ELFTES KAPITEL
1
In der Nacht von Samstag auf Sonntag, vom achten auf den neunten April, wachte Nastja kurz nach drei Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie hatte vor dem Zubettgehen eine Schlaftablette eingenommen, in der Hoffnung, daß ihr Gehirn wenigstens für sieben, acht Stunden Ruhe finden würde, aber es wurde nichts daraus. Die Schlaftablette wirkte nur bis etwa halb zwei, um viertel nach drei begann ihr Herz immer lauter gegen die Rippen zu klopfen, und die Augen öffneten sich ganz von selbst.
Nastja wußte, daß sie sehr leicht dem Mitleid verfiel. Und solange sie sich in der Gewalt dieses weichen, sentimentalen Gefühls befand, wählte sie bewußt oder unbewußt Arbeitsmethoden, die diesem Gefühl entsprachen. Wenn es aber geschah, daß Haß und Wut sie packten, wurde sie zur Amokläuferin. Sie sah nicht mehr auf die Uhr, vergaß alle Regeln des Anstands, fühlte keinen Hunger und keine Müdigkeit mehr.
Einen siebzehnjährigen Jungen umzubringen! Zwar wußte Nastja bereits, daß dieser Junge der Enkel des berühmten Trofim war und daß ihn auf der Datscha seine zweiundzwanzigjährige Geliebte erwartet hatte, aber der Ermordete war trotzdem ein Minderjähriger, fast noch ein Kind. Und selbst dann, wenn der Scharfschütze seine Opfer nicht nach dem Zufallsprinzip auswählte, wenn hinter jedem Mord ein Plan stand, ein gut bezahlter Auftrag, wenn die Ermordung des Jungen ein Akt der Vergeltung an Trofim war, wenn alle diese Morde auf das Konto der Mafia gingen, auf das Konto ihrer internen Kriege und kriminellen Auseinandersetzungen – so etwas hätte nicht geschehen dürfen. Man durfte keine Kinder umbringen.
Nastja war mitten in der Nacht mit dem Gedanken erwacht, daß sie diesen verfluchten Killer zu fassen kriegen mußte. Sie mußte es einfach. Sie mußte.
Es hatte nicht mehr viel Sinn, noch einmal einschlafen zu wollen. Nastja schlüpfte aus dem warmen Bett, wickelte sich in einen langen Morgenmantel aus Frottee ein, zog dicke Wollkniestrümpfe an und trottete in die Küche. In ein paar Minuten kochte das Wasser, Nastja brühte sich eine riesige Tasse Kaffee auf, legte ihre Beine auf den Küchenhocker, steckte sich eine Zigarette an und begann, die Ablichtung zu betrachten, die sie am Freitag von Oleg Subow bekommen hatte.
Auf die Bitte ihrer Moskauer Kollegen waren die operativen Mitarbeiter in Uralsk zu Agajews Wohnung gefahren und hatten sämtliche Malblöcke, Alben und Hefte seiner kleinen Tochter nach dem einen durchsucht, in dem ein Papierabschnitt fehlte. Doch sie hatten nichts gefunden. Mehr noch, die Überprüfung ergab, daß die Handschrift auf dem Papierabschnitt nicht von Agajew stammte. Es mußte also so sein, daß er dieses Papier von jemandem bekommen hatte. Aber von wem, wann und an welchem Ort? In Uralsk? In Moskau?
Die innere Unruhe legte sich nicht, im Gegenteil, sie wurde immer stärker, und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Statt dessen tauchten aus dem Nichts zwei polnische Namen auf. Tomaschewski und Kieslowski.
Was für ein Unsinn, dachte Nastja, und schüttelte den Kopf. Boris Viktorowitsch Tomaschewski war ein russischer Literaturwissenschaftler, ein Puschkinexperte. Krzysztof Kieslowski war ein berühmter polnischer Filmregisseur, von dem unter anderem »Ein kurzer Film über das Töten« stammte. Nastja hielt diesen Film für ein Meisterwerk, denn noch niemandem vorher war es gelungen, so offen, direkt und schmerzhaft zu zeigen, daß Gewalt nur Gewalt erzeugt und nichts anderes, und daß die einzige Möglichkeit, die schreckliche Eskalation des Todes aufzuhalten, darin besteht, zu verstehen und auf Rache zu verzichten. Vom einzelnen konnte man das nicht verlangen, der war zu schwach für eine so weise Einsicht, aber vom Staat durfte und mußte man es verlangen.
Das alles war gut und schön, doch wieso hatte Nastjas unausgeschlafenes Gehirn einen Zusammenhang zwischen Puschkin und der Idee der Vergeltung hergestellt? Tomaschewski und Kieslowski. O mein Gott! Das alles hatte überhaupt nichts mit Puschkin und dem Film über das Töten zu tun. Tomaschewski und Kieslowski waren zwei polnische Musiker, Pianisten, die irgendwann einmal sehr bekannt waren und auch in Moskau auftraten. Sie spielten berühmte klassische Musikstücke vierhändig auf zwei Flügeln, von Schubert-Liedern bis zu Beethoven-Sonaten. Die Sonate in g-Moll hatte Nastja damals besonders gefallen.
Von der Beethoven-Sonate sprangen ihre Gedanke plötzlich auf den französischen Thriller mit dem Titel »Todessonate« über. Sie erinnerte sich daran, wieviel Kopfzerbrechen ihr bei der Lektüre dieses Buches damals der Mord an der jungen, alkoholsüchtigen Prostituierten gemacht hatte, der auf den ersten Blick so einfallslos erschien. Jetzt tauchte vor ihrem geistigen Auge der Umschlag des Buches auf, blutrote Streifen, die an einen Notenständer erinnerten, und darüber ein Violinschlüssel.
Trotz des glühend heißen Kaffees verwandelte sich Nastjas Magen plötzlich in einen Klumpen aus Eis. Zehn Punkte am Rand des Papierabschnitts, genauer, zweimal fünf Punkte -konnten das die Enden von Notenzeilen sein? So bekam auch das besondere Papier wie aus einem Kinderheft oder Album einen Sinn. Das Papier eines Notenhefts . . .
Nastja warf einen Blick auf die Uhr, es war noch nicht einmal vier, sie mußte noch mindestens zwei Stunden warten. Um sechs würde sie den General anrufen. Egal, ob das den Regeln guten Benehmens entsprach oder nicht.
2
Der Morgen erwies sich als sehr viel kälter, als er Nastja beim Blick aus dem Fenster erschienen war. Die kleinen Wege im Ismajlowskij-Park waren mit feinem Rauhreif bedeckt, und die matte, freudlose Sonne, die zwischen den Wolken hervorkam, hatte ganz offensichtlich nicht vor, an Kraft zuzunehmen und daran zu erinnern, daß Frühling war.
General Satotschny ging neben Nastja, er trug eine sportliche Hose und eine warme, fellgefütterte Jacke. Nastja sah neidisch auf seine trockenen, sehnigen Hände, an denen er keine Handschuhe trug, offenbar war ihm nicht kalt. Sie selbst war in den zehn Minuten, seit sie aus der Metro gestiegen war, durchgefroren bis auf die Knochen, weil sie zu dünn angezogen war.
