Der Atom-Friedhof
Um sieben Uhr abends flog Alex’ Zellentür krachend auf und Conrad stand in Anzug und Krawatte in der Tür. Die elegante Kleidung ließ seinen halb kahlen Kopf, die Gesichtsruine und das blutigrote, zuckende Auge nur noch hässlicher erscheinen. Alex nahm sich vor, zukünftig an Silvester mit den Feuerwerkskörpern vorsichtiger umzugehen.
»Du bist zum Essen eingeladen«, knurrte Conrad undeutlich.
»Nein, danke, Conrad«, antwortete Alex. »Ich bin nicht hungrig.«
»Diese Einladung kannst du nicht ablehnen.« Conrad hob den Arm, um auf seine Uhr zu sehen. Seine Hand saß nicht genau am Gelenk und er musste den Arm sehr hoch halten, um auf die Armbanduhr blicken zu können. »Ich gebe dir fünf Minuten«, sagte er. »Man erwartet dich in angemessener Kleidung.«
»Ich fürchte, ich habe mein Dinnerjackett zu Hause gelassen«, bemerkte Alex sarkastisch.
Conrad überhörte die Bemerkung und schlug die Tür zu.
Alex schwang die Beine vom Bett. Seit seinem gescheiterten Fluchtversuch am Tor hatte er in seiner Zelle auf dem Bett gelegen und überlegt, was wohl als Nächstes passieren würde. Eine Einladung zum Abendessen war so ziemlich das Letzte gewesen, was er erwartet hatte. Von Juan war nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte der junge Wachmann einen scharfen Verweis für seine Unfähigkeit erhalten. Vielleicht war er auch gefeuert worden. Oder erschossen. Alex wusste zwar nicht, was Sarow an diesem Abend mit ihm vorhatte, aber schon bei ihrer letzten Begegnung am Tor war Alex nur ganz knapp mit dem Leben davongekommen. Er erinnerte den General an seinen verlorenen Sohn. Sarow fantasierte wohl immer noch, ihn adoptieren zu können. Sonst wäre Alex längst tot.
Er kam zu dem Schluss, dass es wohl nicht klug wäre, die Einladung zum Abendessen auszuschlagen. Wenigstens hatte er dabei eine bessere Chance, etwas darüber herauszufinden, was hier eigentlich vor sich ging. Würden sie auch das Essen filmen?, fragte er sich. Und wenn ja, wozu? Er nahm ein sauberes Hemd und eine schwarze Hose aus dem Koffer. Dabei fiel ihm ein, dass der verrückte Schuldirektor der Akademie von Point Blanc, Dr.Grief, die Jungen im Internat mit versteckten Kameras ausspioniert hatte. Aber das hier war wohl etwas anderes. Der Film, den Alex im Studio gesehen hatte, wurde geschnitten, neu zusammengesetzt und manipuliert. Sie hatten irgendetwas damit vor. Aber was?
Conrad kam genau fünf Minuten später wieder. Alex wartete bereits. Wieder wurde er aus dem Sklavenhaus zum Haupthaus hinüber geführt. Als er die breite Treppe hinaufging, hörte er klassische Musik, und als sie den Innenhof erreichten, entdeckte er ein Trio– zwei ältere Violinisten und eine korpulente Dame mit Cello–, das vor dem sanft rauschenden Brunnen spielte. Alex glaubte, ein Stück von Johann Sebastian Bach zu erkennen. Ungefähr ein Dutzend Personen hatte sich versammelt, man trank Champagner und aß Kanapees, die von jungen Dienstmädchen mit weißen Schürzen auf Silbertabletts gereicht wurden. Die vier Leibwächter des Präsidenten bildeten eine eng geschlossene, wachsame Gruppe. Weitere sechs Männer der russischen Delegation unterhielten sich mit den Mädchen vom Pool, die glitzernde Pailletten und Schmuck trugen.
Der Präsident sprach gerade mit Sarow. Er hielt in einer Hand ein Glas und in der anderen eine riesige Zigarre. Sarow sagte etwas und der Präsident lachte, wobei Rauchwolken aus seinem Mund aufstiegen. Sarow entdeckte Alex und lächelte.
