»Ja – ja – woher hast du überhaupt meine Adresse?«

 

»Es gibt Adressbücher«, log Sayed. Der Vorarbeiter hatte Angst, das war ihm deutlich anzusehen. »Ich komme gerade von der Baustelle«, sagte er vorsichtig.

 

»Und, warum bist du hier?«

 

»Du warst nicht da.«

 

Rajiv senkte den Blick und schwieg.

 

»Was ist passiert?«

 

»Nichts ist passiert. Man hat unsere Leute für dringendere Arbeiten gebraucht. Das ist alles.«

 

»Dringender als genügend sauberes Trinkwasser?« Die Skepsis stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Rajiv entgegnete trotzig:

 

»Darum geht es ja. Man hat eine Bande von Wasserdieben entdeckt, die Leitungen angezapft haben. Die müssen jetzt dringend geflickt werden.«

 

Sayed hatte von dieser Art Piraterie gehört, doch Rajivs Tonfall klang alles andere als überzeugend.

 

»Und warum hockst du hier zu Hause und drehst Däumchen?«

 

Mit dieser naheliegenden Frage hatte sein Gegenüber offensichtlich nicht gerechnet. Statt zu antworten, wies er seinen kleinen Jungen aus dem Zimmer, der den Fremden neugierig bestaunte. Etwas stimmte hier nicht. Er blickte den Vorarbeiter nachdenklich an, während er auf ihn einredete: »Diese Zuleitung ist nicht nur für uns wichtig, sondern vor allem für die Leute, die hier wohnen. Das weißt du, Rajiv. Warum sagst du mir nicht einfach, was wirklich los ist?«

 

Der Kleine steckte nochmals den Kopf zur Tür herein.

 

»Bleib draußen! «, herrschte Rajiv ihn an, »Papa kommt gleich.« Er fragte lange stumm seine Fingernägel um Rat, dann endlich antwortete er: »Sie wollen nicht, dass wir darüber reden.«

 

»Sie?«

 

»Die Leute von der Bezirksverwaltung. Sie sind selbst frustriert, dass es nicht weitergeht. Sie sagen, die Geldmittel werden für die Erschließung der großen Abfüllanlage gebraucht.«

 

»Abfüllanlage?« Sayed verstand immer weniger. »Wovon sprichst du?«

 

»Dieser Nahrungsmittel-Multi, der sich überall breit macht, hat mit der Stadtverwaltung einen Vertrag ausgehandelt, um eine Riesenfabrik für Flaschenwasser und Softdrinks aus tiefen Grundwasserschichten zu bauen. Sichert langfristig Arbeitsplätze, heißt es, und die Stadt liefert die Infrastruktur gratis. Schöner Vertrag.«

 

»Und was hat das alles mit uns zu tun?«

 

»Mehr als dir lieb ist. Die Firma spielt sich hier als Herrin über das Wasser auf. In Fort Kochi, auf Vypeen Islands und sogar in Ernakulam selbst haben sie es fertig gebracht, dass ähnliche Projekte wie unseres gestoppt wurden. Ich glaube, sie würgen systematisch alles ab, was ihrer Wasserhoheit in die Quere kommt.«

 

Sayed traute seinen Ohren nicht. Was Rajiv hier von sich gab, hörte sich an wie eine ausgewachsene Verschwörungstheorie. Wenn etwas an seinen Vermutungen stimmte, konnte das leicht das Aus für ihr Entsalzungsprojekt bedeuten. Ungläubig fragte er: »Wer ist dieser Nahrungsmittel-Multi?«

 

Rajiv lachte bitter. »Den kennt hier jeder: Mamot, löscht jeden Durst.«

 

Das Team erwartete ihn vollzählig im Aufenthaltsraum, als er eintraf. Sein Boss Ingo hatte die Krisensitzung sofort nach seinem Anruf einberufen. Mit betretenen Gesichtern hörten sie sich die alarmierende Nachricht nochmals an. Keinem schien ein vernünftiger Vorschlag einzufallen. Er hatte sich auf dem Rückweg den Schädel zermartert, aber am Schluss blieb nur die Lösung, die er von Anfang an kannte. Er räusperte sich und begann umständlich:

 

»Ich – hätte da vielleicht einen Ansatz, den wir uns ernsthaft überlegen sollten.«

 

»Schieß los, verdammt noch mal!«, platzte Ingo ungestüm heraus.

 

»Es – ist ein sehr – lokaler Ansatz, der aber in Indien gang und gäbe ist.« Auch nach der langen Zeit, die er nun zusammen mit seinen westlichen Kollegen am Projekt gearbeitet hatte, war es ihm peinlich, die naheliegende Lösung auszusprechen. »Ich glaube, wir kommen nur weiter, wenn wir mit den gleichen Waffen zurückschlagen. Wir müssen Geld aufwerfen.«

 

»Bakschisch, Schmiergeld!«, rief Ingo mit Abscheu.

 

»Was glaubst du, womit Firmen wie Mamot ihre Verträge aushandeln?« Seine Kollegen waren einfach zu naiv. Bestechung gehörte hier zum Geschäftsleben wie eindrucksvolle Briefköpfe.

 

»Ich muss das mit Lee besprechen«, antwortete Ingo verärgert. »Und es geht mir verflucht gegen den Strich, Leute!«

 

Lake Michigan

 

Nicht nur, aber vor allem durch den katastrophalen Klimawandel war Alicia endgültig zum Star der Führungsriege von Mamot geworden. Die Verlängerung der Trockenperioden in einem breiten Gürtel um den Äquator bis in den Süden der Vereinigten Staaten katapultierte ihr Wasserimperium, zu dem nun de facto auch der afrikanische Kontinent gehörte, in die oberste Liga der profitablen Geschäftsbereiche. In der Sitzung an diesem Morgen hatte sie keine Grafiken und Landkarten präsentieren müssen, denn alle Anwesenden wussten, wovon sie sprach. Die verheerende Dürre in den Südstaaten war das Dauerthema auf den Frontseiten der Zeitungen. Sogar die sonst in dieser Hinsicht eher zurückhaltende Tribune war sich nicht zu schade, mit einem reißerischen Aufmacher über die Proteste der wütenden Farmer zu berichten. In weiten Teilen Arizonas und New Mexicos musste Wasser in Tankwagen auf die Felder gekarrt werden, und Mamot SA war der einzige ernstzunehmende Lieferant. Dank des hervorragenden Netzwerks und der umsichtigen Vorarbeit war nun auch der exklusive Vertrag mit Arizona zustande gekommen, ein Meilenstein, den sie selbst noch vor einem halben Jahr für unerreichbar gehalten hatte. Kein Zweifel, sie war die Frau der Stunde, hatte das bisschen Entspannung auf dem Michigansee mehr als verdient.

 

Nur die wenigsten der fünfzig handverlesenen Gäste, die Leblanc auf die traditionelle Champagner-Kreuzfahrt geladen hatte, zeichneten sich durch ihre harte Arbeit aus. Sie waren hier aufgrund ihres unbestritten großen Einflusses auf Politik und Wirtschaft in Illinois. Die Gästeliste las sich auch dieses Jahr wieder wie ein Who’s who der Mächtigsten des Staates.

 

Sie mischte sich mit perfekt einstudiertem Lächeln und dem leeren Glas in das Gedränge um den Champagnerbrunnen, denn Leblancs Countdown begann:

 

»Drei – zwei – eins – los geht’s, das Buffet ist eröffnet!« Für kurze Zeit ging etwas wie eine Welle der Erregung durch die vornehme Meute, dann plätscherte die Unterhaltung wieder seicht dahin wie der Brunnen mit dem edlen Nass.

 

»Mehr denn je eine gelungene Metapher«, sagte eine bekannte Stimme gefährlich nahe an ihrem Ohr. Neill Douglas stand dicht hinter ihr, allein, seine Frau war nirgends zu sehen.

 

»Der Brunnen, meinen Sie, Senator«, antwortete sie, ohne auch nur um Haaresbreite zurückzuweichen. »Ja, es ist traurig«, seufzte sie pathetisch, »aber bald wird bloßes Trinkwasser ebenso kostbar sein wie dieser saure Schaumwein.«

 

»Traurig?«, lachte er. »Ein guter Witz. Ihnen kann doch nichts Besseres passieren, meine Liebe. Sie leben ja vom Durst anderer Leute.« Er beugte sich noch näher heran. Seine Lippen berührten fast ihr Ohr, als er flüsterte: »Chic sehen Sie wieder aus, sehr chic.« Der neckische Schlitz auf der Seite ihres hochgeschlossenen schwarz glänzenden Cocktailkleids zeigte Wirkung. Sie wandte sich schmunzelnd ab und sagte, ohne auf sein Kompliment zu antworten:

 

»Sie entschuldigen mich, Senator. Ich sehe sie doch bei der Regatta?«

 

Er grinste verlegen wie ein Junge, den die Mutter mit einem unanständigen Heft erwischt hatte und nickte. Die Regatta war ein weiterer Fixpunkt in der Firmenagenda. Sie wurde jeden Sommer nach Bekanntgabe des Halbjahresergebnisses veranstaltet und der Senator gehörte zum harten Kern der Gäste, obwohl er schon seit Jahren kein Segelboot mehr betreten hatte. Sie machte sich keine Illusionen. Sie war wohl eine der wenigen außer dem selbstverliebten Leblanc, denen solche Anlässe echten Spaß bereiteten. Sie liebte das Bad in der gehobenen Gesellschaft wie andere den Grillabend mit der Familie oder den Stammtisch in der Kneipe. Hauptsache, sie konnte ihr Beziehungsnetz stetig ausbauen.

 

Sie schnappte sich einen der letzten Hummercocktails und steuerte auf ihren Boss zu. Der guten Ordnung halber wollte sie ihn fragen, weshalb Kollege Krüger nirgends zu sehen war.

 

Empty Bottle, Chicago

 

Schwarze Gewitterwolken zogen rasch von Westen her auf. Lee stand gedankenverloren am Fenster seines Büros am Augusta Boulevard, in einer Gegend Chicagos mit dem sinnigen Namen Empty Bottle. Er hatte diese quirlige Anwältin aus der verhassten Hauptstadt erst drei- oder viermal gesehen und mit ihr schon mehr erlebt als in den zwei Jahren, die er mit Anna zusammen war. Im Nachhinein erschien es ihm wie ein Geschenk des Himmels, dass seine Verlobte es war, die der Beziehung ein jähes Ende gesetzt hatte. Er war ihr ehrlich dankbar, denn selbst hätte er den Mut wohl bis heute nicht aufgebracht.

 

»Was meinst du?«, fragte sein Mitarbeiter Russ, als er zu ihm ans Fenster trat, die Wasserflasche in der Linken, die zu ihm gehörte wie das verschämte Bäuchlein unter dem grauen T-Shirt.

 

»Wie bitte?« Er hatte nicht hingehört.

 

»Welche ist es denn diesmal?«, grinste Russ. Russell Taylor war eigentlich Physiker, Meteorologe, aber in Lees kleiner Firma arbeitete er als Computerspezialist. Tag und Nacht hockte er vor seinen vier Bildschirmen, bewegte sich kaum und schraubte an den Programmen zur Visualisierung und Simulation der Prozesse, die in den Anlagen abliefen, die seine Kollegen bauten. Es war also kein Wunder, dass er allmählich Fett ansetzte, aber sein treuherziger Blick und die ausgeglichene Zufriedenheit, die er ausstrahlte, machten die sportlichen Defizite bei weitem wieder wett.

 

Auch, oder gerade weil Lees Mitarbeiter keine Details kannten, spekulierten sie eifrig über die unbekannte junge Frau, mit der ihr Chef zweimal innerhalb weniger Wochen in den Süden reiste, kurz nachdem seine Verlobte ihn verlassen hatte.

 

»Was meinst du?«, fragte Lee albern.

 

»Komm schon. Rück endlich mit den pikanten Einzelheiten heraus. Ich will alles wissen über die Frau, für die du die hinreißende Tochter des Senators fallen gelassen hast.«

 

»Red keinen Blödsinn, Russ. Liest du zu viele Schundromane in deiner Freizeit?«

 

»Welche Freizeit?«

 

Lees Telefon summte. Er schaute auf das Display und brummte: »Die Anwältin.«

 

»Wenn man vom Teufel spricht«, grinste Russ, als er sich wieder hinter seinen Bildschirmen verkroch.

 

»Marion, wie geht es Ihnen?«

 

»Danke, ausgezeichnet, wenn man bedenkt, dass ich im Krieg war.« Ironie oder Vorwurf? Er wurde nicht schlau aus dieser Frau.

 

»Es kommt nicht wieder vor, wie gesagt, tut mir leid ... «

 

»Ach, vergessen Sie’s«, unterbrach sie ungeduldig. »Es gibt Wichtigeres. Wir haben einige interessante Neuigkeiten. Soll ich eine Mail schicken?«

 

»Erzählen Sie’s ruhig am Telefon. Ich glaube nicht, dass uns jemand zuhört.«

 

»Auf Ihre Verantwortung. Also, wo soll ich beginnen?«

 

»Wie wär’s mit dem Anfang?«

 

»Am Anfang war die Liste«, begann sie, als zitierte sie aus der Bibel. Passend dazu blitzte es draußen und mit dem ersten Donnerschlag setzte heftiger Regen ein. Er lachte laut auf.

 

»Was war denn das?«

 

»Die Stimme Gottes. Also, die Liste?« Obwohl er im Grunde keine Zeit für dieses Gespräch hatte, wollte er wissen, worum es ging. Er unterhielt sich einfach gerne mit ihr, ob er es wahrhaben wollte oder nicht.

 

»Zwölf Briefkastenfirmen?«, rief er verblüfft aus, nachdem er eine Weile zugehört hatte.

 

»Fingierte Firmen trifft eher zu, würde ich sagen. Alle Telefonnummern und Adressen führen ins Leere.«

 

»Und Firmensitz sind die schwer bewachten leeren Fabrikhallen im Hinterland von Phoenix«, murmelte er ungläubig.

 

»Das Beste kommt noch«, sagte sie geheimnisvoll und machte eine Kunstpause.

 

»Ich höre.«

 

»Halten Sie sich fest, Lee. Ich habe die Steuerunterlagen geprüft, fragen Sie nicht wie. Jede der zwölf Firmen weist im letzten Jahr null Dollar Profit aus und hat keinen Cent Steuern bezahlt.«

 

»Wundert mich gar nicht«, warf er ein.

 

»Ja, aber jetzt kommt’s. Alle zusammen erzielten einen Umsatz von 987 Millionen.«

 

»Was, wie viel?« Er glaubte, sich verhört zu haben. Fast eine Milliarde Dollar, wofür?

