»Der Wald ruft«, sagte Sara und stand auf. »Wir müssen Sten Larssons Spur durch den Wald verfolgen. Das liefert uns vielleicht eine Erklärung dafür, warum er sich zwanzig Minuten nach Emily dort befand. Mit diesen zwanzig Minuten ist irgendetwas faul.«

Lena und Gunnar betrachteten sie und verstanden, dass dies eine Art und Weise war, der Melancholie zuvorzukommen und die lauernde Angst auf Abstand zu halten.

Sie standen auf und folgten ihr in den Wald.

Hinter ihnen fuhr ein großer Bus auf den Parkplatz. Die Jugendlichen sammelten sich mit ihrem Gepäck in einem Rudel, durch das sich eine Art kollektives Beben fortpflanzte. Es war offensichtlich, dass sie kaum erwarten konnten, von hier fortzukommen.

Alles war jetzt besser als Saltbacken.

Sara Svenhagen war schon auf dem Weg in westlicher Richtung in den Wald. Gunnar Nyberg und Lena Lindberg joggten ihr nach und schlossen zu ihr auf. Gunnar tippte wieder mal die Nummer von Sten Larssons Handy ein, und Sara fasste zusammen, während ihr die Zweige ins Gesicht klatschten: »Sten Larsson dürfte also zweimal von unabhängigen Suchgruppen im Wald gesehen worden sein. Das erste Mal muss ungefähr hier gewesen sein.«

Sie blieb stehen und sah sich um. Das Blickfeld war klar begrenzt, in allen Richtungen stieß es auf Widerstand in Form von Bäumen und noch mal Bäumen. Aber auch in Form eines großen Steinblocks, eines Findlings, der in der Eiszeit mit dem Eis aus großer Entfernung herantransportiert worden war.

»Hier hat Julia Johnsson einen militärgrünen Fleecepulli gesehen und ihn irrtümlich für Jonatan Janssons Pulli gehalten.«

Sie gingen umher und suchten zerstreut nach Spuren.

Lena Lindberg blieb hinter dem Findling stehen und sagte: »Hier könnte jemand gestanden haben.«

Gunnar und Sara kamen dazu. »Hier ist der Boden platt getreten, ohne Zweifel«, sagte Gunnar.

»Kann man eine Fußspur erkennen oder irgendeinen verlorenen Gegenstand?«

»Das ist nicht ganz unmöglich«, sagte Sara und zeigte auf den moosbedeckten Boden. »Keine verlorenen Gegenstände, aber immerhin Fußabdrücke. Die Techniker können sich das einmal ansehen.«

»Julia Johnssons letzter Aufwallung zufolge hat sie ihn hier gesehen«, sagte Lena. »Nehmen wir an, dass Sten Larsson tatsächlich hier lauerte und auf Fallobst vom geschüttelten Kinderbaum wartete - wohin ging er anschließend?«

»Nach Norden«, sagte Gunnar. »Nach Norden, bis die Zwillinge ihn sahen und für einen Elch hielten.«

»Und dabei warst du es nicht mal«, sagte Sara. »Dann hätte ich es noch glauben können.«

»Du denkst an das Geweih«, sagte Gunnar und wandte sich nach Norden.

Die Frauen folgten ihrem selbst ernannten Alphamännchen. »Sind wir jetzt auf dem richtigen Weg?«, fragte Lena und blickte zum Himmel auf, der irgendwo hinter dem Dach aus Tannenzweigen vermutlich immer noch klarblau war.

»Wahrscheinlich ziemlich richtig«, sagte Sara. »Hier war der Elch.«

»Wie kann man auf die bescheuerte Idee kommen, dass Sten Larsson ein Elch war?«, sagte Gunnar Nyberg.

»Weil der Wald einem einen Schrecken einjagt«, sagte Lena sofort. »Weil die Unendlichkeit des Waldes Monster gebiert.«

Gunnar Nyberg kehrte zu seinem Handy zurück. Sara zeigte in eine Richtung, die nordnordöstlich sein mochte, und sagte: »Warum sollten wir annehmen, dass er sich dann in die gleiche Richtung bewegt hat wie Emily? Ist es wahrscheinlich, dass er zwanzig Minuten später genau an der Stelle vorbeigekommen ist, wo Emily ihren Pulli zerriss und ein Stück davon zurückließ?«

»Jedenfalls hat er das Stück Stoff nicht gesehen«, sagte Lena. »Das hatte Jesper Gavlin schon mitgenommen: >Eine Spur, verdammt, ich hatte eine Spur entdeckt<.«

»Wir gehen in die Richtung«, sagte Nyberg und setzte sich wieder an die Spitze.

Sara wandte sich zu Lena um und sagte: »Irgendetwas kommt mir komisch vor. Es liegen zwanzig Minuten zwischen ihnen. Emily geht direkt nach Norden, wie es scheint, während Sten Larsson westlich davon auf der Lauer liegt und sich dann in dieselbe Richtung bewegt wie sie. Er kann sie nicht gesehen haben.«

»Er kann aber Handykontakt mit ihr gehabt haben«, sagte Lena. »Wenn sie über ihre Homepage Kontakt hatten, können sie die Handynummern ausgetauscht haben. Sie verabreden sich im Wald, aber in diesem verflixten dichten Gehölz einen Treffpunkt zu finden, das ist so gut wie unmöglich. Sie irren eine Weile umher, suchen gemeinsame Referenzpunkte, bewegen sich in die gleiche Richtung und finden sich am Ende...«

Ein schwacher Laut mischte sich in das Rauschen des Waldes. Zuerst war es nur eine sehr vage Störung des Rauschens. Dann nahm es nach und nach die Form von Musik an, bildete eine Melodie, eine Art Marsch, der hier völlig fehl am Platz war, und sie schienen sich auf die Musik zuzubewegen, denn sie wurde lauter und lauter, auf jeden Fall deutlicher und deutlicher.

»Sousa?«, sagte Gunnar Nyberg skeptisch. »Ein Militärmarsch von John Philip Sousa? >Liberty Bell?<«

»Monty Python's Flying Circus?«, sagte Lena Lindberg nicht weniger skeptisch.

»Auf jeden Fall ist es ein Handy«, sagte Sara, hob ihre Stimme um einige Dezibel und rief in den Wald hinein: »Hallo, ist da jemand? Hier ist die Polizei. Zeigen Sie sich!«

Das Signal verschwand abrupt und schien das Rauschen des Waldes mit sich zu nehmen, es blieb eine nahezu absolute Stille zurück.

Sie wanderten umher und riefen, aber sobald sie verstummten, war das Schweigen wieder da. Dann blieb Sara Svenhagen plötzlich stehen und machte ein paar Schritte auf Gunnar zu, der gerade unfassbare Mengen ängermanländischer Waldluft einsog, um seinen geschulten Kirchenbass erneut zwischen den kathedralenhohen Baumstämmen widerhallen zu lassen.

»Gunnar«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Arm.

»Ja, meine Schöne«, sagte er und ließ die Luft zischend wie eine undichte Kirchenorgel entweichen.

»Warst du das?«

»Nein«, entgegnete Gunnar Nyberg. »Ich habe einen anderen Klingelton. Ein Stück aus Bachs h-Moll-Messe, um genau zu sein.«

»Ich meine, ob du angerufen hast«, sagte Sara Svenhagen.

Gunnar zog sein Handy heraus und betrachtete es mit großer Verwunderung. »Doch«, sagte er. »Aber das tue ich doch die ganze Zeit.«

»Ruf noch einmal an«, sagte Sara.

Und Gunnar Nyberg rief wieder an.

Ein paar Sekunden später klang die Titelmelodie von Mon-ty Python's Flying Circus durch den Wald.

Lena Lindberg zog als Erste ihre Dienstwaffe. Die anderen taten es ihr nach, schneller, als sie selbst geahnt hätten. Es begann zur Gewohnheit zu werden. Zu einer ziemlich schlechten.

»Sten Larsson«, rief Gunnar ohrenbetäubend. »Wir wissen, dass Sie hier sind. Geben Sie sich zu erkennen.«

Keine Antwort, von John Philip Sousas Marsch abgesehen. Und die Antwort blieb ziemlich gedämpft.

Möglicherweise hätten sie sich auffächern sollen, um eine größere Fläche abzudecken, aber sie taten es nicht. Es schien ihnen nicht die Situation dafür zu sein, einander aus den Augen zu lassen. Im Gegenteil, sie blieben sehr dicht zusammen, als wären sie ein einziger Körper gegen den Wald.

Der Klingelton verschwand. Nyberg rief wieder an.

Der Marsch änderte abrupt den Charakter. Zuvor war es möglich gewesen, sich eine Vorstellung davon zu machen, aus welcher Richtung die Töne kamen, aber jetzt war das unmöglich. Obwohl der Ton stärker war als zuvor. Sie überlegten, warum.

Schließlich kamen sie darauf.

Der Ton kam von unten.

Von unter ihren Füßen.

Gunnar und Lena reagierten instinktiv. Sie richteten ihre Waffen zum Boden. Als ob die Erde eine Gefahr darstellte.

Sara ihrerseits steckte die Pistole in das Achselholster und kniete sich auf den moosbewachsenen Boden. Sie begann genau an dem Punkt zu graben, wo der Marsch erklang. Als der Ton verschwand, sagte sie nur: »Ruf noch mal an.«

Und wieder erklang der Marsch. Immer lauter.

Lena setzte sich neben sie und grub die Hände ebenfalls in die Erde. Aber sie konnte sie nicht mehr heben, sie steckten fest im lockeren Boden, sie sanken durchs Moos, es gab keinen Grund.

Das kam ihr bekannt vor.

»Der Hund hat geniest«, sagte sie und begann neben Sara zu graben.

»Was?«, sagte Sara.

»Als ich zuletzt im Wald war, hörte ich einen der Suchhunde so komisch bellen. Jetzt begreife ich, dass er geniest hat. Er hat geniest, weil etwas im Boden war, das ihn dazu bringen sollte zu niesen, statt dies hier zu wittern.«

»Dies hier?«

»Wir wissen doch, was hier unten drin steckt, oder?«, sagte Lena Lindberg.

Und dann waren sie so weit. Jetzt wussten sie es alle drei.

Sten Larssons Gesicht war ganz friedlich, wahrscheinlich friedlicher, als es im Leben seit sehr, sehr langer Zeit gewesen war. Sara befreite die Gesichtszüge von der Erde. Gunnar reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es und wischte damit vorsichtig das Gesicht ab.

John Philip Sousas Marsch verstummte. Sara Svenhagen säuberte das Kinn und wischte tiefer. Als sie zum Hals kam, hielt sie inne.

Eine gerade schmale Linie lief um den ganzen Hals. Sie fingerte ein bisschen daran herum. Eine Wunde wurde sichtbar. Eine Wunde, die um den ganzen Hals lief. »Emily und ihre Messer«, sagte Gunnar Nyberg heiser.

15

Kerstin Holm saß in ihrem Zimmer und versuchte, die Entwicklung der letzten Stunden zu ordnen. Um diese Zeit hätte sie längst zu Hause bei ihrem Sohn sein sollen. Umso besser, dass Anders ein erstaunlich geläutertes Verhältnis zu den Arbeitszeiten seiner Mutter hatte und in der Regel bestens allein zurechtkam.

Ihr Sohn war ein Schlüsselkind.

Sie spürte einen kleinen Stich in der Herzgegend, aber da sie sich inzwischen eingestand, dass es in ihrem Charakter Einschläge von Arbeitswut gab, ging es schnell vorbei.

Die neuen Ergebnisse im Fall der verschwundenen Emily Flodberg erforderten nun einmal ihre ganze Aufmerksamkeit.

Wie hing das alles zusammen?

Emily Flodberg, vierzehn Jahre alt, stellt Nacktbilder von sich ins Internet. Sie hat versucht, zu diesem dubiosen Vorhaben Verbündete heranzuziehen, Klassenkameradinnen, aber sowohl Felicia Lunden als auch Julia Johnsson ziehen sich zurück, als die Sache zu heiß wird. Emily zieht ihren Plan durch, sie ist sogar routiniert und mit dem Computer vertraut genug, dass es ihr gelingt, sich für ihre Dienste bezahlen zu lassen, mit Kreditkarten und allem Drum und Dran. Diese Kreditkarteneinnahmen lagen jetzt schwarz auf weiß vor. Die Homepage war im März ins Netz gestellt worden, und seitdem hatte Emily mit ihren Bildern mehr als zwölftausend Kronen eingenommen. Ein zusätzliches Taschengeld, womit sie jedoch, wie sich zeigte, keineswegs allein dastand. Vielmehr schienen sich derartige Aktivitäten unter Mädchen auszubreiten, allerdings unter etwas älteren Mädchen, die die Gelegenheit nutzten, sich mit ihren Körpern etwas Geld hinzuzuverdienen.

Kerstin Holm hielt bei einem Nebengedanken inne. War es so, dass käuflicher Sex sich in der heutigen Zeit sozusagen als ein völlig natürliches Element etabliert hatte? Die Sexualisierung des öffentlichen Raums - die orgiastischen Aufmacher der Abendzeitungen, die versteckte Pornografie der Dokusoaps -, das war zum natürlichen Teil des Lebens einer Vierzehnjährigen geworden. Es hatte für sie einen bitteren Geschmack. War bereits das Leben in der Schule bis über alle Grenzen der Toleranz eskaliert? War nicht schon der Ton zwischen den Schulkindern eine Art Schiffbruch der demokratischen Erziehung des Menschen? Musste nun auch die Prostitution ein selbstverständlicher Teil unseres Denkens werden?

Kerstin Holm seufzte und versuchte, sich auf die Sachlage zu konzentrieren. Leider war die Sachlage nicht so leicht zu greifen.

Welche Verbindung bestand zwischen Emilys Homepage und Saltbacken? War sie wirklich in so etwas wie einer Mission begriffen, im - wenn auch nicht erteilten - Auftrag aller Kinder, all derer, die sich in der Gefahrenzone eines Pädophilen befanden? Hatte sie sich darüber unterrichtet, dass es ausgerechnet in Saltbacken eine unerwartete Anhäufung von Pädophilen gab? Hatte sie sich genau darauf vorbereitet, Pädophile umzubringen? Mit Messern umzugehen hatte sie offenbar tatsächlich trainiert, sie trug einen allgemeinen Männerhass als schweres Gepäck mit sich herum, und sie hatte schon Monate vorher zielbewusst und äußerst planvoll ausgerechnet den Weg nach Saltbacken gesucht. Und sie hatte tatsächlich Handykontakt mit Sten Larsson gehabt. Von Larssons Telefon mit seinem grotesken Monty-Python-Klingelton war Emily angerufen worden, und dieses Telefon war von ihr angerufen worden - ihre Nummer war in dem ausgegrabenen Handy gespeichert. Zwar lag keine einzige gespeicherte Nummer mehr als einen Monat zurück, aber schon damals, schon Mitte Mai, hatte es einen ersten Kontakt gegeben. Und diesen ersten Kontakt hatte Emily hergestellt. Seitdem hatten sie etwa zehnmal miteinander telefoniert, und die beiden letzten Gespräche fielen in die Zeit des Aufenthalts der Schulklasse in Saltbacken. Emily hatte Sten am Abend vor ihrem Verschwinden angerufen, und unmittelbar nachdem sie in den Wald gegangen war, hatte Sten angerufen. Vermutlich hatten sie ein Treffen verabredet, und Emily war nur in die falsche Richtung gegangen. Um zwölf Minuten nach eins wurde sie von Sten Larsson angerufen. Das Gespräch dauerte vier Minuten. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie in diesem Gespräch ihre Positionen abzustimmen versuchten, um sich zu treffen. Emily rannte in nördlicher Richtung, blieb an einem Busch hängen und zerriss ihre Jacke. Nur etwa drei- bis vierhundert Meter weiter in nordöstlicher Richtung begegneten sie sich.

