18

Im Zelt hing ein Geruch nach Landleben und Erwartung, nach Dünger, Pferd und mehreren Schichten Schweiß. Es war eine andere Art Zeltbegegnung, aber auch hier war die Erregung groß, und vieles war wie in Jesu Zelt. Die Gesichter waren rot, die Augen glänzend und aufwärts gerichtet, und einige Männer gaben Laute von sich, die niemand außer ihnen verstehen konnte. Unterschiede waren der Alkoholgeruch, der stärker war als selbst der Geruch nach Tieren, und der Rauchgestank. Der Qualm hatte sich bereits wie eine Wolke über den Gläubigen gesammelt. Viele der Männer waren Pferdehändler, die eine Feilschpause unten am Hügel einlegten. Dies Varietépublikum bestand nur aus Männern. Johnny saß auf der letzten Bank, dem Ausgang am nächsten, und Lennart saß neben ihm.

»Ich kann nichts sehen«, sagte Lennart. »Vor mir sind lauter große Männer.«

»Gut.« Johnny drehte den Kopf. »Du solltest ja auch überhaupt nicht hier sein. Wenn es zu … tja, zu sehr für Kinder verboten wird, schick ich dich durch die Öffnung raus.«

»Aber von hier aus kann ich Mister Swing nicht sehen.«

»Wenn er auftritt, musst du eben auf die Bank steigen.«

»Und wenn die anderen vor mir auch auf die Bank steigen?«

»Nicht wegen Mister Swing«, sagte Johnny.

»WIIILLLLKOMMEN IM VARIETE DE PAAAARII«, ertönte es aus den krächzenden Lautsprechern, ein Gebrüll von irgendwo hinter der Bühne, und Johnny erkannte Gregers Stimme. Jetzt hatte der Conférencier mit wogendem Cape sein effektvolles Entree und die Pferdehändler wieherten ihre Wertschätzung. Die Show begann. Greger wandte sich mit einer einladenden Verbeugung nach rechts. Der alte Jupiter kam auf seinem Minifahrrad auf die Bühne, und Johnny hörte das Schlurfen von Jupiters Galoschen, wenn sie den Boden unter den Fahrradpedalen berührten. Jupiters Gesicht war rund und angespannt, konzentriert auf die Aufgabe.

 

Als Mister Swing die Stricknadeln durch seine Wangen stach, stand Lennart auf der Bank. Er hielt sich die Augen zu, spähte aber zwischen den Fingern hindurch.

Er beugte sich zu Johnny hinunter, der sitzen geblieben war.

»Es tut nicht weh.« Dann sah Lennart wieder Mister Swing an, der die Nadeln durch sein Gesicht bohrte. »Er fühlt nichts.«

»Gut zu wissen«, sagte Johnny.

Swing zog die Nadeln heraus und hielt zeremoniell eine Karaffe mit Petroleum hoch. Er nahm einen Mund voll, griff nach der Fackel, die an einem wackligen Gestell an der Wand hing, hielt sie sich vors Gesicht, spie Petroleum ins Feuer und die Flammen leckten wie Zungen an den vorderen Bankreihen. Zwei Männer in derben Anzügen warfen sich zurück und wurden von den hinter ihnen sitzenden Männern aufgefangen. Durch das Zelt ging eine Woge von Gelächter. Das Publikum bekam, was es erwartet hatte. Dabei stand das Beste noch bevor.

 

Ingrid reckte die Arme in den Himmel, der langsam dunkel wurde über dem Zeltdach. Sie hatte ein Diadem im Haar. Ihr Blick ging in die Ferne, Millionen Lichtjahre von diesem stinkenden Zelt entfernt. Johnny sah Lennart von der Seite an, der sich wieder hingesetzt hatte. Es war sinnlos, auf die Bank zu steigen, da jetzt sämtliche Kerle im Zelt, die ganze Versammlung, auf den Bänken standen. Johnny blieb sitzen. Er sah Ingrids Hände über all den Schädeln, mehr nicht. Durch den Körper des Mannes, der vor Johnny stand, ging ein Zucken, als ob er in Stücke zerbrechen würde. Er begann in Zungen zu sprechen. Johnny sah Ingrid mit dem Finger gen Himmel zeigen.