»Ah, Alex! Da bist du ja! Was möchtest du trinken?«
Offenbar waren die Ereignisse vom Nachmittag bereits vergessen. Oder jedenfalls für den Augenblick. Alex bat um einen Orangensaft, den man ihm sogleich reichte.
»Ich bin froh, dass du da bist, Alex«, sagte Sarow. »Diesen Abendempfang wollte ich nicht ohne dich beginnen.«
Alex erinnerte sich, dass Sarow am Pool eine Bemerkung über eine Überraschung gemacht hatte. Der Gedanke an das bevorstehende Abendessen wurde ihm immer unheimlicher.
Das Trio beendete das Musikstück und einige der Gäste applaudierten. Dann ertönte ein Gong und die Gäste betraten den Speisesaal. Es war derselbe Raum, in dem Alex und Sarow das Frühstück eingenommen hatten, aber jetzt hatte man dort alles für ein Bankett hergerichtet. Kristallgläser und glänzend weißes Porzellangeschirr standen auf dem Esstisch; das Besteck war auf Hochglanz poliert worden. Das weiße Tischtuch wirkte wie neu. Der Tisch war für dreizehn Personen gedeckt– sechs an jeder Seite und ein Stuhl am Kopfende. Die Anzahl der Gäste verstärkte Alex’ ungutes Gefühl. Dreizehn beim Abendessen– das konnte nur Unglück bedeuten.
Alle nahmen ihre Plätze ein. Sarow saß am Kopfende, mit Kirijenko zur Rechten und Alex zur Linken. Die Türen öffneten sich und die Dienstmädchen trugen Schalen herein, die mit einer schwarzen Masse gefüllt waren– Kaviar, wie Alex bemerkte. Vermutlich hatte Sarow den Kaviar direkt vom Schwarzen Meer einfliegen lassen– der Inhalt der Schalen musste viele Tausend Dollar wert sein! Zum Kaviar trinken Russen traditionell Wodka, und während die üppigen Kaviarschalen überall auf dem Tisch verteilt wurden, erhielten die Gäste kleine, bis zum Rand gefüllte Wodkagläser.
Sarow erhob sich.
»Meine lieben Freunde!«, begann er. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich Englisch spreche. Leider befindet sich ein Gast an diesem Tisch, der unsere ruhmreiche Sprache erst noch lernen muss.«
Die Gäste lächelten und ein paar Köpfe nickten in Alex’ Richtung. Alex starrte verlegen auf das Tischtuch und wusste nicht, ob von ihm eine Antwort erwartet wurde.
»Für mich hat der heutige Abend eine ganz besondere Bedeutung«, fuhr Sarow fort. »Was kann ich Ihnen über Boris Nikita Kirijenko erzählen? Er ist seit über fünfzig Jahren mein engster und teuerster Freund! Das kommt mir eigenartig vor, weil ich mich eigentlich an ihn als ein Kind erinnere, das gern Tiere quälte, immer weinte, wenn sich andere Jungs prügelten, und das nie die Wahrheit sagte.« Alex blickte zu Kirijenko hinüber. Der Präsident runzelte die Stirn. Sarow machte vermutlich Witze, aber sein Gast fand das nicht besonders komisch. »Noch unglaublicher ist, dass man diesem Mann das Privileg, die heilige Ehre übertrug, unsere ruhmreiche Nation in diesen schweren Zeiten zu führen. Nun, Boris ist zu uns gekommen, um hier seinen Urlaub zu verbringen. Ich bin sicher, dass er nach so viel harter Arbeit den Urlaub verdient. Deshalb bringe ich meinen Toast auf seinen Urlaub aus! Ich hoffe, dass er länger und unvergesslicher werden wird, als sich Boris das je vorgestellt hätte!«
Am Tisch herrschte betroffenes Schweigen, Alex sah, dass die Gäste sich wunderten. Vielleicht hatten sie auch Sarows englische Ansprache nur teilweise verstanden, aber er glaubte, dass sie den Sinn sehr wohl begriffen hatten. Sie hatten hier ein gutes Abendessen in angenehmer Atmosphäre erwartet; stattdessen hatte Sarow dem russischen Präsidenten offenbar Beleidigungen aufgetischt!