Und Emily schnitt ihm die Kehle durch.

War es wirklich so gewesen? Stimmte das?

Selbst zu denken ist groß, zusammen zu denken ist größer.

Ein altes Dschungelsprichwort.

Ich brauche einen Gesprächspartner, dachte Kerstin Holm. Ihr erster Gedanke war Paul Hjelm, ihr zweiter Bengt Äkesson. Aber beim dritten Gedanken blieb sie stehen. Weil er realistisch war.

Sie drückte einen Knopf der internen Telefonanlage, und es dauerte nicht lange, bis zwei wohlbekannte Gesichter in ihr Zimmer schauten.

Eines war sehr weiß, das andere schräg-nach-innen-rückwärts gewandt.

Arto Söderstedt und Viggo Norlander nahmen vor ihrem Schreibtisch Platz.

»Wie geht es?«, fragte sie.

»Es ist sieben Uhr, und wir sind immer noch hier«, sagte Norlander finster. »Es geht gut. Viel zu gut. Wir haben massenweise verdächtige Todesfälle mit schweren körperlichen Schäden zusammengesucht. Jetzt muss Astrid sich so viel um die Mädchen kümmern, dass mein ganzer Mittsommerabend fürs Kinderhüten draufgeht. Während sie mit den Nachbarn auf dem Land saufen geht.«

»Du versuchst immer, negative Impulse zu finden«, sagte Söderstedt. »Du solltest wirklich etwas gegen diesen Hang tun. Eben warst du noch ausgelassen wie ein Kalb auf der Weide.«

»Schnauze«, sagte Viggo Norlander.

»Es gibt eine Wendung im Fall Emily Flodberg«, sagte Kerstin Holm vollkommen immun gegen das Meckern. »Wendung?«

»Eine Wendung in eure Richtung, meine Herren. Vielleicht. Ich muss das ein bisschen mit euch durchkauen.«

Und dann erzählte sie die ganze Geschichte.

»Durchgeschnittene Kehle?«, sagte Arto Söderstedt, als Kerstin zu Ende erzählt hatte. »Hat sich der Gerichtsmediziner das angesehen?«

»Ja«, sagte Kerstin Holm. »Die vorläufige Untersuchung hat ergeben, dass es sich entweder um ein Messer mit sehr feiner Klinge handelt, die scharf geschliffen war und sicher geführt wurde - oder um eine Klaviersaite.«

»Da scheint vieles auf Emily hinzudeuten«, sagte Norlander. »Es ist genau geplant. Monate vorher. Und dann die Kontakte über das Handy.«

»Ja, was meint ihr?«, fragte Holm geradeheraus. »Was ist in diesem verdammten Wald passiert?«

»Wie tief ist die Wunde?«, fragte Söderstedt.

Kerstin Holm blätterte in einem Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. »Tief, aber nicht so tief, wie du meinst. Nicht zu vergleichen mit den beiden Schnittflächen des durchtrennten Halses. Aber auf der Stelle tödlich.«

Söderstedt nickte, streckte die Beine unter Holms Schreibtisch aus und sagte: »Was wir entdeckt haben, ist nämlich eine in den letzten sieben, acht Monaten ziemlich drastisch gestiegene Anzahl von verdächtigen Todesfällen mit schweren körperlichen Schäden im Bereich von Stockholm. Fälle, bei denen die beiden Schnittflächen des durchtrennten Halses vertuscht werden konnten. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl ziemlich konstant geblieben. Aber seit ungefähr acht Monaten hat sich die Anzahl extremer tödlicher Verletzungen und Verbrennungen fast verdoppelt. Verdächtig viele einsame Männer haben ihr Auto gegen eine Felswand oder in einen Abgrund gesteuert, und ein bisschen zu vielen ist es gelungen, an einsamen Plätzen zu verbrennen. Ich denke also, wir haben es mit einer Art gezieltem Serienmord zu tun. Und in mindestens fünfzehn Fällen ist es vorstellbar, dass die Spuren einer durchschnittenen Kehle verwischt werden sollten - jedoch ohne dass das Leben eines anderen riskiert wurde.«

»Hm«, sagte Kerstin Holm. »Es ist also kein Verrückter, den es nicht kümmert, wenn ein paar andere Leute mit draufgehen?«

»Kein Verrückter«, sagte Söderstedt. »Und auch keiner, der Unschuldige opfert. Nimmt lieber etwas zu viele verdächtige Todesfälle in Kauf, als zu riskieren, dass Unschuldige zu Schaden kommen.«

»Unschuldige?«

»Wenn wir recht haben und es sich um denselben Täter handelt, einen, der einem groß gewachsenen Mann in den besten Jahren mit einer Kraft, die eine deutliche Sprache spricht, die Kehle mit einer Klaviersaite durchgeschnitten hat - wenn alle diese verdächtigen Todesfälle mit schweren körperlichen Schäden das Werk dieses einen Mannes sind, dann betrachtet er seine Opfer ohne Zweifel als schuldig. Schuldig an etwas uns Unbekanntem.«

»Gibt es etwas Verbindendes zwischen diesen möglichen Mordopfern?«

»Wir haben gerade erst die Fakten beisammen«, sagte Viggo Norlander. »Es handelt sich ausschließlich um erwachsene Männer. Weiter sind wir nicht gekommen.«

»Kein Fall außerhalb von Stockholm?«

»Da ist die Statistik unsicherer«, sagte Söderstedt. »Wir haben uns zunächst auf Stockholm konzentriert. Unser Opfer ist mitten in der Stadt am Monteliusväg als Blickfang platziert worden. So als sollte gerade Stockholm auf ihn schauen und von weiteren Sünden abgeschreckt werden.«

»Ebenso gut sollte vielleicht Schweden hinschauen«, sagte Holm. »Oder Europa. Oder die Welt. Aber auf jeden Fall hat sich der Modus Operandi geändert. Das meinst du doch?«

»Unter anderem, ja«, sagte Söderstedt. »Etwas ist passiert. Er will sich nicht mehr verstecken. Er geht von der finstersten Scheu vor dem Licht zur taghellen Entblößung über. Warum?«

Kerstin Holm lehnte sich zurück und sagte: »Weil er in Ängermanland gewesen ist?«

Es war eine Weile still in dem vorher so lebhaften Raum.

Schließlich sagte Viggo Norlander: »In diesem Falle reden wir von Pädophilen...«

»Der Gedanke ist mir gekommen«, sagte Kerstin Holm leise.

Arto Söderstedt zog seine Beine an und beugte sich in einer seltsamen Denkerpose vor, die an die Picassoversion von Auguste Rodins klassischer Skulptur >Der Denker< erinnerte. Er sagte: »Aber wie passt Emily Flodberg ins Bild?«

»Helft mir, das herauszufinden«, sagte Kerstin Holm.

»Sie lockt mit Nacktbildern im Internet Pädophile an«, sagte Söderstedt in seiner hockenden Position. »Einer, der Kontakt mit ihr aufnimmt, heißt Sten Larsson und wohnt in Saltbacken. Vielleicht deutet er an, dass es noch andere gibt, die Interesse haben könnten, sie in der Nachbarschaft zu treffen. Aber das ist ja alles sehr weit weg, da draußen im schlimmsten Urwald. Anderseits rückt die Zeit näher, dass die Klasse auf Klassenfahrt geht. Sie ist ja ein gerissenes Mädchen, sie verführt einen armen Jungen und bringt ihn dazu, die Idee mit Saltbacken ins Gespräch zu bringen.«

»Die Annonce hat tatsächlich ein paar Wochen im Netz gestanden, bevor sie in der Presse auftauchte«, nickte Holm. »Es hieß, sie würde auch bald in Dagens Nyheter erscheinen. Sie kann sie gesehen und sich genau vorbereitet haben. Vielleicht hat sie Johan Richardsson lange präpariert.«

Arto Söderstedt zog eine finstere Grimasse und rekelte sich aus dem Denkerknoten heraus. Er legte die Hände in den Nacken, lehnte sich zurück und sagte: »In diesem Szenario ist Emily Flodberg der Kopf hinter allem. Ein vierzehnjähriges Mädchen, das es fertiggebracht hat, ein gutes Dutzend Unglücksfälle vorzutäuschen, nachdem es einer großen Zahl von Männern mit einer Klaviersaite die Kehle durchgeschnitten hat. In diesem Szenario ist es Emily Flodberg, die unmittelbar nach ihrem Verschwinden nach Stockholm reist und sich daranmacht, weit jenseits der Grenzen ihrer Körperkraft einen ziemlich groß gewachsenen Mann zu enthaupten und den schweren Körper mit baumelndem Kopf auf eine der populärsten Promenaden Stockholms zu schleppen.«

»Nicht gut?«, sagte Kerstin Holm.

»Gar nicht gut«, sagte Arto Söderstedt.

»Vielleicht gibt es überhaupt keine Verbindung«, sagte Viggo Norlander. »Mein Gott, alles, was wir haben, sind zwei Leichen mit durchtrenntem Hals an zwei völlig verschiedenen Orten in Schweden.«

»Aber dass es eine Verbindung gibt, ist doch wahrscheinlich«, sagte Söderstedt. »Da stimme ich völlig zu. Diese mittelalterliche, fast biblische Art, die Leiche zu platzieren - da kann eine so brisante Sache wie Pädophilie der Grund gewesen sein. Die gehört in die Sphäre, wo eine solche Wut ihren adäquaten Platz hat.«

Jetzt war Kerstin Holm an der Reihe, eine Position einzunehmen, die zumindest vage an die eines Denkers erinnerte. Sie schlug die Beine übereinander und drehte den einen Unterschenkel um den anderen, sodass sie gewissermaßen einen Knoten bildeten. »Vielleicht ist Emily nicht allein.«

»Ich habe daran gedacht«, sagte Viggo Norlander. »Kann man wirklich so eine Homepage mit Zahlungsmöglichkeit und allem auf die Beine stellen, ohne volljährig zu sein? Ist sie ein Köder?«

Söderstedt und Holm starrten ihn an.

»Habe ich etwas Dummes gesagt?«, fragte Norlander mit unerwarteter Unsicherheit.

»Nein«, sagte Söderstedt. »Du hast etwas Kluges gesagt. Deshalb sind wir so schockiert.«

»Köder?«, sagte Kerstin Holm. »Ein großer, starker, erwachsener Mann hat beschlossen, so viele Pädophile wie möglich zu vernichten - er ist vielleicht ein Opfer -, aber er braucht Hilfe. Er braucht Hilfe, um Täter anzulocken. Emily ist vielleicht schon lange als Köder aktiv gewesen. Sie ist es, die den Kontakt aufnimmt, sie stellt sich selbst als sexinteressierte kleine Nymphomanin dar, die massenweise Pädophile anzieht.«

»Verdammt«, sagte Söderstedt. »Das ist ja eine dreistufige Rakete. Er ist seit acht Monaten aktiv. Schritt eins war, als er die Idee hatte und seine Säuberungsaktion vorbereitete. Ein paar Monate später kam sie mit ihrer Homepage ins Bild, als ihm allmählich klar wurde, wie er am besten Pädophile anlocken konnte - Schritt zwei. Nach der eleganten Zusammenarbeit in den Wäldern von Ängermanland ist es Zeit für Schritt drei. Jetzt geht es um klassische Abschreckung. Hinauf mit der Leiche auf das Podest als Demonstration für alle Pädophilen. >Ihr seid in der Gefahrenzone, ihr Teufel. Haltet Ruhe, dann geschieht nichts.<«

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Kerstin Holm plötzlich.

»Was?«, sagte Söderstedt.

»Wir vergessen etwas, nämlich den eigentlichen Ausgangspunkt: Wo ist Emily Flodberg geblieben?«

»Ihre Rolle ist ausgespielt, sie ist untergetaucht.«

»Aber warum? Das wäre ein riesiger, ein schrecklicher Schritt für eine Vierzehnjährige, auch wenn sie ein sehr ungewöhnliches Kind ist. Warum sollte sie ihre Mutter und ihr gewohntes Leben verlassen? Es wäre doch einfacher gewesen, Sten Larsson anzulocken und, während der Komplize ihn umbringt, in aller Ruhe auf den Hof zurückzukehren?«

Arto Söderstedt zog wieder eine Grimasse. Oder schnitt nur ein Gesicht. Wie vor Schmerz. »Mist«, sagte er. »Es fing so gut an.«

»Außerdem scheint es ja so, dass sie nur mit Sten Larsson Kontakt hatte«, streute Kerstin Salz in die Wunde. »Die beiden anderen, der leicht infantile Robert Karlsson und der viel schlimmere Carl-Olof Strandberg, mit denen ist offenbar gar kein Kontakt aufgenommen worden.«

»Vielleicht haben sie gedacht, sie könnten ihnen den Hals umdrehen, wenn sie erst mal vor Ort sind«, sagte Norlander. »Die Adressen aus Sten Larsson herausfoltern, und dann los mit klingender Klaviersaite.«

Kerstin Holm wackelte ein wenig mit dem Kopf wie ein altmodisches Seehund-Nickmännchen von der Sorte, die in ferner Vergangenheit hinter der Heckscheibe jedes zweiten schwedischen Autos stand. »Möglich ist es«, sagte sie zögernd. »Trotzdem gibt es da etwas, was zweifelhaft erscheint. Natürlich kann man, wenn man wirklich auf so einem Kreuzzug ist, genügend Material in Stockholm finden. Man braucht sich nicht die enorme Mühe zu machen, Leute in Norrland zu suchen.«

Sie griff zum Telefon, und während sie eine Nummer wählte, sagte sie: »Ich frage Jorge, ob etwas Neues aufgetaucht ist. Würdet ihr dann bitte untersuchen, ob es zwischen euren verdächtigen Todesfällen mit schweren körperlichen Schäden irgendwelche pädophilen Verbindungen gibt?«

»Zu Diensten, Madame«, sagte Arto Söderstedt höflich.

»Mademoiselle«, sagte Kerstin Holm, um danach etwas lauter zu sagen: »Jorge, wie ist die Lage?«

Jorge Chavez hatte sich inzwischen ein Headset besorgt, sodass er telefonieren und gleichzeitig am Computer arbeiten konnte. Es war zwar ziemlich mühsam, die Seiten zu finden, die Emily in der letzten Zeit besucht hatte; die Prozedur erforderte ausgerechnet das, was Chavez zu einem vollkommenen Polizisten fehlte, nämlich Geduld. Aber er blieb guter Stimmung und machte langsam, aber sicher eine Entdeckung nach der anderen.

»Die Lage ist erträglich«, sprach er in das Headset. »Allmählich formt sich ein Bild, wer unsere kleine Emily ist.«

»Und wer ist sie?«, sagte Kerstin Holm.