 

»Sie haben schon richtig gehört. Die unprofitablen Firmen haben zusammen eine Milliarde eingenommen und gleich wieder für Entwicklungs- und Produktionsaufträge ausgegeben, die natürlich nicht näher beschrieben sind. Ein kleiner Teil des Geldes wurde als Beratungshonorar ausbezahlt, wie wir wissen. Das gleiche Bild zeigt sich bei der falschen Fabrik, die wir besucht haben.«

 

»Wie sind Sie an all die Daten gekommen?«

 

»Fragen Sie lieber nicht. Auf jeden Fall hat sich die Anstrengung gelohnt. Wir wissen jetzt, dass die AZ Technologies letztes Jahr sehr viel Geld für Entwicklungen erhalten und gleichviel für Rohstoffe, Produktion und Honorare wieder ausgegeben hat. Dreimal dürfen Sie raten wie viel.«

 

»987 Millionen?«, antwortete er verblüfft. Langsam dämmerte ihm das Ausmaß dieses gigantischen Vertuschungsmanövers, denn um nichts anderes konnte es sich seiner Meinung nach handeln, nachdem er die leeren Kulissen bei Fountain Hills gesehen hatte.

 

»Eine Milliarde, der Umsatz der zwölf anderen Firmen plus ein paar Millionen unbekannter Herkunft. Da steckt ein Riesenschwindel dahinter, denke ich.«

 

»Allerdings, ein Betrug, von dem mein Vater jahrelang profitiert hat, wie es aussieht«, murmelte er.

 

»Und er war nicht der Einzige. Die ausbezahlten Honorare sind mehr als zehnmal so hoch wie die Beträge auf dem Konto des Senators. Tut mir leid, Lee, es ...«

 

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, unterbrach er erregt. »Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar für die Aufklärung.«

 

Sie hatte seine intuitive Abneigung gegen den Filz in Washington gerade mit handfesten Argumenten untermauert. Und sein Gewissen beruhigt, das sich schon zu regen begann, weil er keine Trauer über Vaters Tod empfand.

 

So weit, so gut, aber wohin führten sie diese Erkenntnisse? Marion musste ähnliche Überlegungen anstellen, denn nach einer Weile sagte sie hörbar enttäuscht:

 

»Führt uns auch nicht weiter, nicht wahr?«

 

Im Fenster sah er das Spiegelbild des wild gestikulierenden Russ. Er zeigte auf seine Uhr und zum runden Tisch mit der Spinne. Zeit für die Telefonkonferenz mit Kochi.

 

»Sie haben getan was Sie konnten, danke, Marion. Ich denke auch, dass wir nicht weiterkommen. Lassen wir die Sache ruhen. Sollte sich wider Erwarten jemand wegen des Honorarvorbezugs melden, werden wir ihm einige unangenehme Fragen stellen. Schade irgendwie, ich – ach vergessen Sie’s. Ich muss Schluss machen.«

 

Warum hatte er das üble Gefühl, schon wieder eine Beziehung beendet zu haben? Beziehung – es gab keine Beziehung! Er holte die Unterlagen für die Besprechung aus seinem Aktenschrank und ging zum Konferenztisch in der dunkelsten Ecke des Büros. Dass der runde Tisch mit dem spinnenförmigen Telefon hier stand, hatte zwei Gründe. Erstens wollte niemand lange in diesem fensterlosen Loch stecken, was die Sitzungen nachweislich verkürzte, und zweitens eignete sich eine dunkle Umgebung besser für gelegentliche Videokonferenzen. Er setzte sich zu Russ an den Tisch und meldete sich:

 

»Lee hier, guten Abend, Kochi.«

 

»Gut, können wir endlich loslassen?«, fragte Ingo am anderen Ende der Leitung gereizt.

 

»Klar, bin gespannt auf deine Spesenrechnung.« ›Spesen‹ war der Euphemismus für Bestechungsgeld, auf den sie sich geeinigt hatten, um Ingos empfindlichen Gerechtigkeitssinn nicht unnötig zu strapazieren.

 

»Dir ist schon klar, dass wir mit unserem Spesenbudget nicht mit einem Konzern wie Mamot mithalten können?«

 

»Vollkommen, aber wir setzen unser Geld klüger ein.«

 

»Wie wahr«, höhnte Ingo. »Wie auch immer, die Anschlussarbeiten gehen weiter. Wir zahlen die Arbeiter aus unserer Spesenkasse, und der Verantwortliche des Stadtbezirks drückt beide Augen zu, seit er auf seinem neuen Moped zur Arbeit fährt.«

 

»Das hast du schön gesagt«, lachte Lee.

 

»Die Menschen hier werden dankbar sein, sobald unser Wasser fließt, das sage ich dir. Wie Helden werden sie gefeiert werden, die Leute der sauberen Verwaltung.« Russ nickte heftig und räusperte sich:

 

»Es gibt Modelle, die ein Ausbleiben des Sommermonsuns vorhersagen.«

 

»Darauf kannst du Gift nehmen, Russ. Ich fürchte, deine Software hat recht.«

 

»Nicht meine, die Software der Kollegen vom Thinktank sagt das. Die zerbrechen sich allerdings bisher vergeblich die Köpfe, weshalb die Wolken neuerdings über den Ozeanen abregnen. Ich glaube, diese Variante des Klimawandels hat niemand vorhergesehen.«

 

Lee gab seinem Mitarbeiter ein Zeichen, denn er drohte in Fahrt zu kommen. »Im Moment scheinen sie sich allerdings hier über Chicago zu entleeren«, warf er ein. »Auf jeden Fall liegen wir mit unseren Entsalzungsanlagen voll im Trend, Leute. Die erste Installation in Kalifornien ist so gut wie unterschrieben, und zwei neue Anfragen liegen bereits vor. Unser Problem ist nicht mangelnde Nachfrage, sondern mangelnde Produktionskapazität.«

 

»Wir müssen ausbauen, meinen Segen hast du«, spottete Ingo.

 

»Dazu müssten unsere ersten zwei Werke zuerst Geld abwerfen. Die Kreditlinie ist ausgeschöpft.« Er machte sich seit langem Gedanken über die Zukunft des kleinen Unternehmens, und er glaubte auch, die Lösung gefunden zu haben, aber er wollte den Vorschlag von seinen Partnern hören.

 

»Wer spricht denn von Kredit?«, brummte Ingo. »Warum gehen wir nicht an die Börse?«

 

Lee schmunzelte. Sie beide tickten immer noch gleich, das war beruhigend. Der Zeitpunkt für einen Börsengang könnte kaum besser sein. Obwohl ein sehr junges Unternehmen, hatte Disruptive Technologies ein solides Produkteportfolio und hervorragende Zukunftsaussichten vorzuweisen. Wenn sie es geschickt anstellten, wären ihnen kaum Grenzen gesetzt. Eine lebhafte Diskussion setzte ein. Strikt gegen die Idee schien niemand zu sein, fehlte nur noch Kieras Meinung.

 

Der Kalender seines Handys piepste und zeigte den nächsten Termin an. »O. K. Leute, ich sehe, ihr seid begeistert. Um ehrlich zu sein, gehe ich schon seit einiger Zeit schwanger mit dieser Idee. Ich werde die Sache in die Hand nehmen.«

 

Ein Börsengang, ein heikles Unterfangen, bei dem man nicht nur die passende Bank finden musste, sondern auch den richtigen Rechtsbeistand, und den hatte er. Lächelnd gab er Russ das Zeichen, Malta anzurufen.

 

Kiera wollte die neue Idee der Kapitalbeschaffung nicht diskutieren. Sie hatte andere Sorgen. Nachdem die Anlage wenigstens teilweise wieder betriebsbereit war, stellten sich plötzlich die Behörden quer. Neue Auflagen des Ministeriums verlangten, dass sie einen erweiterten Bericht zur Umweltverträglichkeit erstellen und genehmigen lassen musste.

 

»So ein elender Blödsinn!«, ereiferte sich Kiera. »Nebenan steht die alte Entsalzungsanlage und verbrennt ungehindert tausende Tonnen Heizöl. Diese Schikane kostet uns Unsummen, Lee.«

 

Er verstand, dass sie kochte. Vorsichtig fragte er: »Und was sagt Luca dazu?«

 

»Er geht mir aus dem Weg«, antwortete sie ohne Umschweife. »Ich glaube, es ist ihm außerordentlich peinlich, darüber zu reden. Aber ich versuch’s natürlich weiter.«

 

Er überlegte fieberhaft. Wenn sich die Behörden quer stellten, konnten sie noch monatelang warten, bis das erste Wasser und das erste Geld flossen, wenn überhaupt. Das durfte sich seine Firma schlicht nicht leisten.

 

»Wir müssen das auf die rote Liste nehmen«, sagte er unvermittelt. »Wenn Luca nicht reden will, müssen wir uns seine Vorgesetzten vornehmen. Sorry, aber ich sehe keinen anderen Weg.«

 

»Schon klar«, murmelte sie wie zu sich selbst.

 

Die rote Liste bedeutete, dass sie ab sofort täglich über das Thema zu berichten hatte und er sich einschalten würde, wenn das Problem nicht innerhalb einer Woche vom Tisch wäre. Wenn nötig müsste er eben nochmals die Koffer packen. Ausgerechnet jetzt, wo das Abenteuer des Börsengangs lockte.

 

Capitol Hill, Washington DC

 

Das Yellowfin Tartar als Vorspeise konnte er wärmstens empfehlen, und dann vielleicht ein Rib-Eye Cowboy Cut? Senator Douglas fühlte sich hier zu Hause, auf seinem ureigensten Territorium. Er hatte drei seiner Senatskollegen aus Kalifornien, Nevada und South Carolina ins Palmers zu Tisch geladen, und er ließ sich Zeit bei der sorgfältigen Auswahl der Speisen. Nicht so sehr, weil ihn irgendetwas auf der Karte überrascht hätte, sondern weil er noch immer nicht sicher war, wie er die drei Skeptiker auf seine Seite ziehen könnte. Ihre Stimmen fehlten ihm für die Mehrheit bei der Abstimmung am Nachmittag, die er unbedingt gewinnen musste. Es durfte nicht sein, dass sich die Staaten und gar der Bund nun plötzlich knietief und mit Steuergeldern in die freie Marktwirtschaft einmischten. Das galt für die Ressource Wasser genauso wie für Öl oder Mais, Dürreperiode hin oder her.

 

»Bringen Sie uns bitte einfach eine Flasche des speziellen Anomaly, Susan, Sie wissen schon, vielen Dank«, sagte er zur Kellnerin, den Touchscreen mit der elektronischen Weinkarte wie stets mit größter Abscheu von sich weisend. Die absurd moderne Technik war das Einzige, was ihn an seinem Stammlokal störte. Die Flasche des Cabernet Sauvignon aus dem Napa Valley kostete zwar gut und gerne 170 Dollar, aber das musste es ihm wert sein. Auch eine zweite oder dritte würde er ohne mit der Wimper zu zucken bezahlen, wenn dadurch seine Chancen bei der Abstimmung stiegen. Bei seinem Senatskollegen aus Kalifornien hatte er gute Karten. Er war ein Genussmensch, den ein gediegenes Essen durchaus milde stimmen konnte, wie Douglas vermutete. Die anderen beiden harten Brocken musste er allein mit guten Argumenten gewinnen. Das Problem war nur, dass sie seine Argumente bereits kannten und trotzdem keinen Millimeter von ihrer Meinung abwichen.

 

»Aufgepasst, Neill versucht uns abzufüllen«, spottete Nick Brady, der Senator aus Reno, Nevada.

 

»Dürfte mir schwer fallen bei dir.«, grinste Douglas jovial zurück, während die anderen im Chor »Hört, hört« skandierten. Gut, eine lockere Stimmung war seiner Sache nur förderlich. Eine Weile ließ er die seichte Unterhaltung ziellos weiterlaufen, dann hob er sein Glas. Das Lächeln wich einem Ausdruck der Betroffenheit und Besorgnis, als er den Toast aussprach:

 

»Bald wird Wasser kostbar wie dieser vorzügliche Wein, meine Herren. Wer hätte gedacht, dass die Wasserknappheit auch in unserem schönen Land in so kurzer Zeit derart dramatische Ausmaße annimmt. Gerade deshalb möchte ich darauf anstoßen, dass wir wie gewohnt wohlüberlegt handeln und uns nicht von protestierenden Farmern zu übereilten Entscheiden drängen lassen.«

 

»Im Klartext, wir sollen die Vorlage ablehnen wie du«, lachte Brady.

 

»Selbstverständlich, aber im Ernst: ich bin überzeugt, dass die Wasserversorgung keinen Deut besser wird, wenn wir diese geplante Behörde einführen. Die Lage vieler Leute im Süden ist verzweifelt, das verstehe ich, aber fließt auch nur eine Gallone mehr Wasser, wenn wir eine neue staatliche Kontrollinstanz zwischen Lieferant und Verbraucher schalten? Das ist keine hilfreiche Aktion, meine Freunde. Sie verschlingt nur Unsummen, die wir besser in den dringend nötigen Ausbau der Infrastruktur stecken. Lassen wir die Privatwirtschaft das Versorgungsproblem lösen. Sollen sich die Spezialisten damit befassen, die können das besser. Das ist keine Aufgabe für Beamte.«

 

»Das Select Committee ...«, warf Brady ein, aber Douglas fiel ihm sofort ins Wort:

 

»Entschuldige, das sind doch linke Spinner.« Die Mehrheit seines Komitees hielt nichts von diesem Spezialkomitee des Repräsentantenhauses, das sich neuerdings in sämtliche Angelegenheiten mischte, die im Entferntesten mit Umwelt und Klima zusammenhingen. Er hatte deshalb nicht lange gebraucht, um einen gesunden Hass gegen diese Leute zu entwickeln. Brady schwieg. Seine Liebe zum Select Committee war wohl auch nicht allzu glühend. Der nächste, wesentlich gefährlichere Einwand kam vom Senator aus Charleston, South Carolina:

 

»Deine freie Marktwirtschaft in Ehren, aber die funktioniert bei einer begrenzten Ressource nur bedingt. Deshalb ...« Er hielt inne, denn Douglas’ Privatsekretär steuerte atemlos und schwitzend auf ihren Tisch zu.

 

»Jim, was ist los?«, knirschte Douglas ärgerlich zwischen den Zähnen, doch sein Vertrauter ließ sich nicht beirren. Freundlich nickte er in die Runde.