»DIE GÖTTIN DER LIIIIEBE!«, schrie Greger ins Mikrophon. »DAS GROSSE WUNDERWERK DES HIMMELS UND UNIVERSUMS, DIE WUUUUNDER-SCHÖNE APHRODITE IST NUN ZU UNS AUF DIE ERDE HERABGESTIEGEN, HERUNTER INS VARIETÉ DE PAAARIII, UND SIE KOMMT, WIE IHR VATER URANUS SIE AUS DEM SCHAUM DES MEERES ERSCHAFFEN HAT! MEINE HERRSCHAFTEN, HIER UND NUR HIER: DIE NACKTE SCHÖNHEIT DER LIEBE!«

Das Gebrüll im Zelt blies den Rauch unter der Zeltdecke in den Abend hinaus. Johnny wusste, was dort vorn auf der Bühne passierte. Ingrid hatte das antike Gewand auf die dreckigen Planken fallen lassen und ein weiteres Mal die Arme ausgestreckt, aber jetzt war sie nackt, so, wie sie zur Welt gekommen war. Das Gebrüll nahm kein Ende. Johnny konnte nichts sehen, Lennart sah auch nichts. Mist, warum sind wir nicht gegangen, als Swing fertig war, dachte Johnny. Was passiert denn jetzt? Er blieb sitzen, während alle anderen Männer im Zelt auf den Bänken hüpften. Wer sind wir? Ist das alles nur, weil wir Männer … Er sah sich um, fast erstaunt. Was sind das für verdammte Idioten? Ingrid ist nicht in einem Film. Sie hört, sie sieht. Ich hatte es vergessen. Oder fällt es mir nur auf, weil ich sie kenne? Wäre ich sonst so wie die hier?

»Was passiert da eigentlich?«, fragte Lennart. Er sah ganz klein aus auf der Bank. »Was machen die da vorn?«

»JAHOOO!«, schrie einer der Männer auf der Bank vor ihnen.

»Nichts«, sagte Johnny, »wir gehen.«

»Ist es vorbei?«, fragte Lennart.

»Es ist so sehr vorbei, wie es nur vorbei sein kann.«

Johnny stand auf. »Für uns ist es schon lange vorbei.«

 

Die Dunkelheit hatte sich gesenkt. Sie waren eingehüllt von Farben, die Farben gehörten zum Jahrmarkt, jetzt waren sie viel kräftiger und bewegten sich, orange, rot und gelb, alles bewegte sich, und Johnny dachte, von ferne gesehen könnte es wirken, als hinge alles zusammen, als wären alle Autoskooter und Karussells und rotierenden Raketen ein einziges schaukelndes Karussell.

Von irgendwoher tönte aus einem Lautsprecher krächzende Musik. Das Feld war jetzt voller Menschen, Familien, Kinder, einsamer Männer, die sich mit energischen Schritten bewegten, wie um zu zeigen, dass sie nicht allein waren, dass sie ein Ziel hatten: den Schießstand, die Würstchenbude, den Losverkäufer, weiß der Geier.

Johnny hörte Schreie von den Autoskootern und das dumpfe Geräusch, wenn sie zusammenkrachten. Der Gummischutz an der Vorderfront der Skooter schien derselbe wie vor zehn Jahren zu sein.

»Ich lad dich zu einer Karambolage ein«, sagte er und nickte zur Bahn.

Sie gingen hin. Es war gerade Zeit für eine neue Runde. Die Skooter füllten sich rasch.

»Steig ein«, sagte Johnny und zeigte auf den Skooter, der ihnen am nächsten war. »Es ist der letzte. Ich bezahle inzwischen.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich nehm die nächste Runde. Und du kriegst zwei Fahrten.« Er lächelte. »Wir müssen ja richtig zusammenstoßen.«

»Das wird aber teuer …«

»Nun geh schon, ehe ein anderer dir das Auto wegschnappt.«

Lennart schaffte es gerade vor einem etwa Zwanzigjährigen. Er sprang in das Auto und winkte Johnny zu, der bezahlen ging.

Der Strom wurde eingeschaltet. Die Autos bewegten sich in alle Richtungen. Lennart krachte in ein Auto vor ihm und wurde gleichzeitig von hinten gerammt. Das war ja der Sinn des Ganzen. Johnny sah die Konzentration im Gesicht des Jungen.

»Hübscher Junge.«

Sie stand neben ihm. Die mythologischen Locken waren jetzt verschwunden und sie trug ein modisches einfaches Kleid.

»Er sieht seiner Mutter ähnlich«, sagte Johnny.

»Ist es etwas Ernstes?«

»Was?«

»Mit der Mutter natürlich.«

»Nein, nein.« Er sah, wie Lennart eine Kurve schaffte, ohne angefahren zu werden. Er lernte schnell. Jetzt rammte er mit voller Kraft das Auto vor ihm. »Nein, nein«, wiederholte Johnny und wandte sich zu Ingrid um. »Ich hab deinen Auftritt gesehen. Oder besser gesagt gehört.«

Sie lächelte nicht.