»Sie ist eine vielseitige Vierzehnjährige, das muss man sagen. Sie lebt konsequent in einer Welt, die sowohl die eines Kindes als auch die eines Erwachsenen ist. Gleichzeitig. Pornoseiten wechseln mit Kuscheltierseiten auf eine Weise, die gar nicht so komisch ist, wenn man darüber nachdenkt. Es ist ja ein Übergangsalter - Neugier und Schrecken vor der Erwachsenenwelt, während man sich an die kindlichen Symbole der Sicherheit klammert. So hat unsere Pubertät wohl auch ausgesehen, nur dass wir kein Internet hatten.«

»Mein Gott, wie philosophisch du in deiner Einsamkeit geworden bist.«

»Ich bin einsam in Gesellschaft, und das, meine wunderschöne Maid, ist die schlimmste Form von Einsamkeit.«

»Und trotzdem diese Tiefe, mein dunkelhäutiger Jüngling.«

»Du sagst es. Stachle meine Männlichkeit nur weiter an, meine Prinzessin.«

»Gibt es auch speziellere Funde?«

»Ich wühle gerade in etwas herum, das um einiges interessanter zu sein scheint. Kennst du die Zeitung Ängermanland?«

»Nicht direkt. Arbeiterpresse?«

»Offenbar. Es ist eine Morgenzeitung mit zwei Leitartikelseiten: Eine fußt auf liberalen Werten, die andere auf sozialdemokratischen.«

»Wie geschickt«, sagte Kerstin Holm und fühlte sich ein wenig müde. »Und wohin führt dieser Gedankengang?«

»Die Zeitung Ängermanland hat eine erstaunliche Verbreitung mit 86,2 Prozent in Härnösand, 85,5 Prozent in Sollefteä und 82,5 Prozent in Kramfors«, fuhr Chavez unverdrossen fort. »Außerdem stöbere ich in ihrem Archiv herum, wo auch Emily herumgestöbert hat. Und da sehe ich, dass sie weit in die Vergangenheit zurückgegangen ist, bis zum Wechsel von den 80er- zu den 90er-Jahren.«

»Und was hat sie da gelesen?«

»Das sehe ich gerade durch. Sie hat gelesen... von einem Vergewaltigungsfall, der damals ziemliches Aufsehen erregt hat. Es handelte sich tatsächlich um...«

»Vielleicht um eine doppelte Vergewaltigung von zwei Teenagern aus der Gegend von Saltbacken?«, entfuhr es Kerstin Holm.

»Dämmert es jetzt?«, sagte Jorge Chavez.

»Zum Teufel. Wird der Name des Täters genannt?«

»Warte... Nein, zu dem Zeitpunkt, als diese Auflage in Druck ging, hatte er keinen Namen. Ich glaube mich zu erinnern, dass man damals viel vorsichtiger damit war, Namen in die Zeitung zu setzen. Der Angeklagte ist ein >Junge< aus dem Ort, dreiundzwanzig Jahre alt. Die Opfer nehmen nicht an der Verhandlung teil, aber es handelt sich tatsächlich um zwei Teenager aus der Gegend, von denen eine ernsthaft verletzt wurde. Ich glaube, sie musste sogar an den Respirator... Mal sehen... Nein, wo habe ich das gelesen...?«

»Hat Emily noch mehr Seiten in dem Archiv besucht?« »Ja, ziemlich viele. Sie scheint den Fall genau verfolgt zu haben.«

»Sieh am Ende nach«, sagte Kerstin Holm atemlos, »sieh nach, ob sein Name genannt wird.«

»Das klingt, als wüsstest du schon, wer es ist?« »Sieh einfach nach.«

Es war eine Weile still. Chavez verschwand im Lesenebel. Sein Falkenauge scannte jede Zeile einzeln. Und schließlich, nach einigen ziemlich unerträglichen Minuten, sagte er: »Ja, es ist Sten Larsson.«

»Danke«, sagte Kerstin Holm von Herzen.

»Ich habe hier den Tag der Urteilsverkündung, das Urteil wurde am einundzwanzigsten Februar 1990 gefällt, für das Verbrechen, das in der Nacht zum dritten Juli 1989 begangen wurde. Sten Larsson, dreiundzwanzig Jahre alt, wird wegen schwerer Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, die er in der Klasse-2-Anstalt in Härnösand abzusitzen hat. Offenbar obwohl er hartnäckig leugnete.«

»Schick mir alles, was du hast, per E-Mail.«

»Selbstverständlich, Chefin.«

»Und Jorge«, sagte Kerstin Holm ein wenig ruhiger. »Vielen Dank.«

»Im Übrigen hat die Zeitung Ängermanland circa neunzig Angestellte«, sagte Jorge und legte auf.

Im Zimmer der Kriminalkommissarin Kerstin Holm herrschte eine paradoxe Ausgelassenheit. Sie hatte das Gespräch auf Lautsprecher gestellt, sodass Arto Söderstedt und Viggo Norlander mithören konnten. Und das hatten sie getan.

»Emily hat den Bericht über die Vergewaltigung durch Sten Larsson also sehr genau gelesen«, sagte Söderstedt und nickte wie ein weiser Albinoinder.

»Und wie haben wir das zu deuten?«, sagte Holm, die sich allmählich verschwitzt fühlte. »Hat sie alle, gegen die sie vorgehen wollte, genau durchleuchtet? Oder geht es speziell um Sten Larsson? Sie hat dafür gesorgt, dass die ganze Schulklasse zu ihm fuhr. Hinter ihm ist sie her, genau hinter diesem Sten Larsson. Nicht hinter Pädophilen und Vergewaltigern im Allgemeinen, sondern hinter Sten Larsson und keinem anderen.«

»Dem eben auch die Kehle durchtrennt wurde, als er ihr begegnete«, sagte Söderstedt. »Ich fürchte, wir müssen Emily Flodberg als Mörderin betrachten. Und jetzt versteckt sie sich vor der Polizei.«

»Die Verbindung mit euren Leichen ist also eine reine Chimäre?«

»Hirngespinst«, sagte Söderstedt und zuckte die Schultern. »Tragischerweise. Wir müssen an unserer eigenen Front weiterarbeiten.«

»Aber worum geht es dabei? Warum hat Emily sich mit dem Fall Sten Larsson so engagiert beschäftigt? Warum fährt sie nach Saltbacken und ermordet diesen Pädophilen und Vergewaltiger?«

Viggo Norlander hatte längere Zeit nichts gesagt. Jetzt beugte er sich ein wenig vor - nur ein ganz klein wenig, verglichen mit den immer gebückteren Denkerposen der beiden anderen -, um etwas zu sagen.

Er sagte: »Aber das ist doch völlig klar.«

Er wurde mit dem gleichen Blick wie vorher belohnt, dem gleichen Erstaunen, teils darüber, dass er sich äußerte, teils über seine bloße Existenz.

»Was ist völlig klar?«, fragte Kerstin Holm mit übertriebener Artikulation, als ob sie mit einem autistischen Kind spräche.

»Er ist der Vater«, sagte Viggo Norlander einfach. »Wie?«

»Jetzt denkt doch mal nach«, sagte Norlander und fühlte sich cooler denn je. »Emily ist am vierten April 1990 geboren. Die Vergewaltigung fand am dritten Juli 1989 statt. Wenn das nicht neun Monate sind, bin ich Käpt'n Blaubär.«

Es wurde völlig still im Zimmer. Das Einzige, was zu hören war, war das ewige Hintergrundgeräusch der Leuchtstoffröhren. Als ob man in der hellen Sommernacht Licht gebraucht hätte.

Einige Minuten vergingen.

In diesen Minuten erlebte Viggo Norlander den vielleicht größten Triumph seines Lebens. Nur die Geburt seiner Töchter konnte damit konkurrieren.

»Käpt'n Blaubär?«, fragte Kerstin Holm schließlich.

»Du hast ja heute richtig Biss«, sagte Arto Söderstedt und boxte seinen Kollegen gegen den Oberarm.

»Ihr denkt zu ausschweifend«, sagte Viggo Norlander genügsam. »Ich bin Minimalist.«

»Wartet, wartet, wartet«, sagte Kerstin Holm und gestikulierte wild (ziemlich ausschweifend, musste sie zugeben). »Eines der Opfer der Vergewaltigung in Ängermanland 1989 sollte also Birgitta Flodberg sein. Sie hat ihrer Tochter die ganze Geschichte verheimlicht. Aber die Tochter ist schlau und versteht sich auf Computer. Sie findet es irgendwie heraus und nimmt Kontakt mit ihrem Vater auf, dem Vergewaltiger. Aber das macht es doch unwahrscheinlich, dass sie ihn ermordet. Würde sie wirklich ihren eigenen Vater ermorden, Vergewaltiger oder nicht? Fährt sie nicht in Wirklichkeit dorthin, um mit ihm zu sprechen? Reden sie nicht übers Handy miteinander, um ein Treffen zu vereinbaren? Vater und Tochter?«

»Vielleicht«, sagte Söderstedt. »Aber jetzt gibt es jedenfalls sehr gute Gründe, noch einmal mit Birgitta Flodberg zu sprechen.«

»Denkt an den Helen-Mord«, sagte Viggo Norlander minimalistisch.

»Was?«, entfuhr es Kerstin Holm - und langsam war sie es müde, dass ihr ständig etwas entfuhr. Sie spürte, dass sie sich ein wenig Minimalismus zulegen musste. Aber schon der Gedanke, dass ausgerechnet Viggo Norlander imstande sein sollte, sie etwas zu lehren, schien ihr besonders fremd.

»Man hatte Sperma aus den Achtzigerjahren aufbewahrt«, sagte Norlander, »und konnte kürzlich eine DNA-Analyse durchführen. Und so hat man den schäbigen Mörder der kleinen Helen Nilsson gefasst. Vielleicht ist auch von diesem Fall noch Sperma vorhanden. Der war ja sogar etwas später.«

»Du übertriffst dich heute selbst«, entfuhr es Kerstin Holm, und sie wurde richtig wütend auf sich selbst.

»Das muss selbstverständlich überprüft werden«, sagte Söderstedt. »Schick sofort eine Mail an Sara.«

»Ja, Chef«, sagte Holm minimalistisch und begann zu schreiben.

Dann hielt sie inne, wandte sich zu Viggo Norlander, starrte ihn an und sagte: »Wer zum Teufel ist Käpt'n Blaubär?«

Natürlich hätte Paul Hjelm nach Hause gehen können. Natürlich hätte er den Angeklagten im Schweiße seines Angesichts allein lassen und Feierabend machen und sich in seine triste Junggesellenwohnung in der Slipgata auf Söder setzen können. Natürlich hätte er.

Wenn er nur nicht so verdammt neugierig gewesen wäre.

Also war er um halb acht am Abend noch nicht nach Hause gegangen. Und hätte er nicht am anderen Ende des Polizeipräsidiums gesessen, hätte er vielleicht gemerkt, dass auch seine früheren Bundesgenossen von der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, besser bekannt als die A-Gruppe, noch nicht Feierabend machten.

Und schon gar nicht das Trio, das sich fünfhundert Kilometer nördlich von hier befand.

Aber das ist - vorläufig noch - eine ganz andere Geschichte.

Sie saßen in Bengt Äkessons Zimmer, dem eigentlichen Tatort, und sahen Videos an. Im Grunde war es unerträglich. Stunde um Stunde glitten unsortierte, undatierte, unhandliche Filme auf dem großen externen Bildschirm von Hjelms Laptop vorüber. Äkesson schlief manchmal ein, und wenn er aufwachte, wischte er sich jedes Mal instinktiv eingebildeten Speichel vom Kinn, versuchte, hellwach auszusehen, und sagte: »Wie ist es möglich, dass sie den Mist ohne jede Zeitmarkierung auf einer Festplatte speichern?«

Jedes Mal.

Und bis jetzt war er ungefähr zwanzigmal eingenickt. Ohne abzustreiten, dass Äkessons ständig wiederholte Bemerkung etwas für sich hatte, fragte sich Paul Hjelm, was in Äkessons Kopf vorging. Es war, als ob jedes Einnicken die Erinnerung an jedes vorhergegangene auslöschte, als hätte Nietzsche recht mit seiner Idee von der ewigen Wiederkehr. Alles ist immer nur Wiederholung. Äkesson saß da und nickte ein, und mit jedem Einnicken bewies er immer deutlicher eine philosophische Grundthese in der entwicklungspessimistischen Tradition. Wir wiederholen uns, weil wir uns nicht erinnern. Die Erinnerung ist der Garant dafür, dass wir uns nicht wiederholen. Nur so lässt sich die entwicklungsoptimistische These formulieren: Historische Kenntnisse können historische Wiederholungen verhindern. Erst möglichst vollständige Kenntnisse versetzen uns in die Lage, die Fehler der Geschichte nicht zu wiederholen.

Aber Paul Hjelm, der nicht so schnell einschlief - er kannte sogar leichte Schlafstörungen -, war kein richtiger Entwicklungsoptimist. Allerdings auch kein Pessimist. Seine Gedanken wanderten, während er den unerträglich begrenzten Abschnitt der Stora Nygata beobachtete. Aber wanderten sie wirklich in eine bestimmte Richtung?

Sie landeten bei Bengt Äkesson. War etwas mit Äkessons Kopf nicht in Ordnung? Nicht ein einziges Mal schien es ihm peinlich zu sein, dass er sich dauernd wiederholte. Es gab bei ihm anscheinend einen mentalen Zustand, in dem alles Vergangene praktisch verschwand - kein gutes Zeichen bei einem Polizisten. Besonders nicht bei einem Polizisten, der wegen sexueller Belästigung angezeigt worden ist. Und ganz besonders nicht, wenn er Kerstin Holms Geliebter ist.

Wenn es sich nun tatsächlich so verhielt, dass er Marja Willner sexuell belästigt hatte, ohne hinterher auch nur einen blassen Schimmer davon zu haben? Wenn es sich verhielt wie beim Tourette-Syndrom, dass also eine Serie von Belästigungen lediglich die Auswirkungen eines neurologischen Defekts waren? Wenn er obszöne Handlungen ausführte und sie anschließend sofort wieder vergaß?

Wenn Bengt Äkesson Kerstin Holm schon vergessen hatte?

Das ist keine besonders gute Idee, dachte Paul Hjelm und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm; die Neugier war trotz allem vorhanden, während sie bei Äkesson offenbar völlig fehlte. Nein, es war keine besonders gute Idee, Spekulationen über Äkessons Charakter anzustellen - es endete zwangsläufig damit, dass seine Gedanken bei Kerstin Holm landeten.

Eigentlich war das ziemlich seltsam. Es war Gott weiß wie viele Jahre her, dass Paul Hjelm und Kerstin ein Verhältnis gehabt hatten - dennoch konnte er den Gedanken daran nicht richtig abschütteln. Es war, als ob ihr Duft, ihre Lockstoffe von Äkessons Körper ausgesondert würden.

Es war an der Zeit, eine Frau zu finden.

Paul Hjelm spürte plötzlich, dass die Gefahr bestand, verschroben zu werden. War es nicht schiere Faulheit, die ihn seit über einem Jahr von Frauen fernhielt? Wurde das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden allmählich wichtiger als das nach Leidenschaft und Gefühlsstürmen?

