geist wach. Überdies hatte sie, als sie ihn dazu genötigt hatte, sich den Schiffen von Li und Harakamian im Kampf gegen die Khleevi anzuschließen gespürt, dass es ihm letztlich sogar doch ein gewisses Vergnügen bereitet hatte, den vergleichsweise wehrlosen Siedlern von Rushima zu helfen. Dass es ihm Spaß gemacht hatte, zur Abwechslung einmal einer von den Guten zu sein oder zumindest für die Seite der Guten zu arbeiten – die ihm ausnahmsweise einmal das lukrativere Angebot gemacht hatten. Es war diese Feststellung, mehr als die Erpressung oder seine Attraktivität, die ihre flüchtige Affäre zu mehr, zu einem Bund hatte werden lassen.
Nichtsdestotrotz hatte sie sehr wohl gemerkt, dass er in letzter Zeit wieder ruheloser geworden war. Und auch von den Männern hatte sie einige Dinge erfahren, die ihr nicht sonderlich gefielen. Sie hatte daher in der Tat schon seit einigen Tagen ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie sich nicht besser absetzen sollte.
Sie steckte die Hosenbeine militärisch ordentlich in die Schäfte ihrer Stiefel und nahm den rückwärtigen Weg hinunter zum Innenhof, wo ihre Männer wohl schon auf sie warten würden. Der Komraum lag auf dem Weg dorthin. Sie überlegte, dass es klug wäre, den Kindern auf Maganos eine Nachricht zukommen zu lassen und vielleicht auch Harakamians Sicherheitskräfte zu benachrichtigen, und diese zu bitten, nach neuen Aktivitäten seitens Ganoosh Ausschau zu halten.
Aber als sie auf der Höhe der Tür zur
Kommunikationszentrale anlangte, hörte sie Ikkys Stimme.
Das war eine der unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wenn man Kommandierender Offizier war. Die eigene Stimme neigte dazu, ziemlich weit zu tragen, wenn man jahrelang Befehle brüllte.
»Was ich von euch will«, erläuterte Ikky ungehalten, »ist, dass ihr euch unsere Datenbanken noch mal vornehmt. Sucht sämtliche Aufzeichnungen über den Hyperfunkverkehr heraus, den wir von diesem Linyaari-Schiff empfangen haben, damals, als wir alle auf Rushima waren und gegen die Käfer gekämpft haben. Analysiert die Daten, isoliert ihr charakteristisches Sendemuster, und weist alle unsere Verbündeten an, ab sofort nach solchen Sendemustern Ausschau zu halten und diesen Suchauftrag auch ihrerseits überall hin weiterzugeben, so lange, bis wir eine aktuelle Linyaari-Funksendung aufgefangen haben.«
»Und wenn man eine derartige Sendung entdeckt, Admiral?«
»Dann belegt sie mit Störfunk und verfolgt sie bis zu ihrem Ursprung zurück. Haltet mich ständig auf dem Laufenden, und wenn wir erst einmal Kontakt haben, werde ich weitere Anweisungen erteilen.«
»Zu Befehl, Admiral.«
Nadhari gelang es zwar, den langen Korridor eine geraume Strecke weit hinunterzueilen und so einen deutlichen Abstand zwischen sich und die Komraumtür zu bringen, bevor Ikky in den Gang hinaustrat. Doch sie spürte dennoch seine misstrauischen Blicke zwischen ihren Schulterblättern, und sie wusste, dass er wusste, dass sie alles gehört hatte. Normale Leute würden vielleicht keine solch sprunghaften Schlussfolgerungen ziehen. Doch sie und Ikky waren beide von denselben Leuten ausgebildet worden, und so dachten sie in ziemlich genau den gleichen Bahnen. Er wusste es. Sie musste sich anstrengen, sich nicht zu versteifen, während sie darauf wartete, dass er ihr nachrief oder vielleicht sogar auf sie schoss, wenngleich Letzteres auch weniger wahrscheinlich war. Was er stattdessen tat, war, wieder in der Komzentrale zu verschwinden.