»Verstehen Sie, Iwan Alexejewitsch, ich habe keine andere Wahl, als Russanow zu verdächtigen.« Ihre Stimme zitterte vor Kälte, die Lippen waren so taub, daß sie sich nur mit Mühe bewegten. »Ich weiß, daß das nicht nur dumm ist, sondern wahrscheinlich sogar unprofessionell, aber gegen die Logik finde ich gewöhnlich keine Argumente.«
»Aber Sie haben nichts weiter als indirekte Indizien«, widersprach Satotschny, »und wenn es auch sehr viele sind, so können sie doch einen Beweis nicht ersetzen. Das muß Ihnen doch selbst klar sein.«
»Natürlich ist mir das klar. Deshalb bitte ich Sie ja auch um Unterstützung.«
»Sie möchten, daß ich Ihnen helfe, Beweise zu finden?«
»Nein, ich möchte, daß Sie mir helfen herauszufinden, ob die Indizien gegen Russanow nicht ein Beweis für die Schuld eines anderen sein könnten.«
»Das heißt, Sie selbst glauben nicht daran, daß Sergej in die Sache verwickelt ist?«
»Natürlich glaube ich es nicht. Ich sehe keinen Sinn darin. Ich sehe nicht, worin der Vorteil für ihn bestehen könnte.«
»Aber für irgend jemanden hat das alles Sinn.«
»Zweifellos. Und jemand hat einen Vorteil davon. Es hat sich einfach alles so unglücklich gefügt, zuerst für Platonow, jetzt für Sergej. Es sieht so aus, als ob jemand den Verdacht auf die beiden lenken möchte. Und ich möchte herausfinden, wer das ist. Werden Sie mir dabei helfen?«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie durch Ihre Nachforschungen über Platonows bisherige Arbeit herausfinden, wohin die Spur wirklich führt.«
»Nun ja, im besonderen interessieren mich die Einzelheiten dieser Uralsker Geschichte. Vielleicht hat man Tarassow und Agajew umgebracht, weil sie zuviel über die dortigen Machenschaften wußten.«
Der General verlangsamte seinen Schritt, dann blieb er plötzlich stehen. Offenbar waren seine Hände nun auch kalt geworden, denn er fröstelte und steckte sie in die Taschen. Sein schon etwas schütteres Haar entblößte einen imposanten, gut geformten Schädel, und Nastja ertappte sich mit Erstaunen bei dem Gedanken, daß ihr Männer mit angehender Glatze durchaus sehr gut gefallen konnten. Bisher war sie immer der Meinung gewesen, daß man sich für Haarausfall schämen mußte, und die Männer, die ihr gefielen, hatten bisher immer dichtes, gepflegtes Haar gehabt. Jetzt, während sie den fünfzigjährigen General von der Seite betrachtete, stellte sie erneut fest, daß er ihr schrecklich gefiel. Ungeachtet seines schütteren Haars. Ungeachtet dessen, daß er etwas kleiner war als sie. Ungeachtet dessen, daß sie in etwas mehr als einem Monat heiraten wollte. Ungeachtet aller Tatsachen und Umstände. General Satotschny gefiel ihr, basta. Er gefiel ihr als Ermittlungsbeamter, als General, als Vorgesetzter, als Mann.
»Sie sagten, vielleicht. Vielleicht wurden Tarassow und Agajew im Zusammenhang mit Uralsk umgebracht. Und wenn es vielleicht doch anders ist?« sagte der General, das Schweigen endlich durchbrechend.
»Natürlich kann es auch anders sein. Ich kann Ihnen aus dem Stegreif mindestens zehn Gründe nennen, warum innerhalb von drei Tagen zwei Menschen ermordet wurden, Agajew und Tarassow. Uralsk ist nur einer der möglichen Gründe.«
»Dafür der offensichtlichste.«
»Und genau das ist es, was mich mißtrauisch macht. Das Offensichtliche macht mich immer mißtrauisch. Es ist, als ob man etwas mit Gewalt in den Mund gestopft bekommt.«
»Und das mögen Sie nicht?« fragte der General ironisch.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht ausstehen.«
»Sie sind wahrscheinlich eine sehr unabhängige Frau.«
»Ja, das bin ich.«
»Und Sie lassen sich nicht leicht beeinflussen.«
»So ist es. Einmal haben sich gleich zwei Hypnotiseure auf einmal die größte Mühe gegeben, mich in Trance zu versetzen, aber es ist ihnen nicht gelungen.«
»Mögen Sie Haferflocken?«
Nastja stolperte vor Überraschung und ergriff den Ärmel der blauen Jacke, die Iwan Alexejewitsch trug, um nicht zu fallen.
»Haferflocken?« fragte sie ungläubig. »Habe ich richtig gehört?«
»Ja, Sie haben richtig gehört. Ich habe Sie gefragt, ob Sie Haferflocken mögen.«
»Nein, ich hasse Haferflocken.«
»Schade«, sagte der General mit einem gespielten Seufzer. »Und ich mag sie. Da sind unsere Geschmäcker also verschieden . . . Gut, Anastasija Pawlowna, ich werde jetzt kraft meiner Macht als großer Chef die Aufgaben verteilen. Sind Sie einverstanden?«
»Natürlich.«
»Ich werde versuchen, alles herauszufinden, was mit Uralsk zusammenhängt. Und Sie werden sich mit den restlichen neun Gründen befassen, die dazu geführt haben könnten, daß innerhalb kurzer Zeit zwei Menschen ermordet wurden, die mit Uralsk und mit Platonow zu tun hatten. Ich hoffe, Sie finden diese Arbeitsteilung gerecht. Ich als Vorgesetzter übernehme eine Version, und Sie als begabte Untergebene die restlichen neun.«
»Wie Sie meinen, Iwan Alexejewitsch«, sagte Nastja, »danke, daß Sie Uralsk übernehmen.«
»Warum?«
»Ich kann diese ganzen Wirtschaftssachen nicht ausstehen. Mir wird schlecht davon«, gestand sie.
»Ich verstehe nicht.« Der General blieb stehen und sah Nastja durchdringend an. Seine Brauen hoben sich ein wenig über den gelben Augen, er wirkte irgendwie kalt und distanziert. »Was heißt, daß Ihnen schlecht wird von diesen ganzen Wirtschaftssachen?«
»Es heißt, was es heißt«, erwiderte sie in einer Aufwallung von Zorn. »Das einzige Fach, in dem ich auf der Universität eine Zwei hatte, war die Politökonomie. Ich habe nie Zugang zu diesem Bereich gefunden. Das ist offenbar genetisch bedingt, angeboren, dagegen kann man nichts tun. Mir wird schlecht, wenn ich Wörter wie Bank, Kredit, Inflation, Börse, Aktie höre. Das alles langweilt mich entsetzlich. Verstehen Sie?«
»Nein, ich verstehe gar nichts mehr«, sagte der General mit einer Geste des Erstaunens. »Man hat mir von Ihnen gesagt, Sie seien so tüchtig, so begabt, Sie hätten sich mit Mathematik befaßt und würden über ein hervorragendes Gedächtnis verfügen. Sollten Sie tatsächlich nicht in der Lage sein, sich etwas so Simples anzueignen wie die Grundlagen der Wirtschaftstheorie? Sie beherrschen doch vier Fremdsprachen . . .«
»Fünf«, verbesserte Nastja mechanisch.
»Ja? Dann erst recht. Statt dessen sitzen Sie in der Ecke und weinen, weil Sie etwas nicht können, anstatt sich die Tränen zu trocken, ein paar Bücher in die Hand zu nehmen und zu lernen, was nötig ist. Schämen Sie sich!«
»Sie haben mich nicht verstanden, Iwan Alexejewitsch. Sie haben natürlich völlig recht, ich könnte ein paar Bücher in die Hand nehmen und mich in drei Tagen in die Materie einarbeiten. Aber ich will nicht.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil mich das langweilt. Geld ist nie der Urgrund für einen Mord. Es kann der Anlaß sein, es kann auch der zweite Grund sein, aber niemals der erste.«
»Ich verstehe Sie wieder nicht. Ich war immer der Meinung, daß Geld und Habgier zu den am meisten verbreiteten Motiven für Mord gehören. Ist es denn nicht so?«
»Nein, natürlich nicht. Das Motiv ist ein ganz anderes. Es geht darum, wofür jemand das Geld braucht. Und die Antwort auf diese Frage liegt in den ganz gewöhnlichen menschlichen Gefühlen und keineswegs in der Wirtschaftstheorie. Der Mensch will Macht. Er will physischen und materiellen Komfort. Oder er will die Frau erobern, die er liebt. Oder er möchte am Leben bleiben. Für alles das braucht man unter Umständen Geld. Und wenn man dafür etwas anderes bräuchte, würde der Mensch auch töten, aber eben nicht den, der Geld hat, sondern den, der das andere besitzt. Weil es im Menschen etwas gibt, das stärker ist als das biblische Verbot zu töten. Das ist es, was mich interessiert, Iwan Alexejewitsch. Mir ist es nicht wichtig, auf welche Art und Weise jemand zu Geld kommt, wie er es einem anderen wegnimmt, zur Beschäftigung mit diesen Fragen haben wir andere Instanzen, das Amt zur Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen und das Amt zur Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption, in dem Sie arbeiten, Genosse General. Ich will verstehen, warum der Mensch tötet. Wir haben uns daran gewöhnt zu glauben, daß er es tut, weil er viel Geld haben will, und weiter fragen wir nicht mehr. Als wäre der Wunsch, viel Geld zu haben, völlig natürlich, ebenso natürlich wie der Wunsch, zu leben und dabei seine Freiheit zu erhalten.«
»Ist es denn nicht so?« erkundigte sich der General mit Ironie in der Stimme.