 

»Entschuldigen Sie die Störung, meine Herren.« Und zu Douglas gewandt sagte er eindringlich: »Ich dachte, das sei wichtig, Senator.« Mit einem erwartungsvollen Blick gab er ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Douglas liebte solche Überraschungen nicht, schon gar nicht vor diesem kritischen Publikum. Er runzelte die Stirn und überflog die Reuters-Eilmeldung. Sie bestand nur aus zwei Sätzen, und ihm war, als hörte er einen Engelschor frohlocken, als er sie zum zweiten Mal las. Man musste es seinem Gesicht ansehen. Der Sekretär zog sich mit verbindlichem Lächeln zurück, während er entspannt zum Glas griff.

 

Nachdem er genüsslich am Wein genippt hatte, sagte er:

 

»Wenn es noch einen Beweis brauchte für das Funktionieren der freien Marktwirtschaft im Wassergeschäft, hier ist er, meine Herren.« Siegessicher ließ er den Zettel herumgehen. Sein Spiel war gewonnen. Die kurze Nachricht würde zweifellos mehr Abgeordnete des Komitees auf seine Seite ziehen als er benötigte:

 

Genf (Reuters) – Der Nahrungsmittelkonzern MAMOT SA kündigt den Abschluss eines Vertrags mit dem WHO/UNICEF Joint Monitoring Programme der Vereinten Nationen an. Der Vertrag ist vorläufig auf zehn Jahre befristet und verpflichtet MAMOT SA als primären Partner für die Umsetzung der Hilfsprogramme für sauberes Trinkwasser und nachhaltige Landwirtschaft in den Staaten der Sahelzone, sowie der Elfenbeinküste, Ghana, Togo und Benin.

 

Unbezahlbar, der gute Jim. Douglas verfolgte befriedigt das Mienenspiel seiner drei Kollegen beim Lesen der Meldung, die ihm der Himmel geschickt hatte. Alle drei schwiegen nachdenklich.

 

»Wenn man Mamot offensichtlich zutraut, das Wasserproblem in Afrika zu lösen, dürften die es wohl auch in unseren Südstaaten schaffen, was meint ihr?« Es war eine rhetorische Frage. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, bestätigten es.

 

Lincoln Park Jachtklub, Chicago

 

Mit Wohlgefallen betrachtete Neill Douglas die eindrückliche Formation der fünfundzwanzig weißen Hunters am Strand seines Jachtklubs. Nicht weil er sich auf die Plausch-Regatta freute, sondern weil er die Ruhe am Strand schätzte, wenn sich der Grossteil der Gäste auf dem Wasser vergnügte. Nicht ganz zufällig lud der CEO von Mamot jeweils im selben Klub, zu dessen Inventar auch er gehörte, zur Feier des Halbjahresabschlusses. Für ihre Gesellschaftsschicht gab es schlicht keine Alternative im Großraum Chicago.

 

»Letzte Gelegenheit, mein Lieber. Du willst also wirklich nicht aufs Boot?«, fragte seine Frau mit bedauerndem Lächeln, da sie die Antwort bereits kannte wie alle Umstehenden.

 

»Myra, Schatz, du weißt, dass ich seekrank werde in diesen Nussschalen.« Einige der Zuhörer kicherten ob seinem kleinen Scherz. Immerhin waren es zehn Meter lange Segeljachten, die ohne weiteres Platz für sechs oder sieben Passagiere boten.

 

»Schade.«

 

Er wusste, dass sie es keineswegs ironisch meinte. Auch nach all den Jahren konnte sie die Enttäuschung nicht verbergen, aber er musste hart bleiben, nicht zuletzt, weil er sich auf kleinen, schwankenden Booten hilflos und ausgeliefert fühlte. Er hatte einfach panische Angst auf diesen Kähnen.

 

»Warum nimmst du nicht Anna mit aufs Boot?« Es war offensichtlich das falsche Stichwort, denn Myra runzelte die Stirn, als sie murmelte:

 

»Sie verkriecht sich in ihrem Apartment. Ich hab’s versucht, aber ich komme nicht an sie heran seit ihrer Trennung. Vielleicht solltest du ...«

 

»Ja, du hast recht. Ich sollte mit ihr reden.« Seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. Er mied dieses Thema. Jedes Mal, wenn er daran dachte, kochte die Wut über den arroganten Schnösel Lee in ihm hoch, der seine Tochter kalt abserviert hatte. Auch diesmal ließ er sich zu einer zornigen Bemerkung hinreißen »Ich habe nie viel von diesem Lee gehalten. Anna sollte froh sein, dass er sich aus dem Staub gemacht hat«, zischte er leise.

 

»Sie hat Schluss gemacht, Neill, nicht er.«

 

»Wie auch immer. Ich mag nicht darüber streiten.« Das unverbindliche Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht, als er den Pastor ihrer Kirchgemeinde in karierten Shorts und Kapitänsmütze auf sie zukommen sah. »Pastor McPhee! Auf zu neuen Heldentaten?«

 

»Allzeit bereit, Senator, allzeit bereit, wie Sie wissen«, lachte der Mann Gottes.

 

»Gut, sehr gut. Sie kommen wie gerufen. Ich glaube Ihrem Boot dürfte ich meine Myra ohne Gewissensbisse anvertrauen, was meinst du, meine Liebe?« Es war das gleiche Ritual wie jedes Jahr, der gleiche Dialog mit den gleichen Worten und dem gleichen Resultat.

 

»Wenn mich der Pastor auf seinem Boot haben will?«

 

»Aber selbstverständlich, Myra, es ist mir eine große Ehre. Kommen Sie.« Sie hakte sich bei ihm unter und er verabschiedete sich vom Senator mit einem freudigen: »Ahoi!«

 

»Ahoi«, murmelte Neill und grinste spöttisch, während er den beiden nachschaute. Er fragte sich ernsthaft, was die vielen an sich intelligenten Leute dazu trieb, einen schönen Sonntagnachmittag lang auf diesem See zu schaukeln. Nur wenige Gäste und Leblanc selbst blieben am Ufer. Das rote Gesicht des Gastgebers leuchtete aus der kleinen Gruppe, die sich um ihn versammelt hatte. Er war in ein angeregtes Gespräch mit seinem Star Alicia vertieft, als Neill hinzutrat.

 

»Gratuliere zu den Zahlen, Maurice«, grüßte er.

 

»Neill! Danke, ja, das beste Halbjahresergebnis aller Zeiten! Wir haben allen Grund zur Freude. Das haben wir der wirtschaftsfreundlichen Politik zu verdanken, und natürlich unseren Topleuten.«

 

»Zweifellos, und dem Herrgott, nicht zu vergessen, der gnädig dafür sorgt, dass die durstende Menschheit euer Wasser kauft.« Alicia musterte ihn eingehend mit ihren undurchdringlichen schwarzen Augen. So sehr er sich bemühte, er konnte den Blick nicht abwenden. Es waren die hypnotisierenden Augen der Schlange, unmittelbar bevor sie zubiss. Nur mit halbem Ohr hörte er Leblanc sagen:

 

»Sie sollte sich freuen, aber sie macht sich schon wieder Sorgen, was sagst du dazu?«

 

»Sorgen?«, wiederholte er, wie gelähmt in dieses strenge Gesicht starrend. Alicia öffnete zum ersten Mal den Mund. Ein ironisches Lächeln umspielte ihre harten Lippen, als sie antwortete:

 

»Es ist ein gefährliches Geschäft, das wir betreiben, Senator.« Jedes ihrer Worte hallte in seinem Schädel wie ein Donnerschlag.

 

»Gefährlich«, lallte er albern. Sie trug wie immer glänzendes Schwarz. Kostbare Spitzen, züchtig bis zum Hals geschlossen, geschmückt nur mit einer filigranen, goldenen Kette. Und an der Kette hing das Keltenkreuz. Das Zeichen! Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Sie ruft mich! Er nahm nur noch die schwarze Gestalt vor seinen Augen wahr, unfähig zu sprechen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

 

»Ich werde es Ihnen erklären, kommen Sie.« Sie ergriff seinen Arm, zog ihn sanft aber bestimmt zur Seite. Sie führte ihn weg von den Leuten, ans Ufer des Sees, das nun verlassen in der Nachmittagssonne döste, die Segelboote nur noch ein Schwarm weißer Dreiecke weit draußen auf dem tiefblauen Wasser. Im Vorbeigehen angelte sich Alicia einen vergessenen Donut vom Dessertbüfett und wickelte ihn in ein seidenes Taschentuch. Erneut brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Sie wussten beide, wohin sie steuerte. Sie trug das Zeichen, Worte brauchte es keine.

 

In einem schattigen Winkel unter ausladenden Platanen befand sich das älteste Becken des diskreten Jachthafens. Und dort, abgesondert vom Betrieb, versteckt vor den Blicken aus dem Klubhaus und der Uferpromenade, lag seit Jahren sein Motorboot. Das antiquierte Holzboot verließ den Hafen nie. Fest vertäut wartete es mit der bequemen, geräumigen Kajüte auf die heimlichen, aber regelmäßigen Besuche seines Besitzers.

 

Wortlos stieg Alicia auf das Boot. An der Kajütentür drehte sie sich plötzlich um und erwartete ihn mit strafendem Blick. Er stand dicht vor ihr mit weichen Knien. Sein Gesicht glühte, seine Lippen bebten, doch die verzehrende Begierde schnürte ihm die Kehle zu. Ihre Hand schoss hervor. Mit festem Griff packte sie ihn zwischen den Beinen, dass er sich stöhnend krümmte. Die göttliche Hand umschloss das steife Glied in seiner Hose, als sie sich vorbeugte und ihm ins Ohr zischte:

 

»Sie sind ein Sünder, Senator, ein erbärmlicher Sünder.«

 

Er wollte aufschreien: »Ja, oh ja ich habe gesündigt«, aber seine Stimme versagte.

 

»In dieser Kammer werden Sie bekennen!« Die Aufforderung klang wie ein scharfer Befehl, und nicht anders verstand er sie. Wie ein geschlagener Hund folgte er ihr in die Kajüte. Die Tür fiel ins Schloss. Sie fasste ihm ans Kinn, zog sein Gesicht so nah an das ihre, dass sich die Nasenspitzen berührten und herrschte ihn an: »Sex ist Sünde. Sag es Sünder, sprich das böse Wort aus, bekenne!«

 

Er wollte es herausschreien. Der schwarze Engel kannte seine unreinen Gedanken. Der Herr strafte ihn und er hatte die Strafe tausendfach verdient. Er wollte bekennen, aber kein Ton kam über seine Lippen.

 

»Sex«, fauchte sie. »Sag es, sag was du denkst, Sünder! Bekenne, und dir wird vergeben.«

 

Vergebung, danach sehnte er sich. Der Engel war da, ihm zu vergeben, aber er musste das unreine Wort aussprechen. Sein Kopf war heiß, die Augen blutunterlaufen. Das Bild des schwarzen Engels verschwamm, drohte zu verschwinden. Er durfte nicht gehen ohne ihm zu vergeben. »S – e – x«, krächzte er stotternd mit letzter Anstrengung. Ärgerlich drückte sie ihm das Kreuz an die Lippen.

 

»Sag es laut, Sünder. Das Wort, ich will es hören, sonst wird dir der Herr nicht vergeben.«

 

»Sex!«, keuchte er mit weinerlicher Stimme. Er küsste das Kreuz inbrünstig. »Vergib mir, oh Herr, denn ich habe gesündigt.«

 

Er fiel auf die Knie. Mit Tränen in den Augen schaute er zu, wie sie das Gebäck aus dem blütenweißen Tüchlein wickelte. Sie brach es entzwei, während sie sein heißes Gesicht nicht aus den Augen ließ, dann murmelte sie:

 

»Nun empfange den Leib des Herrn.«

 

Ein wahrhaft himmlisches Wohlgefühl durchrieselte seinen Körper. Er begann unkontrolliert zu zittern, musste sich stützen, um nicht hinzufallen. Seine fiebrigen Augen folgten ihrer Hand, die an den Saum des Kleides fasste, die schwarze Seide unendlich langsam raffte. Wo die Nahtstrümpfe endeten zeigte sich makellos weiße Haut. Nur Haut, denn außer Strapsen und Nylons trug sie nichts darunter. Sie spreizte die Beine gerade weit genug, um das eine Ende des Gebäcks in ihre Scheide einzuführen, bevor sie es zwischen seine bebenden Lippen presste. Hemmungslos schluchzend kaute er den erlösenden Leib, kämpfte gegen die sündige Wohllust, die ihm die Besinnung zu rauben drohte.

 

Der schwarze Engel war jetzt über ihm. Wie aus weiter Ferne hörte er die erlösenden Worte:

 

»Und das Blut.« Verschwommen sah er durch den Tränenschleier, wie sich das Tor des Himmels öffnete. Reichlich sprudelte das gesegnete Nass aus der kleinen Öffnung über sein Haar, das Gesicht, Hemd und Hose.

 

Er kniete noch mit geschlossenen Augen, verzückt die Lippen leckend auf dem feuchten Boden seiner Kajüte, als der schwarze Engel sich aufmachte, davonzufliegen.

 

»Mist!«, zischte sie und schloss die Tür blitzschnell wieder. »Die karierten Shorts!« Neill erwachte aus seiner lustvollen Starre. Entsetzt schoss er ans Bullauge.

 

»McPhee, Scheiße! Warum bist du nicht auf dem verfluchten See?« Niemand durfte sie hier zusammen sehen, der Pastor am allerwenigsten. Seine nassen Kleider, die so streng nach Alicia rochen, eine Katastrophe! Was, wenn der Gottesmann diese Tür öffnete? Der Schlüssel steckte noch, außen. Hilflos suchte er Rettung im blassen Gesicht seines Engels.

 

»Sie müssen ihn ablenken, Senator«, sagte Alicia kühl, als säßen sie in einem Sitzungszimmer.

 

»Ablenken?«

 

»Du gehst jetzt da hinaus, fällst ins Wasser und rufst um Hilfe. Das lenkt den frommen Mann ab, während ich verschwinde.« Fieberhaft versuchte er zu verstehen, was sie gesagt hatte, doch sein einziger Gedanke war die schreckliche Vorstellung des Pastors in der Tür. McPhee rief seinen Namen. Er keuchte, bekam kaum noch Luft. »Los!«, herrschte sie ihn an. Er stürzte hinaus.

 

Ihr primitiver Plan funktionierte perfekt, außer seinem verdrehten Fuß. Triefend und trotz der Hitze schlotternd humpelte er am Arm McPhees zum Klubhaus.

 

»Sie hat der Herrgott geschickt, Pastor«, heuchelte er. »Warum sind Sie schon zurück?«

 

»Myra fühlte sich plötzlich sehr unwohl, Senator. Es muss ein Zeichen des Himmels gewesen sein.«

 

»In der Tat, McPhee, in der Tat«, seufzte der Senator.

