ZWÖLFTES KAPITEL
1
Die alten Mütterchen im Haus erwiesen sich als außergewöhnlich gesprächig. Entweder bekamen sie selten Besuch von ihren Kindern und Enkeln, oder sie hatten alle einen besonders offenen, gutmütigen und wißbegierigen Charakter, jedenfalls wußten sie sehr viel über ihre Nachbarn und berichteten mit großer Bereitschaft.
Besonders viel Zeit nahm das Gespräch mit Maria Fjodorowna Kasakowa aus dem Parterre in Anspruch.
»Ach, das arme Mädchen!« jammerte die Alte, während sie ihrem Gast Tee nachschenkte und das Schälchen mit Konfitüre auffüllte. »Es wächst ohne mütterliche Fürsorge auf. Der Vater ist gut, solide, aber er arbeitet Tag und Nacht. Und Vera ist keine Mutter, sondern eine Strafe. Läuft immer nur betrunken herum. Ein Wunder, daß sie das Mädchen noch nicht zugrunde gerichtet hat.«
»Warum macht sie denn keine Entziehungskur?« fragte Nastja, während sie genüßlich den Sirup der Aprikosenkonfitüre vom Löffel leckte.
»Sie will einfach nicht«, seufzte Maria Fjodorowna.
»Vielleicht sollten die Eltern sich scheiden lassen«, schlug Nastja vor.
»Nicht dran zu denken.« Die Alte winkte ab. »Wie oft haben wir ihm schon gesagt, nimm dein Kind, und bring deine Frau vor Gericht, damit ihr geschieden werdet und du das Sorgerecht bekommst.«
»Und was sagt er?«
»Nichts. Er schüttelt nur den Kopf. Ich kann meiner Frau diese Schande nicht antun, sagt er. Und meine Tochter tut mir leid. In der Schule würden sofort alle erfahren, daß ihre Mutter eine Alkoholikerin ist, der man das Sorgerecht für ihr Kind aberkannt hat. Kinder sind grausam, wissen Sie, sagt er, sie würden meinem Mädchen das Leben vergiften. Und auch die Lehrer sind heutzutage nicht mehr sehr gescheit, sie würden das Mädchen nicht in Schutz nehmen vor den andern, sondern selbst noch Öl ins Feuer gießen. Nein, nein, der Mann hat schon recht, er verhält sich sehr edel. Er hat sich die Frau selbst ausgesucht, jetzt muß er sein Kreuz tragen, man kann es nicht auf die Schultern anderer abwälzen.«
»Aber das Kind wird doch älter«, widersprach Nastja. »Wie alt ist es denn? Das Mädchen hat sich die Mutter doch nicht ausgesucht, warum muß es denn leiden?«
»So beißt sich die Katze in den Schwanz.« Die Kasakowa nickte zustimmend. »Das Kind tut einem leid, die Mutter tut einem leid, und der Vater kann nicht gegen sein Gewissen handeln. Sein Gewissen sagt ihm, daß er seine Frau nicht aus dem Haus jagen darf.«
»Tatsächlich?« bemerkte Nastja. »Und sein Gewissen sagt ihm nicht, daß er normale Lebensbedingungen für sein Kind schaffen muß?«
»Ach, mein Töchterchen, das ist alles nicht so einfach. So ist es schlecht und anders auch. Er muß es selbst wissen, wir haben nicht das Recht, ihn zu richten.«
»Aber nicht doch, Maria Fjodorowna, ich bin doch nicht gekommen, um zu richten. Ich helfe dem Bezirksmilizionär, das ist eine Art Praktikum für mich. Er hat mich gebeten, mal durch den Bezirk zu gehen und mit den Leuten zu reden, vielleicht hat jemand streitsüchtige Nachbarn, vielleicht gibt es Kinder, die unter schlechten Bedingungen aufwachsen, Ehezwistigkeiten und alles das. Dank Ihnen weiß ich jetzt, daß man auf das Mädchen achtgeben muß, damit es nicht aus unserem Blickfeld und womöglich in schlechte Gesellschaft gerät. Aber es ist nicht unsere Sache, den Vater zu verurteilen, weil er nicht mit seiner Frau fertig wird, da haben Sie völlig recht.«
»Er erhebt noch nicht einmal seine Stimme gegen Vera, offenbar liebt er sie trotzdem«, bemerkte die Kasakowa.
»Es gibt wirklich nie Streit?« fragte Nastja. »Das kann ich nicht glauben. So etwas gibt es nicht. Vielleicht hören Sie es nicht.«
»Ich höre alles!« sagte Maria Fjodorowna beleidigt. »Es ist doch ein Blockbau aus den siebziger Jahren, bei uns hört man jedes Flüstern hinter der Wand. Und wenn du glaubst, mein Töchterchen, daß ich eine taube alte Frau bin, dann hast du recht, denn Flüstern höre ich tatsächlich nicht mehr, aber wenn sie hinter der Wand etwas lauter sprechen, dann verstehe ich jedes Wort.«
Sie schmatzte mit den Lippen, nahm ein paar Schlucke Tee und demonstrierte mit ihrer ganzen Haltung, daß es eine unverzeihliche Sünde war, einem Menschen in so ehrenwertem Alter nicht zu glauben. Wenn sie gesagt hatte, daß es zwischen Vera und ihrem Mann nie Streit gab, dann war das auch so. Aber plötzlich wandte sie den Blick verwirrt von ihrem Gast ab, sah zum Fenster und hustete.