Es musste etwas passieren.

Und es passierte etwas.

Doch das hatte nichts mit Paul Hjelms Leben zu tun.

Es passierte auf der anderen Seite des Schreibtischs.

Bengt Äkesson schlief ein. Sein Kinn sackte langsam auf die Brust. Nachdem er zur Einleitung ein paar Baumstämme zersägt hatte, wurde sein Schnarchen so laut, dass er sich selbst weckte. Er wischte sich instinktiv eingebildeten Speichel vom Kinn, versuchte, hellwach auszusehen, und sagte nicht: »Wie ist es möglich, dass sie den Mist ohne jede Zeitmarkierung auf einer Festplatte speichern?«

Stattdessen sagte er: »Aber verdammt, da ist es ja!«

Natürlich hätte Hjelm unmittelbar darauf reagieren müssen - er starrte ja praktisch darauf. Trotzdem dauerte es mehrere Sekunden, bis er begriff, wohin Äkessons Zeigefinger zeigte.

Es bewegte sich etwas unter der gelben Plane in der Stora Nygata. Noch war nichts weiter zu sehen. Sie hatten beide verpasst, wer in die Grube gestiegen war. Aber es ließ sich nicht abstreiten, dass es Bengt Äkesson war, der es - im Schlaf - entdeckt hatte.

Auch die Anwesenheit des Achtels eines Firmenwagens mit einer Plane über der Ladefläche am rechten Bildrand ließ sich nicht abstreiten. Die Beschriftung >Kvarns Elektriska AB< war deutlich zu erkennen.

Sie warfen sich beide über den Schreibtisch. Äkesson wischte sich noch einmal sein trockenes Kinn ab, und Hjelm verfluchte noch einmal sein nahezu kriminelles Versäumnis.

Die gelbe Plane bewegte sich immer lebhafter.

Wie ein Rapsfeld im böigen Wind.

Schließlich wurde die Plane zur Seite geschlagen. Und der Mann, der den Kopf aus der Grube streckte und sich mit den ersten Anzeichen von Paranoia in den Augen umsah, war unverkennbar Stefan Willner.

Es war, als ließe er Licht hinein, um besser zu sehen. Als wäre das, was er jetzt betrachten wollte, das ganze Risiko, sich selbst zu entblößen, wert. Als wäre es ganz einfach die fünfzehn Sekunden im Rampenlicht wert.

Mehr als das war es kaum. Aber die Kameraperspektive war erstaunlich gut, perfekt.

Stefan Willner hatte in der Grube einen großen, ziemlich morschen Sarg freigelegt. Er wischte rasch die Oberseite mit der Hand frei und hob dann den massiven Deckel ab.

Es war zunächst schwer zu erkennen, was da zum Vorschein kam.

Ein geschwärztes Skelett.

Aber etwas daran stimmte nicht. Etwas daran war nicht richtig - menschlich.

Hjelm und Äkesson warfen sich einen hastigen Blick zu. Verwunderung war nicht das richtige Wort für das, was sie in den Augen des anderen erkannten. Während sie gleichzeitig, wenngleich wortlos, einen Namen für diesen Gesichtsausdruck zu suchen schienen, den sie teilten, hatte Stefan Willner den Deckel wieder auf den Sarg gelegt. Er befestigte ein Seil daran, sprang auf die Ladefläche, hob den Sarg mit dem Kran hoch und schwenkte ihn in den Firmenwagen.

Dann machte er sich auf in das bessere Leben.

Hjelm tippte auf die eingebaute Maustaste des Laptops und hielt das Video an. Es blieb genau in dem Moment stehen, als der Firmenwagen aus dem Bild verschwand. Es war ein Bild von aufgeladener Leere, von einer wahrhaft sprechenden Stille.

»Aber was zum Teufel ist das?«, sagte Äkesson und wischte sich noch einmal übers Kinn.

»Das muss man heranzoomen können«, sagte Hjelm und klickte ein paarmal mit der Maustaste.

Der Film wurde reichlich sprunghaft rückwärtsgespielt, bis der Firmenwagen wieder aus dem Bild fuhr. Eigentlich wurde er ins Bild zurückgesetzt, das wurde klar, als Hjelm mit ein paar Klicks den Film wieder angehalten hatte und vorwärtslaufen ließ. Der Wagen setzte zurück. Stefan Willner stieg aus, schlug die gelbe Plane zur Seite, sprang hinunter und zog die Plane hinter sich zu. Schließlich schlug er sie wieder auf.

Hjelm drückte auf Pause und begann zu zoomen. Im Stillen dankte er dem Immobilienmakler dafür, dass er Geld in eine hochwertige Kamera investiert hatte - die Vergrößerung tat der Bildqualität wenig Abbruch. Das vergrößerte Bild zeigte jetzt den Sargdeckel.

Als Paul Hjelm den Film weiterlaufen ließ, war >laufen< nicht das richtige Wort. Der Film schlich sehr, sehr langsam.

Und sehr, sehr langsam wurde der Deckel abgehoben.

Langsam genug, um zwei Polizeibeamte von einigermaßen hohem Rang wie auf heißen Kohlen sitzen zu lassen.

Verwunderung, dachte Paul Hjelm. Die haben wir in unseren Gesichtern gesehen. Und wahre Verwunderung sieht man heutzutage selten.

Müdigkeit umso häufiger.

Der Deckel war abgehoben. Hjelm hielt das Bild an.

Es war zwar nicht ganz scharf, aber es war das Bild eines menschlichen Skeletts, wenn auch von den Jahrhunderten in der immer stärker verunreinigten Stockholmer Erde ordentlich geschwärzt.

Doch es gab ein zusätzliches Element an diesem Skelett.

Ein zusätzliches Glied.

»Was zum Teufel«, sagte Äkesson. »Ist das wirklich das, wofür ich es halte?«

»Und wofür hältst du es?«, fragte Paul Hjelm und versuchte das Standbild noch dichter heranzuholen.

Langsam klärte sich das zunächst äußerst diffuse Bild und wurde vollkommen deutlich.

Hjelm und Äkesson beugten sich über den Bildschirm.

Das menschliche Skelett besteht aus über 200 Knochen. Normalerweise unterscheidet man zwischen langen Knochen (Röhrenknochen, ossa longa), die zu Armen und Beinen gehören, und kurzen Knochen (ossa brevia) in Händen und Füßen sowie im Rückgrat, flachen Knochen (ossa plana) in Schädel, Brustkorb und Becken und lufthaltigen Knochen (ossa pneumatica) im Gesichtsskelett.

Als es lebendig und von Fleisch bekleidet war und sein Leben mit all den Sorgen und Kümmernissen und Freuden lebte, mit all dem Lachen und Weinen, allen Gedanken und Überlegungen, Genüssen und Schmerzen, die ein Menschenleben ausmachen, hatte das alte geschwärzte Skelett einen Knochen mehr gehabt.

Und ob es sich bei dem zusätzlichen Knochen um ein os longum, ein os brevum, ein os planum oder ein os pneumaticum handelte, war schwer zu sagen.

Er saß jedenfalls an einer unerwarteten Stelle.

Für einen Laien ist es ziemlich schwer zu sagen, was eigentlich das Becken des Menschen ist. Und selbst wenn es ebenso schwer sein kann, exakt den Rumpf zu platzieren, sprechen Experten von einem >Knochenring< am unteren Teil des Rumpfs. Er besteht aus dem Kreuzbein (05 sacrum), das sich mit den beiden Hüftbeinen (ossa coxae) in den fast unbeweglichen Sakroiliakalgelenken vereint. Von hinten schiebt sich als Abschluss des Rückgrats das Steißbein (os coccygis) hinein.

Der zusätzliche Knochen befand sich als Mittelpunkt in diesem Knochenring. Auf den ersten Blick sah er aus wie eine vordere Verlängerung des Steißbeins.

Aber es war etwas ganz anderes.

»Ich glaub, mich laust der Affe«, sagte Bengt Äkesson. »Aber ich schätze, das ist ein Penisknochen.« »Os penis«, sagte Paul Hjelm.

17

Es war absurd, aber es wurde nicht dunkel. Er hatte zwar mehr als dreißig Mittsommer erlebt, aber im Grunde nie darüber nachgedacht, dass keine Dunkelheit anbrechen wollte.

Es war fünf vor elf Uhr am Abend, und der Wagen, dessen Ladefläche mit einer Plane mit der Aufschrift >Kvarns Elektriska AB< bedeckt war, fuhr langsam an Stadsgirden entlang. Er passierte gerade die großen Finnlandfähren, die wie umgekippte Wolkenkratzer am Kai lagen.

Man hatte das Gefühl, es sei mitten am Tag und Stockholm sei einfach geräumt worden.

Steffe hob den Blick zu dem schönen Aussichtsplatz von Fifängan und hielt vor einer roten Ampel. Die Uhr im Auto zeigte jetzt 22.57. Er überlegte, ob er auf einen Parkplatz fahren und auf den Anruf warten sollte; es wäre dumm, zu weit zu fahren auf Värmdöleden, bevor der Buchhalter anrief. Was meinte er eigentlich mit >in Höhe von Sickla<?

Die Ampel war so lange rot, dass die Frage nicht mehr aktuell war. Als der Firmenwagen wieder anfuhr, sprang die Uhr - die er vor der Abfahrt mit der Zeitansage synchronisiert hatte - auf 23.00 um.

Zu seinem sehr geringen Erstaunen klingelte genau in dem Moment, als die Ziffern umsprangen, das Handy in dem zerrissenen Stoffbeutel.

»Ja«, antwortete er.

»Biegen Sie bei Nacka ab«, sagte der Buchhalter. »Das ist die Abfahrt hinter Sickla. Fahren Sie in Richtung Jarlaberg.«

»Okay«, sagte Steffe.

»Legen Sie das Handy neben sich«, sagte der Buchhalter. »Aber drücken Sie nicht auf Aus. Seltsamerweise ist in unserem Land, das Verbote so sehr liebt, das Telefonieren beim Autofahren erlaubt. Im übrigen Europa ist es verboten.« »Und dann?«

»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie nach Jarlaberg abbiegen«, sagte der Buchhalter.

Steffe legte das Handy beiseite. Er fuhr Värmdöleden entlang, ohne einen Gedanken zu denken. Es war ein merkwürdiger Zustand. Kein Gedanke erreichte ihn. Nur die helle Sommernacht.

Er bog in Richtung Jarlaberg ab und sagte in den Hörer: »Jetzt.«

»Fahren Sie zur OK-Tankstelle, und stellen Sie den Wagen ab«, sagte der Buchhalter.

Steffe folgte den Anweisungen.

»Ich habe den Wagen abgestellt«, sagte Steffe und machte den Motor aus.

»Ich weiß«, sagte der Buchhalter.

Im selben Augenblick wurde die Beifahrertür aufgerissen, und ein kräftiger Körper schwang sich in den Wagen. Steffe zuckte zusammen und starrte den Leibwächter an. Auf der Suche nach etwas Vernünftigem, auf das er seinen Blick richten konnte, betrachtete er die vier Finger an der linken Hand des Leibwächters.

»Beugen Sie sich zu ihm vor«, sagte die Stimme des Buchhalters im Handy.

Steffe starrte den Leibwächter an und wurde von ausgesprochen bösen Ahnungen befallen. War er nicht unglaublich unvorsichtig gewesen? Sie konnten ihn jetzt umbringen, den Firmenwagen nehmen und mit der Leiche verschwinden, und niemand würde etwas merken. Alle Spuren wären verwischt, alle losen Fäden befestigt. Die Störung des erschütterungsfreien Systems - Steffe selbst - wäre für immer beseitigt, und alles wäre eitel Freud und Sonnenschein.

Oder was nun nach dem Tod ist.

»Es besteht keine Gefahr«, sagte der Buchhalter im Handy. »Wir ziehen Ihnen eine schwarze Mütze über den Kopf, damit Sie nicht verraten können, wo wir sind.«

»Woher weiß ich, ob Sie mich nicht einfach umbringen?«, sagte Steffe kläglich.

»Warum sollten wir uns dann die Mühe machen, Ihnen eine Mütze über den Kopf zu ziehen?«

»Um mich in den Wald zu bringen und zu erschießen, ohne dass ich mich wehren kann«, sagte Steffe und biss sich auf die Zunge.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, der Mann, der neben Ihnen sitzt, wird niemanden erschießen«, sagte der Buchhalter. »Beugen Sie sich vor.«

Steffe schloss für einen Augenblick die Augen.

Jetzt war es auf jeden Fall zu spät. Es gab kein Zurück. Gegen den Ochsen mit dem roten Gesicht würde er nie eine Chance haben. Er beugte sich vor. Der Leibwächter zog ihm eine schwarze Maske über.

»Jetzt rutschen Sie rüber auf den Beifahrersitz«, sprach der Buchhalter in sein Ohr. »Passen Sie auf den Schalthebel auf.«

Steffe tat, wie ihm gesagt worden war, und hörte, wie der Leibwächter um den Wagen herumging, auf der Fahrerseite einstieg und die Tür zuschlug. Die Welt war nur noch schwarz.

Der Firmenwagen setzte sich in Bewegung. Steffe war diesen rätselhaften Menschen, von denen er nicht das Geringste wusste, völlig ausgeliefert. Er registrierte eine Serie von Kurven, die er sich einzuprägen versuchte, und sei es nur, um das sichere Gefühl zu haben, das einem eine körperliche Erinnerung verschafft. Nach vielleicht zehn Minuten wendete der Leibwächter um hundertachtzig Grad und setzte die letzten Meter zurück. Die Albtraumfahrt endete mit einem kleinen Stoß, als ob der Leibwächter mit etwas kollidierte. Die Fahrertür wurde geöffnet, und kurz darauf spürte er, dass die Beifahrertür geöffnet wurde. Der Leibwächter fasste ihn am Arm und zog ihn heraus. Er fühlte, dass er einige Meter im Freien ging, bis seine Füße an etwas stießen und er stehen blieb.

»Gut«, sagte der Buchhalter in sein Ohr. »Jetzt kommen acht Treppenstufen, dann eine Tür. Schaffen Sie das?«

»Ich will es versuchen«, sagte Steffe, so ruhig er konnte.

Er ging die acht Treppenstufen hinauf und tastete in dem absoluten Dunkel herum. Schließlich fanden seine Finger eine Tür, und er bekam eine Klinke zu fassen. Er drückte sie hinunter, ging hinein und spürte wieder die Hand des Leibwächters an seinem Arm. Er ging weiter.

Die Luft war schwer und streng. Steffe tippte auf einen Lagerraum oder ein altes Industriegebäude.

»Stopp«, sagte der Leibwächter. »Sie können das Handy jetzt abschalten.«

»Ich kann es leider nicht sehen«, sagte Steffe.

Der Leibwächter zog ihm die Mütze vom Kopf. Er stand in einem klassischen Lagerraum, groß, feucht, kalt, zementfarben, mit einer Schmutzschicht an den Wänden. Nichts deutete auf irgendeine menschliche Aktivität in diesem Raum hin. Weder jetzt noch seit Gott weiß wie langer Zeit.