 

Er hatte gehofft, ungesehen in die Umkleideräume verschwinden zu können, doch seine Frau kam auf sie zugerannt, gefolgt vom untröstlichen Gastgeber Leblanc. Neill versuchte, beide so schnell wie möglich abzuwimmeln. Nein, er wäre nicht wirklich verletzt, doch, er fühlte sich gut und ja, er stank. Nur noch aus diesen Kleidern und weg von den Leuten wollte er, als das Gesicht seines Engels hinter Leblanc auftauchte.

 

»Wie ich schon sagte, Senator, wir betreiben ein gefährliches Geschäft.« Ein spöttisches Lächeln umspielte Alicias schmale Lippen.

 

Valletta, Malta

 

Nachdem das Projekt in Indien einigermaßen im Plan weiterlief, entwickelte sich Malta immer mehr zum Sorgenkind von Disruptive Technologies. Auch wenn sie es niemals zugeben würde, die smarte Kiera schien am Ende ihrer Kräfte. Höchste Zeit, ihr unter die Arme zu greifen, obwohl Lee kaum mehr als moralische Unterstützung bieten konnte. Immerhin kam nun etwas Bewegung in die Sache, da sie mit Hilfe ihres Freundes Luca einen Beamten der Malta Resources Authority aufgetrieben hatte, der bereit war, auszupacken.

 

Es schlug viertel vor zwölf vom nahen Kloster St. Ursula, als ihn das Taxi vor dem Hotel in Valletta absetzte. Zwei Stunden Zeit, zu duschen, sich mit einem Kinnie, dessen ersten Schluck er seinerzeit um ein Haar wieder ausgespien hätte, aufs Bett zu legen und hoffentlich ein wenig Schlaf nachzuholen. Kieras Kontakt bestand darauf, den Treffpunkt erst im letzten Augenblick bekanntzugeben. Er schien panische Angst davor zu haben, mit ihnen gesehen zu werden, doch sie wertete dies als gutes Zeichen. Warum diese übertriebene Vorsicht, wenn der Mann keine wichtigen Informationen hatte? Lee konnte nur hoffen, dass sich seine Mitarbeiterin nicht irrte, denn die Schikanen der Bürokraten rund um den Palace Square mussten endlich aufhören. Zudem war der verheerende Überfall auf die Fabrik noch immer nicht aufgeklärt.

 

Er streckte sich auf dem weichen Bett aus. Durch die Ritzen der Jalousien fiel grelles Sonnenlicht, warf ein blendendes Netz auf den Sandstein der Wand und die Fliesen des Fußbodens. Er schloss die Augen, horchte auf das Summen, das von den Straßen herauf durch die engen Gassen mit der warmen Brise ins Zimmer wehte, hin und wieder unterbrochen von der Fehlzündung eines Motors, vom zornigen Tröten einer Hupe, vom aufgeregten Gezwitscher der Spatzen auf dem Erker nebenan oder der wehmütigen Klage eines Schiffshorns im Großen Hafen. Die unerwarteten Probleme mit seinen Entsalzungsanlagen, die zerbrochene Beziehung, die neue Frau, die ebenso überraschend wie hartnäckig in sein Leben getreten war, die rätselhaften, beängstigenden Verstrickungen seines Vaters, alles rückte in weite Ferne, als er in einen unruhigen Halbschlaf fiel.

 

Plötzlich schreckte er hoch. Die schrille Glocke des Zimmertelefons schmerzte in seinen Ohren. Kiera war da, Zeit zu gehen. Er torkelte benommen ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, bis er wieder klar denken konnte und stieg die Treppe hinunter zum Empfang. Sie stand an der Tür, unterhielt sich mit einem unbekannten älteren Herrn, der inmitten spärlich bekleideter Touristen sofort durch einen eleganten Maßanzug, makellos glänzende Schuhe und sein gepflegtes graues Bärtchen auffiel.

 

»Lee, Gott bin ich froh, dass du hier bist«, rief sie, als sie ihn erblickte. Es hörte sich an wie ein tiefer Seufzer. Ihr Lächeln konnte nicht über die traurigen, geröteten Augen hinwegtäuschen. Die ehemals selbstbewusste, quirlige Frau mit dem eisernen Willen machte eher den Eindruck, als wollte sie im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen.

 

»Geht es dir gut?«, fragte er besorgt. Sie überhörte die unnötige Frage und deutete auf ihren unbekannten Begleiter:

 

»Darf ich dir Michele vorstellen? Michele Rizzo ist Polizeiinspektor in St. Julian’s. Er war der Einsatzleiter beim Überfall in Pembroke, und er ist ebenso frustriert wie Luca und ich, dass die Ermittlungen noch nicht weiter sind. Er hofft, heute neue Hinweise zu erhalten.« Sie sagte es, ohne Atem zu holen, offensichtlich bemüht, nur ja keine Schwäche zu zeigen. Lee gab dem Mann die Hand, die dieser mit festem Druck ergriff, und sagte:

 

»Inspektor Rizzo, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe in dieser üblen Sache.«

 

»Lassen Sie den Inspektor«, lächelte der andere. »Michele, einfach Michele. Ich bin sozusagen inkognito hier.«

 

»Er möchte nicht, dass ihn der Staatsanwalt als Polizisten erkennt«, fuhr Kiera aufgeregt dazwischen.

 

»Staatsanwalt?«

 

»Wir treffen uns in einer Viertelstunde mit Dr. Balzan. Er ist stellvertretender Staatsanwalt«, erklärte der Inspektor.

 

»Er ist der Kontakt, den Luca vermittelt hat, und er will nur informell und ohne Zeugen mit uns reden, verstehst du?« Lee verstand immerhin soviel, dass sie gleich ein Mitglied der obersten Führungsriege des Justizministeriums treffen würden, und das konnte sehr gut oder auch sehr schlecht sein, ohne nennenswerten Spielraum dazwischen, wie er schätzte.

 

»Michele arbeitet für uns in Pembroke, wenn Fragen gestellt werden«, meinte Kiera.

 

Sie stiegen in ihren Wagen. Auf dem Weg zum geheimen Treffpunkt fragte sich Lee, was diesen Dr. Balzan wohl dazu bewog, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie parkte wenig später am oberen Ende der St. Paul Street. Schweigend folgten sie dem Inspektor, der die Adresse der unscheinbaren Herberge in der steil zu den Festungsmauern abfallenden Triq Melita kannte. Kein Zeichen verriet, dass sich hinter dem rußgeschwärzten Tor im alten Gemäuer ein bescheidenes Gasthaus befand, wo noch jedes Zimmerchen einen Erker besaß. Der Besitzer, ein altes Männchen mit arabischen Gesichtszügen, das selbst Kiera um einen Kopf überragte, führte sie durch einen Vorraum in den Innenhof. Ein großer runder Ziehbrunnen markierte die Mitte des Platzes, dessen einzige Zierde sonst aus einem verkrüppelten Kastanienbaum bestand. An einem der zwei Blechtische unter dem schütteren Blätterdach erwarteten sie zwei Männer. Den einen kannte Lee von seinem letzten Besuch: Luca, der mehr als nur ein Auge auf Kiera geworfen hatte. Der andere war ein sportlicher junger Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und beginnender Glatze. Das kurzärmelige weiße Hemd trug er leger offen, ohne Krawatte, doch die dunkelblaue Anzughose, die glänzend polierten schwarzen Schuhe und die auffällig sorgsam manikürten Hände verrieten den Geschäftsmann oder Angestellten, der seine Zeit am Schreibtisch verbrachte. Das musste Dr. Balzan sein, der Mann aus dem Justizministerium. Sein Händedruck war energisch, und trotz der dunklen Sonnenbrille, die seine Augen verbargen, machte er einen offenen, vertrauenerweckenden Eindruck.

 

»Meine Dame, meine Herren, lassen Sie mich vorerst eines in aller Deutlichkeit klarstellen«, begann Balzan mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme. »Diese Unterhaltung hat nie stattgefunden. Alles was Sie hören darf diesen Kreis unter keinen Umständen verlassen. Davon hängt nicht nur meine, sondern auch Ihre Zukunft in diesem Land ab. Haben wir uns verstanden?« Er schaute reihum jedem in die Augen, fuhr erst fort, als alle ihre Zustimmung geäußert hatten. »Ich möchte Ihnen zuerst erklären, warum es überhaupt zu diesem Treffen gekommen ist. Vor einigen Wochen gab es, wie Sie wissen, einen Überfall auf die neue Entsalzungsanlage bei Pembroke, bei dem Vandalen erheblichen Sachschaden angerichtet und einen unserer Beamten spitalreif geschlagen haben.«

 

Kiera warf dem Inspektor einen vielsagenden Blick zu, doch er zeigte keinerlei Regung, obwohl er mit Sicherheit die Ohren spitzte.

 

In wenigen, klaren Sätzen beschrieb Balzan den Stand der Ermittlungen, Informationen, die sich mit allem deckten, was Kiera bereits berichtet hatte. Die nächsten Worte des Justizbeamten aber ließen alle aufhorchen: »Die Ermittlungen stocken, weil der in jener Nacht geflohene Nachtwächter angeblich nicht aufgefunden werden konnte. Wie vom Erdboden verschwunden, das ist die offizielle Version.«

 

»Wollen Sie damit andeuten, dass dies nicht stimmt?«, platzte der Inspektor heraus. Balzan nippte nachdenklich an der leeren Espressotasse, bevor er antwortete. Er sprach stockend, als müsste er sich jedes Wort sorgfältig zurechtlegen:

 

»Jetzt – ist er verschwunden, das stimmt. Aber er war zwei Tage im Gewahrsam der IRU.«

 

Die Augen des Inspektors weiteten sich noch mehr. »Was hat denn die International Relations Unit mit dem Fall zu tun?«, fragte er verständnislos.

 

»Der Mann hat ausgesagt, dass ihn eine Gruppe bezahlt hat, die von einem Ausländer geführt wird, den man nur den Kaptan nennt, und dieses Pseudonym ist unseren Leuten bei der IRU bekannt.«

 

»Kaptan, das ist Maltesisch für Kapitän, nicht wahr?«, fragte Lee leise mit einem Seitenblick auf Kiera. Balzan nickte und fuhr fort:

 

»Niemand weiß, wie er wirklich heißt, aber Interpol sucht ihn wegen verschiedener schwerer Delikte. Bestechung ist nur die Spitze des Eisbergs. Einen Tag, nachdem der Wächter diese Aussage gemacht hat, ist er an einen unbekannten Ort verlegt worden. Wir müssen davon ausgehen, dass er mittlerweile das Land verlassen hat.«

 

Er sagte das mit einem fast unbeteiligten Ton, obwohl ihm anzusehen war, dass ihm die Tatsache zu schaffen machte.

 

Kiera begriff offenbar am schnellsten, was Balzans letzter Satz zu bedeuten hatte.

 

»Aber – das heißt doch, dass die Anordnung von ganz oben ...«, rief sie aus.

 

»Von Staatsanwalt Turner persönlich, wie ich herausgefunden habe«, nickte Balzan.

 

»Mein Gott.« Sie blickte erschreckt in die Runde.

 

»Er hat auch die neusten Auflagen für, oder vielmehr gegen Ihre Firma angeordnet. Begreifen Sie jetzt, weshalb niemand etwas von unserem Treffen erfahren darf?«

 

Sie schwiegen betreten, bis der Inspektor aussprach, was jeder dachte: »Sie verdächtigen den Staatsanwalt, mit diesem Kaptan ...«

 

Weiter kam er nicht, denn plötzlich schien das Haus mit einem lauten Krach einzustürzen, derart ohrenbetäubend war das Getöse, das von der Gasse her durch das Tor donnerte.

 

»Die Motos, die Motos!«, schrie der Gastwirt atemlos, während er in unbeholfenen Sprüngen an ihren Tisch rannte. Der Lärm entfernte sich, aber der Mann beruhigte sich keineswegs. »Sie müssen weg hier, sofort, bevor sie wiederkommen!« Alle waren aufgesprungen. Balzan stand unschlüssig am Tisch, starrte mit aufgerissenen Augen zum Tor und ließ sich widerstandslos von Luca zum Ausgang zerren.

 

»Kommen Sie, wir müssen uns beeilen.«

 

Lee verstand nicht, was die Aufregung zu bedeuten hatte und Kiera erging es ähnlich. Hilfesuchend wandten sie sich an den Inspektor, der den beiden Männern mit besorgter Miene nachschaute. Ohne den Blick abzuwenden, sagte er:

 

»Eine berüchtigte Motorradgang, die im Ruf steht, die Dreckarbeit für jeden zu erledigen, der genug bezahlt«, und als müsste er einen Grund nachliefern, ergänzte er: »Auch wir haben inzwischen fast fünfzehn Prozent Jugendarbeitslosigkeit.«

 

Lee verstand, dass Balzan das Risiko nicht eingehen wollte, mit ihnen zusammen von diesen Kerlen erwischt zu werden. Man konnte nicht wissen, ob sie genau zu diesem Zweck angeheuert worden waren. Sein Verdacht bestätigte sich schneller, als ihnen allen lieb war. Luca und Balzan hatten das Tor noch nicht erreicht, als das höllische Knattern der schweren Maschinen wie aus dem Nichts zurückkehrte. Im gleichen Augenblick erzitterte das Tor unter lautem Poltern, als schmetterte jemand einen Baseballschläger an die alten Bretter. Fassungslos blieben alle wie angewurzelt stehen.

 

Wieder war es Luca, der als Einziger einen kühlen Kopf zu bewahren schien. Mit gedämpfter Stimme, aber im Ton eines Befehlshabers, der keinen Widerspruch duldete, gab er seinen Plan bekannt:

 

»Ismail, du rufst die Polizei, dann öffnest du die Tür, sobald ich das Zeichen gebe.« Das Männchen nickte, zitternd wie ein aufgescheuchtes Küken.

 

»Dr. Balzan und ich bleiben hier. Uns wird nichts passieren, aber du, Kiera, und Sie beide müssen verschwinden. Kommen Sie!« Er eilte zum Brunnen in der Mitte des Hofs. »Die dürfen Sie nicht im Haus finden. Das ist die einzige Möglichkeit, es gibt keinen Hinterausgang.« Er zeigte in den Brunnen hinunter. Sie blickten in ein schwarzes Loch, dessen Boden nicht zu sehen war.