»Aber du hast recht, Töchterchen, einmal ist es vorgekommen. Da hat er sie angeschrien. Aber nur ein einziges Mal. Das ist sicher.«
»Und was war los?«
»Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, er hat sie mit einem anderen Mann erwischt. Er war sehr wütend. Ich bekam sogar Angst und dachte, er würde sie schlagen.«
»Ach was, Maria Fjodorowna, danach sieht es hier nicht aus«, stachelte Nastja die Alte erneut an. »Wenn es so ist, wie Sie sagen, und die Frau seit langer Zeit jeden Tag trinkt, dann kann man sie mindestens dreimal die Woche mit einem andern Mann erwischen. Glauben Sie mir, ich weiß es genau. Alle Alkoholikerinnen sind gleich. Es kann nicht sein, daß ihr Mann sie nur dieses eine Mal erwischt hat. Es kann nicht sein, daß er deswegen so wütend gewesen ist. Einer mehr oder einer weniger – was macht das schon aus? Wenn er ihren Suff erträgt, dann erträgt er auch die anderen Männer. Nein, Maria Fjodorowna, da muß etwas anderes gewesen sein. Sie haben sich wahrscheinlich getäuscht.«
»Aber nein, ich habe mich nicht getäuscht«, widersprach die Alte hitzig. »Ich habe doch jedes Wort verstanden. Sie hat mit seinem Freund . . . Darum ist er so wütend geworden. Wenn du dich im besoffenen Zustand mit Abschaum von deinesgleichen einläßt, hat er geschrien, dann soll dich der Teufel holen, das ist deine Sache. Ich rühre dich schon lange nicht mehr an, und wenn du dir irgendeine Pest holst, dann ist mir das egal. Aber ihn hättest du nicht reinziehen dürfen in deinen Dreck, er ist ein schwacher Mensch, und das hast du ausgenutzt . . . Nun ja, und so weiter.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Ach, sie war wahrscheinlich schwer betrunken. Er hat sie gar nicht erwischt, sie hat ihm selbst alles erzählt.«
»Wie das?«
»Er hat irgendeine harmlose Bemerkung gemacht, und sie ist sofort hochgegangen. Du lebst nur für deine Arbeit, sagte sie, sonst interessiert dich überhaupt nichts. Wenn du wenigstens zu den Weibern gingst, dann könnte man dich für einen normalen Mann halten, aber du bist nicht Fisch nicht Fleisch, halb schwul, halb impotent. Schau dir deinen Dima an, der ist ein richtiger Mann, der sieht sofort, was eine Frau will, und er kann eine Frau auch befriedigen. Genau da hat er dann zu schreien angefangen. Das war das allererste Mal, Ehrenwort. Und Vera hört ihm zu und redet irgendein wirres Zeug. Er spricht von seinem Freund und sie von irgendeiner Schwester. Er sagt, daß sie Dima womöglich angesteckt hat, und sie faselt irgend etwas ganz anderes, daß es für ihn ja schon der Weltuntergang sei, wenn seine heißgeliebte Schwester mal niesen würde . . . Wahrscheinlich hat sie sich schon um den Verstand gesoffen, begreift überhaupt nichts mehr.«
»Wahrscheinlich«, sagte Nastja, nur um irgend etwas zu sagen.
Dmitrij Platonow hatte also mit Sergej Russanows Frau geschlafen, einer Alkoholikerin. Russanow war nicht im mindesten gekränkt vom Treuebruch seiner Frau und von dem Verhalten seines Freundes, ihn beschäftigte nur eines. Er befürchtete, daß Dmitrij sich bei seiner Frau etwas geholt haben könnte und nun womöglich seine heißgeliebte Schwester Lena anstecken würde (oder inzwischen bereits angesteckt hatte). Offenbar war Russanows Beziehung zu seiner Schwester tatsächlich so außerordentlich eng und intensiv, wie er es selbst geschildert hatte. Selbst in dem Augenblick, in dem er erfuhr, daß seine Frau ihn mit seinem Freund betrogen hatte, dachte er nur an seine Schwester. Und vielleicht hatte er begonnen, Platonow zu hassen, weil er auch Lena betrogen hatte und tief genug gesunken war, um mit der Frau seines Freundes zu schlafen. Wahrscheinlich hatte Russanow die Achtung vor seinem Freund verloren. Ein Schurke, der die Frau seines engsten und ältesten Freundes nicht in Ruhe hatte lassen können. Ein Idiot, der sich mit einer Schlampe einließ, die es vor ihm bereits mit wer weiß wem getrieben hatte. Man konnte in das Bett einer solchen Frau steigen, warum nicht, aber Platonow war danach zu einer wunderbaren jungen Frau gegangen, die ihn liebte und ihm ahnungslos vertraute.
Es war durchaus denkbar, daß Russanow Dmitrij zu hassen begonnen hatte. Und das warf ein ganz neues Licht auf die Dinge . . .
2
Dmitrij spürte mit jeder Faser seines Körpers, daß die Zeit verging. Ihm war immer noch nichts eingefallen, und es schien, als würde mit jeder Minute ein Stück seines Lebens schwinden. Jeden Moment konnte Kira zurückkommen, und er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Die einzig richtige Taktik schien darin zu bestehen, sich so zu verhalten, als sei nichts passiert. Nur so konnte er versuchen, sich zu retten. Aber diese Taktik konnte nur dann funktionieren, wenn Kira nicht geisteskrank war. Nur dann konnte er ihr Verhalten wenigstens in etwa abschätzen und berechnen. Und wenn sie doch verrückt war? Eine unzurechnungsfähige Geisteskranke, der jeden Augenblick sonst etwas in den Sinn kommen konnte?
Ich muß es tun, sagte sich Platonow, während er kopflos in der Wohnung umherging, ich muß meine ganze Kraft zusammennehmen und es tun. Zumal ich es gestern morgen bereits angedeutet habe. Ich muß genauso weitermachen wie bisher, so, als wüßte ich von nichts, als hätte ich nie einen Revolver entdeckt. Jetzt verstehe ich, warum sie keine Wirkung auf mich hatte, obwohl sie so schön ist. Sie ist anders als andere Frauen. Lieber Gott, wie soll ich es machen? Woher die Manneskraft nehmen? Und wenn ich versage? Dann wird sie gleich wissen, daß ich alles durchschaut habe. Ein normaler Mann kann nicht mit einer Mörderin schlafen. Und wenn es mir nicht gelingt, wenn ich versage, dann wird sie sofort wissen, warum.