An den Wänden des Lagerraums war eine Reihe von Türen. Eine davon wurde geöffnet, und der Buchhalter schaute heraus. Er winkte mit einer kleinen Handbewegung, und Steffe schritt quer durch den großen Raum. Aber vorher warf er einen Blick über die Schulter zurück. Der Leibwächter war mitten im Lagerraum stehen geblieben, grob, ungeschlacht, ausdruckslos. Er deutete mit auffordernder Neutralität erst auf das Handy, dann in Richtung des Buchhalters, der noch in seiner Tür stand.

Steffe schaltete das Handy aus, und als er näher kam, nickte der Buchhalter höflich und sagte: »Willkommen. Treten Sie ein.«

Er betrat ein gut eingerichtetes Büro, das sich deutlich von dem Lagerraum unterschied. Aber es war auffallend anonym. Man konnte sich keinerlei Vorstellung davon machen, welche Art von Gewerbe hier betrieben wurde. Keine Bilder, keine Fotos, keine Buchrücken, nur ein Laptop auf einem Schreibtisch und eine gemütlich wirkende Sofagruppe sowie ein paar Regale mit unbeschrifteten Aktenordnern.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Buchhalter immer noch höflich und zeigte auf die Sofagruppe.

Wenn Steffe irgendwann im Laufe des Abends ein Bedürfnis nach Opposition oder Selbstbehauptung gehabt hatte, so war es seit Langem verschwunden. Er wusste genau, in welcher Lage er sich befand - sein Mangel an Widerstandskraft irritierte ihn noch nicht einmal.

Das Sofa war tatsächlich gemütlich, als ob sich in seiner Alltäglichkeit magische Tiefen verbargen. Steffe setzte sich, und der Buchhalter nahm hinter seinem anonymen Schreibtisch Platz.

»Das Geld liegt in einer Tasche unter dem Sofa«, sagte der Buchhalter. »Sie können es sofort nehmen und verschwinden.«

»Aber...?«, sagte Steffen, da er den Eindruck hatte, dass sich im Tonfall des Buchhalters eine Fortsetzung andeutete.

»Aber wir würden es begrüßen, wenn Sie noch einen Augenblick blieben, jedenfalls bis ich kontrolliert habe, dass der Wert der Ware der Summe in der Tasche entspricht.«

»Ich erwarte nichts anderes«, sagte Steffe und merkte, dass die Neugier ihn gepackt hatte.

Konnte es wirklich sein, dass sie noch mehr von ihm wollten? Er konnte nicht verhehlen, dass der Gedanke etwas Schmeichelhaftes hatte. Über die reine Neugier hinaus.

»Wenn das so ist«, sagte der Buchhalter und stand auf, »dann möchte ich Sie bitten, einen Augenblick zu warten.«

Dann verschwand er.

Es war schwer zu sagen, welche Triebkräfte Steffe zu sofortigem Handeln veranlassten. Ein paar Stunden später, wieder in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort, sollte er genauer über seine Beweggründe nachdenken.

Eigentlich konnte es alles Mögliche sein, von bloßem Interesse für eine Organisation, die kein Problem hatte, eine solche Menge Geld auszuspucken - vielleicht war da noch mehr zu holen -, bis zu einem ideellen Interesse an dem Skelett und seiner dunklen Geschichte. Zwischen diesen Polen bewegte sich sowohl das reine Gefühl der Verlassenheit, das ihn möglicherweise dazu hätte bringen können, bei jedem Beliebigen, der sich näherte, Zuflucht zu suchen, als auch das Interesse daran, was diese Menschen - wer immer sie waren - veranlasste, einem Skelett mit einem Penisknochen eine solche Bedeutung beizumessen. Aber in diesem Moment gab es keine solchen Reflexionen. In diesem Moment handelte er rein instinktiv. Kaum war der Buchhalter verschwunden, stand er auf und ging an den Schreibtisch. Er tippte die Computermaus an und erhielt ein nichtssagendes Bild auf dem Monitor, zog rasch ein paar Schubladen auf, die vollkommen leer waren, drehte sich um und nahm den Ordner aus dem Regal, der dem Stuhl des Buchhalters am nächsten war. Er legte ihn vorsichtig auf den Schreibtisch und schlug ihn auf. Der Ordner war prall gefüllt mit Papieren. Computerausdrucken - vermutlich von dem Laserdrucker, der neben dem Schreibtisch auf dem Fußboden stand. Steffe blätterte in den Papieren. Sie sahen alle ungefähr gleich aus. Eine enorme Menge von Ziffern und Buchstaben in Reihen, die er nicht zu deuten versuchte. Er drehte sich um und zog einen zweiten Ordner aus dem Regal, irgendeinen von etwa dreißig identischen, die alle unbezeichnet waren. Auch dieser war prall gefüllt mit ähnlichen Papieren. Er stellte ihn zurück und wandte sich wieder dem aufgeschlagenen Ordner auf dem Schreibtisch zu. Er zog sein Handy aus der Tasche - sein eigenes, nicht das der anderen -, und in dem Augenblick, in dem er draußen im Lagerraum Schritte hörte, Schritte, die näher und näher kamen, gelang es ihm, die gesamte erste Seite in den Fokus der eingebauten Kamera zu holen. Er machte das Foto, hoffte, dass man es lesen konnte, speicherte es ab, stellte den Ordner wieder ins Regal und lief zurück zur Sofagruppe. Als die Tür sich öffnete, saß er - wie er hoffte - vollkommen ungerührt auf dem Sofa und sah selbstsicher aus.

Zurück in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort, sollte ihm der Gedanke kommen, dass er sofort verstanden hatte: Es war nicht der Buchhalter, der in das Büro kam. Es waren nicht seine Schritte. Es waren hohe Absätze, die auf den Zementboden klickten. Vermutlich ziemlich hohe Absätze.

Und die Person, die hereinkam, war eine Frau.

Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, lächelte breit und hielt ihm ohne ein Wort die Hand hin. Er stand auf und schüttelte sie.

»Willkommen«, sagte sie kurz, drehte sich um und setzte sich hinter den Schreibtisch.

»Gibt es Probleme mit der Ware?«, fragte Steffe so unschuldig wie möglich.

Die Frau hinter dem Schreibtisch zupfte ihr mittellanges Kleid zurecht, ordnete ihre elegante Jacke, schlug ein Bein über das andere, fuhr mit der Hand durch das halblange blonde Haar und sagte: »Nicht im Geringsten. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen mit tief empfundener Aufrichtigkeit danken. Sie haben sich beispielhaft verhalten, Stefan Willner.«

Steffe änderte seine Sitzposition, als er das Foto machte. Es war ein Versuch, er hatte keine Ahnung, wie viel auf das Bild kommen würde, auch nicht, ob das Licht ausreichte oder die Entfernung stimmte. Aber er machte das Foto. Und mit ein paar Griffen, die ihm routiniert von der Hand gingen, speicherte er es ab und ließ das Handy in die Jackentasche gleiten.

»Sie wissen also, wer ich bin?«, sagte er, zufrieden teils damit, dass seine lichtscheue Aktivität unentdeckt geblieben war, teils damit, dass er mit seiner Paranoia nicht ganz falsch gelegen hatte.

»Wir können solche Summen nicht hergeben, ohne zu wissen, was wir tun«, sagte die Frau. »Außerdem interessieren Sie uns.«

»Ich interessiere Sie?«

»Sie haben gewisse Probleme mit Ihrer Frau, nicht wahr?«, sagte die Frau mit zur Seite geneigtem Kopf. Es war eine Position, auf die man nur mit größter Mühe böse werden konnte. Steffes Erregung richtete sich also nicht gegen die Frau hinter dem Schreibtisch, sondern auf ein unbekanntes Ziel am Rande des Universums.

»Was zum Teufel habt ihr mit meiner Frau zu tun?«, entfuhr es ihm. »Und wer zum Teufel seid ihr eigentlich?«

Die Frau schüttelte den Kopf, nicht verneinend, eher beruhigend, versenkte ihren Blick tief in seinem und sagte mit durchdringender Deutlichkeit: »Mit Ihrer Frau haben wir natürlich nichts zu tun. Aber mit Ihnen. Und mit den Gefühlen, die Sie durchmachen.«

»Warum?«, sagte Steffe verblüfft.

»Weil Sie am Rand balancieren«, sagte die Frau, ohne seinen Blick loszulassen.

Steffe wartete ab. Er ging davon aus, dass eine Fortsetzung folgen würde. Aber sie folgte nicht. Nicht von selbst. Die Antwort schien vorauszusetzen, dass er Fragen stellte. Aktiv wurde.

»An was für einem Rand?«, fragte er.

Die Frau lehnte sich zurück und schien sich ihre Worte zurechtzulegen. Sie sagte: »An dem Rand, dem sich unsere Vereinigung widmet.«

»Ich verstehe nicht recht...«

»Das menschliche Begehren ist eine sensible Gottesgabe. Man kann es ignorieren, kann so tun, als wäre es nicht vorhanden oder verschwunden, kann es in andere Aktivitäten umlenken. All das hat Namen, psychologische, physiologische, religiöse, aber Namen sind nicht das Wichtige. Das Wichtige ist die Lebenskraft. Denn im Grunde lässt sich alles menschliche Streben, jeder menschliche Willensausdruck als eine einzige Konzentration von Energie betrachten, und sie ist es, die uns überhaupt erst dazu bringt, morgens aus dem Bett zu steigen. Diese Lebenskraft kann positiv oder negativ sein, konstruktiv oder destruktiv. Können Sie mir folgen?«

»Ist das nicht ein bisschen vereinfacht?«, sagte Steffe vorsichtig.

»In gewisser Hinsicht ist es das«, sagte die Frau. »Was ich Lebenskraft nenne, ist heutzutage sehr zersplittert - wir wollen mehr denn je. Es kann den Anschein haben, als wäre alles, was wir wollen - Dinge kaufen, Dinge erleben, Dinge tun -, von völlig unterschiedlicher Art. Aber eigentlich ist es nicht so. Es gibt eine einzige innere Triebkraft - wir können ruhig darauf verzichten, ihr einen Namen zu geben oder eine Ursache -, und die ist, wie überall in der Natur, sexueller Art. Alles Leben in der Welt beruht auf dem Willen zur Fortpflanzung. Alle Tiere und alle Pflanzen streben danach. Wir gehören der Natur an, und wir haben Zugang zu dieser Kraft. Bei uns ist sie jedoch sehr kompliziert geworden, da die Natur mit Kultur vermischt worden ist. Aber wir können diese Lebenskraft in uns wiederfinden. Manchmal tun wir es sehr deutlich, wenn wir uns verlieben, wenn wir Kinder bekommen, aber meistens ist sie wirr und gefesselt und schwer zu erkennen. Gelingt es uns aber, die Kraft wiederzufinden und in reiner Form zu kultivieren - wir können sie die sexuelle Energie nennen -, dann können wir sie genau betrachten und entscheiden, ob sie positiv oder negativ ist. Strebt sie zum Leben oder zum Tod? Das ist der Rand, an dem Sie balancieren, Stefan Willner, und deshalb interessieren Sie uns.«

Steffe schwieg. Er ahnte, dass er die Nacht in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort damit verbringen würde, über die Worte der merkwürdigen Frau nachzudenken.

»Seid ihr eine Sekte?«, fragte er.

Die Frau lachte. Es war ein perlendes, lebensbejahendes Lachen von einer Art, wie Steffe es lange nicht gehört hatte. Früher hatte auch Marja so gelacht. Und er selbst auch?

Die Frau stand auf und ging auf ihn zu. Sie streckte ihm ohne ein Wort die Hand hin. Er stand auf, nahm die Hand und schüttelte sie. Dann war sie verschwunden.

Stattdessen kam der Buchhalter ins Büro. Er sagte in seiner trockenen Art: »Nehmen Sie jetzt das Geld. Wir lassen innerhalb von vierundzwanzig Stunden über das Handy von uns hören. Dann können Sie uns mitteilen, ob Sie weitere Kontakte wünschen.«

Steffe beugte sich hinunter und zog eine kleine Reisetasche unter dem Sofa hervor. Er sah den Buchhalter an. Es war nicht mehr derselbe Mann. Ebenso korrekt und grau wie sonst, aber jetzt ruhte er in einem ganz anderen Licht. Als ob diese ganze Korrektheit nur eine Art war, tja, die Lebenskraft zu bewahren, sie vital zu erhalten, sie für die richtige Gelegenheit zu sparen.

Der Buchhalter begleitete ihn hinaus. Unterwegs kamen sie an dem alten Eichensarg vorbei, den der Leibwächter und zwei andere Männer vorsichtig durch den Lagerraum rollten.

Das Skelett.

Sein erster Instinkt war richtig gewesen.

Er musste lernen, seinen Instinkten zu vertrauen. Denn schon als er das Skelett zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er, dass etwas Besonderes daran war.

18

Es war offensichtlich, dass Kommissar Alf Bengtsson von der Polizei in Sollefteä nicht an unbequeme Arbeitszeiten gewöhnt war. Anderseits konnten sein etwas blasses Gesicht und - vor allem - seine extrem unordentliche Frisur mit etwas ganz anderem zu tun haben. Zum Beispiel mit einer Leiche.

Sara Svenhagen nahm an, dass Alf Bengtsson noch nie zuvor eine Leiche gesehen hatte. Routine und Gewichtigkeit, die der gute Kommissar sonst ausstrahlte, lösten sich vor dem Körper des dahingeschiedenen Sten Larsson in Wohlgefallen auf. Nicht zuletzt aufgrund der quer über den Hals verlaufenden Wunde.

Dieser Hals lag jetzt aufgeklappt im Krankenhaus von Sollefteä, und die Wundränder wurden mit speziellen Klammern auseinandergehalten, ein Anblick, von dem auch Sara Svenhagen nicht ganz unbeeindruckt blieb.

»Warum müssen wir hier sein?«, fragte Alf Bengtsson gequält.

Sara Svenhagen versuchte, es so behutsam wie möglich zu erklären: »Wir dachten, es wäre sinnvoll, dass ihr von der örtlichen Polizei zu den gleichen Informationen Zugang habt wie wir. Während du uns mit allen erdenklichen Fakten über den zweifachen Vergewaltigungsfall versiehst, der sich am dritten Juli 1989 hier in der Gegend ereignete. Es ist eine Möglichkeit, die Arbeit effektiver zu machen.«

»Ihr seid nicht die Ersten, die versuchen, uns Effektivität beizubringen«, murmelte Bengtsson und schlug seine Mappe auf. Anwesend in dem kleinen umfunktionierten Krankenhaussaal waren auch Gunnar Nyberg und Lena Lindberg sowie eine Gerichtsmedizinerin, der das Kunststück gelungen war, sich so vage vorzustellen, dass keiner der Stockholmer ihren Namen kannte. Sie war auf jeden Fall Anfang dreißig und verfügte über die ganze Wichtigkeit eines jungen, von der Konfrontation mit den raueren Seiten der Wirklichkeit unangefochtenen Mediziners.

»Wollen Sie sich über das Ergebnis der Untersuchung informieren?«, fragte sie.

»Zuerst möchte ich wissen, ob Sie DNA-Proben genommen und an die zuständige Instanz geschickt haben«, sagte Sara Svenhagen.

»Das ist geschehen«, sagte die Namenlose stramm.