Als sie schließlich die Inspektion ihrer Truppen beendet hatte und in den Komraum zurückgekehrt war, um »ihren Funkbrief nach Hause zu schreiben«, gab Feldwebel Erikson vor, dass die Computer alle abgestürzt seien, obwohl sie nur allzu deutlich sehen konnte, dass sie samt und sonders in vollem Betrieb waren. Er hielt seine Hand ständig in der Nähe seiner Dienstwaffe, als er das sagte. Daran erkannte sie, dass dies die noch leidlich respektvolle, nichtsdestotrotz aber unerbittliche Art des Feldwebels war, sie wissen zu lassen, dass Ikky die Komzentrale für sie zum Sperrgebiet erklärt hatte.
Sieben
Die humanoid gestalteten KEN-Robotermodelle Nummer 637
bis 640 standen am Landeplatz 498 und starrten die Condor an.
Die Situation war ihnen so unbegreiflich, dass ihre Elektronenhirne zu streiken drohten.
»Ich habe es mit den ordnungsgemäßen Kodes versucht«, stellte KEN637 fest, »aber das Luk öffnete sich nicht.«
»Ich habe es mit einer manuellen Prioritätseingabe sämtlicher bekannten Computerkodes zur Öffnung von Fahrzeugluken versucht, mit dem Ergebnis, dass wir jetzt zwar Zugang zu jedem anderen Raumschiff, Schweber, Lastgleiter und Pizzakurierfahrzeug auf dem gesamten Planeten haben, aber das Schleusenluk öffnet sich nach wie vor nicht«, berichtete KEN638.
»Ich habe mit sämtlichen meiner nichtorganischen Extremitäten gegen die Schiffshülle gehämmert«, ergänzte KEN639, »aber das Luk geht trotzdem nicht auf.«
»Vielleicht wäre ein Büchsenöffner von Nutzen«, schlug KEN640 vor, der Roboter mit dem durchnässten und qualmenden zerfetzten Hosenbein. Zum Glück für die anderen KEN-Modelle gehörten bei keinem von ihnen Geruchssensoren zur Standardausstattung.
»Was ist ein Büchsenöffner?«, wollte KEN637 wissen.
»Ein antikes Werkzeug, um Zugang zum Luk von Nahrungsmittelbehältern zu erlangen und sie zu öffnen«, antwortete KEN640.
»Wo können wir so einen herbekommen?«, erkundigte sich KEN639.
KEN640 öffnete eine Klappe in seinem Unterarm, und sein eigenes Sammelsurium nichtorganischer Werkzeuge schwang in Sicht: Metallsäge, Stemmeisen, Nagelfeile, Schere, Schraubendreher, zwei verschiedene Messerklingen und ein Rotationswerkzeug mit mehreren daran befestigten Bohrern.
Und ein Korkenzieher. Sowie schließlich ein flaches Metallstück mit einem spitzen Oberteil und einem halbmondförmig ausgestanzten Unterstück. »Hier!«, verkündete KEN640.
»Ach, dazu ist das Ding also gut?«, meinte KEN637 und öffnete seinen eigenen Unterarm. »Ich hatte mich schon gewundert. Mir ist das schon früher mal bei dir aufgefallen, und ich hatte mich gefragt, was das wohl sein könnte und warum wir früheren Modellnummern nicht damit ausgestattet sind.«
»Ich glaube, ich wurde auf Kundenwunsch beim Bau modifiziert und mit einer Sonderausstattung versehen. Mein ursprünglicher Dienstherr hatte ein paar ziemlich altmodische Interessen.«
KEN637 schlug vor: »Dann solltest du das Werkzeug vielleicht tatsächlich mal am Luk ausprobieren. Denn meinen Beobachtungen zufolge würde ich sagen, dass Jonas Becker, Generaldirektor der Interplanetaren Wiederverwertungs- und Bergungsgesellschaft Becker mbH, ebenfalls eine Vorliebe für Antikes hat.«
Bereitwillig kletterte KEN640 das fahrbare Arbeitsgerüst hinauf, das die Maschinenmenschen vom Zentralgebäude des Frachthafens mitgebracht hatten. Bei modernen Raumfahrzeugen war die Zugangsschleuse in aller Regel stets an der gleichen Stelle und bequem erreichbar in Bodennähe angebracht. Die älteren Raumer jedoch waren häufig von einer ganzen Schar von Herstellern mit einer ebenso großen Vielfalt an unterschiedlichen Spezifikationen gebaut worden.