»War der Junge dabei?«, fragte sie.

»Er … hat nichts gesehen. Wir waren wegen Sune da.«

»Er ist der große Star«, sagte sie, und jetzt lächelte sie ein hauchdünnes Lächeln. »Star der Starshow.« Sie suchte Johnnys Blick. »Was meinst du, wie lange ich noch im Showbusiness weitermachen kann?«

»Tja …«

»Ach nee, klar, du hast mich ja nicht gesehen. Du kannst es gar nicht wissen.«

»Es hängt wohl von dir ab, Ingrid.«

»So einfach ist es nicht, John. Wer sich der Kunst verschrieben hat, dem bleibt keine Wahl. Sie ist es, die einen bestimmt. Man kann gar nichts tun. Man ist einfach ein Künstler, egal, ob man will oder nicht.«

»Ich verstehe.«

»Wie gut, dass du es verstehst.«

»Nun sei nicht böse … auf mich, Ingrid.«

Sie antwortete nicht. Sie hatte eine Zigarettenschachtel hervorgenommen, steckte sich eine Zigarette in den Mund und Johnny gab ihr mit einem Streichholz Feuer. Während er das tat, fiel ihm ein, dass er den ganzen Nachmittag und Abend keine einzige Zigarette geraucht hatte. Ihr Gesicht war scharf umrissen im Licht der Flamme, dünn wie das Lächeln eben. Sie nahm einen Zug und blies den Rauch in den Himmel, der mit Sternen bedeckt war.

»Worauf soll ich denn böse sein, Johnny?« Sie nahm noch einen schnellen, nervösen Zug. »Ich hab’s satt, böse auf mich selber zu sein.« Sie lächelte wieder das dünne Lächeln. »Und die anderen haben es satt, dass ich auf sie böse bin. Sie hören nicht mal mehr zu.«

»Ich finde, du solltest … hier aufhören«, sagte er.

Lennart fuhr wieder vorbei. Er winkte. Es war eine lange Runde. Vielleicht hatte sich die Elektronik verselbständigt. Niemand würde aussteigen können.

»Und was soll ich dann machen«, fragte sie, »wenn ich die Show verlasse?«

»Es gibt doch noch andere Dinge.«

»Ich möchte bei der Kunst bleiben«, sagte sie. Die Zigarette fiel ihr aus der Hand, und sie ließ sie liegen und sah wieder zu ihm auf. »Du könntest mir übrigens erzählen, was du in Zukunft vorhast.«

»Ich verstehe nicht, wie du das meinst, Ingrid.«

»Es ist deine letzte Saison, oder? Man sieht es dir an.«

»Bist du die Hellseherin?«

»Du hast es satt, durchs Land zu kutschieren. Ich hab das hier satt.« Sie machte eine Handbewegung über den Platz.

»Es ist nicht … in erster Linie die Bühne, die Show, die verdammten Schweine im Publikum. Das kann man sich … wegdenken, wegträumen. Es ist das Herumreisen, rundherum und rundherum, vor und zurück. Diese verdammte Reiserei und nirgends kommt man an.« Sie nickte zu den Autoskootern. »Wie die da. Fahren rundherum und kommen nirgends an.«

»Wir stoßen nicht so häufig zusammen«, sagte Johnny.

»Leider.« Sie holte wieder die Zigarettenschachtel aus einer Tasche an ihrer Hüfte. Johnny zündete ihre Zigarette an. Die Autos blieben plötzlich mit einem langen Seufzer stehen. Johnny sah Lennart im Auto sitzen bleiben und winken.

»Ich hab dem Jungen noch eine Runde versprochen. Und ich hab versprochen, mit ihm zusammenzustoßen.«

»Dann musst du dich beeilen«, antwortete sie. »Die Skooter sind schnell besetzt.«

»Es dauert nur fünf Minuten«, sagte er.

»Ich hab sowieso schon alles gesagt.« Sie drehte sich um und wollte gehen.

Er sah Lennart wieder winken und auf einen leeren Skooter neben seinem zeigen.

»Bis bald, Ingrid.« Johnny sprang über die Bande und erreichte den Skooter, bevor der Strom wieder eingeschaltet wurde. Lennart rammte ihn direkt von vorn. Der Stoßdämpfer aus Gummi half nichts. Der Zusammenprall war stärker, als Johnny erwartet hatte. Er fuhr rückwärts, geradewegs in den Skooter hinter ihm, und brauchte eine halbe Minute, bis er so weit frei war, dass er anfangen konnte, Lennart zu jagen.