Kein überflüssiges Wort, dachte Sara und fuhr fort: »Also dann. Was außer >ein extrem scharfes Messer oder eine Klaviersaite<?«

Die Ärztin blinzelte und sagte: »Der Tod dürfte zu dem polizeilich festgestellten Zeitpunkt eingetreten sein.« »Was genauer gesagt heißt?«

»Am vierzehnten Juni zwischen zwölf und fünfzehn Uhr.«

»Ausgezeichnet«, sagte Sara. »Weiter?«

»Todesursache: Blutverlust und Atemstillstand aufgrund der durchtrennten Kehle. Denkbare Mordwaffe: ein extrem scharfes Messer oder eine Klaviersaite.«

»Also nichts Neues mit anderen Worten?«

»Das lässt sich klinisch leider nicht entscheiden«, sagte die Ärztin, zuckte die Schultern und zeigte auf die Klammern. »Eine zweite Untersuchung der Wundränder und der Tiefe der Wunde ergibt nichts Neues.«

Immer noch kein Wort zu viel, dachte Sara und fuhr fort: »Sonst noch etwas von besonderem Interesse?«

»Nein, bedaure«, sagte die Ärztin.

»Und dafür schleppt ihr mich mitten in der Nacht hierher«, platzte Alf Bengtsson heraus. »Zu einer erdigen Leiche in einem verschimmelten Krankenhaussaal?«

»Das ist korrekt«, sagte Sara Svenhagen. »Wie sieht es mit den Fingerabdrücken aus?«

»Meine Leute haben die Leiche sorgfältig untersucht«, sagte Bengtsson. »Nichts, was wir erkennen können. Kein einziger Abdruck.«

»Und das an sich sollte schon verdächtig sein, nicht wahr?«, sagte Sara Svenhagen.

»Ja, die Leiche wurde zweifellos abgewischt«, sagte Bengtsson wieder etwas gewichtiger. »Was wollt ihr jetzt von mir hören?«

»Du warst also vor fünfzehn Jahren hier vor Ort, als Sten Larsson seine zweifache Vergewaltigung beging?«

»Aber nur als grüner Anfänger«, sagte Bengtsson. »Uniformierter Polizist. Konstabler, wie wir damals noch sagten, auch wenn die Bezeichnung offiziell schon 1972 abgeschafft wurde. Aber ich habe den ganzen Fall hier. Außer den Spermaproben.«

»Die also auch zum DNA-Test geschickt worden sind?«

Kommissar Alf Bengtsson hatte einen richtigen Hahnenkamm. Wahrscheinlich hatte er geschlafen, als Gunnar Nyberg anrief, und es war niemand da, um ihn zu kämmen oder zumindest auf seine Frisur hinzuweisen.

Der Hahnenkamm wippte auf und ab, als er nickte und sagte: »Ja, zusammen mit Emily Flodbergs DNA aus Stockholm. Aber das wisst ihr ja schon.«

Das Quartett verließ die Gerichtsmedizinerin. Alf Bengtsson blickte zu seinen lästigen Stockholmer Kollegen auf und sagte: »Ihr denkt also an die Opfer?«

»Weil es so aussieht, als wäre über den Täter von damals, das jetzige Opfer Sten Larsson, nicht mehr viel Neues zu berichten«, sagte Sara Svenhagen.

»Die Opfer waren zwei fünfzehnjährige Mädchen hier aus der Gegend«, erklärte Bengtsson, während sie durch die Krankenhausflure wanderten. »Hanna Ljungkvist und Elvira Blom. Elvira wohnte in Saltbacken, und nach einem Besuch in der Jugenddisco in Sollefteä fuhren sie mit dem Bus zu ihr nach Hause, um dort die Nacht zu verbringen. Leicht beschwipst, nahmen sie vom Bus aus eine Abkürzung und wurden von einem jungen Mann überfallen, der sie kurzerhand im Wald vergewaltigte, wo niemand sie schreien hörte. Elvira Blom bekam außerdem einen Schlag auf den Kopf, der zur Folge hatte, dass sie lange künstlich beatmet werden musste. Wie durch ein Wunder kehrte sie sechs Jahre später ins Leben zurück, nicht ganz klar im Kopf, und sie lebt jetzt in einem Pflegeheim in der Nähe von Solleftea. Also musste Hanna Ljungkvist als einzige Zeugin aussagen. Auf einem Einödhof in der Nähe lebte Sten Larsson, ein dreiundzwanzigjähriger Tischler und Einzelgänger, und bei einer Hausdurchsuchung, die aufgrund von Hanna Ljungkvists Aussage durchgeführt wurde, fand man in Larssons Haus erhebliche Mengen von kinderpornografischem Material. Außerdem hatte er für die Nacht kein Alibi und war schon mehrmals wegen Entblößung vor kleinen Kindern und dergleichen angezeigt worden. Für uns bestand kein Zweifel daran, dass Sten Larsson der Schuldige war. Und bei einer Gegenüberstellung bezeichnete Hanna Ljungkvist ihn als den Täter. Es war sonnenklar.«

Sie verließen das Krankenhaus und gingen durch die helle Sommernacht zu Alf Bengtssons einsam parkendem Wagen.

Er ließ die Kollegen einsteigen und fuhr fort: »Larsson wurde einhellig schuldig gesprochen. Hanna Ljungkvist war da und identifizierte ihn erneut. Er bekam sieben Jahre, saß fünf davon in Härnösand ab und war im Herbst 1995 wieder da. Seitdem ist es vollkommen still um ihn gewesen. Er steht in keinem Register.«

»Aber«, sagte Gunnar Nyberg und zog auf der Rückbank sorgfältig den Sicherheitsgurt um seinen massiven Körper, »Sten Larsson hat sich nie schuldig bekannt.«

Bengtsson drehte den Zündschlüssel, bekam den alten Mercedes in Gang und trat aufs Gas wie ein jugendlicher Möchtegernrennfahrer.

»Ihr meint also«, sagte er, während er durch Sollefteä kurvte, »dass diese Hanna Ljungkvist die Mutter der verschwundenen Emily Flodberg sein könnte?«

»Es hat den Anschein«, sagte Sara Svenhagen, blätterte in Bengtssons Mappe und fand, was sie suchte. »Hier, Hanna Birgitta Ljungkvist. Jetzt vermutlich Birgitta Flodberg in Hammarby Sjöstad.«

»Und die Tochter kommt hier herauf, um Rache zu nehmen?«

»Nicht unbedingt«, sagte Sara. »Vielleicht wollte sie nur ihren Vater treffen.«

»Und ihm ist dabei die Kehle durchgeschnitten worden«, sagte Bengtsson. »Aus reinem Zufall. Doch wohl kaum.«

»Ich möchte diese Ermittlung trotzdem genau durchlesen«, sagte Sara und wedelte mit der Mappe. »Wenn das in Ordnung ist«, fügte sie sicherheitshalber hinzu.

»Lest, was ihr wollt«, sagte Alf Bengtsson. »Wir haben nichts zu verbergen.«

Die Polizeiwache war verschlossen. Die Nachtbereitschaft war wegrationalisiert worden. Bevor Bengtsson Licht machen konnte, entdeckte Sara am hinteren Ende des lang gestreckten Korridors ein kleines Licht.

»Arbeitet heute Abend jemand?«, fragte sie.

»Davon weiß ich nichts«, sagte Bengtsson und runzelte die Stirn. »Außer in der Untersuchungshaft.«

Dann hellte sich sein Gesicht auf, er wanderte schneller den Korridor entlang und sagte: »Es sei denn, euer Computerexperte.«

Der war es.

In einem Zimmer, das mehr einer Besenkammer glich, saß ein junger Mann mit langen Koteletten und mit einer Laborausrüstung, die dem ganzen Kabuff einen Schimmer von Unwirklichkeit verlieh. Als er sich dazu noch umdrehte und Sara Svenhagen mit einem so intensiven Blick fixierte, dass sie zurückzuckte, erschien er wie ein Erfinder aus dem neunzehnten Jahrhundert auf halbem Weg in die nächste Zeitdimension.

»Na, noch bei der Arbeit, Ollen?«, sagte Bengtsson in ironischem Ton und verließ den Angesprochenen, ohne eine Antwort abzuwarten.

Gunnar Nyberg und Lena Lindberg folgten ihm. Sara Svenhagen zögerte lange genug, dass der Mann im Kabuff ihr die Hand hinstreckte und sagte: »Bist du möglicherweise Brynolfs Tochter Sara?«

Sara musste zwinkern angesichts dieser sonderbaren Vorstellung und sagte mit einiger Verzögerung: »Ja...«

»Dein Vater«, sagte der Mann und bekam diesen leicht irren Glanz in den Augen, »ist ein bewundernswerter Mensch.«

»Was du nicht sagst«, gab Sara zurück. »Und wer könntest du sein?«

Zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass sie mit der sozialen Kompetenz der Untertanen ihres Vaters auf dem kriminaltechnischen Gebiet hinlänglich vertraut war.

Der Kotelettengeschmückte starrte sie einen Augenblick an, als hätte sie eine Litanei undurchdringlicher Fachtermini von sich gegeben. Doch schließlich glättete sich sein Gesicht, und er sagte: »Entschuldigung. Jerker Ollen. Ich arbeite für deinen Vater. Ich bin Datenrestaurator.«

»So etwas gibt es?«, sagte Sara Svenhagen.

»Mehr, als du ahnst«, sagte Ollen geheimnisvoll und fand seine Erfindermiene wieder.

Sara seufzte - der junge Mann unterschied sich kaum von den anderen jungen Männern, mit denen ihr Vater sich umgab - und sagte: »Und was hast du gefunden?«

Ollen vollführte eine Geste in Richtung der Apparaturen vor sich. »Carl-Olof Strandberg war wirklich ziemlich erfolgreich bei der Zerstörung der Festplatte. Sten Larssons Festplatte geht es gar nicht gut. Sie ist so stark beschädigt, dass der Fall noch vor, sagen wir, einem halben Jahr als hoffnungslos gegolten hätte angesehen werden müssen.«

»Aber du hast...?«, sagte Sara hilfsbereit.

»Aber ich habe eine eigene Hardware entwickelt«, sagte Jerker Ollen, ohne von Saras Einwurf Notiz zu nehmen, »die sehr viel auf mikroskopischem Weg rekonstruieren kann. Ich habe gerade eine Aktiengesellschaft gegründet, um die Weiterentwicklung voranzutreiben.«

Er zeigte auf ein kompliziertes Gerät, das stark an ein altmodisches Elektronenmikroskop erinnerte. Es gab ein schwaches, aber vernehmbares Brummen von sich.

»Und kommst du voran?«, fragte Sara.

»Es lässt sich gut an«, sagte Ollen stolz. »Aber es ist klar, dass Genauigkeit das A und O im digitalen wie im analogen Prozess ist. Der Zeitfaktor ist ein Minus im Rekonstruktionsprozess. Das Ausfüllen von Lakunen dauert seine Zeit.«

»Also noch keine Daten?«, konstatierte Sara.

»Nein«, sagte Ollen und lächelte sie erfinderstolz an.

Sie ließ ihn allein.

Es hätte natürlich unmöglich sein sollen, sich in der Polizeiwache von Sollefteä zu verirren, aber Sara schaffte es. Sie irrte zehn Minuten umher, bis sie den Weg zu der provisorischen Abteilung für Untersuchungshäftlinge fand.

Im Gemeinschaftsraum, in dem sie am Mittag gegessen hatten, saß jetzt der ehemalige Kinderarzt und Kinderpsychiater Carl-Olof Strandberg mit einer frischen Kopfbandage und sah verbiestert aus. Ihm gegenüber saßen Lena Lindberg, Gunnar Nyberg und Alf Bengtsson und sahen mindestens ebenso verbiestert aus, möglicherweise mit Ausnahme von Bengtsson, weil ein Hahnenkamm der Verbiesterung entgegenwirkt.

Sara Svenhagen betrat den provisorischen Vernehmungsraum und wurde gemustert. »Lasst euch nicht stören«, sagte sie nur und sank auf einen Stuhl.

Aber Carl-Olof Strandberg ließ sich stören, Er ließ sich sogar in einem solchen Maß stören, dass er sagte: »Neue Foltermethoden, wie ich sehe, Fräulein Svenhagen. Das Opfer kann zu jeder Tages- und Nachtzeit geweckt und den rechtswidrigsten Verhören ausgesetzt werden, vor allem wenn sein Anwalt abwesend ist.«

»Das ist kein Verhör«, sagte Sara. »Wir haben nur ein paar Fragen.«

»Wie die Folterer mit ihren Samtstimmen sagten, bevor sie die Nadeln unter die Nägel stachen.«

»Hör schon auf«, sagte Gunnar Nyberg.

»Du, du hast überhaupt nicht das Recht, etwas zu sagen, du Verrückter. Du hast nicht das geringste Recht, auch nur in meine Nähe zu kommen.«

»Sten Larsson ist tot«, sagte Nyberg neutral. »Wir haben gerade seine Leiche ausgegraben.«

Auf Carl-Olof Strandbergs gleichgültiges Gesicht trat ein neuer Ausdruck. Ein Zucken lief durch die fein verzweigte Muskulatur, und ein Ton, der einem Schluchzen glich, war zu hören. Es war kein gewöhnliches Schluchzen, es kam gleichsam aus einer größeren Tiefe seines Inneren. Aus der dunkelsten Tiefe der dunklen Seele.

Oder so, dachte Sara Svenhagen und sagte: »Er war Ihr Freund. Es fragt sich, ob Sie jemals einen besseren Freund hatten. Sie haben Ihr ganzes Leben als asozialer Pädophiler gelebt, immer in Ihrer eigenen Blase, in die Sie niemand hineinzulassen wagten oder hineinlassen konnten. Aber dann, im Herbst Ihrer Tage, fanden Sie zu Ihrer Überraschung einen wahren Freund, den Bauerntölpel Sten Larsson. Sie taten Dinge zusammen - zum ersten Mal in Ihrem Leben hatten Sie jemanden, mit dem Sie tatsächlich Dinge tun konnten. Sie sind es ihm schuldig, uns bei der Suche nach seinem Mörder zu helfen.«

Strandberg sah auf einmal sehr alt aus, und seine Stimme war dünn, als er sagte: »Mörder?«

»Ihm ist die Kehle durchgeschnitten worden«, sagte Gunnar Nyberg. »Gründlich durchgeschnitten. Sagt Ihnen das etwas?«

Carl-Olof Strandberg zwinkerte mehrmals. Dann schüttelte er den Kopf. »Klaviersaite?«, sagte er schwach.

»Denkbar«, sagte Sara Svenhagen, der das Herz bis zum Halse schlug.

»Nein«, sagte Strandberg und schnitt eine Grimasse, »das sagt mir nichts.«

»Wir sind eigentlich hergekommen, um Sie nach Sten Larssons Tochter zu fragen. Aber vielleicht haben sich die Dinge jetzt ein wenig geändert.«

»Nach seiner Tochter?«, sagte Strandberg. »Er hatte keine Tochter. Das hätte ich gewusst.«

»Was wissen Sie denn über die Vergewaltigung im Sommer 1989? Damals wurde ein Kind gezeugt.«

»Das mag vielleicht sein. Aber nicht von Sten.«

»Warum nicht?«

»Weil er unschuldig war.«

»Wie Sie?«

»Nein, nicht wie ich«, sagte Strandberg, und der klarblaue Blick, mit dem er aufsah, war nackter denn je.