Er begriff nicht, warum Kira noch nicht zurück war, und wurde immer nervöser, weil er nicht einschätzen konnte, wann sie auftauchen würde und wieviel Zeit er noch hatte. Endlich gelang es ihm, sich zu konzentrieren und in Gedanken wenigstens das vage Sujet jenes Stücks zu entwerfen, das er nach Kiras Rückkehr würde spielen müssen.
Wenn sie die Wohnung betrat, würde er so tun, als schliefe er. Er würde eine Weile still liegen, lauschen, was sie tat, und dann »aufwachen«. Er würde sie rufen, sie bitten, sich zu ihm aufs Sofa zu setzen, und dann . . .
Doch nein, das war es wahrscheinlich doch nicht. Er würde in der Küche sitzen und so tun, als sei er in schwerwiegende Gedanken versunken. Er würde ihr nicht entgegengehen, nicht auf den Flur hinaustreten, sondern darauf warten, daß sie zu ihm kam. Dann würde er mit tragischer Stimme etwas Herzzerreißendes von sich geben und versuchen, einen möglichst leidenden Eindruck zu machen. Er würde an ihr Mitleid appellieren und sich darüber beklagen, daß er keine Möglichkeit hatte, sich ihr gegenüber wie ein Kavalier zu verhalten und ihr den Hof zu machen, so, wie eine schöne Frau es verdiente, weil er durch die Intrigen von Bösewichten an diese Wohnung gefesselt war . . .
Er konnte sich auch im Flur aufstellen wie ein Götze, sie mit traurigen Augen ansehen und dann kaum hörbar, aber eindringlich sagen: Mein Gott, Kira, meine Liebe, ich hatte solche Angst, ich dachte plötzlich, du kommst nicht wieder, und ich habe verstanden, wieviel du mir bedeutest. . .
Dmitrij ging noch einige mögliche Varianten der Annäherung durch und kam am Ende doch zu keinem Schluß. Er wollte es dem Zufall überlassen. Sollte es kommen, wie es kam.
3
Es ging unmerklich auf den Sonntag abend zu, und Nastja kam es vor, als würde dieser Sonntag schon drei Tage dauern. Vielleicht deshalb, weil sie bereits um vier Uhr morgens aufgewacht war, sich um acht mit General Satotschny im Park getroffen und um elf Uhr begonnen hatte, die Wohnungen in dem Haus abzuklappern, in dem Russanow wohnte. Vielleicht kam ihr die Zeit auch deshalb so endlos vor, weil ihre Gedanken an diesem Tag viele Male die Richtung gewechselt hatten und ständig verschiedenen, völlig gegensätzlichen Hypothesen gefolgt waren. Gegen fünf Uhr nachmittags fühlte sie sich plötzlich völlig zerschlagen und krank. Dem nächtlichen Frost war am Tag Regen gefolgt, jetzt kam durch die Wolken, die der Wind über den Himmel jagte, hin und wieder die Sonne hervor, und Nastja reagierte auf den heftigen Witterungsumschwung mit Schwäche und Schwindel, ihre Hände zitterten. Ihr größter Wunsch war es, sich in eine warme Decke einzuwickeln und zu schlafen.
Nachdem sie nach den Gesprächen mit den redseligen Rentnerinnen nach Hause gekommen war, hatte sie Igor Lesnikow angerufen, sich danach an den Computer gesetzt und, um die Zeit irgendwie totzuschlagen, angefangen, immer wieder die Karte des Moskauer Umlandes mit den markierten Tatorten des unbekannten Scharfschützen zu betrachten. Es befanden sich bereits sechs Markierungen auf der Karte, und Nastja starrte die eingezeichneten Punkte unverwandt an, in der Hoffnung, wenigstens eine vage Gesetzmäßigkeit in ihrer Anordnung zu erkennen.
Gegen sechs rief Ljoscha Tschistjakow an, sie unterhielt sich eine Viertelstunde mit ihm und gab immer wieder falsche Antworten, weil sie nicht aufhören konnte, an den Scharfschützen zu denken, der so weit gegangen war, den Enkel des mächtigen Trofim umzubringen.
»Nastja, komm zu dir!« sagte Ljoscha. »Wo bist du? Ich habe dich gefragt, wie lange du noch am Computer sitzen willst.«
»Vom Zaun bis zum Mittag«, scherzte sie, weil ihr in diesem Moment der Witz vom armenischen Dorfältesten einfiel, dem es gelungen war, Zeit und Raum miteinander zu verbinden.
»Wenn ich nachher vorbeikomme, wirst du mich dann für ein Stündchen an die Maschine lassen? Du hast bestimmt wieder nichts gegessen, ich kaufe unterwegs ein und koche uns was, aber ich werde ein bißchen arbeiten müssen.«
»Was?« fragte sie zerstreut und war plötzlich wie außer sich. »Ljoschenka, du bist ein Genie. Komm schnell! Ich liebe dich.«
»Ist bei dir eine Schraube locker?« fragte Tschistjakow, aber Nastja war sicher, daß er lächelte. »Hast du wenigstens Brot im Haus?«
»Nein, ich habe überhaupt nichts. Sei umarmt, Ljoschenka, ich warte auf dich.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel und stürzte wieder zum Computer. Zeit und Raum miteinander verbinden. Natürlich, das war es! Lieber Gott, wie einfach!
Nastja sprang wieder auf, lief zum Telefon und wählte Tschernyschews Nummer.
»Andrjuscha«, rief sie aufgeregt, als sie Andrejs Stimme in der Leitung vernahm, »bitte besorg sofort einen Fahrplan von allen Zügen, die von Moskauer Bahnhöfen aus ins Umland fahren, und komm so schnell wie möglich zu mir!«
»Wozu?«
»Es muß sein. Bitte Andrjuscha, frag nicht, verlier keine Zeit!«
»Ich wollte gerade Kyrill zu Fressen geben und dann ein bißchen rausgehen mit ihm . . .«
»Tschernyschew, willst du, daß mich der Schlag trifft?!« schrie sie ins Telefon. »Wir haben bereits sechs Leichen, und woran denkst du? Pack deinen Kyrill ins Auto, nimm sein Fressen mit, und fahr los! Du kannst ihn hier füttern und dann mit ihm Spazierengehen.«
»Du bist ein Tyrann im Rock«, murmelte Andrej, mehr pro forma allerdings, weil ihm klar war, daß es wirklich brannte, wenn Nastja Kamenskaja Feuer meldete. Und wenn sie anfing zu schreien, dann mußte höchste Alarmstufe angesagt sein.