 

An der Straße, die vom Jahrmarkt in den Ort führte, gab es nur eine Straßenlaterne. Sie nutzte überhaupt nichts, und schon gar nicht an einem Abend, an dem Nebel aus den Feldern stieg. Dahinter versanken die Geräusche des Jahrmarktes. Johnny drehte sich um. Der Markt sah aus wie eine lodernde Stadt, die von einem fremden Stern hier gelandet war. Lennart drehte sich auch um.

»Was für einen Trick hat Mister Swing dir beigebracht?«, fragte Johnny.

»Zum Beispiel, wie man Glühlampen schluckt.«

»Ui.«

»Der Trick besteht darin, dass man sie erst zu Mehl zermahlt.«

»Du hast doch hoffentlich nichts geschluckt?«

»Er hatte gerade nichts, was er zermahlen konnte.«

»Ich glaube, das ist nicht gut für den Magen«, sagte Johnny.

»Vielleicht sollte man erst mal Brot aus dem Mehl backen«, sagte Lennart.

»Und was hast du sonst noch Sinnvolles von ihm gelernt?«, fragte Johnny.

»Tja … man muss sich sehr gerade halten, wenn man das Schwert verschluckt. Das richtige Schwert.«

»Sieh einer an. Eine gerade Haltung hat ihr Gutes.«

»Deswegen meckert Mama auch dauernd mit mir rum«, sagte Lennart. »Ich musste schon üben, mit einem Buch auf dem Kopf zu gehen.«

»Nächstes Mal kannst du es mit dem Schwert im Hals üben.«

»Bei uns zu Hause gibt’s keine Schwerter.«

»Dann übst du es mit der Kohlengabel.«

Lennart lachte.

»Das machst du mir aber erst vor«, sagte er.

»Ich will doch kein Fakir werden.«

Sie gingen jetzt durchs Zentrum, das genauso klein war wie in den anderen Orten des Hochlandes. Lisas Konditorei lag finster da. Die drei großen aufgereihten Fenster sahen von dieser Seite der Straße leer und schwarz aus. Das ganze Zentrum war dunkel bis auf die Straßenlaternen, die in großen Abständen um den Marktplatz angeordnet waren. Keine Autos waren unterwegs, kein V8 grollte. Alle motorisierten Jugendlichen waren auf dem Jahrmarkt oder trieben sich auf dem Markt herum, wo die Hausierer und Rosstäuscher den nächsten Tag vorbereiteten.

Die Fenster im zweiten Stock waren erleuchtet. Johnny meinte Elisabeths Silhouette im mittleren Fenster wahrgenommen zu haben. Der Abend war plötzlich warm geworden, als ob der Sommer es sich anders überlegt hätte und auf halbem Weg wieder umgekehrt wäre und sich im dichten Dunkel wieder herabsenkte. Elisabeths Fenster waren zum Abend geöffnet. Johnnys Duett war an seinem üblichen Platz unter der Eiche geparkt. Lennart gähnte.

»Du bist müde vom Zusammenstoßen«, sagte Johnny und zerstrubbelte die weichen Haare des Jungen.

Lennart gähnte wieder.

»Morgen ist Markttag«, sagte er.

Sie standen neben dem Duett und wollten die Straße überqueren. Lennart sah zum Auto und dann Johnny an.

»Du gehst doch auch hin, Johnny?«

»Das hatte ich eigentlich vor.«

»Dann kannst du bei mir schlafen.«

»Ich bin nicht sicher, ob es deiner Mutter recht ist.«

»Du bist mein Kumpel«, sagte Lennart. »Du kannst in meinem Zimmer schlafen.«

 

Elisabeth hatte die Tür schon geöffnet. Sie umarmte Lennart und lächelte Johnny an.

»I…i…iiich hab Mister Swing getroffen«, sagte Lennart mitten im dritten Gähnen.

»Der scheint dich ja sehr müde gemacht zu haben.«

»Wir haben uns ein bisschen verspätet«, sagte Johnny.

»Das macht nichts«, sagte Elisabeth. »Möchtet ihr etwas zu essen haben?«

»Bloß nicht«, antwortete Johnny.

»Ich hab drei Würstchen und zweimal Zuckerwa… wa…waaatte gegessen«, sagte Lennart gähnend.

»Dann ist es jetzt wohl höchste Zeit, ins Bett zu gehen, junger Mann.«

»Johnny kann in meinem Zimmer schlafen«, sagte Lennart.

»Ach ja?«

Sie sah Johnny an.

»Hör mal, Elisabeth …«

»Ich hab’s ihm schon versprochen«, unterbrach Lennart ihn.