»Alexei, alter Freund!«, rief der Präsident gutmütig. Er schien entschlossen, die Sache nur als misslungenen Scherz abzutun. Lächelnd fragte er auf Englisch mit seinem harten Akzent: »Warum trinkst du nicht mit uns?«
»Du weißt, dass ich keinen Alkohol trinke«, gab Sarow zurück. »Und du wirst auch verstehen, dass mein Sohn mit vierzehn Jahren für Wodka ein wenig zu jung ist.«
»Ich habe meinen ersten Wodka schon mit zwölf getrunken«, widersprach der Präsident.
Das überraschte Alex in keiner Weise.
Kirijenko hob sein Glas: »Na zdarovie!«, rief er laut. Das war so ziemlich der einzige russische Ausdruck, den Alex kannte: Zum Wohl!
»Na zdarovie!«, stimmten die übrigen Gäste in den Toast ein.
Wie auf Kommando setzten alle gleichzeitig das Glas an die Lippen und kippten in bester russischer Tradition den eisgekühlten Wodka hinunter.
Sarow wandte sich an Alex. »Jetzt geht es los«, sagte er ruhig.
Einer der Leibwächter des Präsidenten zeigte zuerst eine Reaktion. Er hatte gerade nach einer Kaviarschale gegriffen, als plötzlich seine Hand zu zucken anfing. Gabel und Schale fielen krachend auf den Tisch. Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Eine Sekunde später fiel ein Mann am anderen Tischende nach vorn, schlug mit dem Kopf auf dem Tisch auf und sein Stuhl kippte unter ihm weg. Starr vor Schreck beobachtete Alex die Szene, die dann folgte. Fast alle anderen Personen am Tisch zeigten jetzt ähnliche Reaktionen. Einer fiel rückwärts und riss die Tischdecke mit sich, sodass Gläser und Bestecke auf seinen Schoß prasselten. Mehrere Gäste sanken einfach in ihren Stühlen in sich zusammen. Einem der Leibwächter gelang es noch, auf die Beine zu kommen und unter seiner Jacke nach der Waffe zu fummeln, aber dann wurde sein Blick glasig und er brach zusammen. Boris Kirijenko hielt sich am längsten. Er war aufgestanden und schwankte wie ein tödlich getroffener Bulle. Offenbar war ihm noch bewusst geworden, dass er verraten worden war, denn seine Hände waren zu Fäusten geballt, als wolle er den Mann niederschlagen, der das alles getan hatte. Doch dann sank er schwer auf seinen Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht umkippte. Der Präsident schlug auf dem Boden auf.
Sarow murmelte ein paar Worte auf Russisch.
»Was haben Sie getan?«, schrie Alex mit sich überschlagender Stimme. »Sind sie…?«
»Sie sind nur betäubt, nicht tot«, sagte Sarow gelassen. »Natürlich werden wir sie töten müssen. Aber jetzt noch nicht.«
»Was haben Sie vor?«, schrie Alex außer sich. »Was wollen Sie denn noch tun?«
»Wir haben eine lange Reise vor uns«, sagte Sarow. »Ich erzähle es dir, wenn wir unterwegs sind.«
Das gesamte Gelände war jetzt von Scheinwerfern hell erleuchtet. Männer– vom Wachpersonal, aber auch Macheteros– rannten hin und her. Alex trug noch immer die Kleider, die er für das Abendessen angelegt hatte. Sarow hingegen hatte seine dunkelgrüne Militäruniform angezogen, doch ohne Orden und Medaillen. Eine der schwarzen Limousinen wartete mit laufendem Motor vor dem Haus. Conrad saß am Steuer eines Militärlastwagens. Zwei Wächter tauchten am Haupteingang der Casa d’Oro auf, und im selben Augenblick schienen alle mitten in ihren Bewegungen zu erstarren. Die beiden Männer stiegen langsam und vorsichtig die Haupttreppe herab. Sie trugen einen schweren Gegenstand zwischen sich.