 

Der Mob polterte heftiger an die Tür, begehrte lautstark Einlass. Lange würde das altersschwache Schloss dem Druck der Bande nicht mehr standhalten. Kiera unterdrückte einen Schreckensschrei und presste entsetzt die Hand vor den Mund. Weiß wie ein Leintuch schaute sie vom Brunnen zu Luca und wieder in den Abgrund. Ihr Freund nahm sie in die Arme und flüsterte ihr schnell etwas ins Ohr. Dann zischte er: »Hier hinunter, den Eisensprossen entlang. Unten führt ein Gang aus dem Haus. Los!«

 

Der Inspektor erwachte plötzlich aus seiner Starre. »Ja, ich habe darüber gelesen«, murmelte er. »Folgen Sie mir!« Er kletterte behände über die Mauer und verschwand im nächsten Augenblick im Brunnen. Luca hob die widerstrebende Kiera kurzerhand über die Brüstung. Er wartete geduldig, bis ihre Füße Halt auf den Sprossen gefunden hatten, flüsterte ihr beruhigend zu, hielt sie an den Armen fest. Das Tor drohte jeden Augenblick zu bersten, doch Luca redete ungerührt weiter auf seine Freundin ein, bis er sie schließlich loszulassen wagte. Sofort folgte ihr Lee. Mit schweißnassen Händen hielt er sich an den eisernen Griffen fest, versuchte seinerseits der verängstigten Kiera Mut zu machen und hoffte inständig, dass die Tür wenigstens so lang standhielte, bis sein Kopf nicht mehr zu sehen wäre.

 

Ein Knall, Holz splitterte, er hörte, wie das Tor aufsprang. Nur zwei oder drei Meter trennten ihn vom Brunnenrand. Der Krach schien Kiera zu beflügeln. Die seltsame Prozession den senkrechten Schacht hinunter beschleunigte sich merklich. Trotzdem war es nur eine Frage weniger Sekunden, bis man sie entdeckte, fürchtete er, doch kein Gesicht erschien über ihren Köpfen. Niemand interessierte sich für den schwarzen Schacht. Nur Stimmengewirr und vereinzelte ärgerliche Rufe drangen zu ihnen hinunter. Noch waren sie nicht in Sicherheit, aber die Umgebung wurde zunehmend dunkler, kühler und strahlte die Ruhe einer abgeschiedenen Kapelle aus.

 

»Hier ist der Gang, kommen Sie!«, drängte der Inspektor. Er hatte den Boden erreicht und stand gebückt in einer Art Höhle gegenüber der Leiter. »Kopf einziehen!« So schnell es ging, tasteten sie sich in der Dunkelheit in den Stollen hinein. Nach einer Weile blieb der Inspektor stehen. Sein Feuerzeug flammte auf und sie sahen, dass sie sich in einem Kanal befanden, der früher einmal Wasser geführt hatte.

 

»Die Tunnels der Kreuzritter«, flüsterte er andächtig.

 

Lee fröstelte. »Ein Wassersystem aus der Zeit der Kreuzzüge?«, fragte er, überwältigt vom Gedanken, in einem Zeittunnel zu stecken.

 

»Nicht die Kreuzzüge. Die fanden im elften bis dreizehnten Jahrhundert statt. Nein, soviel ich weiß, stammen diese Tunnels aus dem sechzehnten oder frühen siebzehnten Jahrhundert, als die Johanniter Valletta gegen die Türken befestigten.«

 

Der leicht ansteigende Weg ging schnurgerade weiter. Lee vermutete, dass er nach Osten oder Nordosten zur Stadtmitte führte, aber auch er verlor bald die Orientierung.

 

»Man hat stets von einem geheimen Tunnelsystem, von einem Netz unterirdischer Gänge und Strassen gemunkelt«, murmelte der Inspektor, als er sich voran tastete. »Jahrhunderte hat niemand etwas gefunden, bis man im Februar 2009 eine Tiefgarage unter dem Palace Square bauen wollte. Da entdeckte man die ersten Gänge, und wie es aussieht, gibt es sie tatsächlich, die unterirdische Stadt der Kreuzritter.«

 

Kiera hatte seit dem Einstieg kein Wort mehr gesagt. Beinahe apathisch trottete sie zwischen den Männern durch den Tunnel. Als der Inspektor nochmals anhielt und das Feuerzeug betätigte, machte sie endlich den Mund auf und fragte leise:

 

»Wo geht’s hier raus, Michele?«

 

»Keine Angst. Da vorne zweigt ein Gang ab, der nach oben führt. Wir werden es dort versuchen. Wenn es kein Ausgang ist, können wir immer noch umkehren, warten bis die Kerle verschwunden sind und aus dem Brunnen steigen.« Der Inspektor wollte sie beruhigen, doch im Grunde gab er nur zu, selbst keine Ahnung zu haben, wie es weitergehen sollte.

 

»Ich muss hier raus«, fauchte sie trotzig. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel an der drohenden Panikattacke.

 

»Licht!«, riefen beide Männer gleichzeitig, als sie in den Seitengang hineinblickten. Kein Zweifel, ein schwacher, flackernder Lichtschein fiel in den Tunnel, gerade hell genug, dass sie die Treppenstufen am anderen Ende sehen konnten.

 

»Ein Zugangsstollen«, seufzte Lee erleichtert. »Gleich haben wir es geschafft.«

 

»Als ob du das wüsstest«, brummte Kiera.

 

»Nicht erschrecken, ist nur eine Ratte«, rief der Inspektor plötzlich, doch es war schon zu spät. Kiera schrie auf und machte einen Satz, als das Tier an ihren Füssen vorbeihuschte. Ihr Kopf schlug hart an den Fels. Sie ging in die Knie und blieb wimmernd liegen. Sofort beugte sich Lee über sie.

 

»Mein Gott, bist du O. K.?« Sie antwortete nicht, rieb sich benommen den Kopf.

 

»Blut – Scheißvieh«, schimpfte sie schließlich. Er hielt ihr ein Taschentuch hin und half ihr auf die Beine.

 

»Geht’s wieder?«

 

»Wunderbar«, sagte sie und wankte weiter.

 

Der Inspektor stand oben an der Treppe, vor einer Mauer. Nur durch einen Spalt an der Decke, zu schmal um hindurchzukriechen, strömte modrige Luft in den Tunnel. Hinter der Öffnung flackerte das Licht, das ihnen den Weg gewiesen hatte. Sie hörten gedämpfte Stimmen und das klappernde Geräusch von Absätzen auf Steinplatten. Aber die Mauer verwehrte ihnen den Zugang zum belebten Raum. Lee unterdrückte einen Fluch. Er wagte seine Mitarbeiterin nicht anzusehen, während er sich an ihr vorbei zwängte. Die Mauer machte einen soliden Eindruck. Trotzdem rüttelte er an einem der Steine und zuckte erschrocken zurück, als er sich bewegte.

 

»Achtung, vielleicht können wir das Loch vergrößern«, rief er erregt. Er stieß den Block mit aller Kraft nach hinten. Wieder bewegte er sich ein paar Zentimeter. Der schwere Stein polterte erst mit lautem Krach auf der anderen Seite zu Boden, als sich auch der Inspektor gegen die Mauer stemmte. »Scheiße, wer sagt’s denn!«, fluchte er keuchend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Loch war noch nicht groß genug. Ein Stein, nur ein einziger Stein trennte sie noch vom Weg ans Tageslicht. Es war Schwerstarbeit, aber nach minutenlangem Reißen, Stemmen und Stoßen gelang es ihnen, mit einem gemeinsamen Urschrei auch den zweiten Block aus der Mauer zu lösen. Im gleichen Augenblick, als der Felsbrocken zu Boden krachte, ertönte ein vielstimmiges Geschrei auf der anderen Seite der Mauer, das sich blitzschnell entfernte. Es hörte sich an, als flüchteten Leute in wilder Panik aus der unbekannten Kammer. Während Lee und der Inspektor sich noch verwundert anschauten, kroch Kiera bereits durch den Spalt. Kurz nachdem ihre Beine verschwunden waren, hörten sie ihr lautes Gelächter.

 

»Kein – kein Wunder, haben wir die Touristen erschreckt«, rief sie außer Atem. »Das hier ist eine Grabkammer.«

 

»Die Krypta von St. John’s«, murmelte der Inspektor ehrfürchtig. »Der Tunnel hat uns nach Nordosten geführt. Das muss die Krypta der Kathedrale sein.«

 

Sie fanden Kiera staunend zwischen zwei Sarkophagen stehen.

 

»Zwölf Särge«, sagte sie wie zu sich selbst. »Wer hier wohl liegen mag?«

 

»Die ersten zwölf Großmeister sind hier begraben«, antwortete der Inspektor mit belegter Stimme. Für ihn war dies ein heiliger Ort, das hörte man. Die weihevolle Stille der jahrhundertealten Krypta, für einmal ohne hüstelnde, tuschelnde und albern kichernde Besucher, ergriff auch Lee, der nichts mit Religion und ihrer Geschichte anfangen konnte.

 

Die Gesichter grau vom Staub, die Kleider verschmutzt und zerrissen, mit Dreck und gar Blut an den Händen stiegen sie die Treppe hoch in die Kapelle des Seitenschiffs. Verängstigte Touristen stoben entsetzt auseinander, als sie sich wortlos, mit finsteren Gesichtern, den Weg zum Ausgang der St. John’s Co-Cathedral bahnten. Wie ein unwirklicher Spuk huschten sie über den belebten Vorplatz in die Strasse, die zur St. Paul’s hinunter führte. Erst als sie im Wagen saßen, Fenster geschlossen und Türen verriegelt, atmete Kiera hörbar auf.

 

»Das nächste Mal werde ich etwas anderes anziehen«, seufzte sie.

 

»Und ich erst«, lachte der Inspektor mit einem wehmütigen Blick auf seinen ruinierten Anzug. Lee grinste. Er fand die Ausbeute des Tages ganz in Ordnung und sagte es auch:

 

»Der Ausflug hat sich gelohnt, meine ich.«

 

»Allerdings«, nickte der Inspektor. »Vor allem weiß ich jetzt, dass diese Sache ein paar Nummern zu groß für uns in St. Julian’s ist. Tut mir leid, Herrschaften, aber mit dem Staatsanwalt kann ich mich nicht anlegen.«

 

Kieras Gedanken waren offenbar schon wieder einige Schritte voraus, denn sie bemerkte nüchtern:

 

»Diesen Kaptan müsste man finden. Dann könnte der gute Dr. Balzan zuschlagen.«

 

»Das wäre tatsächlich die Lösung, aber ...«

 

»Festhalten!«, schrie sie unvermittelt, startete den Motor und gab Vollgas. Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen nach vorn, Richtung Melita Street. Lee stemmte sich krampfhaft gegen den Vordersitz und wunderte sich, welcher Teufel seine Kollegin nun wieder ritt. Der Wagen schrammte um die Ecke, da sah er den Grund ihrer Eile. Vor ihnen raste die Bande, der sie den unfreiwilligen Ausflug zu verdanken hatten, auf ihren Motorrädern aus der Stadt. Weit und breit keine Spur von Polizei. Entweder hatte der verdatterte Ismail nicht angerufen, oder die Gang genoss tatsächlich so etwas wie Immunität. Kein sehr beruhigender Gedanke.

 

»Lassen Sie mich ans Steuer, Kiera. Ich will wissen, wohin die fahren«, drängte der Inspektor auf dem Beifahrersitz. Sie klammerte sich mit grimmiger Entschlossenheit ans Lenkrad und schimpfte:

 

»Ich auch, verdammt noch mal. Lassen Sie mich nur machen, ich werde diese Arschlöcher schon kriegen!«

 

Zwecklos, mit ihr in diesem Zustand zu argumentieren. Lee wusste das, und der Inspektor musste es nach zwei weiteren Versuchen auch einsehen. Die Bande kümmerte sich wie erwartet nicht um Verkehrsregeln. Viel zu schnell rasten die Motorräder die Floriana hinunter, doch die Prachtstrasse war breit genug, dass Kiera keine Mühe hatte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Während der Inspektor sich zusehends entspannte, krampften sich Lees Hände um jeden Halt, den er finden konnte. Das Déjà-vu der haarsträubenden Taxifahrt tauchte immer wieder in seinen Gedanken auf, und er schwor sich zum zweiten Mal, in Zukunft um jedes Fahrzeug auf dieser verrückten Insel einen weiten Bogen zu machen.

 

»Die wollen auf die andere Seite des Hafens«, bemerkte der Inspektor, nachdem sie den großen Kreisel in Marsa passiert hatten.

 

An der Einfahrt zur Landzunge von Senglea fuhr ihnen ein Bus vor die Nase. Die Motorräder flitzten ohne Mühe links und rechts am gelben Oldtimer vorbei, doch ihrem Auto ließ der starke Gegenverkehr keine Chance zum Überholen.

 

»Scheiß drauf!«, rief Kiera wütend, riss das Steuer herum und schmierte hupend über den Gehsteig am Hindernis vorbei. Lee schloss die Augen. Das wahnwitzige Manöver hatte sie zuviel Zeit gekostet. Die Gang war verschwunden.

 

»Mist!« Energisch hieb sie aufs Lenkrad, als wollte sie den Wagen für die verpatzte Verfolgung bestrafen. Der Inspektor überlegte laut:

 

»Wie es aussieht, haben sie die Hauptstrasse verlassen. Ich glaube, es ist noch nicht zu spät. Wahrscheinlich treiben sie sich in der Vittoriosa herum. Fahren Sie da vorne links hinunter.« Langsam fuhren sie durch die plötzlich wieder sehr engen Strassen der Stadt, die der unseligen Herberge in der Melita Street ziemlich genau gegenüber am anderen Ufer des Hafenbeckens lag. Der chaotische Verkehrslärm der Hauptstrasse war hier kaum mehr zu vernehmen. Kiera hielt an und kurbelte das Fenster herunter.

 

»Vielleicht hören wir sie«, murmelte sie ohne große Hoffnung. Der Inspektor stieß plötzlich die Tür auf, trat auf den Gehsteig hinaus und streckte den Hals. Einen Augenblick später drehte er sich um, ein zufriedenes Grinsen im Gesicht.