»Dann müssten wir ja erst eine Matratze reinschleppen«, sagte Elisabeth. »Es ist besser, wenn er auf dem Sofa im Wohnzimmer schläft.«

»Hör mal, Elisabeth, ich wollte ni…«

»Es ist doch unnötig, dass du bei Moréns übernachtest«, sagte sie lächelnd. »Wenn Lennart einen Freund mit nach Hause bringt, werde ich mich doch nicht quer legen.«

»Ich habe eine Tasche im Auto«, sagte er.

»Dann hol sie schon!«, sagte Lennart und gähnte übertrieben.

»Hör jetzt auf«, sagte Elisabeth. »Dir kann der Mund stehen bleiben.«

 

Er hob die Stofftasche mit seinen Sachen zum Wechseln aus dem Wagen. In der schwachen Innenbeleuchtung des Autos sah der Rücksitz wie ein Müllplatz aus.

Jetzt muss ich es sagen. Er schlug die Autotür unnötig hart hinter sich zu. Sie wird sauer sein, dass ich es ihr den ganzen Tag nicht gesagt habe. Zu Recht sauer.

Das ist ja fast wie Lügen.

Von der Kreuzung näherte sich lautes Motorengeräusch, und er sah den Streifenwagen in die Straße einbiegen und auf der rechten Fahrbahn vorbeifahren. Die beiden Bullen in dem Valiant studierten ihn, als versuchten sie seine Gedanken zu lesen.

Dreißig Meter weiter hielt das Polizeiauto und fuhr mit roten Augen rückwärts. Johnny hatte die Straße noch nicht überquert. Der Bulle, der ihm am nächsten saß, beugte sich durch das heruntergedrehte Fenster.

»Und Sie sind?«

»Ich bin auf dem Weg in die Wohnung.« Johnny zeigte zu den erleuchteten Fenstern hinauf.

»Danach hab ich nicht gefragt.« Der Bulle hatte die Tür des Autos geöffnet. »Wohnen Sie hier?«

»Ich kenne ihn«, hörte Johnny den anderen Polizisten aus dem Autoinnern sagen. »Das ist Bergman mit den Jukeboxen.«

»Ach, Mensch. Der ist das.«

»Den hab ich einige Male wegen Trunkenheit eingebuchtet.« Johnny sah auf der anderen Seite des Autos ein Gesicht auftauchen. Es war älter als das des Kollegen. Und noch hässlicher. Es nickt zu Johnnys Auto. »Er kurvt dauernd in diesem blöden Duett rum.« Die kleinen Augen im Bullengesicht versuchten Johnny mit dem Blick einzufangen. »Wie geht’s, Bergman? Sind Sie nüchtern? Erkennen Sie mich?«

»Nein.«

»Sind Sie nicht nüchtern?«

»Ich erkenne Sie nicht.«

»Verstehe. Würde mir wohl auch so gehen, in dem Zustand, in dem Sie sich damals befunden haben.« Er grinste und der andere Bulle grinste auch. Er drehte sich zu den Fenstern um. »Sind Sie dort eingezogen?«

»Nicht direkt.«

»Nicht direkt? Was soll das heißen? Wollen Sie dort einbrechen?«

Sie grinsten wieder.

»Ich will jemanden besuchen.«

»Wen?«

»Das geht Sie nichts an.«

Johnny spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Die Tasche hatte er abgesetzt. Sie hatten es gesehen.

»Ach, wirklich nicht? Willst du frech werden, du verdammter Klinkenputzer?«

Der Bulle auf der anderen Seite des Autos schlug plötzlich aufs Blech, und das Geräusch hallte weit in den stillen Abend. Johnny schaute wieder zum Fenster hinauf und sah, dass Elisabeth sich herausbeugte.

»WAS IST LOS?«, rief sie.

Der Bulle drehte sich zu Johnny um.

»Jetzt hast du die Nachbarn geweckt«, sagte er. »Das ist eine Störung der öffentlichen Ordnung.«

»Außerdem hast du dich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig gemacht«, sagte der Kollege. »Und der Verunglimpfung eines Beamten.«

»Was ist los, Johnny?«, rief Elisabeth etwas leiser. »Was macht ihr da?«

Die Bullen drehten sich wieder um.

»Kennen Sie den hier?«, rief der Bulle, der Johnny am nächsten stand.

»Ja … was ist denn?«, antwortete sie. »Er ist … ein Freund der Familie.«

»Aha«, sagte der Bulle auf der anderen Autoseite und wandte sich wieder Johnny zu und sah dann seinen Kollegen mit einer Falte zwischen den Augenbrauen an.

»Ist das nicht die, die ihren Mann als vermisst gemeldet hat?«

Der Kollege sah zu Elisabeth hinauf, die am Fenster wartete.