Es war eine silberne Kiste, ungefähr von der Größe eines Spinds in einem Sportstadion. Alex konnte erkennen, dass die obere Seite aus glattem Metall bestand, während an einer anderen Seite Drehschalter und Schaltknöpfe angebracht waren. Zudem befand sich dort ein Mechanismus, der wie der Kartenschlitz an einem Bankautomaten aussah. Sarow beobachtete die beiden Männer aufmerksam, als sie die Kiste in den Lastwagen luden. Auch alle Übrigen starrten gebannt auf die Szene, als seien die beiden Männer soeben mit der Reliquie eines Heiligen aus einer Kirche gekommen. Aber Alex wusste, dass nichts Heiliges in der Kiste war. Er wusste sehr genau, was darin war. Dafür brauchte er keinen Geigerzähler.
Die Kiste war die Atombombe.
»Alex?« Sarow hielt ihm einladend die Tür der Limousine auf. Benommen stieg Alex ein. Ihm war klar, dass jetzt die letzte Phase dieser absurden Geschichte begann. Sarow hatte seine Karten aufgedeckt und eine Serie von Ereignissen in Bewegung gesetzt, die niemand mehr aufhalten konnte. Aber selbst jetzt, in der Endphase, hatte Alex immer noch keinen blassen Schimmer, was der General mit der Atombombe vorhatte.
Sarow setzte sich neben ihn. Ein Fahrer stieg ein und sie fuhren los; Conrad folgte mit dem Lastwagen. Im letzten Augenblick, bevor sie die Schranke am Eingangstor hinter sich ließen, warf Sarow einen kurzen Blick zurück. Alex sah seinen Gesichtsausdruck und wusste plötzlich, dass der General nicht die geringste Absicht hatte, jemals hierher zurückzukehren. Hundert Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber er wagte nicht, etwas zu sagen. Das war nicht der richtige Augenblick. Sarow saß still zurückgelehnt, die Hände ruhig auf den Knien. Trotzdem konnte auch er seine Anspannung nicht völlig verbergen. Er musste jahrelang auf diesen Tag hingearbeitet haben.
Sie fuhren über dunkle Straßen; nur die gelegentlich aufblitzenden Lichter in der Ferne zeigten, dass die Insel bewohnt war. Kein einziges Auto begegnete ihnen. Nach ungefähr zehn Minuten kamen sie an einigen Gebäuden vorbei und Alex sah Männer und Frauen vor ihren Häusern sitzen. In der warmen Nacht saßen sie zusammen, tranken Rum, spielten Karten und rauchten. Alex glaubte, dass sie sich jetzt in den Vororten von Santiago befinden mussten, und tatsächlich bogen sie kurz darauf in eine Straße ein, die Alex bekannt vorkam. Nach seiner Ankunft war er auf dieser Straße zum Hotel gefahren worden. Also fuhren sie jetzt zum Flughafen.
Dieses Mal gab es keinerlei Sicherheitskontrollen, keine Warteschlangen vor der Passkontrolle. Sarow musste nicht einmal durch das Hauptterminal. Zwei Flughafenbedienstete erwarteten ihn an einem Tor, sodass der kleine Konvoi direkt zur Startbahn fahren konnte. Alex blickte über die Schulter des Fahrers nach vorne und sah, dass ein Lear-Jet allein neben der Startbahn geparkt war. Der Konvoi hielt an.
»Aussteigen!«, befahl Sarow.
Über die Startbahn fegte ein Windstoß, der nach Kerosin roch. Alex blieb neben der Limousine stehen, während die silberne Kiste in das Flugzeug verladen wurde. Conrad brüllte Befehle. Alex konnte kaum glauben, dass ein so alltäglich aussehender Gegenstand solche gewaltigen Zerstörungen anrichten konnte. Filmszenen, die er einmal gesehen hatte, schossen ihm durch den Kopf– Flammen und gewaltige Stürme, die über die Städte fegten und sie buchstäblich zerrissen. Einstürzende Wolkenkratzer. Menschen, die in Sekunden zu Asche verbrannten. Autos und Busse, die wie Spielzeug herumwirbelten und verschwanden. Wie konnte eine Bombe, die so gewaltige Kraft entfaltete, in eine so kleine Kiste passen? Conrad schloss eigenhändig die Ladeklappe des Flugzeugs; dann wandte er sich zu Sarow um und nickte. Sarow signalisierte Alex einzusteigen. Unwillig setzte sich Alex in Bewegung, stieg die Gangway zum Flugzeug hinauf, Sarow war dicht hinter ihm. Conrad folgte mit den beiden Männern, die die Kiste getragen hatten. Die Flugzeugtür schloss sich hinter ihnen und wurde verriegelt.