 

»Hören nicht, aber sehen«, sagte er. »Kommen Sie, wir gehen am besten zu Fuß.« Die steil abfallende Seitengasse mündete in eine Strasse, auf deren gegenüberliegenden Seite sich eine Terrasse mit Blick auf die Kais befand. Eine ältere, schwarz gekleidete Frau saß am Tisch im Schatten eines alten Baums und redete eifrig gestikulierend auf das junge Mädchen gegenüber ein, das nichts zu hören schien und gleichgültig aufs Wasser hinunter schaute. Unmittelbar daneben standen fünf Motorräder, die nur der Gang gehören konnten. Der Inspektor unterhielt sich kurz mit der Frau. Die deutete auf die Treppe, die nach unten zum Hauseingang führte. Bevor sie hinunterstiegen, hielt Kiera den Inspektor zurück und bat ihn:

 

»Fragen Sie die nach dem Kaptan.« Achselzuckend stellte er die Frage auf Maltesisch. Wieder zeigte die Frau wortreich zum Treppenabgang. Der Inspektor kam kopfschüttelnd zurück und lachte grimmig:

 

»Das darf nicht wahr sein. Sie kennt ihn. Interpol sucht den Mann seit Jahren, und er spielt hier den friedlichen Nachbarn. Jedenfalls wohnt ein Mann namens Berzin in diesem Haus, den alle nur den Kaptan nennen. Ich kann’s nicht fassen.«

 

»Berzin – ist das ein maltesischer Name?«, fragte Lee, als sie die Treppe hinunterstiegen.

 

»Nein, hört sich eher nach Ostblock an. Russisch vielleicht.«

 

Die Antwort ließ ihn aufhorchen, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick stürmten drei oder vier in schwarzes Leder gekleidete Gestalten um die Ecke und bahnten sich rücksichtslos den Weg an ihnen vorbei, über ihre Füße, die schmale Treppe hinauf. Motoren heulten auf, die Luft erzitterte vom Geknatter der startenden Maschinen, dann war der Spuk vorbei. Stille kehrte ein, als hielte die ganze Gegend den Atem an.

 

»Nein«, rief der Inspektor, als er sah, dass Kiera kehrt machte und die Bande verfolgen wollte. »Es hat keinen Zweck, sehen wir lieber im Haus nach, aber bleiben Sie vorsichtig hinter mir.«

 

Die Haustür stand halb offen. Eine dunkle Holztreppe führte in den ersten Stock, zur Wohnung des Kaptan, wenn die Frau die Wahrheit gesagt hatte. Irgendwo über ihnen schlug eine Tür zu, sonst blieb alles ruhig. Es roch streng nach gerösteten Zwiebeln und Kräutern. Vielleicht stand der nette Herr Berzin in der Küche, nahm gerade seinen Fisch aus.

 

»Sie bleiben hier«, befahl der Inspektor Kiera, und diesmal duldete er keine Widerrede. Sie wollte aufbrausen, aber Lee beschwichtigte sie mit einer schnellen Handbewegung. Es konnte wirklich gefährlich werden da oben, auch wenn der Inspektor zweifellos bewaffnet war. Widerstrebend blieb sie am Treppenabsatz stehen, während Lee dem Polizisten nach oben folgte.

 

Das Namensschildchen bei der Klingel war nicht beschriftet. Es gab jedoch nur eine Wohnung auf diesem Geschoss. Sie musste diejenige des Kaptan sein. Auch die Wohnungstür stand halb offen.

 

»Sonderbar«, murmelte der Inspektor. Vorsichtig steckte er den Kopf durch den Türspalt und spähte in den dunklen Flur, bevor er die Klingel drückte. Nichts geschah. Er versuchte es nochmals, aber sie hörten keine Türglocke. Er griff ins Jackett. Als er die Hand wieder herauszog, glänzte eine Pistole in seiner Faust. Er bedeutete Lee, sich neben die Tür zu stellen, wo er nicht sofort zu sehen war, dann rief er laut: »Mr. Berzin? Hallo, sind Sie da?« Keine Antwort. Im ersten Moment geschah gar nichts, doch plötzlich ging alles sehr schnell. Die Tür wurde aufgerissen, eine Gestalt schoss heraus, überrannte den Inspektor und sprang in großen Sätzen zur Treppe. Noch während der Polizist zu Boden ging, stieß er einen lauten Warnruf aus.

 

Die schwarze Gestalt hetzte schon die Stufen hinunter, als Lee endlich begriff, dass Kiera in höchster Gefahr war. Mit einem wüsten Fluch setzte er dem Flüchtigen nach. Unten krachte etwas hart auf den Boden. Ein gellender Schmerzensschrei, ein dumpfer Schlag, dann herrschte Ruhe.

 

»Kiera!«, schrie er. Halb blind vor Angst und Wut sauste er die Treppe hinab, den Inspektor im Nacken. Sie stand am Treppenabsatz, als hätte sie sich nicht vom Fleck gerührt und schaute ungläubig auf den Körper, der vor ihr auf dem Boden lag.

 

»Hab dem Idioten ein Bein gestellt«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. Ein junger Mann, ganz in schwarzes Leder gekleidet, krümmte sich am Boden und rieb sich stöhnend das Knie. Ein Mitglied der Motorradgang, kein Zweifel. Blitzschnell legte ihm der Inspektor Handschellen an, fesselte ihn gleichzeitig ans massive Treppengeländer.

 

»Um dich werde ich mich später kümmern«, knurrte er und eilte wieder zurück in die Wohnung des Kaptan. Kiera schien erst jetzt zu realisieren, was sie getan hatte. Sie erbleichte und setzte sich zitternd auf die Stufen. Lee legte den Arm um sie, aber sie entwand sich seinem Griff.

 

»Ich bin in Ordnung, Lee. Du solltest nach oben gehen. Der Inspektor kann deine Hilfe besser brauchen. Vielleicht sind da noch mehr von der Sorte.« Er schaute sie zweifelnd an.

 

»Bist du sicher? Kann ich dich allein lassen mit diesem – wie sagst du – Idioten?«

 

»Geh schon!«

 

Er fand den Inspektor mit dem Kaptan in der Küche, doch der Mann mit dem russischen Namen war nicht am Kochen. Er lag mit aufgeschlitzter Kehle am Boden in seinem Blut. Mausetot.

 

»Vorsicht, nichts berühren«, herrschte ihn der Inspektor an, als er nähertrat, um das Gesicht des Toten besser zu sehen. Konnte er es sein? War er der Kapitän der unseligen Spassky? So sehr er sich anstrengte, das Gesicht und die Gestalt zu seinen Füßen sagten ihm nichts. Der penetrante Zwiebelgestank stammte offensichtlich aus dieser Küche. Die Pfanne stand noch auf dem Herd, aber die Gasflamme war erloschen. Gas!

 

»Scheiße!«, fluchte er erregt, hechtete zum Herd und drehte den Gashahn zu, bevor er wie der Blitz durch alle Zimmer raste und die Fenster weit aufriss. Atemlos kehrte er zum Inspektor zurück. Hätten sie den Letzten der schwarzen Bande nicht bei der Arbeit gestört, wäre ihnen wohl kurze Zeit später das Haus um die Ohren geflogen. Die Leute wollten gründlich aufräumen.

 

Die kleine Wohnung bestand aus einem Wohnschlafzimmer, Küche, Bad und einer fensterlosen Abstellkammer. Beim Spurt durch die Zimmer war ihm nichts sonderlich aufgefallen, außer dass der Bewohner ein ordentlicher Mensch gewesen sein musste. Noch nicht einmal eine Zeitung lag herum. Da sprang ihm das Notizbuch, dessen vergoldete Ecke hinter dem Telefon hervorguckte, geradezu in die Augen. Er versicherte sich, dass der Inspektor ihn nicht beobachtete und hob das Büchlein auf. Ein Adressbuch, gefüllt mit Zahlencodes und Nummern, Telefonnummern, wie er annahm. Hin und wieder stand eine Adresse, meist in kyrillischer Schrift, neben den Zahlen. Material für den Erkennungsdienst, und hoffentlich aufschlussreich für Interpol. Er wollte das Buch schon zurücklegen, als ihm eine Reihe spezieller Telefonnummern augenblicklich das Blut in die Schläfen trieb. Sein Puls beschleunigte sich, als er nach weiteren ähnlichen Nummern blätterte. Er fand nur diese eine Seite, aber die hatte es in sich. Alle Nummern begannen mit 1-312, der ihm bestens bekannten Vorwahl von Downtown Chicago. Sein erster Gedanke war, die Seite einfach herauszureißen, doch dann besann er sich eines Besseren. Er zog sein Handy aus der Tasche und fotografierte die Nummern.

 

»Sie müssen hier verschwinden«, sagte der Inspektor hinter ihm. Er stand in der Türöffnung. »Was ist das?« Mit heißen Ohren legte Lee das Büchlein zurück und murmelte verlegen:

 

»Tut mir leid, ich – es ist ein Adressbuch.«

 

»Ich sagte doch, Sie sollten nichts anfassen.« Der Beamte warf ihm einen strengen Blick zu und deutete mit dem Kopf zur Tür. »Los, der Ausflug ist zu Ende. Ich muss jetzt die Kollegen rufen. Weiß Gott, was ich denen erzählen soll. Auf jeden Fall werden Sie beide in diesem Märchen nicht vorkommen.« Lee verstand ihn nur allzu gut.

 

»Ich bin ehrlich froh, nicht in Ihrer Haut zu stecken, Michele. Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie sich so hartnäckig für uns einsetzen. Sollte der Tote in der Küche wirklich der berüchtigte Kaptan sein, ist Ihnen ein kapitaler Fisch ins Netz gegangen, gratuliere.«

 

»Ein Fisch, den die Motos offensichtlich zum Schweigen bringen mussten. Wie auch immer, verschwinden Sie jetzt – und entschuldigen Sie mich bei der Lady.« Mit schiefem Grinsen gab er Lee die Hand.

 

»Eine letzte Frage hätte ich noch, Michele: spinnen alle Autofahrer auf dieser Insel?«

 

Der Inspektor schüttelte lachend den Kopf. »Man muss nicht verrückt sein, um auf Malta Auto zu fahren, aber es hilft«, sagte er. »Altes Sprichwort.«

 

Empty Bottle, Chicago

 

Lee wunderte sich. Seit er von Malta zurück war, liefen morgens nur die Bildschirmschoner an Russell Taylors Arbeitsplatz. Der Computerspezialist war nicht mehr der erste im Büro. Und er hatte sichtbar abgenommen, sah schon beinahe sportlich aus. War es möglich, dass das Programmiergenie einen zweiten Lebensinhalt entdeckt hatte? Er ging ans Fenster und öffnete es. Die frische Morgenluft ließ ihn angenehm frösteln. Nach dem Glutofen auf der Mittelmeerinsel empfand er jede Temperatur in seiner Heimatstadt als willkommene Abkühlung. Ein Wagen hielt vor dem Hauseingang. Ein Wagen, der ihm sehr bekannt vorkam. Russ sprang heraus und eilte ins Gebäude. Das Auto brauste davon. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, er musste sich irren, aber fragen konnte nicht schaden.

 

»Sag mal, war das eben Annas Wagen da unten?«, rief er ihm entgegen, als Russ sich mit seiner Wasserflasche vor die Bildschirmwand setzte. Es dauerte erstaunlich lange, bis die Antwort kam:

 

»Spionierst du mir nach?«

 

»Das war nicht die Frage, aber nein, ich habe nur zufällig aus dem Fenster gesehen. So was kommt vor.«

 

Russ sagte nichts mehr. Im Grunde ging ihn das Privatleben seines Kollegen auch wirklich nichts an, aber wundern würde es ihn schon.

 

Er setzte sich an den Schreibtisch und weckte seinen Computer. Nur ein Dutzend Mails seit gestern Abend, es versprach ein ruhiger Tag zu werden. Wie üblich überflog er zuerst die wenigen Meldungen in seinem A-Postfach, wohin der Server die Mails seiner wichtigsten Mitarbeiter leitete. Er schmunzelte, als er die Betreffzeile von Kieras Mitteilung las: High Noon am Independence Square. In ihrer trockenen Art schilderte sie das politische Erdbeben, das die Festnahme des Gangmitglieds und das Aufspüren des Kaptan auf Malta ausgelöst hatten. Die Nachwirkungen erschütterten Valletta offenbar bis in die höchsten Regierungskreise.

 

Lieber Lee,

 

unser kleiner Ausflug hat sich gelohnt, wie du vermutet hast. Gestern Mittag wurde Staatsanwalt Dr. Matthew Turner mit sofortiger Wirkung gefeuert. Man hat ihm Korruption und Verbindungen zur kriminellen Moto-Gang nachgewiesen. Er war es wohl, der den Kaptan zum Schweigen bringen wollte. Man vermutet, er habe ihn erpresst. Aber all die pikanten Details kannst du im Artikel nachlesen, den ich beifüge, da ich davon ausgehe, dass die amerikanischen Medien diese schöne Insel noch nicht kennen. Turners Stellvertreter Dr. Balzan übernimmt nun seinen Laden und beginnt bereits aufzuräumen. Luca meint, dass wir die Betriebsbewilligung in einigen Tagen erhalten werden. Wie du im Artikel siehst, musste auch Justizminister Mattocks gleichentags seinen Hut nehmen. Ich frage mich ernsthaft, ob die einen wie dich nochmals auf die Insel lassen.

 

Gruß,

 

Kiera

 

Mit breitem Grinsen leitete er die Mail an alle Mitarbeiter weiter und wartete auf das Echo. Nur wenige Sekunden dauerte es, bis das Trommeln und Pfeifen an den Schreibtischen losging und man ihm mit Plastikflaschen und Kaffeetassen enthusiastisch zuprostete. Er erhob sich, verneigte sich feierlich nach allen Seiten und sagte laut genug, dass es die ganze Belegschaft hörte:

 

»Das Lob gebührt ganz allein Kiera. Ohne ihre Fahrkünste sähen wir jetzt alt aus.« Er achtete nicht weiter auf die verblüfften Gesichter, setzte sich wieder und begann mit der eigentlichen Arbeit.

 

San Diego machte Druck. Seine Firma musste jetzt liefern, doch das war schwierig ohne zusätzliche Produktionskapazität, sprich zusätzliche Investitionen, sprich Geld. Die Idee mit dem Börsengang hatte er durch die Ereignisse der letzten Tage etwas aus den Augen verloren, doch keineswegs abgeschrieben. Langfristig war das die Lösung. Kurzfristig Kapital beschaffen konnte man damit nicht. Er öffnete die Mail seines Projektleiters für Kalifornien mit gemischten Gefühlen.

 

»Brillant«, murmelte er, während er den Text überflog. Er wusste, dass sein Mann in San Diego ein geschickter Vermittler war, aber dass er die schon beinahe arroganten Auftraggeber dazu gebracht hatte, diesen Deal zu akzeptieren, grenzte an ein Wunder. Die sturen Anwälte der Stadtverwaltung hatten bisher jede Vorauszahlung strikt abgelehnt, doch nun war ein anständiger Vertrag unterschriftsbereit, der drei Geldflüsse vorsah: ein Drittel Vorauszahlung bei Vertragsabschluss, ein Drittel bei Lieferung, ein Drittel nach Abnahme, so wie es sich gehörte. Die sechs Millionen Vorauszahlung reichten gerade für die nötigen Investitionen.