4
Die Privatvilla am Standrand von Moskau war von einem schweren, gußeisernen Zaun umgeben, durch den man alles sehen konnte, was nötig war, um ein für allemal den Wunsch zu verlieren, hinter den Zaun des Grundstücks zu gelangen. Das Haus war nach allen Regeln der Kunst gesichert und bewacht, was keinesfalls zu überflüssiger Neugier anregte.
Vitalij Wassiljewitsch Sajnes hielt sich hier nicht gern auf, weil er in diesem Haus seine Nichtigkeit besonders deutlich spürte. Der Hausherr begegnete ihm mit verdeckter Geringschätzung, doch je sorgfältiger er diese Geringschätzung verbarg, desto deutlicher war sie spürbar. Sajnes ertrug es, weil er vom Hausherrn abhängig war.
»Unsere ausländischen Geschäftspartner sind äußerst unzufrieden, weil wir auch die zweite Firma auflösen mußten. Sie mögen keine Verzögerungen in den Geschäftsabläufen, und noch mehr mißfällt ihnen, daß so oft Schwierigkeiten auftreten. Es ist an der Zeit, daß wir etwas unternehmen«, sagte der Hausherr, während er an dem großen, angelaufenen Glas mit kaltem Mineralwasser nippte.
»Aber in Wirklichkeit steht alles gar nicht so schlecht«, widersprach Sajnes zögernd. »In unsere Geschäfte waren nur drei Personen eingeweiht. Zwei von ihnen sind tot, und der dritte wird in den nächsten Tagen ebenfalls verschwinden. Die Unterlagen über die ausgemusterten Geräte und den goldhaltigen Metallverschnitt sind in unserem Besitz. Ich denke, wir haben keinen Grund zur Sorge.«
»Haben Sie vergessen, daß Platonow eine Frau in die Sache eingeweiht hat? Haben Sie auch an diese Frau gedacht?«
»Natürlich. Sie wird ebenfalls verschwinden, zusammen mit Platonow.«
»Und Sie gehen davon aus, daß das genügt, um in Zukunft in Ruhe Weiterarbeiten zu können?« fragte der Hausherr gereizt. »Offenbar haben Sie ganz vergessen, Vitalij Wassiljewitsch, daß es noch jemanden gibt, der Bescheid weiß. Und die Originale der Unterlagen befinden sich bei dieser Person, wir besitzen nur die Kopien. Ziehen Sie diese Person nicht in Betracht?«
»Aber das ist doch unser Mann«, sagte Sajnes mit ehrlichem Erstaunen. »Er arbeitet doch für und nicht gegen uns.«
»Das scheint Ihnen nur so«, sagte der Hausherr mit einem giftigen Lächeln. »Wir können niemandem vertrauen. Ein Mensch, der sich einmal verkauft hat, kann es auch ein zweites Mal tun. Dieser Mann wechselt zu schnell die Seiten und gibt zu schnell seine Position auf. Auf ihn kann man sich nicht verlassen.«
»Warum kann man sich nicht auf ihn verlassen?«
»Erinnern Sie sich daran, wie alles angefangen hat. Er hat Platonows Spur aufgenommen, um herauszufinden, was er in Uralsk sucht. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, warum er das gemacht hat? Nein? Dann werde ich es Ihnen sagen. Er wollte Platonows Ermittlungen sabotieren und ihm unsere heißgeliebte Justiz auf den Hals hetzen. Glauben Sie etwa, er hat das aus Liebe zu uns gemacht? Oder wegen des Geldes, das wir ihm dafür bezahlen? Gewiß nicht, mein lieber Vitalij Wassiljewitsch. Er hat eine persönliche Rechnung mit Platonow zu begleichen. Unser Freund Russanow wollte ihn hinter Gitter bringen oder ihm zumindest eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Nur deshalb hat er sich an die Sache mit Uralsk drangehängt. Und der Kontakt zu ihm ist erst entstanden, nachdem unsere Leute in Uralsk herausgefunden hatten, daß Platonow, der einen Hinweis von diesem Schwachkopf namens Sypko bekommen hatte, als erster in den Unterlagen zu stochern begonnen hatte und ein gewisser Russanow ihm auf den Fersen gefolgt war. Damals haben wir diesen Russanow zu uns kommen lassen, wir haben uns unterhalten und sind zu einem erfreulichen Einvernehmen gekommen. Wir sind ja selbst daran interessiert, daß Platonow abserviert wird, und es kam uns sehr entgegen, daß ein Fachmann diese unangenehme Aufgabe übernommen hat, der zudem ein persönliches Interesse an der Sache hat. Wir bezahlen ihn, und er verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen. Aber Sie müssen zugeben, lieber Vitalij Wassiljewitsch, daß persönliche Motive auf einem Blatt stehen und loyale Zusammenarbeit mit uns auf einem ganz anderen. Da besteht zweifellos ein kleiner Unterschied. Russanow hat sich an uns verkauft, aber deshalb gibt es noch lange keine Garantie dafür, daß er nicht gegen uns arbeiten wird. Man kann nie wissen, was ihm in den Kopf kommt. Und Sie müssen bedenken, daß dieser Mann alles weiß und im Besitz der Originalunterlagen ist. Wie können wir da in Ruhe an die Zukunft denken? Erinnern Sie sich an Bulgakows Berlioz, der auch nicht daran geglaubt hat, daß es den Teufel gibt.«
»Wollen Sie damit sagen, daß . . .« fragte Sajnes zögernd.