Noch nie hatte Alex ein solches Flugzeug gesehen. In der Kabine, die einem luxuriösen Salon glich, befand sich nur ungefähr ein Dutzend Sitze, alle ledergepolstert. Sie war lang, mit dickem Teppichboden ausgelegt und verfügte über eine gut ausgestattete Bar sowie eine Bordküche. Vor dem Cockpit war ein Plasma-Fernsehbildschirm angebracht. Alex fragte gar nicht erst, welcher Film auf dem Programm dieser seltsamen Fluggesellschaft stand. Alle Sitze waren Fensterplätze. Sarow setzte sich in seine Nähe, aber auf die andere Seite des Flugzeugs. Conrad saß im Sitz hinter Sarow und die beiden Wachleute am entfernten Ende des Abteils. Alex fragte sich, warum die beiden Männer mitflogen. Sollten sie ihn etwa bewachen?
Überhaupt: Wohin ging die Reise? Würden sie nach Amerika fliegen oder über den Atlantik?
Sarow musste seine Gedanken erraten haben. »In ein paar Minuten werde ich dir alles erklären«, sagte er, »sobald wir in der Luft sind.«
Es dauerte jedoch noch eine gute Viertelstunde, bevor der Lear-Jet auf die Startbahn rollte und sich dann scheinbar schwerelos in die Luft erhob. Beim Start wurde die Kabinenbeleuchtung abgedunkelt, aber als sie die Flughöhe von 10000Metern erreicht hatten, ging die Beleuchtung wieder an. Die Wächter standen auf und servierten Tee. Sarow erlaubte sich ein kurzes zufriedenes Lächeln. Er drückte auf einen Knopf an der Armlehne seines Sessels und schwang sich zu Alex herum.
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dich nicht getötet habe«, begann er freundlich. »Heute Mittag, als ich dich in dem Auto entdeckte… glaub mir, ich war nahe dran. Conrad ist immer noch wütend auf mich. Er glaubt, dass ich einen großen Fehler mache. Aber er versteht mich eben nicht. Ich will dir jedoch sagen, warum du noch lebst, Alex. Du arbeitest für den britischen Geheimdienst. Du bist ein Spion. Und du hast nur deine Pflicht getan. Diese Haltung bewundere ich, und sie ist auch der Grund dafür, dass ich dir vergeben habe. Du bist deinem Land treu, so wie ich meinem Land treu bin. Mein Sohn Wladimir starb für sein Land. Und ich bin stolz, dass du bereit warst, dasselbe für dein Land zu tun.«
Was das Sterben betraf, war sich Alex da nicht so sicher, aber es war wohl nicht der richtige Moment, dem Ex-Offizier zu widersprechen. »Wohin fliegen wir?«, wollte er wissen.
»Nach Russland. Um genau zu sein: Wir fliegen nach Murmansk, einem Hafen auf der Halbinsel Kola.«
Murmansk! Alex versuchte sich zu erinnern, ob er den Namen schon einmal gehört hatte. Er kam ihm irgendwie bekannt vor. Hatte er ihn vielleicht in den Nachrichten gehört? Oder im Unterricht? Ein Hafen in Russland! Aber warum flogen sie dorthin? Und warum mit einer Atombombe im Reisegepäck?
»Möchtest du nicht wissen, welche Flugroute wir nehmen?«, fragte Sarow. »Wir überqueren den Atlantik auf der Nordroute. Das heißt, dass wir über den Polarkreis fliegen. Das ist im Grunde eine Abkürzung, denn wir folgen der Erdkrümmung. Unterwegs werden wir zweimal zwischenlanden müssen, um aufzutanken. Einmal in Gander in Nordkanada, das zweite Mal auf den Britischen Inseln, in Edinburgh.« Sarow war das hoffnungsvolle Aufleuchten in Alex’ Augen nicht entgangen, denn er fügte schnell hinzu: »Ja, du wirst also morgen für ein oder zwei Stunden wieder in deinem Heimatland sein. Aber komme nicht auf falsche Gedanken. Ich werde dir nämlich nicht erlauben auszusteigen.«
»Dauert es wirklich so lange, bis wir dort sind?«, fragte Alex.