»Natürlich nicht. Der Wunsch nach Leben ist in unserer Natur begründet, das ist ein normaler, gesunder Instinkt. Der Wunsch nach Geld steht auf einem anderen Blatt. Was macht ein Mensch, der viel Geld hat, wofür gibt er es aus? Für Nahrung? Für Reisen? Für eine verläßliche Leibwache? Für Frauen? Arbeitet er mit dem Geld oder versteckt er es in einem Koffer oder unter der Matratze und läuft als armer Schlucker herum, weil das Wissen darum, daß er in Wirklichkeit Millionär ist, ihm genügt und einen Wert als solchen für ihn darstellt? Darum geht es, Iwan Alexejewitsch. Wegen dieser Dinge tötet der Mensch, das Geld ist nur Mittel zum Zweck.«
»Sie halten es für möglich, daß hinter den Morden an Agajew und Tarassow keine pekuniären Interessen stehen?«
»Durchaus. Und wenn ich ehrlich bin, hoffe ich, daß es so ist, daß das Geld hier keine Rolle spielt.«
»Aber warum denn?«
»Weil meine Arbeit dann spannender ist. Die Menschen sind viel interessanter als die Wirtschaft.«
»Dann habe ich gut daran getan, daß ich den Teil der Arbeit übernommen habe, der das Wirtschaftliche betrifft, und Ihnen die Alltagspsychologie überlassen habe.«
Sie hatten längst die Metro erreicht und standen auf der offenen Plattform im schneidenden Wind.
»Wo fahren Sie jetzt hin?« fragte Satotschny.
»Nach Hause. Mir ist schrecklich kalt, und außerdem muß ich jetzt mindestens einen Liter starken Kaffee in mich hineinschütten, sonst bin ich kein Mensch, sondern ein Häufchen Elend.«
»Aber warum haben Sie denn nichts gesagt?« fragte Iwan Alexejewitsch enttäuscht. »Dann hätte ich Sie nicht durch diesen Park geschleppt, sondern zu mir nach Hause eingeladen.«
Seine Stimme klang schuldbewußt, aber in seinen Augen stand wieder das warme Licht, das Nastja jetzt zu sagen schien: Ich weiß, daß ich unaufmerksam war, aber Sie werden mir nicht böse sein, nicht wahr? Weil Sie mir gar nicht böse sein können. Weil ich Ihnen gefalle und Sie mir alles verzeihen würden.
»Um mich mit Haferflockenbrei zu bewirten?« fragte Nastja lächelnd.
Sie sah in seine gelb getigerten Augen und war erneut erstaunt darüber, wie gut er ihr gefiel. Früher hatten Männer dieses Typs sie nie interessiert. Was um Himmels willen ging mit ihr vor?
3
Am Sonntag morgen machte Kira sich auf den Weg, um einzukaufen. Die meisten Geschäfte hatten am Sonntag geschlossen, nur die Supermärkte im Stadtzentrum waren geöffnet. Während Platonow ihr dabei zusah, wie sie sich anzog, wiederholte er noch einmal den Auftrag, den sie heute erfüllen sollte. Sie sollte die Kamenskaja anrufen und ihr genau berichten, was Dmitrij am Montag, Dienstag und Mittwoch vor seinem Verschwinden gemacht hatte. Die Kamenskaja hatte darum gebeten, ihr das mitzuteilen, und Dmitrij hielt diese Bitte für durchaus sinnvoll und gerechtfertigt.
Es gelang Kira beim ersten Mal nicht, die Kamenskaja zu erreichen. Das Telefon wurde nicht abgenommen.
4
Erst am Sonntag gelang es Tschernyschew, Boris Schaljagin aufzutreiben, den ehemaligen Europaweltmeister im Sportschießen und jetzigen Kommandeur des Sonderkommandos. Schaljagin war in der Garage und versuchte verzweifelt, seinen unheilbar kranken Moskwitsch ins Leben zurückzurufen. Während er mit Andrej sprach, lag er auf dem Rücken unter dem Bauch seines Autos.
»Eine Neunmillimeter-Stetschkin?« erkundigte er sich. »Das ist ganz normal.«
»Was ist normal?« fragte Tschernyschew. »Etwas genauer bitte.«
»Jeder gute Schütze bevorzugt eine Stetschkin«, erklärte Boris, während er auf dem Boden nach einer Schraube suchte. »Wenn dein Schütze etwas anderes benutzt hätte, hätte ich nachdenken müssen. Aber so ist alles ganz normal.«
»Hältst du es für möglich, daß er einer unserer Mitarbeiter ist?«
»Durchaus. Wo sollte ein ausgebildeter Schütze arbeiten, wenn nicht bei uns? Im Sport hat er keine großen Chancen, es ist schwer, sich als Sportler zu behaupten, also kommt er zu uns, zum Sonderkommando der Miliz. Oder er findet einen Job bei einer der neuen Geheimdienstfilialen. Wer braucht denn sonst noch seine besonderen Fachkenntnisse?«
»Boris, denk bitte genau nach! Kann es sein, daß dieser Mensch einen Dachschaden hat und einfach grundlos einen nach dem andern abschießt? Ich muß wissen, ob es Sinn macht, daß ich weiterhin in den Akten der psychiatrischen Kliniken nach ihm suche, oder ob das die falsche Spur ist.«
»Bei einem normalen Schützen ist das möglich. Bei einem Scharfschützen ist es ausgeschlossen.«
»Worin besteht der Unterschied?«
»Weißt du, was man bei uns sagt? Jeder Scharfschütze ist ein Schütze, aber nicht jeder Schütze ist ein Scharfschütze. Ein Schütze zeichnet sich durch sein Können aus, durch sein Auge, seine Hand. Ein Scharfschütze durch seinen Charakter, seine Persönlichkeit, eine besondere Psyche.«
»Aber warum?« fragte Andrej erstaunt. »Ich möchte den Unterschied verstehen. Vielleicht komme ich in meinen Ermittlungen genau deshalb nicht weiter, weil ich da etwas nicht begreife.«
Schaljagin warf einen Lumpen zur Seite, öffnete die Wagentür, setzte sich auf den Fahrersitz und holte eine Flasche Whisky unter dem Sitz hervor.
»Willst du?« fragte er Tschernyschew. »Aber nur aus der Flasche. Ich wußte ja nicht, daß du kommst, darum habe ich kein Glas mitgebracht.«
»Nein, danke.« Andrej schüttelte den Kopf.