»Von hier aus kann ich ihr Gesicht nicht erkennen«, sagte er. »Mensch, klar ist die das. Das war ja in dieser Straße.«

Er sah sich um. »Es ist schon ziemlich lange her.« Er grinste Johnny an. »Der Kerl ist nicht wiedergekommen, soviel ich weiß, aber sie hat ja Ersatz gefunden.«

»Der sieht aber nicht nach viel aus«, sagte der Kollege, der zwei Schritte von Johnny entfernt stand. »Na, was ist, Halbstarker?« Er nickte zu Elisabeth hinauf. »Kannst du ihr wirklich das bieten, was sie braucht?«

Johnny spürte ein Sausen in den Ohren, als würde ihm schwindlig werden, aber es war ein anderes Schwindelgefühl als jenes, wenn sein Körper nach Alkohol schrie. Er versuchte den Blick auf die Haustür auf der anderen Straßenseite zu heften. Sein Rücken war schweißbedeckt und in seinen Armmuskeln zuckte es.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte er.

»Verstehe, ihr habt es eilig. Vielleicht hat die da oben am Fenster schon kein Höschen mehr an?«

Johnny bückte sich nach der Tasche und setzte sich in Bewegung.

Wenn der Kerl einen einzigen Schritt auf mich zu macht, dann schlag ich ihm in die Fresse, ich schwöre es.

Keiner der beiden Polizisten rührte sich. Der eine guckte den anderen an. Johnny war hinter dem Plymouth. Elisabeth hatte gesehen, dass er auf dem Weg ins Haus war. Ihre Gestalt war vom Fenster verschwunden.

»Na, dann mal ran an die Buletten«, hörte er hinter sich.

»Viel Glück, du Ersatzmann.«

»Komm, jetzt müssen wir los und nach dem vermissten Kerl suchen!«

»Das ist unser Job.«

»Falls wir ihn finden, rufen wir vorher an, damit du rechtzeitig verschwinden kannst.«

Er hörte Gelächter, Türen wurden zugeschlagen, der Motor heulte auf. Das Auto startete mit quietschenden Reifen und einer der Polizisten hielt seine Hand zum Gruß aus dem Fenster, als sie bei der Kreuzung abbogen. Johnny spürte, wie ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern herunterlief. Seine Handgelenke schmerzten. Er sah Elisabeth in der Tür.

 

»Die haben mich angeguckt, als wäre es meine Schuld«, sagte Elisabeth. »Als ich ihn als vermisst gemeldet habe. Als ob ich ihn vergrault hätte.«

Sie hatte eine Kerze auf dem Küchentisch angezündet. Das Fenster zur Straße und der Laterne auf der anderen Seite war geöffnet. Sonst war es dunkel um sie herum. Überall war es still. Lennart schlief hinter der geschlossenen Tür in seinem Zimmer.

Was ist zwischen ihnen passiert?, dachte er. Was hat Bertil gesagt? Dass ich Elisabeth fragen soll, warum er abgehauen ist.

»Die sind ein Scheißdreck«, sagte er.

»Mir kam es vor, als würde ich den einen kennen. Den Älteren, der draußen auf der Straße stand.«

»Mhm.«

»Die haben sich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet«, sagte sie. »Nichts. Kein Wort davon, wie … es geht oder so.« Sie strich mit der Hand über die Kerzenflamme. »Oder wie … es uns geht.«

»Das ist denen doch scheißegal«, sagte Johnny.

»Ja … aber vielleicht gehört das auch nicht zu ihrem Job.«

Johnny nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte wie bitteres Wasser. Dort unten konnte er den Duett sehen. Ein paar Autos fuhren vorbei, aber zu Fuß war niemand mehr unterwegs. Für Altweibersommer war es noch zu früh, aber es fühlte sich wie Altweibersommer an, wie ein milder Herbst, obwohl sie immer noch im letzten Sommermonat waren. Dieser August war anders als sonst. Etwas geschah. In seinem Leben. Im Leben anderer. Es war etwas Entscheidendes. Etwas, vor dem er nicht im Duett davonfahren konnte. Etwas, das er nicht verstand, das vielleicht niemand verstand.

»Ich hab Bertil getroffen«, sagte er. »Gestern.«

Sie ließ das Bierglas fallen, das sie gerade zum Mund gehoben hatte.

»WAS?!«

Das Glas blieb ganz, als es auf dem Tisch auftraf. Er sah ein dünnes Rinnsal schwachen, bitteren Bieres auf den Boden tropfen.

»GESTERN?!«

Sie versuchte ihre Stimme zu dämpfen.

»Was zum Teufel sagst du da, Johnny?«

Er erzählte es ihr. Es ging schnell. Er ließ nichts aus, nur das eine.