»Genau das, verehrter Vitalij Wassiljewitsch. Wir müssen es tun, und zwar so schnell wie möglich. Erst danach werden wir halbwegs sicher sein.«
»Ich weiß nicht mehr, an wen ich mich noch wenden soll. Dem Mann, der mir geholfen hat, ist ein großes Unglück widerfahren, man hat seinen einzigen Enkel ermordet. An ihn kann ich jetzt nicht herantreten.«
»Das sind Sentimentalitäten!« sagte der Hausherr mit eisiger Stimme. »Weibertränen. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Heute haben Sie Mitleid mit ihm, und wer wird morgen Mitleid mit Ihnen haben? Er bestimmt nicht, das garantiere ich Ihnen. In diesem Rudel herrschen Wolfsgesetze. Das war’s, Vitalij Wassiljewitsch, das Gespräch ist beendet. Handeln Sie. Und zögern Sie nicht!«
5
Endlich fand Kira die Kraft, um sich von der Bank zu erheben. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß sie fast drei Stunden hier gesessen hatte. Wie schnell ein Tag vergeht, dachte sie wehmütig. Im Nu wird es Mittwoch morgen sein. Ich muß etwas unternehmen. Aber was?
Sie dachte daran, die Kamenskaja oder General Satotschny anzurufen. Sie würden ihr bestimmt helfen können, sie wußten, wie sie aus der Falle herauskommen konnte, in die sie durch eigene Schuld geraten war. Aber sofort wurde Kira klar, daß sie ein so schwerwiegendes und gefährliches Gespräch nicht am Telefon führen konnte, und ein Treffen war riskant. Es blieb nur noch Russanow übrig, der einzige Mensch, den sie nicht fürchtete, weil er Dmitrijs Freund war. Ein Treffen mit ihm würde keine schlimmen Folgen haben, selbst dann, wenn er danach ihre Spur verfolgen und herausfinden würde, wo Platonow sich versteckte. Sie mußte Sergej anrufen. Das war die einzige Möglichkeit.
Sie ging langsam über den Boulevard und überlegte, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Schon mehrere Telefonzellen waren am Straßenrand aufgetaucht, aber sie ging weiter. Sie erinnerte sich daran, daß sich zwei Häuserblocks weiter, neben dem Kino, eine Telefonzelle befand, aus der sie Russanow schon einmal angerufen hatte. Vielleicht war das ein gutes Omen. Sie würde von diesem Telefon aus anrufen, vielleicht würde es ihr erneut Glück bringen.
Sie betrat die Telefonzelle, nahm ihre Geldbörse aus der Tasche und begann, eine Telefonmünze zu suchen. Mit einem kurzen Blick streifte sie die mit Telefonnummern vollgeschriebene Zellenwand und lächelte, als sie eine der Kritzeleien wiedererkannte. »Lena, ich sterbe ohne dich, warum gehst du nicht ans Telefon?« stand da in schnörkeliger Schönschrift. Schon beim letzten Mal hatte sie an dieser Stelle gelächelt. Etwas weiter oben mußte die Telefonnummer einer Frau mit einem exotischen Namen stehen. Ja, genau, da war sie. 214 10 30 Saule Muchamedijarowna. Name und Nummer waren mit blauem Filzstift an die helle Kunststoffwand geschrieben.
Ein scharfer Schmerz durchfuhr Kira, es war, als hätte man ihr eine glühende Eisenstange in den Hals und bis in die Lenden gestoßen. Jetzt erinnerte sie sich. Und begriff, warum sie sich nach dem damaligen Anruf bei Russanow so unwohl gefühlt hatte, woher ihre diffuse Unruhe gestammt hatte, die Dima an ihr bemerkt hatte. Sie hatte ihm damals gesagt, sie hätte das Gefühl gehabt, etwas falsch gemacht zu haben, und er hatte sie beruhigt, hatte gemeint, daß so etwas normal sei in der für sie ungewohnten Situation.
Damals hatte sie Russanow sagen müssen, daß er an drei mal dreißig plus zehn denken sollte. Als sie zu sprechen begonnen hatte, war ihr Blick an der mit blauem Filzstift geschriebenen Telefonnummer 214 10 30 hängengeblieben, und mechanisch hatte sie die Ziffern umgedreht. Sie müssen an drei mal zehn plus dreißig denken, hatte sie gesagt. Ihr schien, sie könne jetzt noch ihre Stimme hören, die die falschen Ziffern nannte. Wie war es möglich, daß Russanow die Unterlagen, die sie im Schließfach deponiert hatte, dennoch bekommen hatte? Sie hatte ihm die falsche Nummer gesagt, und dennoch hatte er am Abend desselben Tages bestätigt, daß er die Unterlagen dem Schließfach entnommen hatte.
Es konnte nur so sein, daß er von Anfang an wußte, wo diese Unterlagen deponiert waren. Er mußte jemanden zum Bahnhof geschickt haben, der sie beobachtet hatte, während sie die Papiere ins Schließfach legte. Sie hätte ihm jede beliebige Zahl nennen können, sogar einen falschen Bahnhof, er hätte das Kuvert sowieso bekommen. Weil er diese Unterlagen brauchte. Und weil er mitnichten auf Dmitrijs Seite war. Er war nicht sein Freund, er war sein Feind. Und Dima vertraute ihm. . .
Kira verließ rasch die Telefonzelle und ging zur Metro. Sie mußte nach Hause. Sie mußte Dima sehen und ihm alles sagen. Sie mußte ihm sagen, daß er sich in seinem Freund täuschte, daß er ein Verräter war. Alles war sehr viel schlimmer, als sie geglaubt hatten. Ganz offensichtlich hatte man Kira schon damals, vor einer Woche, aufgespürt, man wußte, wo Dmitrij war, und nun wollte man ihm einen Killer auf den Hals hetzen . . .