»Ist es wegen der Flasche oder weil du nüchtern bleiben willst?«
»Ich muß nüchtern bleiben. Muß heute noch bei meinem Chef erscheinen.«
»Na dann.« Schaljagin nickte verständnisvoll. »Verstehst du denn wenigstens irgend etwas vom Schießen?«
»So gut wie gar nichts«, gab Andrej zu. »Nur so viel, wie man bei der normalen Ausbildung lernt. Ich erfülle die Norm, aber unsere Normen sind im Vergleich zum Leistungssport nicht einmal die der ersten Schulklasse.«
»Dann werde ich dir ein paar Worte darüber sagen, damit du das Wichtigste verstehst. Ein Schütze muß in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl von Schüssen abgeben, und die Schüsse werden ungefähr das vorgegebene Ziel treffen. Er muß sich zehn Sekunden lang konzentrieren, zehn Schüsse abgeben und dabei versuchen, eine möglichst hohe Trefferdichte zu erreichen. Nach zehn Sekunden kann er sich entspannen und eine Zigarette rauchen. Der Scharfschütze hingegen – das ist eine ganz andere Geschichte. Das ist ein Jäger, der einen Platz aussucht und wartet. Stundenlang. Tagelang. Da gibt es keine Entspannung und keine Zigarettenpausen, weil das Opfer in jeder Sekunde auftauchen kann. Aber das Wichtigste ist, daß der Scharfschütze nur einen Schuß hat. Verstehst du? Nur einen einzigen. Nicht zehn, wie der normale Schütze, sondern nur einen einzigen, von dem alles abhängt. Zum Beispiel hat ein Erpresser eine Geisel genommen und hält sie in einem Haus fest. Du kennst diese Situation.«
»Ja, natürlich.« Andrej, der Schaljagin aufmerksam zuhörte, nickte.
»Es erscheint also der Scharfschütze, er schleicht sich an das Haus heran, bezieht Position und beginnt darauf zu warten, daß der Erpresser eine Unvorsichtigkeit begeht und seinen Kopf wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde aus einer Tür- oder Fensteröffnung herausstreckt. Im Bruchteil einer Sekunde kann man nur einen einzigen Schuß abgeben und nicht zehn. Der Scharfschütze liegt die ganze Zeit auf der Lauer und rührt sich nicht, um sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Da ist weder etwas mit Essen noch mit Rauchen, er darf sich nicht einmal kratzen, wenn es juckt, er darf nicht einmal zur Toilette gehen.«
»Wie das?« fragte Tschernyschew verblüfft, dem so selbstverständliche Dinge aus irgendeinem Grund noch nie in den Kopf gekommen waren.
»Einfach so. Er muß in die Hose machen. Er liegt da und schmort in seinem eigenen Schweiß und Urin. Kurz, ein Scharfschütze ist ein Mensch, der über eiserne Disziplin verfügt. Er kann bewegungslos daliegen oder sitzen und warten, ohne nervös oder ungeduldig zu werden, ohne auch nur für einen Augenblick in der Konzentration nachzulassen. Vom Temperament her muß er Phlegmatiker sein, im äußersten Fall Sanguiniker. Am besten ist es, wenn er emotional kalt ist, ein Mensch, der keine heftigen Gefühle kennt.«
»Warum? Was hat das damit zu tun?«
»Alles. Die Hand eines Scharfschützen darf kein einziges Mal zucken, Andrjuscha. Weder aus Mitleid mit dem Opfer noch aus Haß, noch aus irgendeinem anderen Grund. Die Hand zuckt leicht, wenn man etwas fühlt, nicht wahr? Der Scharfschütze darf weder Mitleid kennen, noch darf er Haß gegen den fühlen, den er umbringen will. Er muß von Natur aus gleichgültig sein oder sich zur Gleichgültigkeit zwingen können, nur dann ist er ein richtiger Scharfschütze. Insofern wirst du ihn kaum unter den Psychopathen finden. Wahrscheinlich ist er ganz normal, das heißt ein Ungeheuer der Extraklasse.«
»Aber wenn er normal ist, dann muß es zwischen den sechs Morden einen Zusammenhang geben«, sagte Andrej nachdenklich. »Und ich kann beim besten Willen keinen Zusammenhang erkennen.«
Schaljagin zuckte mitfühlend mit den Schultern, nahm einen letzten großen Schluck aus der Flasche und versteckte sie wieder unter dem Autositz.
5
Vitalij Nikolajewitsch Kabanow hatte das Gefühl, daß er mit jedem Wort, das er sagte, sein eigenes Grab schaufelte. Mit jedem Wort wurde die Grube tiefer, die er sich selber grub, indem er Trofims Auftrag erfüllt.
»Ein Mann und eine Frau in einer Einzimmerwohnung, zweiter Stock. Das Haus, in dem sich das Geschäft ›Gaben des Meeres‹ befindet. Du hast Zeit bis Dienstag abend. Spätestens am Mittwoch morgen müssen wir uns treffen. Du wirst mir bestätigen, daß du den Auftrag ausgeführt hast, und bekommst dein Honorar. Da dies mein erster Auftrag an dich ist, ist kein Vorschuß vorgesehen. Ist dir alles klar?«
»Ja.«
»Nimmst du den Auftrag an?«
»Ja.«
»Denk gut darüber nach, jetzt kannst du noch ablehnen. Sobald du aus der Tür gegangen bist, beginnt die Uhr zu laufen. Du hast drei Tage.«
»Ich werde den Auftrag ausführen.«
Während Kabanow in die ruhigen, bewegungslosen Augen seines Gegenübers sah, kam er erneut zu dem Schluß, daß hier von einer kranken Psyche nicht die Rede sein konnte. Das ist kein Mensch, dachte Vitalij Nikolajewitsch, das ist eine Tötungsmaschine, die nichts fühlt, die keine Zweifel kennt, keine Angst, kein Erbarmen. Wo kamen Ungeheuer wie diese nur her?
6
Kira ging zum zweiten Mal in eine Telefonzelle und wählte erneut die Nummer der Kamenskaja. Endlich wurde abgenommen, und Kira übermittelte Nastja alles, was Dima ihr aufgetragen hatte.
»Am Montag morgen hat er mit Russanow telefoniert, Sergej wird das bestätigen, denn er hat Dima selbst angerufen, um mit ihm über ein Geburtstagsgeschenk für Lena zu sprechen . . .«
»Moment«, unterbrach die Kamenskaja. »Haben Sie gesagt, daß Russanow am Montag morgen bei Platonow angerufen hat?«
»Ja, gegen neun Uhr.«
»Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht irren, daß es nicht umgekehrt war?«
»Russanow hat Dima angerufen, ich irre mich nicht. So hat Dima es mir gesagt.«
»Gut, fahren Sie bitte fort.«
»Nach dem Telefonat mit Russanow ging Dmitrij in die Garage, setzte sich ins Auto und fuhr zur Arbeit. . .«
Nachdem Kira die Telefonzelle verlassen hatte, ging sie langsam bis zum Boulevard, überquerte die Straße und setzte sich auf eine Bank. Sie mußte nachdenken.
7
Heute entschloß Platonow sich, alle Vorbereitungen zu treffen, um Kiras Wohn- und Schlafzimmer zu tapezieren. Dafür mußte er die Möbel in die Mitte des Zimmers rücken, sie mit einer Plastikplane abdecken und die alten Tapeten von den Wänden ablösen. Als Dmitrij versuchte, die Schrankwand wegzurücken, entdeckte er ein altes Damentäschchen aus Schlangenleder, das zwischen der Wand und dem Schrank klemmte. Seine Hände öffneten das Täschchen, bevor er dazu gekommen war, sich zu fragen, ob er das tun wollte oder nicht.