KEN640 war immer noch dabei, die nicht benötigten Hilfswerkzeuge in seinen Unterarm zurückzuklappen, während er gleichzeitig an dem Gerüst emporstieg, als plötzlich sein Fuß, der infolge von SBs Aufmerksamkeiten ein in unregelmäßigen Abständen auftretendes, unkontrollierbares Zucken entwickelt hatte, von der obersten Leitersprosse abrutschte. Der Roboter warf sich gegen das Gerüst, um seinen Sturz abzufangen und keinen Schaden zu erleiden. Das Arbeitsgerüst knallte hart gegen das Schiffsluk, das daraufhin aufflog und mehrere Tonnen Computerersatzteile, uralte Schiffsbugkonen, Schweberzubehör und einen langen Streifen Metall ausspie, die sich allesamt scheppernd über die anderen KEN-Modelle ergossen, die direkt unter ihm gestanden hatten und nun nach oben blickten, um nachzusehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte.
KEN640 verlor den Halt und warf ein letztes Mal seinen Arm nach vorne, um irgendetwas zu fassen zu kriegen, das seinen Absturz noch verhindern könnte – und fand sogar etwas. Seine Finger verkrallten sich in die untere Rahmenkante des nunmehr aufklaffenden Schleuseneinstiegs. Er verstärkte seinen Griff um diesen Zufallshalt, schwang schließlich seinen ganzen Körper daran hoch und hievte sich so ins Schleuseninnere. Als er von der Eingangsöffnung weg und tiefer ins Schiff hineinschlüpfte, schloss sich das Luk plötzlich wieder hinter ihm. Er fuhr herum und hämmerte dagegen.
Nichts. Er stemmte sich mit seiner ganzen Kraft dagegen. Die Außenluke blieb fest verriegelt.
»Hilfe!« Er richtete seine Vokalisierungsanlage so aus, dass sie bis zu den anderen Robotereinheiten unter ihm hinunterreichen musste. »Ich brauche Hilfe. Meine Sensoren können keinerlei zugängliche Durchgänge ausmachen, die von hier aus tiefer ins Schiff hineinführen, und auch keine Möglichkeit, um das nach draußen führende Schleusenluk zu öffnen. Bitte leistet mir sofort Unterstützung!«
Als die Zeit verstrich und er weder Unterstützung erhielt noch irgendeinen Mechanismus zu entdecken vermochte, der es ihm ermöglicht hätte, entweder tiefer ins Innere des Raumers oder wieder ins Freie hinauszugelangen, beschloss er, sich abzuschalten, um Energie zu sparen. Kisla Manjari schätzte es nicht, wenn ihre Roboter sinnlos Energie verschwendeten.
Doch kurz bevor seine Sichtsensoren vollständig den Dienst einstellten, spielte ihnen der temporäre Viddatenspeicher noch mal ein flüchtiges Bild vor, das er kurz zuvor wahrgenommen hatte – ein Blick von oben auf den aus dem Schiffsluk herausgepolterten Schutt, wie dieser sich über den zu Boden gestreckten Gestalten der anderen KEN-Roboter auftürmte, die in diesem blitzlichtartigen Rückblick einen uncharakteristisch zweidimensionalen Eindruck machten, als wären sie statt ihres gewohnten Selbst nunmehr lediglich auf den Landepiatzbelag geschmetterte Kleckse aus Plasthaut, Maschinenteilen und diversen Schmiermitteln.
Auf dem Nanowanzenmarkt trug Becker derweil Reamer und dessen Familie zum wiederholten Male seine komplette Lebensgeschichte vor, um Reamer davon zu überzeugen, dass er nicht zu der Art von Kerlen gehörte, die arglose, idealistische junge Einhorndamen hinterrücks meuchelten, um an ihre Gehörne heranzukommen. Schließlich hatte er doch noch nicht einmal gewusst, was diese Dinger eigentlich waren, bevor er sie Reamer gezeigt hatte, oder etwa nicht?
Der rothaarige Gesteinshändler fing gerade an, seine Verdächtigungen wieder etwas zurückzunehmen, als Beckers Alarmmelder losblökte. Da sich das anhörte wie das Signalhorn eines alten Fahrrads, das die ersten Takte von
»Dixie« anstimmte, bekamen es auch sämtliche Umstehenden mit. SB knurrte übellaunig.