 

Wunderbar, schon zwei hartnäckige Probleme gelöst an diesem schönen Morgen. Als er zum Fenster hinausschaute, brach er unwillkürlich in lautes Gelächter aus. Draußen zogen dunkle Wolken auf, und die ersten schweren Tropfen klatschten aufs Sims.

 

»Wieder Neues von den Kreuzrittern?«, rief es hinter Russ’ Bildschirmwand.

 

»Nein, aber mich würde trotzdem interessieren, wessen Auto das war heute Morgen.« Es blieb still hinter den Monitoren. Schmunzelnd schlenderte er an Russ’ Festung vorbei zur Kochnische, wo er für einmal keinen leeren Kaffeekrug vorfand. Alex, das stille Mädchen für alles in seiner kleinen Firma, stand mit dem Telefon am Ohr vor dem Kocher und trommelte ungeduldig auf den Tisch, um den Filter zu höherem Durchsatz anzuspornen. Sie sah ihn kommen, errötete und brach das Gespräch schnell ab.

 

»Die Mutter«, seufzte sie mit einem vielsagenden Blick, der offenbar erklären sollte, weshalb sie in ihrer Pause telefonierte. Die Frau hatte ein ernstes Problem. Lee lächelte beruhigend und bemerkte ironisch:

 

»Ja, die lieben Eltern, sie können einen manchmal ganz schön auf Trab halten.« Sie goss sich wortlos eine Tasse Kaffee ein, dann zog sie sich eilig an ihren Schreibtisch zurück.

 

Das Telefon erinnerte ihn an das Foto im Speicher seines Handys, zu dessen Auswertung die Zeit bisher gefehlt hatte. Er holte die Seite aus dem Adressbuch des Kaptan auf den Bildschirm. Vier Nummern aus Chicago, die er mit der Suchmaschine im Internet nicht finden würde, wie er annahm. Er wählte die einfachste Methode, stellte sicher, dass die Rufnummern-Unterdrückung korrekt eingeschaltet war und rief die oberste Nummer in der Liste an. Schon nach dem ersten Summton meldete sich eine Frauenstimme:

 

»Mc Guane Security Services, Sie wünschen?« Einigermassen überrascht unterbrach er die Verbindung. Eine stinknormale Firmennummer. Er notierte sich den Namen auf einer Papierserviette. Beim zweiten Versuch hatte er weniger Glück.

 

»Ja?«, krächzte eine heisere Männerstimme.

 

»Mc Guane Security Services?« Es war ein Schuss ins Blaue, aber die Antwort verblüffte ihn derart, dass ihm beinahe das Telefon aus der Hand fiel:

 

»Wer? Nein, das Lager von Mamot. Woher haben Sie diese Nummer?«

 

»Entschuldigung – falsch verbunden«, stammelte er und drückte schnell den roten Knopf. Mamot, Heiliges Kanonenrohr! Sofort schwirrten Erinnerungsfetzen wie ein Film im Zeitraffertempo durch seinen Kopf. Mamot war ganz offensichtlich in die Schwierigkeiten verwickelt, gegen die sie in Indien zu kämpfen hatten, und nun Malta, der Kaptan. Die Spassky? Die Sabotage in Pembroke? Die Liste wurde immer interessanter. Er wählte die dritte Nummer.

 

»Mamot Waters, Büro Executive Vice President Guyot, Sie wünschen?« Wieder stockte ihm der Atem. Er wunderte sich, wie hoch hinauf in Mamots Hierarchie die Kontakte dieses Kaptan reichten.

 

»Ich möchte den EVP sprechen«, sagte er in geschäftsmäßigem Ton.

 

»Wen darf ich melden und in welcher Angelegenheit?« Darauf war er nicht vorbereitet. Er hatte erwartet, dass die Liste zu irgendwelchen dubioser Gestalten führte, nicht in die Vorzimmer eines Großkonzerns. Der Drang, sofort aufzulegen, war groß, doch seine Neugier überwog. Kurzerhand stellte er sich vor und ließ Titel und Namen seines Vaters als Grund für den Anruf fallen.

 

»Miss Guyot ist leider zur Zeit nicht im Haus, Sie kann Sie aber am Nachmittag zurückrufen.« Es war ihm später nicht klar, ob die Tatsache, dass Guyot eine Miss war oder dass sie zum obersten Management von Mamot gehörte den Ausschlag gab. Jedenfalls entschied er sich spontan, sie aufzusuchen. Das nette Vorzimmer schaffte es, fünfzehn Minuten am Nachmittag im Kalender der vielbeschäftigten Miss Executive Vice President zu reservieren.

 

Nach dem aufschlussreichen Gespräch versuchte er es mit dem letzten Eintrag in der Liste, doch niemand antwortete. Um ganz sicher zu gehen, suchte er im Internet, fand jedoch keinen Hinweis auf einen Namen oder eine Adresse, die zu dieser Telefonnummer gehörte. Insgesamt konnte er mehr als zufrieden sein mit seiner Ausbeute. Der mysteriöse Tote aus der Vittoriosa war nicht nur ein international gesuchter Gangster, er hatte offensichtlich auch Verbindungen in die Teppichetage von Mamot. Kampfbereit sah er den fünfzehn Minuten bei Miss Guyot entgegen.

 

Kurz nach dem Essen, wenn man das pampige Thunasandwich mit Mayonnaise so nennen konnte, parkte er seinen Wagen vor dem Haupteingang der nordamerikanischen Zentrale von Mamot. Er trat ein paar Minuten zu früh ins Vorzimmer. Seine Gesprächspartnerin war noch nicht da, also setzte er sich in einen der tiefen, weißen, Ledersessel und begann lustlos im Geschäftsbericht zu blättern, der zur Erbauung der Gäste auf dem Glastisch lag.

 

»Wie Sie sehen boomt das Wassergeschäft, Dr. O’Sullivan«, begrüßte ihn die Managerin, als sie pünktlich zur vereinbarten Zeit durch die Tür schritt und lächelnd auf ihn zukam. Das freundliche Gesicht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Miss Guyot mit ihrem hochgeschlossenen, mausgrauen Kleid und der streng nach hinten gekämmten Frisur den fatalen Eindruck einer Zuchtmeisterin aus der Zeit Charles Dickens machte. Die unerwartete Erscheinung warf ihn gehörig aus dem Gleichgewicht. Sie schien seine Verblüffung nicht bemerkt zu haben oder ignorierte sie professionell und führte ihn ins Büro.

 

»Es geht um Senator O’Sullivan, wenn ich recht verstanden habe? Herzliches Beileid im Nachhinein.«

 

»Danke, aber es geht nur am Rande um meinen Vater. Ich will es kurz machen, da wir nur wenig Zeit haben.« In wenigen Worten, die er sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, berichtete er gerade so viel über die Ereignisse in Indien und Malta, um die entscheidende Frage stellen zu können: »Ich möchte nur von Ihnen wissen, was Mamot Waters mit unseren Schwierigkeiten zu tun hat.«

 

Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erstaunen, Ärger und Spott. Schließlich antwortete sie kopfschüttelnd:

 

»Wie kommen Sie darauf, dass unser Unternehmen irgendetwas mit diesen ungeheuerlichen Vorgängen zu tun haben könnte?«

 

Lee blieb hart:

 

»Das ist nicht die Frage. Haben Sie oder haben Sie nicht?« Es war ihm klar, dass sie nur mit nein antworten konnte, aber er wollte ihr Mienenspiel beobachten. Er hoffte, das Gesicht, die Augen würden etwas verraten. Er sah sich getäuscht. Sie antwortete im Ton ehrlicher Entrüstung:

 

»Nein, natürlich nicht. Ich fasse es nicht. Wir sind ein seriöser Konzern und verdienen unsere Brötchen mit ehrlicher Arbeit, das sollten Sie wissen, Dr. O’Sullivan.« Entweder sagte sie die Wahrheit, oder sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin. Er spielte noch einen letzten Trumpf aus:

 

»Wie kommt es dann, dass einer der meistgesuchten Verbrecher, ein gewisser Kaptan aus Malta, ihre Telefonnummer in seinem Adressbuch hat?« Wieder keine Regung, aber ihm schien, als schauten ihn ihre Augen noch eine Spur eisiger an als vorher.

 

»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen, Doctor. Es sei denn, Sie hätten noch ein geschäftliches Anliegen.« Er erhob sich, verabschiedete sich mit säuerlichem Lächeln und verließ das Gebäude.

 

Kaum fiel die schwere Bürotür hinter ihm ins Schloss, fiel die Maske des Lächelns von Alicias Gesicht ab. Wütend griff sie zum Telefon und drückte eine der Kurzwahltasten.

 

»Mc Guane Security Services, Sie wünschen?«

 

»Geben Sie mir Paul Dobson, schnell!« Sie hielt sich nicht damit auf, ihren Vertrauensmann bei der Sicherheitsfirma zu begrüßen, sagte lediglich: »Paul, wir haben ein Problem.«

 

Zurück im Büro, rief Lee seine Anwältin in Washington an. Im Grunde brauchte er einfach jemanden, um über die ganze Sache zu reden. Nachdem er den neu entdeckten Zusammenhang mit Mamot erwähnt hatte, warnte sie ihn sofort:

 

»Vorsicht, Lee. Mit Mamot ist nicht zu spaßen. Die sollten Sie schön in Ruhe lassen.«

 

Er lachte bitter.

 

»Schon zu spät. Ich war eben bei der Chefin.«

 

»Scheiße!«, rutschte es Marion heraus. »Entschuldigung, aber das ist wirklich Scheiße.«

 

»Na ja, wie man’s nimmt. Jedenfalls schadet es nichts, wenn ich die Firma ein wenig unter die Lupe nehme. Wäre schön, wenn Sie mir dabei helfen würden.«

 

Er hörte lange keine Antwort, doch schließlich fragte sie kleinlaut:

 

»Was soll ich tun?«

 

Geht doch, dachte er, erleichtert, eine Verbündete gefunden zu haben.

 

Business District, Washington DC

 

Peter hatte gut reden. Follow the money, war seine lapidare Empfehlung, als sie ihn schon beinahe überzeugt hatte, dass sich die Akte O’Sullivan zu einem Skandal unvorstellbaren Ausmaßes entwickelte. War sie hier die Einzige, die sich darüber aufregte? Marion wollte nicht glauben, dass ihr Boss den Braten nicht roch und noch weniger, dass Lee das Doppelleben seines seligen Vaters nicht mehr zu interessieren schien. Nächtelang hatte sie versucht, die Geldflüsse der Scheinfabrik und der zwölf Briefkastenfirmen aufzudecken, ohne das geringste Ergebnis. Doch der Misserfolg spornte sie erst recht zu unbezahlten Sonderschichten an. Sie sah das Netz aus Lug und Trug vor sich, konnte es fast mit Händen greifen, aber jedes Mal wenn sie zupackte, entzog es sich ihrem Zugriff. Sie litt Tantalusqualen. Je länger die erfolglose Suche dauerte, desto stärker wurde die Gewissheit, dass sie den größten und komplexesten Fall ihrer bisherigen Tätigkeit als Wirtschaftsanwältin vor sich hatte. Folge dem Geld, klar, Peters Rat war so simpel und überflüssig wie die Aufforderung den Schirm zu öffnen wenn es regnete. Ihr Problem war, dass sie nicht über die geeigneten Verbindungen verfügte, um an die richtigen Daten zu kommen.

 

»Was ist?«, fauchte sie ungehalten, als sie bemerkte, dass jemand hinter ihr stand.

 

»Bitte nicht schlagen«, antwortete Peters Stimme. Sie fuhr herum.

 

»Entschuldige, hab dich nicht gesehen.«

 

»Scheint mir auch so«, grinste er. »Hast du kurz Zeit?« Es war keine Frage. Er war der Boss und man folgte ihm ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er rief. Er führte sie in sein schalldichtes Büro und schloss die Tür. Unsicher witzelte sie:

 

»Was habe ich falsch gemacht?«

 

Er blieb ernst, deutete stumm auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. Sie setzte sich und wartete angespannt auf die schlechten Nachrichten, denn sein Gesicht sah ganz danach aus. Er schlug die Aktenmappe auf, die vor ihm lag, überflog das Schriftstück, als sähe er es zum ersten Mal, bevor er zögernd begann:

 

»Wir haben neulich über die seltsamen Firmen im Fall O’Sullivan gesprochen.«

 

Die Anspannung fiel augenblicklich von ihr ab. Wenn Peter von einem Fall sprach, betrachtete er ihn noch nicht als abgeschlossen.

 

»Gut«, sagte sie laut.

 

»Wie bitte?«

 

»Nichts, mach weiter. Ich höre.« Er räusperte sich umständlich.

 

»Die – Sache hat mir keine Ruhe gelassen, muss ich zugeben.« Besser, dachte sie und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Also, ich habe diskret ein paar Leute angerufen, um herauszufinden, woher das Geld in diesen Bilanzen wirklich stammt.« Wieder hüstelte er und trank einen Schluck Wasser. Er inszenierte die Enthüllung, die zweifellos folgen würde, wie den alles entscheidenden Überraschungsknüller vor Gericht.

 

»Und? Ich zerplatze vor Neugier.«

 

»Über deine zwölf Briefkastenfirmen konnte ich nichts weiter erfahren«, fuhr er ungerührt fort.

 

»Das habe ich auch schon gemerkt, danke.«

 

»Aber ...« Der nächste Schluck Wasser. Sie sprang vom Sessel auf, beugte sich über die Tischplatte und knurrte böse:

 

»Peter!«

 

»Mit der Scheinfabrik sieht’s schon anders aus.« Er lehnte sich zurück, blickte an die Decke. »Wie soll ich sagen? Was ich gesehen habe, ist gelinde gesagt befremdend.« Er schob ihr die Mappe unter die Nase und wartete, bis sie das Schriftstück gelesen hatte. Es war eine lange Liste von Zahlen, Zahlungseingänge, hohe Beträge, welche die zwei leeren Hallen in Fountain Hills für irgendwelchen technischen Schnickschnack erhalten hatten, von dem sie kein Wort verstand. Aber nicht nur die Zahlen waren interessant, sondern vor allem die Herkunft der Gelder. Ein Name tauchte häufig auf.

 

»Clearwater Power?«, fragte sie unsicher.