»Lieber Himmel«, sagte Elisabeth. »Herr im Himmel.«

Sie beugte sich über den Tisch, legte die Hände vor die Augen und schaute wieder auf.

»Das ist ja verrückt«, sagte sie.

»Nein.«

»Hast du das den Polizisten da unten erzählt?«

»Nein, nein.« Er versuchte ihren Blick einzufangen, der zum Fenster hinaus und auf die Straße geflattert war. »Bertil ist ja nicht mehr hier in der Gegend.«

»Aber er ist vermutlich zur Küste gefahren, oder? Das kann man der Polizei doch mitteilen?«

Johnny antwortete nicht. Er konnte nicht antworten.

»Und du wartest mehrere Tage, ehe du es mir erzählst.«

Sie sah ihn jetzt an. »Das ist wirklich der Gipfel.«

»Einen Tag«, sagte er.

»Du hättest es mir sofort erzählen müssen«, sagte sie.

»Meinst du, ich hätte es nicht versucht?«

»Nein.«

Er sah das Bier weiter auf den Fußboden tropfen, stand auf, nahm den Lappen, der über dem Wasserhahn hing, und wischte das Bier vom Tisch und Fußboden auf. Im Raum roch es nach Bier, obwohl es keine besonders starke Sorte war. Er wollte immer weiter und weiter wischen, stundenlang.

»Du hast hoffentlich nichts zu Lennart gesagt?«, fragte sie in die Luft hinein.

»Wenn ich das getan hätte, dann wäre er der beste Schauspieler der Welt, Elisabeth.«

»Nein, das bist du.« Sie schaute zu ihm hinunter.

Er kauerte immer noch da und wischte den Boden mit kleinen kreisenden Bewegungen. Seine Knie begannen zu schmerzen.

Er richtete sich auf mit dem Lappen in der Hand.

»Den kannst du gleich wegwerfen«, sagte sie.

Er ging zur Spüle und warf den Lappen in den Abfalleimer.

»Ich bring gleich alles weg.« Er nahm den Plastikeimer, ging durch den Flur ins Treppenhaus und die Treppen hinunter in den Hinterhof, wo unter einem Windschutz zwei Tonnen standen. Er kippte den Eimer aus und der Inhalt verschwand in der Tonne. Hinter den Tonnen raschelte es in der Dunkelheit, einmal. Vielleicht eine Katze, vielleicht eine Ratte, vielleicht ein Bulle.

Er klappte den Deckel zu und ging zurück über den Hof. Bis hierher reichte das Licht von der anderen Straßenseite nicht. Links war eine weitere Mauer, und das Straßenlicht fiel nur auf den oberen Teil.

Sie wollten zusammen zum Markt gehen, hatten sie beschlossen. Die Familie. Und ein Freund der Familie. Daraus würde wohl nichts werden. Lennart würde allein hingehen müssen oder mit Elisabeth. Ich fahre nach Hause. Er blieb stehen, als ob ihm in diesem Moment klar wurde, was er jetzt zu tun hatte. Ich fahre nach Hause, jetzt in der Nacht. Es gibt keine andere Wahl.

Als er die Küche wieder betrat, saß Elisabeth immer noch am Tisch. Er sah, dass sie das Fenster geschlossen hatte.

»Mir war kalt«, sagte sie.

»Am besten, ich fahre jetzt«, sagte er.

»Warum?« Sie schaute auf. Sie sah … erstaunt aus.

»Warum willst du nach Hause fahren, Johnny?«

»Aber Elisabeth …«

»Na, dann hau ab«, sagte sie und drehte sich zum Fenster und der Nacht draußen hinter den Scheiben. »Das ist ja immer eine Lösung für euch.« Sie lachte plötzlich, eine Art bitteres Lachen, das zu dem Biergeruch passte, der immer noch in der Küche hing. »Männer sind verdammt gut darin, einfach abzuhauen, wenn nicht alles so läuft, wie es soll.«

Sie schaute zu ihm hoch. »Hau doch ab, du Feigling. Das ist nicht das erste Mal.«

»Was meinst du damit?«

»Was ich meine? Ich meine, was ich sage. Es ist nicht das erste Mal, dass du das Weite suchst vor etwas … das schwer ist.«

Er antwortete nicht. Er fühlte sich gelähmt, im Körper, im Kopf. Da war kein Blut mehr.

»Ich meine nicht den Alkohol«, sagte sie.