Aber das durfte sie Dima nicht sagen. Von der Sache mit dem Killer konnte sie nichts wissen. Nur von Russanow würde sie ihm erzählen.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren stieg in ihr eine Welle des Mitgefühls und der Zärtlichkeit auf. Kira Lewtschenko hatte noch nie jemanden geliebt außer ihrem geschiedenen Mann, dafür war sie zu kalt und leidenschaftslos. Manche Männer weckten Interesse in ihr, sie erlaubte ihnen, sie zu umwerben, sie schlief mit ihnen und verbarg dabei ein aufrichtiges Gefühl von Langeweile. Für keinen von ihnen hatte sie je Wärme empfunden, nach keinem hatte sie sich jemals gesehnt, nie hatte sie mit Ungeduld das nächste Treffen erwartet. Aber heute, nachdem sie begriffen hatte, daß sie Platonow nicht ermorden konnte, wurde ihr plötzlich klar, daß er ihr nicht gleichgültig war, daß sie Zuneigung für ihn empfand. Sie hatte sich ein Spiel ausgedacht, sie hatte Dima benutzt, um sich an dem Gefühl der Gefahr zu berauschen, sich einen ungewöhnlichen Kick zu verschaffen, aber schließlich war sie zur Mutter geworden, die ihr Kind bewachte und beschützte, ihm dabei half, aus einer schwierigen und gefährlichen Situation herauszukommen.
Sie ging schneller und schneller, fast im Laufschritt erreichte sie die Rolltreppe. Wenn ihr nicht einfallen würde, wie sie sich selbst und Dima retten konnte, wenn ihr bis Mittwoch morgen nichts einfallen würde, würden sie beide am Abend desselben Tages tot sein. Beider Namen und die Adresse waren bekannt. Sie hatten noch zweieinhalb Tage zu leben. Leben, leben. . .
6
Andrej Tschernyschew erschien mit dem riesigen Kyrill an der Leine, seinem geliebten Schäferhund, in dessen Stammbuch ein langer, kaum auszusprechender Name stand. Tschernyschew hatte ihm nur das K und R entnommen und Kyrill daraus gemacht, so daß sein Hund einen gängigen Menschennamen trug.
»Du machst mir meinen Hund kaputt«, sagte er gleich auf der Türschwelle. »Ein Hund darf nur zu Hause fressen, aus seinem eigenen Napf. Den Napf habe ich mitgebracht.«
»Hast du auch die Fahrpläne mitgebracht?« fragte Nastja und tätschelte Kyrill sanft das Fell. Der Hund war nicht ausgesprochen freundlich, aber er akzeptierte Nastja als alte Bekannte. Einmal, als er sie bei der Jagd auf einen bewaffneten Verbrecher aus dessen Schußlinie brachte, prallte Nastja mit der Schulter gegen eine Eisentür, die nach innen aufging, sie fiel hin, schlug sich das Knie auf und brach sich den Absatz ihres Schuhs ab, wonach Kyrill sich noch lange Zeit schuldig fühlte. Ein anderes Mal, vor anderthalb Jahren, als Nastja von Verbrechern mit der Behauptung bedroht wurde, sie seien im Besitz ihres Wohnungsschlüssels, verbrachte Kyrill eine ganze Nacht mit ihr und beschützte sie nicht nur, sondern tröstete sie sogar.
»Die Fahrpläne habe ich auch mitgebracht. Hier!« Andrej reichte ihr neun dünne Broschüren. »Kannst du mir erklären, was das alles soll?«
»Kann ich«, sagte Nastja, während sie sich an den Computer setzte. »Komm her! Sieh mal, hier sind die Stellen, an denen die Leichen gefunden wurden. Wir sind davon ausgegangen, daß der Mörder immer in etwa dieselbe Entfernung zum Tatort zurückgelegt hat, und unter dieser Annahme haben wir versucht, seinen Wohnort einzukreisen. Aber vielleicht geht es gar nicht um Entfernung, sondern um Zeit. Vielleicht tötet er an den Orten, die er in einer bestimmten Zeit erreichen kann, zum Beispiel in zwei Stunden. Er rechnet nicht in Kilometern, sondern in Stunden und Minuten. Verstehst du den Unterschied?«
»Mehr oder weniger«, sagte Andrej mit einem vagen Kopfnicken. »Aber was folgt daraus?«
»Daraus folgt, daß alles davon abhängt, wie weit entfernt der Mörder von den einzelnen Bahnhöfen wohnt. Die Züge fahren alle gleich schnell, aber bis zu dem einen Bahnhof braucht er fünf Minuten und bis zu einem anderen eine Stunde. Deshalb fährt er von einem Bahnhof hundert Kilometer aus der Stadt hinaus, und von einem anderen nur zwanzig. Wir beide werden uns jetzt die Fahrpläne vornehmen und ausrechnen, wie lange die Züge bis zu den Bahnhöfen fahren, in deren Umgebung die Leichen gefunden wurden. Dabei werden wir davon ausgehen, daß er zu dem am weitesten entfernten Tatort von dem Bahnhof abgefahren ist, der seinem Wohnort am nächsten liegt. Und so weiter. Hast du meine Idee verstanden?«
»Die Idee als solche schon. Ich verstehe nur nicht, wie du sie umsetzen willst.«
»Was gibt es da nicht zu verstehen?« Nastja wurde ärgerlich. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man sie in ihrem Galopp bremste.
»Wir rechnen die Fahrzeiten aus, das ist klar. Aber wie geht es weiter?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Andrjuscha«, winkte Nastja ab. »Ich weiß, wie es weitergeht. Ich bitte dich nur, mir zu helfen.«
»In Ordnung«, seufzte Tschernyschew. »Immer erniedrigst du mich, Anastasija. Denkst dir irgendwelche intellektuellen Finessen aus und läßt mich mit offenem Mund dastehen, anstatt dich hinzusetzen und einem begriffsstutzigen Kollegen geduldig zu erklären, worum es geht.«
»Schämst du dich nicht?« lachte Nastja. »Ein so großer Junge mit solchen Komplexen. Ich kann auch so vieles nicht, ich gehe nicht auf Verbrecherjagd und schieße nicht, ich habe nie Karate gelernt, besitze keine Titel und keine Gürtel, während du das alles mit links machst. Soll ich mich deshalb etwa aufhängen? Soll ich dich deswegen hassen? Du kannst das eine, ich das andere, zum Glück. Hör auf, den Beleidigten zu spielen. Laß uns Freunde sein und Zusammenarbeiten!«
Sie öffneten die Fahrpläne, bewaffneten sich mit Bleistiften und begannen, die Fahrzeiten auszurechnen. Dann zeichnete Nastja irgendeine nur ihr selbst verständliche Tabelle, holte den Stadtplan mit den Metroverbindungen auf den Monitor und deutete feierlich mit dem Finger auf einen nördlichen Stadtbezirk.