»Denn Sie waren nicht unschuldig?«

»Er war vollkommen fixiert darauf. Sein ganzes Leben drehte sich darum, dass er unschuldig verurteilt war, dass er nie jemanden vergewaltigt hatte, dass er das Opfer einer haarsträubenden Justizwillkür war.«

»Und bei dieser Fixierung spielte eine Tochter keine Rolle?«

»Absolut nicht. Keiner wäre glücklicher gewesen als Sten, wenn er eine Tochter gehabt hätte. Er liebte Kinder wirklich.«

Der Schlusssatz musste erst einmal in die Ohren der anwesenden Polizisten einsinken. Er glitt langsam durch die Gehörgänge, versetzte die kleinen Gehörknöchelchen in Vibration, den Hammer gegen den Steigbügel, und krepierte im Gehirn. >Er liebte Kinder wirklich<.

»Und Sie«, sagte Sara Svenhagen. »Lieben Sie Kinder wirklich?«

»Nein«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Aber ich verstehe sie. Ich verstehe sie besser als sonst jemand. Und ich begehre sie. Das ist keine gute Kombination.«

»Besonders nicht, wenn man sie nicht liebt. Dann kann man ohne Gewissensqualen alles Erdenkliche mit ihnen machen.«

»Ja«, sagte Strandberg leise. »So ist es. Aber so war es nicht mit Sten Larsson. Er liebte sie. Ich glaube, er hat niemals irgendeine Form von Gewalt an einem Kind verübt.«

»Und was wäre passiert, wenn ein Kind Kontakt mit ihm aufgenommen und behauptet hätte, seine Tochter zu sein?«

Carl-Olof Strandberg machte eine hilflose Geste und sagte: »Er hätte sie mit offenen Armen empfangen.«

»Und er hat Ihnen nie erzählt, dass so etwas tatsächlich geschehen wäre?«

Strandberg war in einen merkwürdigen Zustand eingetreten - Schock, sicher, anderseits war er kaum der Typ, der leicht zu schockieren war. Dagegen hatte sich etwas in ihm geöffnet, und dass es galt, um jeden Preis zu vermeiden, dass diese Offenheit verloren ging, schien selbst Gunnar Nyberg einzusehen. Er saß mucksmäuschenstill da und vermied alles, was als Aggression gedeutet werden konnte. Seine äußere Erscheinung ließ nicht einmal Ungeduld erkennen.

Als Sara den Blick ein wenig nach links wandte, sah sie, dass dies bei Lena Lindberg eindeutig umgekehrt war. Sie schien zu kochen. Ein Wort schien im Innern des Dampfkochtopfs zu brodeln und jeden Moment mit explosiver Kraft in den Raum geschleudert werden zu können.

Und natürlich war dies das Wort >Klaviersaite<.

Aber noch hielt Lena sich zurück und überließ Sara die Gesprächsführung.

»Nein«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Aber etwas war geschehen. Er erzählte nichts, doch seit etwa einem Monat war er so aufgekratzt, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte.«

»Und er hat keine Andeutung gemacht, was geschehen war?«

»Man muss ein wenig davon verstehen, welche Art von Leben Menschen wie wir leben. Jeder Kontakt mit anderen ist gleichsam künstlich, er spielt sich nicht in der richtigen Welt ab. Eine Situation wie diese hier betrachtet man von oben, als geschähe es nicht einem selbst. Denn die wirkliche Welt ist anderswo. Man ist gleichzeitig so allein wie nie und nicht mehr allein. Es gibt unseresgleichen. Die wirkliche Welt wird größer, aber sie existiert weniger denn je in dem, was Sie die wirkliche Welt nennen. Für unendlich viele Menschen verlagert sich die Wirklichkeit ganz einfach in die virtuelle Welt. Da kann man sich verwirklichen. Und das gilt für alle kleinen Perversionen, in allem finden sich Gleichgesinnte. Man braucht nicht mehr allein zu sein, es gibt keine Geheimnisse mehr. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, von welchen Dunkelziffern ich rede, fast alle sind dabei, in der einen oder anderen Weise, nichts von Belang geschieht mehr in der wirklichen Welt.«

»Dunkelziffern?«, sagte Sara Svenhagen.

»Das, was nicht aus der Statistik ablesbar ist«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Und Sie, die darauf beharren, dass dies hier, wo wir jetzt sitzen, die Wirklichkeit ist, Sie werden zwangsläufig abgehängt.«

»Was wollen Sie damit genau sagen?«

»Dass der Schritt in das, was Sie die wirkliche Welt nennen, sehr, sehr groß ist. Die meisten tun ihn nie.«

»Aber gleichzeitig nehmen die Übergriffe lawinenartig zu.«

»Sie würden noch viel mehr zunehmen, wenn die Fantasien nicht in der virtuellen Welt ausgelebt werden könnten. Wir leben in einer Welt der Bedürfnisbefriedigung - ungefähr wie das späte Römerreich. Dekadenz. Das, wovon man fantasiert, muss Wirklichkeit werden. Es kann im Virtuellen Wirklichkeit werden. Wenn es das Virtuelle nicht gäbe, würden wir in einer grenzenlosen Orgie leben.«

»Und was hat all dies mit Sten Larssons neuem Zustand zu tun? Dass er >aufgekratzt< war?«

»Er glaubte nie, dass er die virtuelle Welt verlassen würde. Ich glaube, seine Freude hatte damit zu tun, dass er tatsächlich im Begriff war, es doch zu tun. Die Wirklichkeiten glitten ineinander. Und warum nicht aufgrund der unerwarteten Kontaktaufnahme einer so genannten Tochter?«

»Und die Klaviersaite hat also etwas damit zu tun, dass die Wirklichkeiten ineinanderglitten?«

Carl-Olof Strandberg war auf die tonlos eingeworfene Frage völlig unvorbereitet. Der Beginn seiner Antwort war ungeschützt: »Das ist die Strafe für diejenigen, die die Grenze überschreiten. Aber darüber weiß ich nichts.«

»Es klang aber so, als wüssten Sie eine ganze Menge.«

Aber es funktionierte nicht - die Zeit der Offenheit war vorbei. Carl-Olof Strandberg schloss sich wie eine Muschel. Alles, was er sagte, war: »Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.«

Und dann sagte er wirklich nichts mehr.

Während Alf Bengtsson ihn in die Zelle zurückbrachte, saßen die drei da und beobachteten einander.

»Habe ich es schlecht gemacht?«, fragte Sara frei heraus. »Hätte ich ihn dazu bringen können, mehr über die Klaviersaite zu sagen?«

»Kaum«, sagte Gunnar.

Aber für Sara bedeutete dies höchstens einen Bruchteil dessen, was Lena sagte: »Wahrscheinlich hat noch niemand Carl-Olof Strandberg dazu gebracht, so viel zu sprechen.«

Sara atmete aus und lächelte.

Gunnar sagte: »Es geht also nicht mehr um Emily und ihre Messer. Soll man es so sehen?«

Lena sagte: »Die Klaviersaite ist >die Strafe für diejenigen, die die Grenze überschreiten<. Was weiß Strandberg? Das müssen wir aus ihm herausbekommen.«

Sara sagte: »Wir können ihn ja schlecht foltern. Es würde ihm auf jeden Fall nur gefallen.«

»Dann gibt es noch einen Punkt«, sagte Lena.

»Den Punkt, dem wir überhaupt nicht näher zu kommen scheinen«, nickte Gunnar.

Und Sara sagte: »Wo zum Kuckuck ist Emily Flodberg?«

19

Paul Hjelm war zwar in seiner Wohnung in der Slipgata auf Kniv-Söder, dem westlichsten Teil Södermalms, aber das bedeutete nicht, dass er aufgehört hatte zu arbeiten. Er hatte das Gefühl, gerade erst angefangen zu haben.

Tatsache war, dass er die Einzimmer-Junggesellenwohnung mehr und mehr als unzureichend empfand. Dass sie nicht standesgemäß war für einen höheren Polizeibeamten, schon gar nicht, wenn er eine Chefposition in der Abteilung für Interne Ermittlungen innehatte, das spielte überhaupt keine Rolle für ihn. Aber teils wurde sie einfach zu eng, teils war sie - tragisch. Und er hatte wirklich keine Lust, tragisch zu werden. Nicht noch einer von diesen kaputten alleinstehenden Ermittlern mit sozialen Phobien, die in schwedischen Krimis ihr Unwesen trieben.

Aber er war jetzt wirklich in der Gefahrenzone.

Um der Situation abzuhelfen, hatte er angefangen, sich auf Datingseiten im Internet umzusehen. Das war wirklich eine eigene Welt, in der alles möglich schien, jedenfalls theoretisch. Zwar lebt der Mensch immer eine Art Doppelleben - ein inneres und ein äußeres Leben, und nie begegnen sich die beiden -, aber jetzt schien das Doppelleben total sanktioniert zu sein. Der Charakter, der sich auf den Datingseiten präsentierte, war immer eine idealisierte Version der Person selbst - derjenige, der man sein wollte -, und das weitverbreitete Phänomen ließ einen Willen zur Beichte erkennen. Sich völlig bedenkenlos zu entblößen, sich selbst auseinanderzunehmen vor jedem, der es sehen will.

Sieh her, wer ich bin. Oder vielmehr: Sieh her, wer ich sein möchte.

Ein Phänomen, das einiges über unsere Zeit sagte.

Und Paul Hjelm war selbst ganz und gar nicht gefeit dagegen. Zwar hatte er noch keine eigene Annonce formuliert, aber er war nicht weit davon entfernt. Er verstand die Verlockung.

Wir werden heute nicht gesehen. Die Menschen haben keine Zeit, einander zu sehen. Wir gehen einander verloren. Wir müssen uns anstrengen, um gesehen und bestätigt zu werden. Und dies war ein Weg.

Außerdem glaubte er, dabei viel über den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu lernen. Er hatte sogar eine Lieblingssentenz formuliert, die Sexualität betreffend: Bei Männern ist das Gehirn nicht mit dem Körper verbunden, bei Frauen ist der Körper nicht mit dem Gehirn verbunden.

Daran musste noch gefeilt werden, aber im Prinzip hielt sie stand, das fand er immer noch.

Aber in dieser Nacht hatte er die Datingseiten im Internet nur kurz angeklickt. Er hatte anderes vor.

Er suchte Penisknochen.

Arbeit lässt sich sehr verschieden definieren. Aber sie hat selten mit der Jagd nach Penisknochen zu tun. Deshalb schien es klug, von zu Hause aus zu jagen. Außerdem konnte er mit dem Laptop auf dem Schoß im Bett sitzen. Er hatte gelesen, dass es den Spermien schaden könnte. Er hatte von Schriftstellern gehört, die ganze Bücher im Bett schrieben, mit dem Computer direkt auf dem Geschlechtsteil. Wie war es eigentlich um die Fortpflanzungsfähigkeit männlicher Gegenwartsautoren bestellt? Ein vernachlässigter Aspekt der Sicherheit am Arbeitsplatz.

Jedenfalls wäre es schwierig gewesen, auf diese Art Bücher zu schreiben, wenn man einen Penisknochen hat.

Viele Säugetiere haben Penisknochen, vor allem Raubtiere. Der Knochen hat die Aufgabe, eine Erektion zu garantieren, da die kurzen, hektischen Paarungsbegegnungen maximale Leistung in kürzestmöglicher Zeit erfordern. Man behauptet, den längsten Penisknochen habe das Walross, bei dem er bis zu einem Meter lang werden kann, während zum Beispiel der des Hamsters nur ein paar Millimeter misst.

In vielen Gegenden der Welt sind die Penisknochen der Tiere heilig. Man zieht sie auf Schnüre und trägt sie um den Hals, als Fruchtbarkeitsbringer.

Etwas über den menschlichen Penisknochen im Internet zu finden gelang Paul Hjelm jedoch nicht. Dagegen fand er auf verschiedenen UFO- und Science-Fiction-Seiten ein paar weitläufige Hypothesen über Penisknochen von Außerirdischen. In einer Zeit, da der Bedarf an Viagra und ähnlichen Präparaten offenbar unstillbar war, da die E-Mail-Postfächer der meisten Menschen täglich von Angeboten zur Penisvergrößerung und Erektionsverlängerung überquellen, müsste ein Penisknochen eine attraktive Alternative sein. Penispumpen in allen Ehren, aber was waren sie gegen einen reellen os penis? Der wurde sozusagen nur hochgeklappt und hielt stand. Unabhängig von den Stimuli.

Trotzdem gab es keine menschlichen Penisknochen im Internet.

Paul Hjelm hatte vor Kurzem gelernt, dass ein >googol< eine scherzhafte Bezeichnung für eine sehr große Zahl ist, genauer gesagt für eine Eins, auf die hundert Nullen folgen. Und in der heutigen Zeit, wo das Verb >googeln< zu den hipsten im allgemeinen Sprachgebrauch gehört, gab es gute Gründe zu glauben, dass mindestens ein googol Websites im Internet standen.

Und tief, tief unten in der Liste von Googles Suchmaschine stieß er auf einen Bericht, eine Legende. Eine internationale Legende mit schwedischen Verbindungen.

Nachdem er einige Links in verschiedene Richtungen verfolgt hatte, zu schwedischen, deutschen, französischen, amerikanischen, russischen und sogar griechischen Seiten, begannen sich Paul Hjelm die Konturen einer Erzählung zu enthüllen, die sein Interesse immer stärker erregte.

Die Legende berichtet von einer reisenden Theatergesellschaft, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts im vom Krieg verheerten Europa von Stadt zu Stadt reist. Das war damals durchaus nichts Ungewöhnliches - Theatergesellschaften gab es im vorrevolutionären Mitteleuropa an allen Höfen und den meisten Adelssitzen, wenn sie nicht auf Märkten und Marktplätzen auftraten. Commedia-del-Arte-Gesellschaften gab es noch in großer Zahl, und französische Komödiantengruppen, die vor allem von Moliere inspiriert waren, hatten sich stark vermehrt.

Die Theatertruppe des Leopold Chamelle war jedoch nicht französisch, sondern eher international, und im Grunde war sie eine wenig erfolgreiche Gesellschaft mit mittelmäßigen Schauspielern aus allen Winkeln Europas. Doch was Chamelle an Talent fehlte, kompensierte er durch Geschäftssinn. Am Tag nach einer missglückten Vorstellung auf dem Marktplatz von Budapest stieß der Theaterdirektor auf einen Mann mit drei Armen, den er vor einem begeisterten Publikum auftreten ließ. Chamelle nahm ihn in Dienst - oder besser, er kaufte ihn, und im Verlauf der Theatervorführungen ließ er nun den Dreiarmigen als abschließenden Clou auftreten.

Ohne es zu wissen, hatte Chamelle The Freak Show geschaffen.

Plötzlich hatte die vorher so trostlos dahindümpelnde Theatertruppe Aufwind. Die Sammlung deformierter Menschen wurde größer und drängte die Schauspieler bald in den Hintergrund. Chamelles Theatergesellschaft wurde zu einer Freak-Gesellschaft. Nicht zuletzt bei Hofe ließ man sich bereitwillig von den Gebrechen der armen Krüppel in Schrecken versetzen, und Chamelle wurde ein geachteter und viel beschäftigter Mann, der seine Sammlung von Missgeburten ständig vergrößerte, um seine Auftraggeber mit immer heftigerem Schaudern versorgen zu können. Jede Vorstellung endete mit einem neuen Clou.