In dem Täschchen befanden sich Papiere, eine Geburtsurkunde auf den Namen Kira Lewtschenko, ein Universitätsdiplom, eine Scheidungsurkunde, drei Aktien, die Kira offenbar unter dem Einfluß des allgemeinen Aktienfiebers probeweise oder nur zum Scherz gekauft hatte. Außerdem fand Dmitrij eine Urkunde über die Privatisierung von Kiras Wohnung und noch ein seltsames Dokument, in dem einer Soja Fjodorowna Lewtschenko bescheinigt wurde, daß sie Eigentümerin des von einem Wladimir Petrowitsch Lewtschenko belegten Grabes mit der Nr. 67 auf dem Manichinskij-Friedhof war. Platonow sah rasch die restlichen Papiere durch und fand nichts Interessantes. Er war bereits dabei, sie wieder in dem Täschchen zu verstauen, als seine professionelle Neugier doch die Oberhand gewann und ihn zwang, den Reißverschluß des Seitenfaches zu öffnen. Dort entdeckte er zwei Totenscheine. Der eine lautete auf den Namen Soja Fjodorowna Lewtschenko, gestorben 1987, der andere auf den Namen Wladimir Petrowitsch Lewtschenko, der drei Jahre vorher gestorben war.
Mit steifen Fingern verschloß Platonow das Täschchen wieder und legte es auf eines der offenen Schrankfächer. Kiras Eltern waren also tot. Was bedeutete das? Fuhr sie an den Wochenenden in Wirklichkeit zu einem Liebhaber? Das war durchaus möglich. Oder zu irgendwelchen betagten Verwandten, die sie mit Lebensmitteln versorgte? Hatte sie ein Kind, das sie besuchte? Auch das war möglich. Aber warum die Heimlichtuerei? Wie auch immer, jedenfalls besuchte Kira Lewtschenko an den Wochenenden nicht ihre Eltern.
In einer plötzlichen Eingebung lief Platonow ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Er überwand das Gefühl der Peinlichkeit, das ihn beim Anblick der weiblichen Hygiene-Utensilien erneut erfaßte, und griff nach einer großen blauen Schachtel, die sich als unerwartet schwer erwies. Er steckte seine Hand ins Innere der Schachtel und zog einen in mehrere Plastiktüten eingeschlagenen Revolver heraus. Noch bevor er begriff, was er in der Hand hielt, erkannte sein Gehör das typische Rascheln wieder, dessen Herkunft ihm immer unklar geblieben war.
Er schälte den Revolver aus den Plastiktüten heraus, und der ihm bekannte Schießpulvergeruch stieg ihm in die Nase. Mit dem Revolver war erst vor kurzem geschossen worden.
Die Wahrheit, die sich so lange vor ihm verborgen hatte, offenbarte sich schlagartig und schamlos, sie stellte sich demonstrativ zur Schau und verhöhnte ihn ob seiner Einfältigkeit. Lieber Gott, wie blind und naiv er gewesen war! Er hätte das alles längst sehen und begreifen müssen, alles war so offensichtlich, aber er hatte in seiner Dummheit und Eitelkeit nur daran gedacht, ob er mit Kira sofort ins Bett gehen oder es noch hinauszögern sollte.
Er erinnerte sich daran, mit welcher Konzentration und Ausdauer Kira monotone, langweilige Kleinarbeiten erledigte. Wie sie stundenlang in einer erstarrten Pose dasaß und keinen Laut von sich gab. Wie aufrecht und diszipliniert sie vor dem Herd stand, ohne die Schultern zu bewegen oder von einem Bein auf das andere zu treten. Wie sie ohne die geringste Anstrengung auf einem Bein auf dem Wannenrand gestanden hatte, ohne die Balance zu verlieren. Wie sie ihren Kopf, wenn sie ihn wendete oder senkte, immer in ein und derselben Stellung anhielt, so, wie es ihr der Trainer beim Üben des Stillstehens beigebracht hatte. Sie hatte den Körper und die Bewegungen einer ausgebildeten Schützin, und man mußte ein absoluter Dummkopf sein, um das nicht zu bemerken.
Sie kniff nie ein Auge zu, wenn sie auf größere Entfernung etwas erkennen wollte, sondern hielt sich statt dessen die Hand übers Auge. Platonow erinnerte sich, was er im Schießtraining gelernt hatte. Beim Stillstehen arbeitet jeder Muskel. Wenn man auch nur mit dem Auge zwinkert, ist alles aus, das Ziel verloren.
Platonow spürte, wie ihm heiß wurde. Er erinnerte sich daran, wie Kira vor ihm zurückgewichen war, als er sie umarmen und an sich drücken wollte. Gestern, bevor sie das Haus verließ, um angeblich zu ihren Eltern zu fahren, und dann nach ihrer Rückkehr. Natürlich hatte sie zurückweichen müssen, denn sie trug ja unter dem Pullover, hinter dem Bund ihrer Jeans, einen Revolver.
Einen Revolver, aus dem vor kurzem geschossen worden war. Einmal oder öfter? Im Magazin fehlte eine Patrone. Wohin war Kira in der Woche davor gefahren?
Eine ganze Flut von Fragen brach über Platonow herein, zuerst versuchte er, wenigstens irgend etwas zu verstehen, aber dann begriff er, daß es darum gar nicht ging.
Er befand sich in der Wohnung einer kaltblütigen Mörderin. Er hatte sein Leben in ihre Hände gelegt, seine Freiheit. Es war ihm unmöglich, ihre Wohnung zu verlassen, da er bereits seit zehn Tagen auf der landesweiten Fahndungsliste stand und jeder Milizionär ein Foto von ihm zur Hand hatte. Er konnte nicht auf die Straße hinausgehen und sich freiwillig seiner Verhaftung ausliefern, denn in diesem Fall würden die Ermittlungsunterlagen, die er bei sich hatte, in wer weiß welche Hände geraten, und die Sache würde schneller im Orkus verschwinden, als man Zeit hatte, sich auch nur umzusehen.
Aber auch hierzubleiben, war unheimlich. Wenn Kira eine geistesgestörte Mörderin war, die einmal pro Woche einen jungen Mann umbrachte, dann konnte ihr in jedem Moment etwas so Lustiges einfallen, daß Platonow gewiß nicht mehr dazu kommen würde, sich selbst totzulachen.
Was sollte er tun? Den Revolver verstecken? Und wenn sie noch eine zweite Waffe besaß? Sie würde bemerken, daß der Revolver verschwunden war, daß Platonow ihn gefunden hatte, und dann . . .
Alles so lassen, wie es war? Und zu Gott flehen, daß bis zum nächsten Samstag alles vorbei sein würde? Dann würde er diese Wohnung verlassen können, zur Arbeit gehen und an entsprechender Stelle über Kira berichten.
Aber wie konnte er Kira verraten? Eine Frau, die ihm geglaubt, die ihn in ihre Wohnung mitgenommen hatte, die für ihn kochte und gewissenhaft alle seine Anweisungen erfüllte. Eine Frau, die ihm vielleicht das Leben gerettet hatte.
Was sollte er tun? Kira konnte jeden Augenblick nach Hause kommen, er mußte jetzt sofort eine Entscheidung treffen.
8
Kira saß auf der Bank, ohne den kalten Sprühregen zu bemerken, und dachte darüber nach, wie sie ihr Leben retten sollte. Vor zwei Stunden hatte sie den Auftrag bekommen, einen Mann und eine Frau zu ermorden, die in einer Zweizimmerwohnung im zweiten Stock des Hauses wohnten, in dem sich das Geschäft »Gaben des Meeres« befand. Sie hatte den Auftrag bekommen, Dmitrij Platonow zu ermorden und sich selbst.
Ihre ehemalige Schwiegermutter hatte teilweise recht gehabt, Kira verließ sich in der Tat sehr stark auf ihr Äußeres und war bereit, sich die Segnungen des Lebens über das Bett zu erkaufen. Das war an und für sich eine durchaus verbreitete Praxis, aber aus irgendeinem Grund hatte Kira geglaubt, daß niemand auf die Idee käme, ausgerechnet von ihr so schlecht zu denken. Doch die ständigen Monologe der Schwiegermutter hatten sie davon überzeugt, daß ihre wenig originelle Einstellung zum Leben für niemanden ein Geheimnis war. Das hatte Kira damals ziemlich verwirrt, denn sie wußte sehr gut, daß sie nicht gerade ein Ausbund an Lebenstüchtigkeit und Intelligenz war und kaum fähig, es aus eigener Kraft im Leben zu etwas zu bringen.