»Sieh her! Von hier aus kommt man in fünf Minuten zu dem Bahnhof, wo die Züge in Richtung Riga abgehen, in acht Minuten zu dem Bahnhof, von dem man in Richtung Saweljowsk fahren kann, und in zehn Minuten zu dem Bahnhof, wo es in Richtung St. Petersburg geht. Und genau auf diesen Strecken wurden die Leichen in der größten Entfernung von Moskau gefunden. Ein Weg von fast zwei Stunden. Und jetzt sieh hierher! In Richtung Kiew ist der Mörder ganze vierundvierzig Minuten gefahren, in Richtung Jaroslawsk und Kasan waren es jeweils achtundfünfzig Minuten. Das heißt, es ist völlig offensichtlich, daß die Strecke vom Wohnort zum Tatort in jedem Fall in etwa in derselben Zeit zurückgelegt wurde. Wenn wir in Kilometern rechnen, kommen wir auf einen westlichen Stadtbezirk, der sich allmählich zum Zentrum hin verschiebt. Aber wenn wir in Minuten rechnen, kommen wir auf den nördlichen Stadtbezirk. Und da auf den Abschnitt, der den Metrostationen am nächsten liegt, von denen aus auch die Züge in Richtung St. Petersburg, Saweljowsk und Riga abgehen.«
»Ich habe nicht verstanden, warum du glaubst, daß sein Wohnort ausgerechnet in der Nähe dieser Metrostationen liegt. Ich sehe, daß es sich in jedem Fall um etwa dieselbe Entfernung handelt, aber warum denkst du, daß es eine kurze Entfernung ist? Du nimmst an, daß er hier, an dieser Stelle wohnt, aber er könnte genausogut hier wohnen.« Tschernyschew deutete auf Nordosten, in die Gegend des Mir-Prospekts. »Hier liegt der Rigaer Bahnhof, bis zum Leningradskij-Bahnhof ist es auch nicht weit, und über den Sustschewskij-Wall kommt man sehr schnell zum Saweljowskij-Bahnhof. Warum hältst du so eine Variante nicht für möglich?«
»Weil ich bis fünf zählen kann, mein Lieber. Die Stelle, auf die du gedeutet hast, gehört zu einem ganz anderen Zweig der Metro, und von da aus sind die Entfernungen zum Kiewer Bahnhof und zum Platz der Komsomolzen, wo der Jaroslawsker und der Kasaner Bahnhof sich befinden, sehr unterschiedlich. Aber wenn unsere Hypothese stimmt und es nicht um Kilometer geht, sondern um Zeit, dann muß die Entfernung vom Wohnort des Mörders zu diesen Bahnhöfen jeweils dieselbe sein. Deshalb muß er an der Metrolinie Serpuchowskaja wohnen.«
Tschernyschew erhob sich von dem niedrigen Sessel, den er an den Schreibtisch herangerückt hatte, streckte seine steifen, knirschenden Glieder, sah Nastja verschmitzt an und schnitt ihr eine Grimasse.
»Und trotzdem schieße ich besser als du.«
Nastja wollte einen Witz machen, aber in diesem Moment läutete es an der Wohnungstür.
»Das ist dein Tschistjakow«, sagte Andrej, »er hat bestimmt Fleisch mitgebracht. Wir werden dir jetzt zeigen, wie man ein Essen zaubert, das du nie im Leben zustande bringen würdest, damit du dir nicht allzuviel einbildetest und dich nicht für die Gescheiteste von allen hältst. Die Männer, die es mit dir zu tun haben, werden zu intellektuellen Krüppeln aus Angst vor deinem Gehirn.«
Doch Andrej irrte sich. Vor der Tür stand nicht Nastjas zukünftiger Ehemann, sondern Igor Lesnikow. Er hielt Nastja wortlos ein Notenheft hin, das er vor einer halben Stunde bei Lena Russanowa entdeckt hatte. Auf einer der Seiten fehlte am Rand ein Streifen Papier, der mit der Schere abgeschnitten worden war.
7
Als Platonow das Geräusch des Schlüssels im Schloß der Wohnungstür hörte, erschrak er. Er hatte gewußt, daß dieser Moment kommen würde, weil Kira früher oder später nach Hause kommen mußte. Aber erst jetzt begriff er, daß er in der Tiefe seiner Seele gehofft hatte, daß er um die Konfrontation mit ihr irgendwie herumkommen würde. Dabei hatte er keine Vorstellung davon gehabt, wie das hätte geschehen können. Dadurch, daß Kira von einem Auto überfahren wurde, daß man sie verhaftet hatte, daß ein Raumschiff mit Außerirdischen in Moskau gelandet war? Was hätte geschehen müssen, damit es ihm erspart blieb, mit einer kaltblütigen, wahrscheinlich geistesgestörten Killerin in einer Wohnung allein zu sein? Die letzte Hoffnung war in ihm erstorben.
Die Wohnungstür ging auf, und Platonow hatte immer noch keine Ahnung, was er tun, wie er sich verhalten sollte, um sein Leben zu retten. Er stand stumm da, angelehnt an den Rahmen der Küchentür, und blickte auf die eintretende Frau. Ihm fiel sofort ihre Blässe auf.
»Dima«, sagte sie mit unerwartet heiserer Stimme.
Er bemerkte, daß ihre Lippen zitterten, daß sie Angst hatte. Er schwieg und suchte fieberhaft nach einer Erklärung für ihre Nervosität.
»Dima«, wiederholte sie und streckte ihre Hände nach ihm aus. Er hörte in ihrer Stimme nicht nur Angst, sondern auch Verlangen.
Sie fielen einander wortlos und ohne alle Präludien in die Arme. Platonow riß Kira die Jacke herunter und ertastete den Verschluß ihrer Jeans. Nach zwei Minuten, nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, bemächtigte er sich ihrer im Flur, stehend, es geschah ohne ein einziges Wort und ohne jeden Laut. Man hörte nur das schwere Atmen der beiden und das Quietschen des Stuhles, auf den Kira sich mit den Händen aufgestützt hatte.