»Ja. Ich habe die Zwischenlandung und den Zeitunterschied berücksichtigt. Außerdem kann es sein, dass uns die kanadischen und die britischen Behörden als Diplomaten behandeln. Das hier ist nämlich Kirijenkos Privatjet. Wir haben unseren Flugplan bei der Flugsicherungsbehörde Eurocontrol angemeldet und natürlich haben sie sofort die Registrierungsnummer erkannt. Sie werden glauben, dass sich der Präsident an Bord befindet. Ich kann mir vorstellen, dass uns die kanadische oder die britische Regierung unbedingt ihre Gastfreundschaft anbieten will.«
»Wer fliegt denn das Flugzeug?«
»Kirijenkos Pilot, aber er ist mir treu ergeben. Sehr viele gewöhnliche Russen glauben an mich, Alex. Sie blicken in die Zukunft– die Zukunft, die ich schaffen werde. Sie ziehen sie der anderen Version vor, die ihnen Kirijenko und seinesgleichen bieten.«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was denn diese Zukunft sein soll. Und warum wir nach Murmansk fliegen.«
»Ich werde es dir jetzt erklären. Aber danach werden wir beide schlafen, denn wir haben eine lange Nacht vor uns.«
Sarow schlug die Beine übereinander. Eine Leselampe beleuchtete ihn von oben, sodass seine Augen und sein grausamer Mund im Schatten lagen. In diesem Augenblick wirkte er sehr alt und sehr jung zugleich. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Murmansk«, begann er, »ist der Heimathafen der russischen U-Boot-Flotte. Oder war ihr Heimathafen. Heute ist es, salopp ausgedrückt, der größte Atomschrottplatz der Welt. Russland ist vor über zehn Jahren als Weltmacht abgetreten, und die Folge war, dass seine Armee, seine Luftstreitkräfte und seine Marine sehr schnell zusammenbrachen. Ich habe dir ja schon zu erklären versucht, was mit meinem Land in den letzten dreißig Jahren geschehen ist. Dass man es auseinanderfallen ließ, dass man duldete, dass Armut, Verbrechen und Korruption das Volk aussaugten. Nun, dieser Verfall wird in Murmansk ganz besonders deutlich sichtbar.«
»Warum gerade dort?«, unterbrach ihn Alex.
»In Murmansk liegt eine ganze Flotte von Atom-U-Booten vor Anker«, erklärte Sarow. »Wenn ich sage, dass sie ›vor Anker liegt‘, dann meine ich eigentlich, dass man sie vor sich hinrosten lässt. Eines dieser U-Boote, die Lepse, ist mehr als vierzig Jahre alt und enthält sechshundertzweiundvierzig nukleare Brennstäbe. All diese U-Boote hat man sich selbst überlassen und sie fallen buchstäblich auseinander. Sie interessieren niemanden. Niemand hat genügend Geld, um sich um dieses Problem zu kümmern. Es ist eine gut dokumentierte Tatsache, Alex, dass diese alten Atom-U-Boote für die Welt heute die größte Bedrohung darstellen. Und es gibt Hunderte solcher Schiffe! Ich rede hier davon, dass sie ein volles Fünftel aller nuklearen Brennstoffe enthalten, die es auf der Welt gibt! Das sind Hunderte tickende Zeitbomben, die darauf warten, in die Luft zu gehen. Ein GAU– der Größte Atomare Unfall der Welt. Und ich habe beschlossen, diesen GAU auszulösen.«
Alex verschlug es buchstäblich die Sprache. Nach einer Weile öffnete er den Mund, aber Sarow hob abwehrend eine Hand.
»Lass mich dir erst erklären, was passieren würde, wenn auch nur eines dieser U-Boote explodieren würde«, fuhr er fort. »Zuerst würde eine riesige Zahl von Russen auf der Halbinsel Kola und im nördlichen Russland sterben. Viele weitere Menschen würden in den Nachbarstaaten Norwegen und Finnland sterben.