»Das dürfte wohl die magere kleine Prinzessin mit ihren schweren Metalljungs sein, die sich Zutritt zur Condor zu verschaffen versuchen«, erläuterte er Reamer. »Ich hasse es, wenn Leute das tun. Vielleicht habe ich ja vergessen, das KEIN-ZUTRITT-Schild aufzustellen. Oder vielleicht ist sie aufgetaucht, weil ich noch nicht zurückgekommen bin, um ihr den Rest ihrer Einkäufe nachzuliefern.«
»Kisla Manjari ist niemand, der mit sich spaßen lässt«, warnte
Reamer ihn. »Wenn ich du wäre, würde ich so lange dort wegbleiben, bis sie hat, was sie will, und erst danach zurückgehen, um die Einzelteile deines Schiffs wieder zusammenzuklauben.«
»Ein guter Rat, hm, SB?«, meinte Becker und überdachte das Ganze kurz. Doch dann wehrte er ab: »Nein, eines Mannes Raumschiff ist seine Burg. Außerdem kommt sie ohne das hier sowieso nicht hinein.« Er klopfte auf seine Fernbedienung, die auch die Quelle des Alarmsignals war. »Komm mit, SB.« Der Kater hopste auf Beckers Schulter, und Becker trabte zu dem Reitschweber hinüber, den er als persönliches Bodenbeförderungsmittel zum Markt mitgebracht hatte.
»Warte mal«, rief ihm Reamer nach und brachte ihn dadurch wieder zum Stehen. »Manjari und ihre Roboter könnten deinen Weg über den Markt zu uns zurückverfolgen. Und ich habe wenig Lust, mitten in der Nacht aufzuwachen und festzustellen, dass diese Frau sich irgendwo in der Nähe eines Bettes oder meiner Kinder aufhält und darauf besteht, dass ich jede Menge Fragen über dich beantworte, wo ich doch gar nichts weiß, was ich ihr erzählen könnte.«
»Dann solltest du wohl besser mitkommen und alle meine Geheimnisse herausfinden, damit du auch was Deftiges zu erzählen hast, mit dem du eurer aller Arsch retten kannst, richtig?«, schlug Becker vor. »Also komm schon!«
Reamer wandte sich zu der Frau um, die den benachbarten Verkaufsstand mit ogonquonischem Zierrat betrieb, rief: »Du passt für mich auf die Kinder auf, in Ordnung, LaVoya?«, und sprintete dann hinter Becker her.
Becker war mit seinem Raumer absichtlich auf dem entlegensten Landeplatz des Raumhafengeländes niedergegangen, den er hatte finden können, weil er es nicht leiden konnte, wenn ein Haufen überneugieriger Zollinspektoren in seinem Schiff herumschnüffelte. Das Problem dabei war allerdings, dass es dafür so weit draußen auch um die Sicherheit nicht sonderlich gut bestellt war. In dieser Ecke des Raumhafens waren nämlich eine ganze Menge halbwracker Seelenverkäufer untergebracht, die dort darauf warteten, entweder überholt oder verschrottet zu werden. Und es war von außen ziemlich schwierig zu beurteilen, ob die Condor auch eines dieser Schiffe war oder nicht. Wenn jemand an ihr vorbeigekommen wäre, hätte er jedenfalls zumindest den Eindruck gewonnen, dass die Condor offenkundig von einer ziemlich schlampigen Crew bemannt war, da sich auf einer Seite des Raumers ein enormer, aus allem möglichen Technikmüll bestehender Stapel Gerümpel auf dem Boden des Landeplatzes auftürmte.
»Sieht wahrhaftig so aus, als ob die Prinzessin tatsächlich vorbeigeschaut hätte«, meinte Becker und kratzte sich am Kinn. »Schätze, dass sie wieder abgezogen ist, um sich Verstärkung zu besorgen. Was auch immer sie gesucht haben mag, scheint für diese Jungs da jedenfalls etwas zu schwer gewesen zu sein.«
»Machst du Witze?«, wollte Reamer wissen und meinte die Frage völlig ernst, weil man das bei Becker zuweilen nicht so recht sagen konnte. »Die hat ihre Schläger hergeschickt, um in dein Schiff einzubrechen! Ich wette, dass sie hinter den Hörnern her war…«
»Schhh, nicht so laut!«, fiel ihm Becker ins Wort und hob einen Finger an die Lippen. »Jetzt, wo ich weiß, was das für Dinger sind, wünschte ich, ich hätte sie nie zur Sprache gebracht. Tatsächlich werde ich mich jetzt wohl allerschleunigst aus dem Staub machen müssen, bevor ihre Hoheit mit noch mehr von ihren Handlangern zurückkommt.