Zum ersten Mal in seinem Leben schlief Dmitrij nicht mit einer Frau, sondern paarte sich mit ihr, um sein Leben zu retten. Ihm schien, daß es quälend lange dauerte, daß es niemals enden würde, daß er dazu verdammt war, für immer so dazustehen und die unvermeidlichen Körperbewegungen auszuführen, da er, wenn er innehalten würde, sofort sterben müßte. Die Frau würde ihn töten. Und die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, war die nie endende Paarung mit ihr. Die schreckliche Vision dauerte nur einen Augenblick, aber sie war so deutlich, daß Platonow schwarz vor Augen wurde und ihm schien, daß die Kraft ihn verließ. Zum Glück stöhnte Kira in diesem Moment heiser auf, und er begriff, daß er es geschafft, daß er sich nicht verraten hatte.
Im Flur war es dunkel, Kira war nicht dazu gekommen, das Licht anzuschalten, nachdem sie eingetreten war. Schweigend, ohne einander anzusehen, sammelten sie ihre auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke auf. Platonow ging ins Zimmer, Kira ins Bad. Die Wohnung füllte sich mit einer gespannten, unguten Stille.
Dmitrij zog sich rasch an, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar, stellte den Fernseher an und setzte sich in den Sessel neben dem niedrigen Zeitungstischchen. Er hörte das Rauschen des Wassers im Bad, dann ging die Badezimmertür auf, und er bemerkte, daß diesmal das Geräusch des Türriegels ausgeblieben war. Zum ersten Mal hatte Kira, während sie duschte, die Tür nicht von innen abgeschlossen.
Ich bin ein Idiot, sagte er sich. Ich hätte mit ihr ins Bad gehen müssen, wie es sich für einen anständigen Liebhaber gehört. Es ist ganz offensichtlich, daß sie das erwartet hat. Aber ich habe mich verhalten wie ein Schwein, habe sie benutzt und mich ohne ein Wort vor den Fernseher gesetzt. Doch es war mir unmöglich, sie ins Bad zu begleiten, denn ich bin zwar ein guter Kripobeamter, aber ein schlechter Schauspieler, ich hätte wahrscheinlich meine Augen nicht unter Kontrolle gehabt, sondern ständig auf das Schränkchen gestarrt, in dem der Revolver versteckt ist.
Kira kam nicht ins Zimmer, sondern begann, in der Küche zu hantieren, um das Essen vorzubereiten. Platonow begriff, daß er etwas unternehmen mußte, um die Situation zu retten. Er atmete tief ein, stieß die Luft entschieden wieder aus, stand auf und ging in die Küche.
Kira stand am Fenster und blickte irgendwohin in die Ferne.
»Habe ich dich gekränkt?« fragte Platonow ohne jede Vorrede. »Verzeih mir, Liebste, ich weiß, daß ich grob und unbeherrscht war, das hätte ich nicht tun dürfen . . . Verzeih mir, Kira. Ich habe dir gleich am ersten Tag gesagt, daß du mir sehr gefällst, ich habe dir versprochen, mich zu beherrschen, bis du selbst auf mich zukommst, aber ich bin nicht aus Eisen. Ich habe dich sehr gewollt, ich konnte es nicht mehr aushalten. Verzeih mir!«
»Du hast gewollt? Und jetzt willst du nicht mehr?« fragte Kira mit ruhiger Stimme.
»Jetzt will ich noch mehr«, erwiderte er scherzhaft, dankbar für den einzig richtigen Einfall. »Wie kann ich meine Schuld wiedergutmachen?«
»Du mußt Russanow umbringen«, sagte sie in einem Tonfall, als würde sie ihn dazu auffordern, das Geschirr abzuspülen.
Mein Gott, dachte Platonow voller Entsetzen, sie ist also wirklich verrückt. Und das heißt, daß es für mich wahrscheinlich keine Rettung gibt, wenn es mir nicht gelingt, sofort aus dieser so gastlichen Wohnung zu fliehen. Aber wohin?
»Ich glaube, ich habe mich verhört«, sagte er so gelassen wie möglich, »was muß ich tun?«
»Du mußt deinen Freund Sergej Russanow umbringen. Weil er gegen dich ist. Verzeih mir, Dima, ich habe einen Fehler gemacht, aber aufgrund dieses Fehlers habe ich heute verstanden, daß dein wirklicher Feind Russanow ist.«
»Aber was redest du da, Kira«, sagte Dmitrij mit einem leisen Vorwurf in der Stimme, »das ist unmöglich. Sergej ist seit vielen Jahren mein Freund, warum sollte er gegen mich sein?«
Er fuhr fort, mechanisch irgendwelche sinnlosen Worte aneinanderzureihen, um Kira davon zu überzeugen, daß sie im Irrtum war, aber eine innere Stimme wurde immer lauter. Vielleicht doch, sagte sie, vielleicht doch. Denn wenn es tatsächlich so war, dann wurde alles sofort verständlich. Sergej konnte herausgefunden haben, wer Tarassow war, dachte Platonow, weil er erstens ein erfahrener operativer Mitarbeiter ist und weil er zweitens meinen Charakter sehr gut kennt. Sergej kann Agajew umgebracht haben, weil ich mein Treffen mit ihm vor niemandem verborgen habe, ich habe das Fernschreiben nach Uralsk von unserer Dienststelle abgeschickt und mit Agajew zusammen das Gebäude des Ministeriums verlassen. Und dann wird auch klar, warum die Firma Variant sich aufgelöst hat. Ich habe gedacht, daß Russanow irgendeine Unvorsichtigkeit begangen hat, und mich gewundert, daß einem so erfahrenen, qualifizierten Beamten ein solcher Fehler unterlaufen konnte. Aber vielleicht war es gar kein Fehler, vielleicht war es Absicht. Aber warum? Mein Gott, warum hatte er das getan? Warum?