»Was meinst du denn, Elisabeth?«

Plötzlich schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann nicht mehr«, sagte sie. »Fahr jetzt, Johnny.«

Sie stand auf und ging zum Fenster und öffnete es mit einer abrupten Bewegung. Dann holte sie tief Luft und schaute auf die Straße. »Da unten wartet dein treues Auto, Johnny. Dein treuer Kamerad. Trab weiter, Kamerad.«

Es ist nicht das erste Mal, dass du abhaust.

Sieht sie es wirklich so?

Hat sie es so aufgefasst?

Das war doch schon so lange her. Oder noch gar nicht so lange.

Er spürte, dass das Blut wieder in seinem Körper zirkulierte, er konnte den Arm heben, das Bein bewegen.

Elisabeth kehrte ihm immer noch den Rücken zu. Sie war schön, immer noch genauso schön.

Jetzt sah er Bertil vor sich, die geballten Fäuste. Elisabeth weiß es, hatte Bertil gesagt. Er hatte seine Fäuste geöffnet und geschlossen. Frag sie, wenn du es unbedingt wissen willst.

»Dann fahr ich also«, sagte Johnny.

Sie antwortete nicht, vielleicht behielt sie den Duett im Auge, bis er unten ankam.

»Grüß Lennart«, sagte er und wollte gehen.

»Johnny!«

Er drehte sich wieder um.

»Bleib.« Sie kam auf ihn zu. »Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Heute Nacht.«

»Aber … ich bin doch der Anlass zu allem.«

»Nein, nein«, sagte sie. »Du kannst nichts dafür.« Jetzt stand sie am Tisch. »Du kannst nichts dafür, dass Bertil dort war. In dem Augenblick.«

»Ich hätte es dir früher erzählen müssen. Du hattest Recht.« Er bewegte eine Hand. »Ich hätte mehr tun können.«

Sie antwortete nicht.

»Ich hätte es eher erzählen müssen«, wiederholte er.

»Ich versteh ja, dass es … schwer war«, sagte sie.

»Ich hab’s versucht.«

»Auch das versteh ich.« Er meinte, ein schwaches Lächeln um ihre Lippen zu entdecken. »Wollen wir noch etwas trinken?«

 

Sie mussten sich ein wenig ausruhen. Sie holte noch eine Flasche von dem schwachen Bier, und er setzte sich wieder an den Küchentisch. Eine Minute lang sagte keiner von beiden ein Wort. In der Zeit fuhr ein Halbstarkenauto unten auf der Straße in der Stille vorbei, mit doppeltem Auspuff. Ein Fetzen Musik blieb hängen, als das Auto weg war, der traurige Roy Orbison.

»Lennart scheint nicht direkt traurig zu sein, dass ich meinen Job verliere«, sagte sie.

»Er hat es mitgehört«, sagte Johnny, »als du mir das erste Mal davon erzählt hast.«

»Das wusstest du auch?«

Er antwortete nicht.

»Hier scheinen alle alles zu wissen, nur ich nicht«, sagte sie.

»Du hast gesagt, dass Lennart nicht traurig zu sein scheint«, sagte Johnny.

»Er will hier weg.« Sie schob eine Strähne ihrer dicken braunen Haare hinters Ohr. Er dachte an Ingrid. Ihre Haare waren auch braun unter den schwarzen Locken der Antike.

»Ich habe mitbekommen, dass seine Schulkameraden nicht nett zu ihm sind.«

»Hast du mit der Schule gesprochen?«, fragte er. »Dem Direktor? Den Lehrern?«

»Hilft das was?«

»Nein.«

»Vielleicht ist es das Beste, dass ich meinen Job loswerde. Für ihn, für uns beide.«

»Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagte Johnny.

»Wie stellst du dir das vor?«

»Es gibt kein Café, das ich nicht kenne. Ich kann überall fragen, ob sie jemanden brauchen.«

»Ich möchte nicht mehr in einem Café arbeiten«, sagte sie.

Er nickte.

»Möchtest du denn immer noch … in Cafés arbeiten, Johnny?« Sie beugte sich vor. »Du weißt, wie ich das meine.«

»Ich werde wahrscheinlich auch rausgeschmissen.« Er lächelte.

Sie sah wieder aus dem Fenster, als würde ihr Blick von magnetischen Feldern der Nacht angezogen.

»Ich möchte etwas anderes sehen«, sagte sie. »Etwas ganz anderes. Bevor es zu spät ist.« Sie hob die Schultern.

»Aber vermutlich ist es schon zu spät.«

»Elisabeth?«

Sie richtete den Blick auf ihn.

»Ja?«

»Darf ich dich was fragen? Ohne dass du mir … böse bist?«

»Ja, was?«

»Was war es, das Bertil veranlasst hat wegzugehen?«

Johnny spürte, wie seine Stimme im Hals stockte. »Was ist an dem Abend passiert?«