Der Wind bläst zurzeit in westlicher Richtung, was für diese Jahreszeit ungewöhnlich ist, und das bedeutet, dass der nukleare Niederschlag in Form einer riesigen Giftwolke über Kontinentaleuropa und auch über dein Land ziehen würde. Es wäre sehr gut möglich, dass London unbewohnbar würde. In den folgenden Jahren würden Tausende krank werden und einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben.«
»Aber warum wollen Sie das dann tun?«, schrie Alex außer sich. »Warum wollen Sie die Explosion auslösen? Wem nützt das etwas?«
»Ich will es mal so ausdrücken, Alex: Ich schicke der Welt einen Weckruf«, erklärte Sarow. »Morgen Abend werde ich in Murmansk landen und die Bombe, die du gesehen hast, genau zwischen den U-Booten platzieren.« Er fasste in die Brusttasche seines Jacketts und zog eine kleine Plastikkarte heraus. Sie hatte einen schmalen Magnetstreifen auf einer Seite und sah aus wie eine Scheckkarte. »Das ist der Schlüssel, der die Bombe auslösen wird«, sagte er. »Alle Codes und Informationen, die dafür nötig sind, wurden auf dem Magnetstreifen gespeichert. Ich muss nur die Karte in den Schlitz des Kartenlesegeräts an der Bombe schieben. Wenn die Bombe explodiert, werde ich bereits auf dem Weg nach Moskau sein, sodass sie mir nichts anhaben kann.«
Alex stöhnte leise und verbarg das Gesicht in den Händen.
»Die Explosion wird in jedem Land der Welt zu spüren sein. Du kannst dir sicherlich das Entsetzen vorstellen, das diese Katastrophe verursachen wird. Niemand wird wissen, dass sie durch eine Bombe ausgelöst wurde, die bewusst nach Murmansk gebracht worden war. Man wird glauben, dass eines der U-Boote explodiert sei. Die Lepse vielleicht, oder eines von den anderen. Ich habe ja bereits gesagt– es ist ein GAU, der jede Minute von allein eintreten könnte. Und wenn er sich dann ereignet, wird kein Mensch die Wahrheit vermuten.«
»Doch, das werden sie!«, schrie Alex. »Die CIA weiß, dass Sie Uran gekauft haben. »Sie werden auch entdecken, dass ihre Agenten tot sind…«
»Aber, Alex, niemand wird der CIA glauben! Niemand glaubt jemals der CIA! Und bis sie ihre Beweise gegen mich beieinanderhaben, wird es zu spät sein.«
»Ich verstehe das nicht!«, rief Alex. »Sie haben doch gesagt, dass dabei tausende Ihrer eigenen Landsleute sterben werden! Wozu denn das alles?«
»Du bist noch sehr jung. Und über mein Volk weißt du gar nichts. Aber hör mir zu, Alex, damit ich dir das richtig erklären kann. Wenn dieser GAU eintritt, wird sich die ganze Welt einig sein und Russland verdammen. Alle werden uns hassen. Und das russische Volk wird sich schämen. Wenn wir nur weniger unbekümmert, weniger dumm, weniger arm, weniger korrupt gewesen wären! Wenn wir nur noch eine Weltmacht gewesen wären wie in früheren Zeiten! Und in diesem Moment werden dann alle– Russland und die Welt– auf Boris Kirijenko blicken, damit er das Land aus der Krise führt. Der russische Staatspräsident! Und was werden sie sehen?«
»Was…?«, echote Alex verwundert, aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Deshalb haben Sie einen Film von ihm gedreht!«
»Richtig«, bestätigte Sarow kalt. »Und diesen Film werden wir freigeben. Er zeigt ihn betrunken neben dem Swimmingpool. In seinen lächerlichen roten Shorts und dem Hawaiihemd. Beim Geplänkel mit drei halb nackten Frauen, die so jung sind, dass sie seine Enkelinnen sein könnten! Und wir haben ihn auch interviewt. Das Interview werden wir dann natürlich auch veröffentlichen.«
»Und das Interview haben Sie manipuliert!«
»Richtig«, wiederholte Sarow nickend und seine Augen funkelten im Licht der Leselampe. »Unsere Interviewer befragten ihn über den Eisenbahnstreik in Moskau, aber Kirijenko war natürlich schon halb betrunken und sagte: ›Ich bin hier im Urlaub. Außerdem habe ich zu viel zu tun, um mich darum zu kümmern.‹ Wir brauchen nur die Frage zu verändern: ›Was werden Sie wegen des Atomunfalls in Murmansk tun?‹ Und Kirijenko wird sagen…«
»›Ich bin hier im Urlaub. Außerdem habe ich zu viel zu tun, um mich darum zu kümmern‹«, ergänzte Alex.