Nachdem sie ihrem Mann und ihrer verhaßten Schwiegermutter zum Trotz ein Studium begonnen hatte, ergab sich für sie ganz zufällig die Teilnahme an einem Wettbewerb im Sportschießen. Ihr Institut mußte eine Mannschaft zusammenstellen, und eine der Studentinnen, die für diese Mannschaft vorgesehen war, brach kurz vor dem Wettbewerb ihr Studium in Moskau ab und kehrte nach Hause zurück, zu ihren Eltern in die entlegenste Provinz. Der Trainer redete lange auf Kira ein und versuchte, sie davon zu überzeugen, daß sie bei dem Wettbewerb nichts zu tun haben würde. Sie würde nur zur Ersatzmannschaft gehören, und die Gefahr, daß alle Mitglieder der Ersatzmannschaft zum Einsatz kämen und damit schließlich auch sie, stünde eins zu einer Million.
Doch am Ort des Wettbewerbs angekommen, erschien Kira mit den anderen zusammen beim Training und äußerte den Wunsch, auch einmal schießen zu dürfen. Man gab ihr eine Pistole, erklärte ihr in zwei Sätzen, was zu tun war, wie man zielen und den Abzug betätigen mußte, und danach konnte niemand fassen, daß jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe in die Hand genommen hatte, ein solches Resultat erzielen konnte.
Sie erwies sich nicht nur als sehr gelehrig in dieser Sportart, sondern besaß ganz offensichtlich eine natürliche Begabung dafür. Und zudem hatte sie Glück mit ihrem Trainer. Er hatte sofort erkannt, daß die schlanke, langbeinige Schönheit über eine außerordentliche Ausdauer verfügte, über Zielstrebigkeit, ein hohes Konzentrationsvermögen und die Entschlossenheit, niemals aufzugeben, sondern jede noch so geringfügige Aufgabe konsequent bis zum Ende durchzuführen, ohne zu ermüden oder sich ablenken zu lassen. Er war sicher, daß die braunäugige Studentin im zweiten Semester zum Schießen wie geschaffen war. Sie besaß alle Charaktermerkmale einer geborenen Schützin. Davon überzeugte sich der Trainer gleich bei der ersten Übung des Stillstehens. Mit der Waffe wurde bei dieser Übung noch nicht gearbeitet, es wurde nicht geschossen, nur stillgestanden. In Schießposition gehen, Kommando zurück, wieder in Schießposition, und das Dutzende, Hunderte Mal, bis der Schütze es lernte, ganz automatisch in Schießposition zu gehen, bis sich jeder Muskel, jede Körperzelle die einzig richtige, speziell für ihn erarbeitete Position gemerkt hatte. Kira war eine der ganz wenigen, die bei dieser Übung keine Anzeichen von Gereiztheit zeigten, sich über nichts wunderten und nichts fragten, die nicht quengelten, weil sie sich langweilten, und so schnell wie möglich die Waffe in die Hand nehmen wollten. Sie sah das Ziel und verlangte auf dem Weg dorthin kein Vergnügen. Mehr noch, der Trainer sah, daß das monotone alltägliche Training Kira gefiel, weil es für sie die Verheißung eines entfernten Zieles in sich trug: die Erste und Beste zu sein.
Aber der Trainer sah auch anderes. Kira war nicht ehrgeizig. Sie interessierte sich nicht für Titel und Ränge, nicht für Auszeichnungen und Preise, und der Olympiasieger Wladimir Uskow, mit dem ihr Trainer sie einmal zusammenbrachte, bemerkte völlig richtig, daß das Mädchen nicht aus Bescheidenheit so schweigsam war, sondern aus Desinteresse. Kira interessierte nur eins: Was mußte sie tun, um noch besser schießen zu können?
Innerhalb von zwei Jahren gewann Kira Lewtschenko alle nur denkbaren Preise und Medaillen. Damals kam ihr zum ersten Mal der Gedanke in den Sinn, daß es möglich war, mit ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen. Sehr großes Geld. Sehr viel mehr Geld als mit einem schönen Körper.
Der Gedanke blitzte in ihr auf und erlosch sofort wieder. Es war das Jahr 1991, die Kunde von der Mafia, von Auftragskillern, von völlig unkontrolliertem Waffengebrauch und ähnlich beängstigenden Dingen wurde allmählich zur Gewohnheit und versetzte niemanden mehr in Erstaunen. Der Gedanke an eine Verdienstmöglichkeit als Scharfschützin kam Kira immer öfter. Um in Form zu bleiben, kaufte sie auf dem Markt einem langnasigen Schreckgespenst eine gebrauchte Stetschkin und einen großen Vorrat an Patronen ab und fuhr regelmäßig aus der Stadt hinaus, um zu trainieren. Natürlich besuchte sie auch weiterhin ihren Trainer, der nicht verstehen konnte, warum Kira die Mannschaft plötzlich verlassen hatte und an keinen Wettbewerben mehr teilnehmen wollte. Am Schießstand hielt sie ihre Schnelligkeit und Trefferdichte, aber nur im Wald konnte sie die Fähigkeiten an sich erproben, die von einem Scharfschützen verlangt wurden. Geduld. Ausdauer. Bewegungslosigkeit. Konzentration.
Sie mußte lernen, mehrere Stunden in einer Position zu verharren. Und nach qualvollen Stunden des Wartens war nur ein einziger Schuß erlaubt.
In all diesen Jahren arbeitete Kira weiterhin in der Bibliothek namens »Raritäten«, die allen bibliophilen Moskauern durch ihren großen Bestand an alten, teilweise vorrevolutionären Büchern bekannt war. Die Bibliothek nahm zwei Etagen und den Keller eines Gebäudes ein, in dem sich früher eine Bäckerei befunden hatte, eine chemische Reinigung, eine Rechtsberatung und eine Reparaturwerkstatt für Radiogeräte. Die Rechtsberatungsstelle und die Reparaturwerkstatt hatten die Zeit überdauert, während die anderen Räumlichkeiten von neuen Besitzern aufgekauft wurden, die in dem Gebäude Geschäfte und Büros eröffneten.
Eines Tages, als Kira im Kellerraum zu tun hatte, hörte sie plötzlich irgendwelche Stimmen, so nah und deutlich, daß sie sich ungewollt nach Fremden umsah, die ins Allerheiligste der Bibliothek eingedrungen waren, bis sie begriff, daß die Stimmen aus einem anderen Teil des Gebäudes kamen. Dort baute irgendeine neue Firma die alten Räume zu einem Büro um, und die Handwerker hatten in ihrer Arbeitswut die Wand durchbrochen.
Das, was Kira damals zu hören bekommen hatte, weckte ihr Interesse. Sie begriff, daß das Gespräch zwischen dem Firmenchef und seinem engsten Mitarbeiter stattfand, und den Worten der Männer war eindeutig zu entnehmen, daß Bestechung, Erpressung und andere Formen von Wirtschaftskriminalität für sie zum ganz normalen Alltag gehörten, und daß die Geldsummen, die sie auf verschiedenen Konten gehortet hatten, unter anderem auch auf ausländischen, längst jene Grenze überschritten hatten, an der auch für einen sehr anspruchsvollen Menschen der Luxus begann.
Regungslos, kaum atmend, stand Kira da und verfolgte das Gespräch bis zum Ende. Am nächsten Tag ging sie wieder hinunter in den Kellerraum, aber man hatte das Loch in der Wand bereits wieder zugemauert, und sie konnte nichts mehr von dem hören, was hinter der Wand vor sich ging. Ungeduldig wartete sie auf den Abschluß der Renovierungsarbeiten und den Einzug der neuen Firma. Mehrere Wochen beobachtete sie den Chef und wußte nicht, wie sie es anstellen sollte, mit ihm in Kontakt zu kommen.