Hör mal, ich sag dir was – behalt du das.« Er drückte Reamer ein Hornstück in die Hand. »Ich schwöre dir, dass ich es niemandem Lebendigen abgenommen und noch nicht mal irgendwelche Leichen gesehen habe. SB und ich haben diese Dinger gefunden, wie sie einfach so auf einem verwüsteten Planeten herumlagen. Entscheide du, was damit zu tun ist. Ich jedenfalls hau jetzt hier ab.«
Er drückte mit dem Daumen auf seine Fernbedienung, die daraufhin eine andere Melodie abspielte, die Reamer nicht erkannte. Gleichzeitig öffnete sich in seinem Raumschiff etwas, das wie der Auswurfschacht eines mytheranischen Giftmülltransporters aussah, und eine breite Hebebühne senkte sich herab, die Becker und SB sogleich betraten.
»Du wirst nicht hochgebeamt?«, wunderte sich Reamer, als die Hebebühne Becker und SB wie mit einem mechanischen Fahrstuhl in die Höhe und in den Auswurfschacht hineinhob.
»Nee, so was macht den Kater zu nervös«, antwortete Becker. »Sag den Kindern auf Wiedersehen von uns.«
»Wird gemacht!«, rief Reamer winkend zurück. Becker hatte vergessen, seinen Reitschweber an Bord zu holen, also kletterte Reamer kurzerhand selbst darauf und beschloss, so schnell wie möglich so viel Abstand zwischen sich und den Stapel Schrott mit den ganz zuunterst liegenden zerschmetterten Robotern zu bringen, wie er nur konnte.
Reamer dachte angestrengt nach, während er durch Nebenstraßen zurückraste und versuchte, einen Weg zu nehmen, der keine klaren, zum Nanowanzenmarkt und seinen Kindern führende Spuren hinterließ. Denn trotz seiner für gewöhnlich arglosen Art hatte ihn die raue Schule des Lebens durchaus ein gesundes Maß an Paranoia gelehrt. Verdammt auch, warum musste er bloß so ein verfluchter Rotschopf sein?
Mit dieser Haarfarbe und seiner Größe war er eine ziemlich auffällige Erscheinung. Und falls jemand gesehen hatte, wie er auf Beckers Reitschweber mitgefahren war, bestand leicht die Gefahr, dass dieser Jemand ihn an Kisla Manjari verriet.
Deshalb würden von jetzt an weder er noch seine Kinder mehr sicher sein. Selbst wenn ihn auf dem Weg zu Beckers Schiff niemand gesehen haben sollte, war allein schon der Nanowanzenmarkt eine einzige Gerüchteküche. Kisla Manjari würde ihre Geldbörse daher um keinen sonderlich großen Betrag erleichtern müssen, um herauszufinden, dass Becker ziemlich viel Zeit an Reamers Verkaufsstand verbracht hatte.
Um das nette, anonyme Leben, das er für sich und seine Kinder aufgebaut hatte, indem er es stets sorgsam vermieden hatte, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen oder gegen die Gesetze zu verstoßen, während er gleichzeitig darauf achtete, dass er nichts besaß, was irgendjemand anderes heftig genug begehren mochte, um ihn deswegen zu bedrängen, war es jetzt geschehen. Nun, solche Dinge passierten eben. Vielleicht war es ja auch an der Zeit dafür. Wichtig war jetzt in erster Linie, die Kinder in Sicherheit zu bringen und danach Baird, Giloglie und Nadezda die Sache mit den Hörnern wissen zu lassen.
Reamers Herz kehrte wieder an den angestammten Platz in seiner Brust zurück, als er sah, dass seine Kinder ganz wie immer die über den Markt strömende Menge begutachteten und die aussichtsreichsten Kunden für den ogonquonischen Zierrat mit der gleichen Sachkunde heraussiebten, mit der sie für gewöhnlich ermittelten, wer von den Schaulustigen am ehesten zum Kauf der Gesteine und Mineralien ihres eigenen Marktstandes verlockt werden könnte.