Sarow nickte. »Das russische Volk wird Kirijenko für genau den schwachen, ständig betrunkenen Vollidioten halten, der er wirklich ist. Und sie werden ihm sehr schnell die Schuld für die Katastrophe von Murmansk geben– und zwar mit gutem Grund. Die Nordmeerflotte war einst der Stolz der ganzen Nation. Wie konnte man zulassen, dass daraus ein rostiger, tödlich strahlender Atommüllhaufen wurde?«
Das Flugzeug dröhnte durch die Nacht. Conrad hörte aufmerksam zu, was Sarow zu sagen hatte, wobei sein Kopf noch schiefer als gewöhnlich zwischen den Schultern saß. Die beiden Wächter im hinteren Teil des Flugzeugs waren eingeschlafen.
»Sie sagten aber, Sie würden nach Moskau fliegen«, murmelte Alex benommen.
»Man wird die Regierung davonjagen«, antwortete Sarow, »und das wird nicht länger als vierundzwanzig Stunden dauern. Auf den Straßen werden Unruhen ausbrechen. Viele Russen glauben ohnehin, dass es ihnen in der alten Zeit besser– viel besser– ging. Sie sind überzeugt, dass der Kommunismus die bessere Staatsform ist. Nun, der Volkszorn wird unaufhaltsam sein und er wird erhört werden. Denn dann werde ich auftreten, um den Zorn zu bändigen! Ich werde ihn benutzen, um an die Macht zu kommen! Ich habe viele Gefolgsleute, die nur auf mich warten! Noch bevor sich die radioaktive Wolke verzogen hat, werde ich in meinem Land die Macht in den Händen halten. Ich werde die totale Kontrolle über mein Land haben! Aber das ist nur der Anfang, Alex– ich werde auch die Berliner Mauer wieder aufbauen. Es wird neue Kriege geben. Ich werde nicht ruhen, bevor mein Staat– das kommunistische Russland– die größte Weltmacht ist!«
Lange Zeit herrschte Schweigen.
»Sie wollen wirklich Millionen Menschen töten, nur um das zu erreichen?«, fragte Alex ungläubig.
Sarow zuckte die Schultern. »In Russland sterben ohnehin Millionen Menschen, Alex. Sie können sich nicht einmal Nahrungsmittel leisten. Und keine Medikamente…«
»Und was wird aus mir?«
»Diese Frage habe ich schon beantwortet, Alex. Ich glaube nicht, dass du zufällig auf diese Weise in mein Leben getreten bist. Ich glaube, dass es so vorherbestimmt war. Es war gewollt, dass ich diese Tat nicht allein tun sollte. Du wirst morgen bei mir sein, wenn die Bombe scharf gemacht wird, und wir werden den Ort zusammen wieder verlassen. Erst Murmansk, dann Moskau. Verstehst du denn nicht, was ich dir anbiete? Du wirst nicht nur mein Sohn werden, Alex: Du wirst Macht ausüben. Du wirst einer der mächtigsten Menschen der Welt sein!«
Das Flugzeug hatte bereits die amerikanische Küste erreicht und korrigierte leicht die Flugrichtung. Sie flogen jetzt direkt nach Norden.
Alex sank benommen in seinen Sessel zurück. Geistesabwesend schob er die Hand in die Hosentasche. Immerhin war es ihm gelungen, ein Päckchen Kaugummi der Marke MI6 an Bord zu schmuggeln. Und seine Finger ertasteten auch die kleine Fußballerfigur– die eigentlich eine Stun-Granate war.
Er schloss die Augen und versuchte, sich einen Plan zurechtzulegen.