 

»Kohle. Die größte Dreckschleuder südlich von Detroit.«

 

»Millionen. Das sind riesige Summen, für eine Fabrik, die nichts produziert.«

 

»Allerdings«, seufzte er, »aber das dicke Ende folgt auf dem nächsten Blatt.«

 

Das zweite Blatt schien nichts mit AZ Technologies zu tun zu haben. Es war eine minutiöse Aufzählung aller Zuschüsse aus öffentlichen Geldern, die Clearwater Power für die Installation und den Betrieb sogenannt umweltfreundlicher Technologie, zum Beispiel CO2-Filter, erhalten hatte, mit dem genauen Datum der Überweisung. Erst begriff sie nicht, was daran auffällig sein sollte, bis sie auf die Idee kam, beide Blätter nebeneinanderzulegen. Sie verglich die Daten der Zahlungseingänge der beiden Firmen und hieb plötzlich mit einem nur schlecht unterdrückten Freudenschrei auf die Tischplatte.

 

»Ich wusste es!« Schwarz auf weiß lag es vor ihr, das betrügerische Netz, oder wenigstens ein Zipfel davon. »Clearwater leitet die staatlichen Subven-tionen umgehend nach Fountain Hills weiter«, murmelte sie ungläubig. Ziemlich genau achtzig Prozent der mehreren Millionen aus der Staatskasse im letzten Jahr flossen jeweils mit zwei Tagen Verzug an AZ Technologies weiter. »Der Hammer! Peter, du bist doch der Größte.« Er schmunzelte kaum merklich, zog die Mappe wieder zu sich und klappte sie zu.

 

»Big Coal in Arizona betreibt also Subventionsbetrug im großen Stil, und irgendwie hängt der selige Senator O’Sullivan mit drin. Was sagt uns das?«, fragte er mit besorgter Miene. Sie waren ein ganzes Stück weiter, aber ihr war noch keineswegs klar, was sie mit der neuen Information anfangen sollte. Etwas lag allerdings auf der Hand. Sie glaubte den Grund von Peters Besorgnis zu kennen und sprach ihn laut aus:

 

»Wir müssen sehr vorsichtig sein, es sind mächtige Gegner.«

 

Er nickte, blickte lange unbeweglich durch sie hindurch, dann sagte er plötzlich: »Und genau das reizt mich an der Sache, Marion.«

 

Sie traute ihren Ohren nicht. Der alte Fuchs wollte sich nun doch mit Big Coal, dem Senat und womöglich dem Staat Arizona anlegen? Weshalb der Sinneswandel? Sie brauchte nicht zu fragen. Seine nächste Bemerkung war Antwort genug:

 

»Wenn uns Lee O’Sullivan das klare Mandat gibt, die finanziellen Verwicklungen seines Vaters aufzudecken, haben wir die einmalige Chance, diesen Skandal aufzuklären. Nichts würde mir größeren Spaß machen, als einige der sauberen Damen und Herren auf der Anklagebank zu sehen, und nichts würde unserer Kanzlei mehr Publizität verschaffen.«

 

Sie hätte ihm um den Hals fallen mögen. Blieb nur noch, Lee zu gewinnen, aber da hatte sie seltsamerweise ein gutes Gefühl.

 

»Wir erledigen das professionell«, rief er ihr nach, bevor sie die Bürotür hinter sich zuschmetterte. Was im Klartext hieß, dass aus ihrem Hobby nun ein Vollzeitjob wurde, sofern ihr Kunde mitspielte.

 

»Das – hört sich interessant an«, grübelte Lee laut und deutlich, nachdem sie ihm die neuen Erkenntnisse geschildert hatte. »Das ändert natürlich die Ausgangslage. Damit bringen Sie meine Pläne ganz schön durcheinander, Marion.« Sie erschrak. Fühlte er sich bedrängt durch ihre Hartnäckigkeit? War sie wieder einmal in ein Fettnäpfchen getreten? Sie beherrschte diese Kunst erwiesenermaßen meisterhaft.

 

»Es tut mir leid, wenn ich ...«

 

»Unsinn, ich mache Ihnen doch keinen Vorwurf. Ich bin froh, dass Sie einen entscheidenden Schritt weitergekommen sind, aber eigentlich wollte ich Sie wegen einer ganz anderen Angelegenheit sprechen.« Es fehlte nicht viel, und der Hörer wäre ihr aus der Hand gefallen.

 

»So?«, murmelte sie verblüfft.

 

»Ja, aber das muss jetzt wohl warten.«

 

»So«, wiederholte sie albern. Fettnapf! stand groß vor ihrem geistigen Auge. Glücklicherweise überhörte er den überflüssigen Kommentar und sagte nach kurzer Denkpause:

 

»Ich glaube, wir sollten nochmals eine Reise in den Süden unternehmen.«

 

»Das wäre schön«, platzte sie heraus. Halt die Klappe, Mädchen! »Ich meine ...« Klappe! Wieder schien er sie nicht gehört zu haben.

 

»Ich will diese Sache ein für alle Mal vom Tisch haben, verstehen Sie?«

 

»Ja – ja – natürlich, ich verstehe das sehr gut.« Klappe!

 

»Ausgezeichnet. Ich weiß auch schon, wo wir beginnen werden.«

 

Flagstaff, Arizona

 

Dieser Ford besaß ein Navigationsgerät, dessen Display nicht zu übersehen war. Ohne GPS hätte Lee den Mietvertrag nicht unterschrieben. Die Anzeige funktionierte auch tadellos, doch der berührungsempfindliche Bildschirm reagierte weder auf seine noch auf Marions zarte Finger. Es sollte nicht sein, also saß sie wieder mit der Karte auf den Knien neben ihm. Die Interstate 17 endete hier in Flagstaff. Er fuhr mit gedrosselter Geschwindigkeit an der Ausfahrt zum Grand Canyon vorbei. Die dritte rechts, hatte sein Navigator gesagt.

 

»Was soll das werden?«, rief sie ungehalten, als er bei der dritten Abzweigung einspurte.

 

»Hier rechts müssen wir raus, sagten Sie doch.«

 

»Quatsch, die Dritte. Das hier ist die Zweite.«

 

»Ich hab nachgezählt.«

 

»Ich dachte, Sie könnten bis drei zählen, knirschte sie leise zwischen den Zähnen.

 

»Das habe ich gehört«, lachte er. Die Situation weckte durchaus angenehme Erinnerungen an ihre erste Fahrt nach Fountain Hills. Während er den Wagen in die falsche Strasse lenkte, dozierte er: »Die Frage beim Zählen ist immer: beginnt man bei null oder eins?«

 

»Papperlapapp. Die dritte nach dem Ende der Interstate heißt ganz klar die Dritte nach der Ausfahrt.«

 

»Also null.«

 

»Was?«

 

»Sie beginnen bei null, die Autobahnausfahrt ist Nummer null.«

 

»Wie auch immer. Das sind nur Spitzfindigkeiten. Jedenfalls fahren Sie jetzt falsch.« Trivialitäten reizten sie, das musste er sich merken. Er warf ihr einen belustigten Blick zu, doch sie hatte sich wieder ins Studium der Karte vertieft. »Um den Park herum, dann links«, brummte sie mit gesenktem Kopf.

 

Vor der Buchhandlung schlug ihnen die Gluthitze entgegen, als sie die Türen öffneten. Die Luft flimmerte über den wenigen Autos auf dem Parkplatz. Keine Menschenseele war zu sehen, kein streunender Hund, noch nicht einmal ein Vogel flatterte über ihren Köpfen. Ein paar Zikaden zirpten in den kläglichen, grauen Büschen und von der Hauptstrasse schwappte das eintönige Rauschen des Verkehrs herüber, sonst war es still, ausgestorben. Ihm schien, als hätte der Staubschleier die Landschaft in Tiefschlaf versetzt. Der Zeitpunkt für die Besprechung war gut gewählt und wohl auch der Ort. Nur linke Intellektuelle, Künstler und Weltverbesserer verirrten sich in dieses kleine Antiquariat, hatte Ben beteuert, mit Sicherheit keine Schlipsträger aus dem Dunstkreis der Big Coal.

 

»Am besten, ich stelle Sie als meine Mitarbeiterin vor«, sagte er, bevor sie eintraten. »Ben hat eine etwas einseitige Vorstellung von Anwälten.«

 

»So, hat er?«, giftete sie. »Was bin ich denn Ihrer Meinung nach, Ihre Tippse?« Sein verdatterter Gesichtsausdruck trug ihm lediglich ein gleichgültiges Achselzucken ein. Sie trat grinsend zur Seite und sagte: »Nach Ihnen, Chef.«

 

Ben Trevor saß über seinen Laptop gebeugt am Boden vor einem windschiefen Gestell voller Schmöker zum Thema Blues. So jedenfalls interpretierte Lee den handschriftlichen Zettel am Holzrahmen. Trotz des buschigen Bartes erkannte er seinen ehemaligen Schulkameraden auf Anhieb. Die grotesk abstehenden Ohren, die hohe Denkerstirn, der Weltschmerz in seinen Augen hatten sich nicht verändert, nur älter waren sie offensichtlich. Ben klappte den Deckel des Computers zu, legte ihn zur Seite und grinste sie an. Er machte keine Anstalten aufzustehen.

 

»Mensch, Lee, es muss eine Ewigkeit her sein. Setzt euch doch.« Weit und breit war kein Stuhl zu sehen, also pflanzte Lee seinen Hintern aufs harte Parkett und wartete gespannt auf die Reaktion seiner Begleiterin. Sie setzte sich ohne Zögern auf den Stapel Bücher, den Ben neben sich aufgeschichtet hatte, lächelte ihn freundlich an und sagte:

 

»Gemütlicher Laden hier.«

 

»Sie sagen es, Lady, und danke, dass Sie nicht auf meinem Laptop sitzen.«

 

Lee hatte Ben völlig aus den Augen verloren nach der Schulzeit in Phoenix. Er wusste einzig, dass er Maschineningenieur studiert und einige Jahre für Clearwater gearbeitet hatte vor seiner Wandlung zum Umweltaktivisten, der mit Vorliebe gegen seinen früheren Arbeitgeber kämpfte. Deshalb hatte er ihn angerufen. Ben war die beste Adresse, die er kannte, wenn er mehr über das Innenleben des Energiekonzerns wissen wollte.

 

»Während der ganzen Zeit, die ich dort gearbeitet habe, ist kein Cent in die Modernisierung der Dreckschleuder investiert worden, das könnt ihr mir glauben«, sagte Ben bitter. »Wenn ein Kessel, Ventil, Filter oder die ganze verdammte Denox-Anlage den Geist aufgegeben hat, sind sie stets mit der gleichen veralteten Technik ersetzt worden. Ich wunderte mich manchmal, woher sie die antiken Teile überhaupt eingeflogen haben.«

 

»Das hat sich inzwischen ja wohl geändert«, warf Lee ein. »Jedenfalls erhält Clearwater beträchtliche Subventionen für die Investitionen in saubere Kohle, CO2-Reduktion, zum Beispiel.«

 

Ben lachte laut auf. »Wer hat dir denn diesen Bären aufgebunden? Saubere Kohle, das glaubst du wohl selbst nicht.«

 

»Knapp fünfzig Millionen«, bemerkte Marion.

 

»Bitte?« Ben schaute sie mit großen Augen an.

 

»Die Subventionen letztes Jahr. Wir haben es schriftlich. Clearwater bekam fünfzig Millionen für den Bau einer modernen CO2 – Dingsbums.«

 

Kopfschüttelnd blickte er von ihr zu Lee und murmelte ungläubig: »Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder?«

 

»Ich fürchte schon«, erwiderte Marion. »Was ist daran so überraschend?«

 

Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Das wird unsere Freunde von der Republic brennend interessieren«, brummte er in den Bart. »Wir wussten von zwei, drei Millionen, aber an genaue Zahlen kommen wir nicht heran. Hingegen kann ich mit gutem Gewissen behaupten, dass nichts von dieser Kohle für saubere Kohle investiert wurde.«

 

»Das glaube ich allerdings auch«, pflichtete ihm Lee bei, ohne die mysteriösen Zahlungen an die Scheinfabrik zu erwähnen. »Ich frage mich nur, wie wir das verifizieren können. Gibt es keine Insider, zu denen ihr Verbindung habt?«

 

»Sicher gibt es die, aber die sind nur ganz wenigen Leuten vom harten Kern bekannt.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Die könnt ihr vergessen. Viel zu gefährlich. Wenn Holden oder sein Winkeladvokat Martinez Wind davon bekommen, ist der Teufel los.«

 

Lee horchte auf. »Der Martinez? Diego Martinez?«

 

»Der Ehemann des Gouverneurs persönlich«, nickte Ben. »Der hat bei all diesen Dreckgeschäften seine Hand im Spiel, Hauptsache es lohnt sich.«

 

Marion wirkte verwirrt. »Dieser Martinez ist mit der Gouverneurin verheiratet?«, fragte sie erstaunt.

 

»Genau genommen mit der Gouverneurin von Arizona, Lucy Martinez.«

 

»Martinez«, wiederholte sie nachdenklich. Dann sagte sie leise zu Lee: »Dieser Name taucht mehrfach in den Unterlagen der Firmen auf.«

 

»Welche Firmen?«, wollte Ben wissen, doch niemand antwortete. Lees Gedanken rasten. Weshalb hatte Marion nichts davon erwähnt? Der schleimige Diego Martinez, Ehemann der Gouverneurin, als Rechtsvertreter der Scheinfirmen gab der Geschichte nochmals eine dramatische Wendung. Endlich hatten sie einen Namen, einen sehr prominenten noch dazu.

 

»Nicht so wichtig«, murmelte er schließlich in Gedanken versunken.

 

Wie er befürchtet hatte, konnte Ben ihnen nicht entscheidend weiterhelfen, außer ihren Verdacht gegenüber Clearwater in allen Punkten zu bestätigen. Wenn sie Gewissheit wollten, blieb nichts anderes übrig, als den Besuch in der Höhle des Löwen durchzuziehen.

 

Mit betretener, fast schuldbewusster Miene folgte ihm Marion zum Wagen. Erst als sie neben ihm saß, machte sie den Mund auf. »Tut mir leid, Lee. Ich konnte nicht ahnen, dass Sie diesen Martinez kennen. Adresse und Telefonnummer führten ins Leere, wie ich schon sagte. Ich dachte, ...«

 

»Schon gut, beruhigen Sie sich. Sie haben nichts falsch gemacht. Noch ist nicht erwiesen, dass tatsächlich dieser Diego Martinez gemeint ist. Allerdings, zuzutrauen ist es ihm ohne weiteres.«

 

»Wenn Sie meinen.« Sie klang nicht überzeugt. »Auf jeden Fall dürfte es schwierig werden, ihn festzunageln. Er wird sich ganz einfach auf das Anwaltsgeheimnis berufen, sofern er uns überhaupt empfängt.«