»Auf geht’s, Deeter und Turi, wir müssen sofort zusammenpacken und weg von hier.«
»Aber Paps, wir ham’ unseren Standplatz doch schon für die ganze Verkaufssaison im Voraus bezahlt!«, wandte Turi, seine kleine Geschäftsführerin, ein.
»Kind, habe ich dir nicht immer gesagt, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als Geld? Und jetzt macht schon!«
Er überlegte hastig, wohin sie von hier aus gehen sollten. Auf die Behörden war kein Verlass, die waren selbst in diesen Reformzeiten nur nach außen hin sauber. Kisla Manjaris Vormund, der Graf, war ein Mann von erheblichem Einfluss, und viele der Ordnungshüter, die durch die Stadt streiften, standen auf seiner Lohnliste. Bei diesen lief Reamer daher sehr viel eher Gefahr, unter irgendeinem Vorwand verhaftet und zu Kislas freier Verfügung festgehalten zu werden, als dass sie eine Hilfe für ihn darstellen könnten. Als die Dame und ihre Onkel noch selbst hier gelebt hatten, war das anders und alles in Ordnung gewesen, doch ohne ihre persönliche Anwesenheit…
Reamer fiel plötzlich die kleine Geschichte wieder ein, die Becker erzählt hatte, wie er zu dem Freudenhaus gegangen und mit Khetala zusammengestoßen war. Reamer hatte selbst einmal eine ähnliche Begegnung mit ihr gehabt, aus ähnlichen Gründen. Doch sie war eine von den Gefolgsleuten der Dame, eines jener Kinder, die Acorna aus den Erzgruben gerettet hatte. Khetala würde wissen, was wegen des Horns zu tun war.
Sie konnte ihm und den Kindern auch helfen, von Kezdet zu fliehen. Sie würde ihnen helfen. Sie musste einfach.
Acht
Die Augen jeder Person im Pavillon waren wie gebannt auf den Seiteneingang gerichtet. Die Zeltwandklappen schwangen weit auf. Überall hielten die Tänzer inne, obgleich die Musik noch weiterspielte. Dann jedoch verstummte auch die Kapelle abrupt, als Liriili mit unbedecktem Stirnhorn durch die draußen versammelte Menge und dann durch die Menge drinnen schritt. Sie stieg auf die Orchesterbühne, wo sie sich des winzigen Festzeltmikrofons bemächtigte und über die Pavillonlautsprecher verkündete: »Ich berufe eine sofortige Notversammlung aller Ratsmitglieder im Viizaar- Pavillon ein.
Außerdem ergeht an alle Bereitschaftsmannschaften sämtlicher Raumfahrzeuge der Befehl, sich unverzüglich auf ihren Schiffen einzufinden und sich auf einen Alarmstart vorzubereiten. Alle anderen Schiffsmannschaften werden sich auf Abruf bereithalten. Die Kommandanten der Raumschiffe und sämtliche Botschafter, Gesandten und Raumkuriere werden aufgefordert, bitte ebenfalls an der Ratssitzung teilzunehmen.«
Dann rauschte sie davon. Eine große Zahl der weißhäutigen Linyaari heftete sich an ihre Fersen oder verließ gleich nach ihr das Fest.
Großmama, die sich anscheinend auch von bedeutsamen Staatsangelegenheiten nicht darin beirren ließ, die Leute an ihre gesellschaftlichen Pflichten zu erinnern, geleitete Acorna von der Höhe der Weideplattformen hinunter und ging dann selbst zur Orchesterbühne hinüber, wo sie das Pavillonmikrofon ergriff. »Meine Kinder, diejenigen unter euch, deren Anwesenheit nicht anderswo gefordert ist: Bleibt bitte und tanzt mit euren Lieben, solange ihr mögt.
Es gibt immer noch jede Menge erlesener Speisen auf den Grünplattformen, und viele von euch haben Khornya noch gar nicht kennen gelernt.«
Acorna protestierte: »Aber es scheint doch ein ernster Notfall eingetreten zu sein. Ob die Leute mich nun kennen lernen oder nicht, ist da im Augenblick doch schwerlich von Bedeutung.«
Doch aus mehreren Richtungen konnte sie leises Gemurmel hören, dessen einheitlicher Tenor lautete: »Sie scheint Ärger mitgebracht zu haben.«