Die Gelegenheit, ins verheißungsvolle Innere des Büros zu gelangen, ergab sich ganz zufällig. Eines Tages kam eine Lieferung von Büchern vom Buchbinder zurück. Der Fahrer blieb, wie es seine Gewohnheit war, rauchend im Jeep sitzen und beobachtete grinsend, wie Kira die schweren Bücherpakete aus dem Wagen hob. Ein beladenes Auto vor der Bürotür war verdächtig, deshalb war es ganz natürlich, daß Genadij Schlyk sofort auf die Straße herausgekommen war und unauffällig nachsah, wer sich im Innern des Jeeps befand. Er war verantwortlich für Kabanows Sicherheit, deshalb war er bereits in den ersten Tagen durch alle Büros und Einrichtungen im Haus gegangen und hatte sich jedes der zum Glück nicht allzu zahlreichen Gesichter gemerkt. Die Bibliothekarin hatte keinerlei Mißtrauen in ihm erweckt, deshalb ließ er sich dazu herab, ihr seine Hilfe anzubieten.
»Komm, ich helfe dir«, knurrte er unfreundlich und riß Kira die schweren Bücherpakete förmlich aus der Hand.
Der Fahrer verzog abschätzig das Gesicht, weil er offenbar der Meinung war, daß Schlyk sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen, Kira hingegen lächelte ihrem unerwarteten Helfer freundlich zu, sie hielt ihm die Tür auf und streifte dabei mit ihrer Brust flüchtig, aber vielsagend seine Schulter. Das Signal kam an; nachdem die Bücher an ihren Platz gebracht waren, machte Schlyk sich mit Kira bekannt und lud sie zum Abendessen ein.
Das Abendessen verlief in einer anregenden Atmosphäre unausgesprochener Andeutungen und Versprechungen. Am nächsten Tag betrat Kira Kabanows Büro und verlangte nach Genadij. Sie hatte es darauf angelegt, Kabanow selbst zu begegnen, aber sie hatte kein Glück. Schlyk erschien augenblicklich, hakte sie unter und führte sie entschieden auf die Straße hinaus, um sich erst dort zu erkundigen, was passiert war, warum sie an seinem Arbeitsplatz erschienen war, da sie doch ausgemacht hatten, daß er kurz vor Arbeitsschluß zu ihr in die Bibliothek kommen würde. Kira lächelte gewinnend und erklärte, daß sie auf dem Weg in die Bücherzentrale sei, sie sei nur vorbeigekommen, um Bescheid zu sagen, weil sie vielleicht bis sechs Uhr nicht zurück sein würde und Genadij deshalb nicht denken solle, daß sie ihn versetzt habe, bis spätestens halb sieben sei sie wieder zurück. Das stimmte Schlyk sofort wieder freundlich, die Zuverlässigkeit und Voraussicht seiner neuen Bekannten gefielen ihm. Abends gingen sie wieder zum Essen in ein Restaurant.
Natürlich war es für Schlyk eine herbe Enttäuschung, als er erfuhr, daß es Kira nicht um ihn ging, sondern um Kabanow, seinen Chef.
»Was willst du von Vitalij Nikolajewitsch?« fragte er, aber Kira lächelte nur geheimnisvoll.
Schlyk erklärte ihr weitschweifig, daß Vitalij Nikolajewitsch keine fremden Personen von der Straße empfing, wenn Kira ein Anliegen an ihn hätte, so müsse sie es erst ihm, Genadij, vortragen. Vielleicht würde sich dann ein Zusammentreffen mit Kabanow erübrigen.
»Gut«, erwiderte Kira entschieden. »Ich sage es dir, und du richtest es deinem Chef aus. Ich bin ausgebildete Sportschützin. Und ich möchte sehr viel Geld haben. Mehr brauche ich dir nicht zu erklären, Genotschka. Du bist ein kluger Kopf, du weißt selbst, was ich meine.«
»Wie kommst du darauf, daß Vitalij das interessiert?« Schlyk riß die Augen auf vor ehrlicher Verwunderung. Er hatte angenommen, daß die junge Schöne es auf einen Posten als Sekretärin abgesehen hatte oder um Hilfe für irgendeinen Freund bitten würde, der selbst nichts auf die Beine brachte.
»Wir handeln mit Druckmaschinen und nicht mit Sportschützen«, sagte er.
»Bitte richte es ihm aus, Genotschka«, wiederholte Kira liebevoll. »Und erzähl mir nicht, daß ich bei euch an der falschen Adresse bin, verkauf mich nicht für dumm!«
Zwei Tage später kam Schlyk in die Bibliothek.
»Wollen wir hier sprechen, oder hältst du es bis zum Abend aus?« fragte er kalt.
»Ich warte bis zum Abend«, sagte Kira sanft lächelnd, womit sie Genadij nicht wenig erstaunte. Ihm schien, daß sie innerlich glühte vor Ungeduld. Aber offenbar verfügte sie über eine große Ausdauer und Selbstbeherrschung, und in diesem Moment wurde Genadij klar, daß er diese Frau falsch eingeschätzt hatte.
Natürlich konnte er es nicht lassen, sie auf die Folter zu spannen. Er erklärte ihr, daß Kabanow ihn heute bis zu später Stunde brauchen würde, so daß Kira ihn in ihren Angelegenheiten nicht vor halb zwölf Uhr würde sprechen können.
»Gut«, antwortete Kira mit ruhiger Stimme. »Ich werde warten. Wo treffen wir uns?«
Schlyk nannte ihr einen Treffpunkt und dachte schadenfroh daran, daß er ihr nichts Interessantes zu sagen haben würde. Kabanow hatte kein Interesse an ihrem Angebot gezeigt.
»Ich habe dich darauf hingewiesen, daß Kabanow nicht interessiert ist«, sagte er, als sie sich spätabends trafen. »Ernsthafte Geschäftsleute haben keine Zeit für solchen Unsinn, zumal niemand dich kennt und du auch keine Empfehlung vorweisen kannst. Sicher gibt es Leute, die sich für dein Angebot interessieren könnten, aber bei uns bist du an die Falschen geraten. Außerdem muß man, um auf diesem Gebiet zu arbeiten, einen entsprechenden Ruf haben, und du hast nichts dergleichen. Wer bist du denn? Wo kommst du her? Kann man dir vertrauen? Laß diesen Unfug, Mädchen, dir fehlen für so was die Zähne. Bleib schön in deiner Bibliothek sitzen, und suche dir einen ordentlichen Mann, das ist mein Rat für dich. Ich weiß, was ein Straflager ist, ich habe es von innen gesehen, und ich kann dir versprechen, daß dich dort nichts Lustiges erwartet.«
»Ich brauche deine Ratschläge nicht, Genotschka«, antwortete Kira kalt, während sie langsam neben ihm herging und seinen Arm festhielt. »Ich brauche deine Hilfe. Und wenn du sie mir verweigerst, dann muß ich selbst handeln. Ab sofort wird es an jedem Wochenende einen Toten im Umland von Moskau geben. Genickschuß aus fünfundzwanzig Metern Entfernung. Und ich garantiere dir, daß ich kein einziges Mal danebenschießen werde und daß man mich nicht fassen wird. Es wird so lange Tote geben, bis ihr, du und dein Chef, eingesehen haben werdet, daß ihr mit mir Zusammenarbeiten müßt.«
»Bist du wahnsinnig?« fragte Genadij mit leisem Grauen in der Stimme.
»Ich bin zielbewußt«, antwortete Kira ebenso leise. »Und komme nicht auf die Idee, daß deine kindischen Ratschläge und Drohungen mich abschrecken könnten. Laß dich nicht davon täuschen, daß ich eine gutaussehende Frau bin, ich habe Charakter. Ich halte mein Wort.«
Sie entwand sich behende Schlyks Arm, küßte ihn leicht auf die Wange und verschwand.
