25.
»Manchmal eben doch«, sagte der Gerichtsmediziner und zog sich einen Gummihandschuh über. Er war dünn und nervös, hatte ein kantiges Gesicht und blaue Augen, die so schneidend und kalt waren wie der Ort, an dem wir uns befanden. Auf dem Marmor ein mit einem Tuch bedeckter Körper und ein Geruch, der mich an die Zuckerwatte auf Volksfesten erinnerte.
»Das Mädchen«, fuhr der Arzt fort, »hatte einen angeborenen Defekt, von dem, so scheint es, keiner was wusste. Und dieser Defekt«, sagte er und zog sich den anderen Handschuh an, »hat völlig überraschend den Schlag verursacht.«
»Ist ein Hirnschlag nicht sofort tödlich?«, fragte der Commissario.
»Nicht immer«, sagte der Arzt. »In einigen Fällen hat man noch Zeit, Hilfe zu holen.«
Das war es also.
Sarah war es nach dem Telefonat mit ihren Eltern schlechtgegangen. Sie war allein zuhause. Bei den ersten Anzeichen hatte sie einen Schreck bekommen und war aus der Wohnung raus. Sie hatte nach jemandem gesucht, hatte um Hilfe gerufen. Nichts, niemand hatte ihr geholfen. Deshalb wollte sie raus auf die Straße, an die frische Luft, ans Licht. Sie dachte, dass draußen sicher Leute waren, die ihr helfen würden. Aber in der Zwischenzeit verließen sie die Kräfte. Sie klammerte sich ans Aufzuggitter, dann wollte sie die Treppe runter. Aber dort verlor sie das Gleichgewicht, rutschte aus, fiel die gesamte Treppe runter und schlug mit dem Kopf gegen die Treppenkante. Dann versuchte sie, nochmal aufzustehen, und lehnte sich an die Wand, machte ein paar Schritte in Richtung Tür, aber inzwischen waren ihre Arme und Beine bleischwer.
Schließlich lag sie am Boden und konnte sich nicht mehr rühren. Sie schrie und weinte über eine halbe Stunde lang.
Das hatte alles nichts geholfen.
Nur die philippinische Haushälterin war vorbeigekommen. Die sich nicht einmischen wollte und in die Wohnung verschwunden war.
Und so war Sarah schließlich gestorben.
Allein.
Nur die Katze hatte sie gesehen und nicht verstanden, was los war.
Der Commissario nieste und sagte, wir sollten jetzt besser gehen. Er dankte dem Arzt und ging in Richtung Tür. Aber ich wollte noch was wissen und konnte vorher nicht weg.
»Denken Sie, Sarah hätte überlebt, wenn ihr jemand geholfen hätte?«, fragte ich den Arzt.
»Als Gerichtsmediziner kann und darf ich mich nur auf Fakten verlassen, nicht auf Hypothesen. Und die Fakten sagen, dass das Mädchen an einem Gehirnschlag gestorben ist.«
»Komm, wir gehen«, sagte der Commissario zu mir.
Ich war noch nicht fertig.
Der Arzt schob sich die Maske vor den Mund und wollte das Tuch hochheben. Dann hörte er auf und guckte mich einen Moment lang mit seinem schneidenden Blick an.
»Gut möglich«, sagte er.
»Was ist gut möglich?«, fragte der Commissario.
Der Arzt schob die Maske runter.
»Die Frage Ihres Kollegen«, erklärte er. »Man könnte die Hypothese aufstellen, dass das Mädchen hätte gerettet werden können, wenn ihr jemand Hilfe geleistet hätte. Es war kein besonders schwerer Hirnschlag, es hätte gereicht, sie ins Krankenhaus zu bringen.«
»Und dann?«, fragte der Commissario. »Wäre sie wieder gesund geworden?«
»Wenn ich mir die Stelle anschaue, an der die Blutung aufgetreten ist, glaube ich, dass sie in ein paar Monaten wieder vollständig gesund geworden wäre.«
Ich weiß nicht, ob der Commissario und ich in diesem Moment dasselbe gedacht haben. Jedenfalls war es so, als ob der Gerichtsmediziner unsere Gedanken gelesen hätte.
»Bitte denken Sie daran, egal, wie plausibel das ist, es ist nur eine Hypothese, die vor keinem Gericht der Welt zu beweisen ist.«
Der Commissario bestellte sich einen Saft. Ich wollte nichts trinken, mir war immer noch flau im Magen.
»Also lagen wir völlig daneben«, sagte der Commissario.
»Was?«
»Dass sie gar keiner umgebracht hat.«
»Ach so.«
»Vielleicht ist es besser so.«
»Ich weiß nicht.«
Er trank von seinem Saft.
»Wann hast du Urlaub?«, fragte er.
»Was?«
»Urlaub?«
»Haben Sie gehört, was der Doktor gesagt hat?«
»Der Doktor?«
»Über Sarah.«
»Acanfora …«
»Das haben Sie verstanden, oder?«
»Es ist eine Hypothese.«
»Sie hätte vielleicht gerettet werden können.«
»Vielleicht.«
Ich seufzte und bestellte ein Bier.
»Fahren Sie morgen?«, fragte ich.
»Nach Agropoli.«
»Da war ich noch nie.«
»Dort ist es ruhig.«
»Liegt das am Meer?«
»Da ist so viel Meer, wie du willst.«
»Und was machen Sie, am Strand rumliegen?«
»Von wegen Strand – ich habe einen Holzkahn und will zwei Wochen lang keinen sehen.«
»Mein Großvater hat Holzboote gebaut.«
»Wer weiß, vielleicht ist es eins von seinen.«
»Das fand ich toll, dass aus dem Nichts ein Ruder entsteht, eine Ruderpinne, ein halbes Boot.«
Ich trank mein Bier.
»Wenn du zwei Tage frei hast und kommen willst, ich habe Platz genug«, sagte er.
»Danke, Commissario.«
»Hauptsache, du kannst fischen.«
»Und wie! Mit Angelschnur, Angelrute, Schleppnetz, nach Kalmaren …«
»Na, dann kannst du ja kommen.«
Wir lachten ein wenig.
»Irgendwer muss zu Sarahs Eltern«, sagte er.
Ich antwortete nicht.
»Wenn du nicht willst, schicke ich Scarano oder Cipriani. Wie du willst.«
Ich schwieg immer noch.
»Und?«
»Na gut.«
»Na gut was?«
»Ich geh hin.«