Gleich am ersten Samstag nach diesem Gespräch fuhr Kira aus der Stadt hinaus, um auf ihr erstes Opfer zu waren. Jetzt, während sie auf der nassen Bank im Regen saß, erinnerte sie sich, wie sie mit dem Zug gefahren und später auf einer Straße umhergegangen war, um Ausschau nach einer günstigen Stelle zu halten, wo sie sich verstecken und auf einen einsamen Vorübergehenden warten konnte. Sie beschloß, daß sie Frauen und alte Leute verschonen würde, sie wollte sich auf junge Männer konzentrieren, die alle etwa im gleichen Alter waren. Die Miliz sollte glauben, daß sie von einem schießwütigen Psychopathen umgebracht wurden.
Damals hatte sie noch befürchtet, daß sie es vielleicht nicht fertigbringen würde, auf ein lebendiges Ziel zu schießen. Es hieß, wenn es darauf ankäme, auf einen Menschen zu schießen, würden viele versagen, nicht jeder sei dazu in der Lage. Aber ihr erster Schuß gelang ihr erstaunlich leicht. Man mußte sich einfach auf sein Ziel konzentrieren und durfte nicht daran denken, daß es sich um ein Menschenleben handelte, um einen lebendigen Menschen, genau wie man selbst. Kira konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren und ließ sich von nichts ablenken.
Inzwischen waren sechs Wochen vergangen, ganze sechs Wochen, und nun hatte ihr Plan sich gegen sie selbst gerichtet.
Nach dem ersten Mord hatte sie mit einem neuen, ihr bisher völlig unbekannten Gefühl die Meldungen aus dem Polizeibericht im Fernsehen verfolgt. Sie werden mich nicht finden, dachte sie triumphierend, sie werden mich niemals finden.
Nach dem zweiten Mord fuhr sie auf die Shitnaja-Straße und blieb direkt vor dem Eingang zum Ministerium für Innere Angelegenheiten stehen. Die Mitarbeiter des Ministeriums gingen in Uniform und in Zivil an ihr vorüber, manche fixierten die schöne junge Frau mit einem ihr gut bekannten Blick und gingen weiter, aber sie blieb mit einem Gefühl ungewöhnlicher Erregung stehen. Ihr seht mich, dachte sie, ihr könnt mich sogar berühren, aber niemand von euch ahnt, daß ich die bin, die ihr sucht. Ich bin eine Verbrecherin. Ich bin eine Mörderin. Ihr müßtet mich auf der Stelle verhaften und ins Gefängnis bringen, aber ihr geht an mir vorbei, lächelt mir zu und denkt daran, daß ihr gern mit mir ins Bett gehen würdet. Kira Lewtschenko war erregt, wie betrunken von ihrem Geheimnis, selten in ihrem Leben hatte sich ihrer so ein Hochgefühl bemächtigt.
Auch nach dem dritten Mord ging sie wieder auf die Shitnaja-Straße. Das Ministerium zog sie an wie ein Magnet. Hier geschah es auch, daß sie zum ersten Mal Dmitrij Platonow erblickte, der vor ihren Augen in sein schönes, teures Auto stieg. Wegen des Autos war er ihr überhaupt erst aufgefallen. Sie hatte ihn unverwandt angesehen und sich sein Gesicht gemerkt. Es wird nicht mehr lange dauern, hatte sie gedacht, dann werde ich auch so ein Auto haben, nein, nicht so eins, sondern ein viel besseres als du. Ich werde es haben, weil es dir nie gelingen wird, mich zu finden.
Nach dem vierten Mord begegnete sie Platonow in der Metro wieder. Er hielt sich mit einer Hand am Griff fest, hatte die Stirn auf den Unterarm gesenkt und schien im Stehen zu schlafen. Er wirkte abgekämpft und erschöpft, und Kira begann, ihn mit Interesse zu betrachten und sich zu fragen, warum er, statt in seinem luxuriösen Wagen, mit der Metro fuhr. Ihre Augen begegneten sich, und in Kira erwachte die Leidenschaft der Spielerin . . .
Sie wußte, was sie tun mußte, um in einem Mann, der ihr gefiel, das Interesse an sich zu wecken. Alles kam genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Während sie von der gesamten Moskauer Miliz gesucht wurde, machte sie die Bekanntschaft eines Kripobeamten. Mehr noch, sie wurde zu seiner Verbündeten und genoß jede Minute mit ihm, weil sie in jeder dieser Minuten die fast unerträgliche Süße des tödlichen Risikos spürte. Sie fuhr aufs Land, um ihr nächstes Opfer zu töten, und er, der Ermittlungsbeamte, brachte sie zur Tür und bat sie, so bald wie möglich zurückzukommen, weil er sie brauchte. Sie kehrte nach Hause zurück und spürte bei jedem Schritt den Revolver, mit dem sie vor zwei Stunden einen Menschen erschossen hatte, den Revolver, der jetzt hinter dem Bund ihrer Jeans steckte, unter dem weiten Pullover, und der Mann von der Kripo erwartete sie an der Tür, er freute sich über ihre Rückkehr und wärmte das Essen für sie auf. Keine Droge der Welt hätte ihr so einen Kick verschaffen können wie dieses Spiel. Und vor ihr lag noch eine weitere neue Erfahrung, falls sie sich entschließen sollte, mit Platonow zu schlafen. Auch das konnte sehr interessant werden.
Platonow gefiel ihr, sie war aufrichtig bereit, ihm zu helfen, sie wollte, daß er aus seiner unangenehmen Lage wieder herauskam, sein normales Leben wieder aufnehmen und wieder als Kripobeamter arbeiten konnte. Kira wünschte ihm nichts Böses, sie war ihm dankbar für die Tage und Stunden, die sie mit ihm verbringen durfte, für dieses ungewöhnliche Hochgefühl, das sie empfand, während sie mit ihm, dem Ahnungslosen, ihr abenteuerliches, gefährliches Spiel spielte. Sie bemühte sich, alle seine Anweisungen so gewissenhaft wie möglich auszuführen, und empfand dabei in aller Schärfe, daß er, der Oberstleutnant aus dem Innenministerium, sein Leben in ihre Hand gelegt hatte. Sie lächelte in sich hinein. Unvorstellbar. So etwas konnte sich niemand ausdenken, das war die reinste Phantastik.
Jetzt aber war aus dem Spiel Ernst geworden. Dimas Leben lag nun wirklich in ihrer Hand, denn sie hatte den Auftrag bekommen, ihn zu töten.
Kira war völlig klar, daß mit der Sache nicht zu scherzen war. Die Leute, zu deren Sphäre sie sich so hartnäckig Zugang verschafft hatte, spielten keine Spiele. Falls sie ihren Auftrag nicht erfüllte, würden sie sie sehr schnell finden und bestrafen. Aber Kira hatte auch nicht vor, ihnen zu gehorchen. Niemals, unter keinen Umständen würde sie Platonow umbringen. Denn während sie auf der Bank auf dem menschenleeren Boulevard saß und sich die kalten Regentropfen von den Lippen leckte, begriff sie plötzlich, daß sie, den Abzugshahn des Revolvers ziehend, mit einer einzigen Fingerbewegung sechs Menschenleben ausgelöscht hatte, ähnlich wie bei einem Kartenspiel, bei dem die Spieler erst die wertlosen Karten ablegen, die Nieten. Man entledigt sich der Nieten, und erst dann beginnt das eigentliche Spiel. Und es war etwas ganz anderes, einen fremden Menschen umzubringen, auf den man schoß wie auf ein bewegliches Ziel, als einen, mit dem man zehn Tage in einer Wohnung zusammengewohnt hatte. Einen Menschen, mit dem man sich unterhalten und für den man gekocht hatte, dem man geholfen und mit dem zusammen man gebangt hatte. Einen Menschen, der einem vertraute. Nein, das war etwas ganz und gar anderes.
Kira mußte etwas einfallen, um Dmitrijs und ihr eigenes Leben zu retten. Dafür hatte sie bis zum Dienstag abend Zeit. Im äußersten Fall bis zum Mittwoch morgen.