Die Annalen berichten von einem legendären Maiabend auf dem Herrensitz des Herzogs Gravemonte im südlichen Frankreich. Eine imponierende Versammlung von Würdenträgern hatte sich im Schlosspark einem Maskenball gewidmet und nahm jetzt, nach dem Mahl, auf Bänken Platz, um einen Auftritt der für diesen Anlass engagierten Truppe des Leopold Chamelle mitzuerleben. Die Stimmung war ausgelassen, und während Bucklige und Dreibeinige, Wasserköpfe und Krüppel auf der Freiluftbühne des Schlosses vorüberzogen, stieg sie in ungeahnte Höhen. Nie fühlt sich der Mensch gesünder, als wenn er einen Kranken sieht.

Schließlich betrat Leopold Chamelle die Bühne. Er stand mit seiner von Motten zerfressenen Perücke und in seinem von Molière abgeschauten Bühnenmantel da und wartete still auf das Schweigen, das, wie er wusste, immer eintreten würde, diese Erwartung, wie eine Wolke, die sich um die Bühne zusammenzog. Er stand da und genoss es, dass es Adlige gab, die zu jeder Vorstellung herbeieilten, er erkannte sie hinter den Masken wieder. Schließlich war es vollkommen still. Die Wolke der Erwartung schloss sich um die Bühne des Schlosses und erhöhte den Druck beträchtlich.

Seiner Gewohnheit getreu begann er mit Donnerstimme und dennoch lakonisch: »Hoheiten, hochgeehrter Herzog, hochgeehrte Herzogin. Es ist Zeit für den Clou des Abends. Zuerst aber muss ich genau wissen, wie sensibel das Publikum heute Abend ist. Können Sie alles ertragen, mes amis?«

Das Publikum antwortete mit einem raunenden, sowohl männlichen als auch weiblichen oui.

Chamelle beugte sich ein wenig vor und sagte: »Sollte es sogar möglich sein, dass Sie eine Monstrosität - sexueller Art ertragen können?«

Das folgende oui war doppelt so laut, doppelt so erwartungsvoll.

Leopold Chamelle machte eine kurze Kunstpause - später sollte seine Rhetorik in Handbüchern als Beispiel einer Redekunst mit vollendetem Timing dienen. »Wenn es so ist, Hoheiten, dann darf ich präsentieren - Rigmondo!«

Auf die Bühne trat ein Mann von mittlerer Größe. Auch sonst war nichts Besonderes an ihm. Er sah ein bisschen wie ein Italiener aus, schrieb ein Augenzeuge, ein anderer nannte ihn einen virilen spanischen Jungstier, ein Dritter sprach von einem verängstigten und verwachsenen Kind. Aber sämtliche Quellen stimmten darin überein, dass er einen lose hängenden Mantel von der Art trug, die man heute wohl Badeumhang nennen würde. Würde man Rigmondo heute sehen, man würde ihn für einen Fliegengewichtsboxer halten.

Aber nicht, als er langsam und mit ausdrucksloser Miene den Umhang auf den Bühnenboden gleiten ließ. Ein langer und tiefer kollektiver Seufzer ging durch das Publikum. Einige Frau setzten zu einem erstickten Schrei an, den sie jedoch auf halbem Wege zu unterdrücken vermochten. Was aber dem armen Rigmondo auf der Bühne entgegenschlug, war vor allem als Ehrfurcht zu beschreiben. Vielleicht Respekt. Wenn nicht vor ihm, so doch vor seinem Organ.

Es war der größte und wohlgeformteste Penis, den die Welt je gesehen hatte. Er stand gerade hoch in stattlicher Erektion, und ein paar voneinander unabhängige Quellen behaupten, die weiblichen Schreie seien mehr und mehr in ein schmachtendes Stöhnen übergegangen. Da war etwas an der säulengeraden Form des Organs, das unnatürlich war. Und dennoch reine Natur.

Chamelle ließ seine tiefe Stimme vom Bühnenrand her vernehmen: »Rigmondo, mes amis, ist der Besitzer des einzigen Penisknochens der Welt. Sein Glied sieht immer so aus wie jetzt.«

Als Rigmondo schließlich, immer noch völlig ausdruckslos, die Bühne verließ, war dies das Letzte, was die Welt von ihm sah.

Als Leopold Chamelle spät in der Nacht seinen üblichen Kontrollgang durch die ordentlich verriegelten Viehwagen der Theatergesellschaft machte, war Rigmondos Wagen leer. Es fehlte jede Spur von ihm.

Nach dem Auftritt auf dem Herrensitz des Herzogs Gravemonte im südlichen Frankreich ging es allmählich bergab mit Leopold Chamelles Theatertruppe. Immer verzweifelter suchte er Ersatz für den großen Rigmondo, aber selbst die aufsehenerregendsten Missgeburten konnten es dem virilen spanischen Jungstier nicht gleichtun. Von Rigmondo sollte man nie wieder etwas hören.

Außer in Form der Legende. Die Forschung schien uneins, inwieweit Rigmondo jemals existiert hatte. Für die meisten war er ein gemeinsamer weiblicher und männlicher Wunschtraum, die Materialisierung des Libertinismus eines amoralischen Zeitalters. Für andere war er das Opfer eines Eifersuchtsmords - keiner konnte in den zügellosen Kreisen mehr Erfolg haben als Rigmondo, das war mehr, als die potenziellen Konkurrenten anzubieten hatten. Für wieder andere war er entführt und für unbekannte Zwecke benutzt worden. Auch dafür gab es mehrere Theorien.

Eine dieser Theorien interessierte Paul Hjelm ganz besonders. Ihr zufolge befand sich im Publikum an diesem Maiabend 1742 ein junger schwedischer Adliger, der auf seiner grand tour war, also auf der europäischen Bildungsreise, die die männlichen Abkommen der schwedischen Aristokratie absolvieren mussten, um Lebenserfahrung zu sammeln. Der Name des jungen Adligen war Andreas Clöfwenhielm. Ein Augenzeuge behauptet, Clöfwenhielm habe die Vorstellung, wenige Minuten bevor Rigmondo von der Bühne abtrat, verlassen. Die Theorie läuft darauf hinaus, dass sich Clöfwenhielm hinter der Bühne mit Rigmondo traf und ihn kurzerhand mit nach Schweden nahm. Der junge Adlige reiste von Südfrankreich geradewegs nach Hause - so geradewegs, wie es damals eben ging. Zwei Monate nach seiner Heimkehr gründete er eine geheime Gesellschaft.

Geheime Gesellschaften waren en vogue im achtzehnten Jahrhundert. Zu keiner anderen Zeit haben so viele und verschiedenartige kultische Vereinigungen und Verbindungen das Licht des Tages erblickt. Aber gerade das Licht des Tages sahen sie nie. Sie blieben ein dunkler, ungreifbarer Unterstrom unter dem rationalen Streben der Aufklärung nach Licht und Klarheit. Als ob das eine nicht ohne das andere sein, das eine nicht entstehen konnte, ohne dass gleichzeitig das andere entstand.

In Stockholm blühten allerlei geheime Gesellschaften, und die Quellen im Internet erwähnen an einigen Stellen Andreas Clöfwenhielm als Gründer und Großmeister eines geheimen Ordens namens Fac ut vivas. Über die Einrichtung, Zielsetzung und Rituale dieses Ordens wird sehr wenig berichtet, aber in den 1920er-Jahren hatte ein deutscher Forscher bei einer Aufzählung geheimer Gesellschaften mit libertinärer Ausrichtung laut einer Internetseite in einer Fußnote auf Fac ut vivas hingewiesen. Sonst gab es nichts. Alles in allem schien die Gesellschaft ebenso kurzlebig gewesen zu sein wie neunundneunzig Prozent aller geheimen Gesellschaften des achtzehnten Jahrhunderts.

Wenn da nicht noch etwas anderes gewesen wäre. Es konnte natürlich ein Zufall sein, ein Schreibfehler oder ein Scherz, aber als Paul Hjelm weiter nach Fac ut vivas googelte, fand er - zwischen allen Treffern, die nur von dem lateinischen Ausdruck »fac ut vivas« handelten, der ungefähr so viel bedeutet wie >schaff dir ein Leben<, >get a life< - den Verweis auf eine Mitarbeiterseite eines IT-Beratungsunternehmens namens Theta International Communications AB. Der Link verwies auf einen Geschäftsführenden Direktor namens Olof Lindblad, der in seiner Kurzvita anführte, dass er Mitglied in Djurgärdens IF, Danderyds Golfklub, Rotary, Fac ut vivas und David Bowie Official Fan Club sei.

Seltsame Konstellation, dachte Paul Hjelm und notierte den Namen Olof Lindblad. Dazu schrieb er den Namen Andreas Clöfwenhielm, und als er den Namen niederschrieb, in dem sein eigener in altmodischer Schreibweise enthalten war, da machte etwas klick in ihm.

Er meinte, irgendwann, irgendwo schon einmal auf den Namen gestoßen zu sein. Nicht auf den von Andreas aus dem achtzehnten Jahrhundert, sondern auf einen anderen in der Gegenwart. Er versuchte sich zu erinnern.

Und die Erinnerung führte ihn zurück zu einem uralten Fall, dem allerersten der A-Gruppe, noch bevor sie Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei hieß. Der alte Chef Hultin hatte Hjelm aus Huddinge, Holm aus Göteborg, Chavez aus Sundsvall, Nyberg aus Nacka, Norlander aus Stockholm und Söderstedt aus Västeräs versammelt. Diese, die ursprüngliche A-Gruppe, jagte einen Serienmörder, der unter der Bezeichnung Machtmörder lief. Im Laufe der Ermittlungen landete Hjelm in einem Kellergewölbe in Gamla Stan, in einem geheimen Orden mit Namen - wie hieß er noch? - Mimer. Und hieß der sogenannte Großmeister nicht Clöfwenhielm?

»Doch«, sagte Hjelm laut zu den Wanzen in der tragischen Einzimmer-Junggesellenwohnung auf Kniv-Söder. »Ein Mann mit einem dröhnenden Lachen.«

Er klickte die Gelben Seiten im Internet an. Es gab nur einen Clöfwenhielm im Telefonbuch. Es war eine Frau. Christine Clöfwenhielm in Vasastan. Es war nach Mitternacht, und er rief an. Es konnte als übertrieben eifrig erscheinen, aber es ging eigentlich nur darum, dass er es sonst vergessen hätte.

»Hallo, hier Christine«, antwortete eine Frauenstimme schon nach dem ersten Klingeln.

Hjelm, der mindestens drei Klingeltöne gebraucht hätte, um eine gute Lüge vorzubereiten, stotterte: »Ja, hallo, hier ist die Polizei. Paul Hjelm.«

»Nein, Clöfwenhielm«, sagte die Frauenstimme höflich.

Es ist immer wunderbar, ein Gespräch mit Missverständnissen und Hörfehlern zu beginnen, dachte Paul Hjelm und wechselte geschmeidig die Spur: »Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich suche einen möglichen Verwandten von Ihnen, ich kann mich nicht an seinen Vornamen erinnern, einen älteren Mann, der in einer Ordensgesellschaft namens Mimer aktiv war.«

»Ah«, sagte Christine Clöfwenhielm mit einem leichten, feinen Einatmen. »Ich glaube, Sie meinen meinen Onkel David. Er hat sich mit diesem komischen Ordenskram beschäftigt.«

»Ja, stimmt, so hieß er«, sagte Hjelm. »David Clöfwenhielm. Wissen Sie, wie ich ihn erreichen kann?«

»Keine Ahnung«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Aber ich fürchte, dafür braucht man gute Kontakte zu den höheren Mächten.«

»Er ist also tot?«, sagte Hjelm und fühlte sich wach.

»Er ist voriges Jahr gestorben, ja. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn besonders gut gekannt habe. Aber ich denke, wir waren die Letzten unseres noblen Geschlechts. Jetzt bin ich allein.«

»Bedeutet das, dass du auf dem Familienerbe sitzt?«

Hjelm wusste nicht genau, wie es kam, dass er vom Sie zum Du wechselte. Vermutlich war etwas Ansprechendes im Tonfall der Frau, das es unmöglich machte, weiter Sie zu sagen.

»Ein großes Familienerbe gibt es nicht«, sagte Christine Clöfwenhielm mit einem warmen Lachen. »Verarmter Adel, weißt du. Aber so ist das nun einmal. Ein paar Wappenschilde und eine grässliche Rüstung auf dem Dachboden.«

»Briefe, Papiere?«

»Kistenweise.«

»Könnte ich vielleicht vorbeikommen und mir das noble Erbe ansehen?«

»Worum geht es genau bei der Sache? Und wie heißt du?«

»Ich heiße Paul Hjelm«, sagte Paul Hjelm. »Kriminalkommissar Paul Hjelm.«

Christine Clöfwenhielm lachte laut. Es war ein ganz wundervoller Ton.

»Ist das so lustig?«, fragte er und war zu seiner Verwunderung einer Meinung mit ihr, dass es ziemlich lustig war.

»Ich habe mich vorhin verhört«, sagte Clöfwenhielm. »Tut mir leid. Vielleicht sind wir verwandt. Halbvetter und -kusine. Ich bin die Klaue, und du bist der Helm.«

Paul Hjelm fand tatsächlich, dass sein Lachen ziemlich vital klang. Obwohl er in seinem Leben viel zu viele Helmwitze gehört hatte. »Es geht jedenfalls um einen alten Vorfahren von dir«, sagte er nach einer Weile. »Um einen Mann namens Andreas Clöfwenhielm, der im achtzehnten Jahrhundert lebte. Er hat eine geheime Gesellschaft gegründet, die sich Fac ut vivas nannte. Weißt du etwas darüber?«

»Ich bin leider nicht besonders bewandert in meiner Familiengeschichte«, sagte sie. »Die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, mit dem Namen Clöfwenhielm zurechtzukommen. Er hat mich in der Pubertät fast in den Selbstmord getrieben. Für das Adlige habe ich nie Sinn gehabt. Ganz zu schweigen von Orden und geheimen Gesellschaften. Schrecklich ermüdend. Es gibt also noch andere in der Geschichte als Onkel David?«

»Ich fürchte, ja«, sagte Hjelm. »Kann ich morgen vorbeikommen und mir den Familienbesitz ansehen?«

»Sicher«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Ich wohne am Tegnerlund, ich arbeite zu Hause, mein Atelier ist neben meiner Wohnung. Die ist der eigentliche Familienbesitz, das gebe ich zu. Zweihundert Quadratmeter.«

»Ui«, sagte Hjelm. »Sehen wir uns gegen zehn Uhr?«

»Aber worum geht es genau bei der Sache?«

»Es gibt in Andreas Clöfwenhielms Erbe Dinge, die noch heute von Bedeutung sein könnten. Mehr kann ich leider nicht sagen. Tut mir leid.«

»Spannend«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Polizeigeheimnisse. Ja, zehn Uhr ist ausgezeichnet. Also dann, bis morgen.«

»Bis morgen«, sagte Paul Hjelm und bereute es nicht, an diesem Abend auf die Datingseiten im Internet verzichtet zu haben.

Eine lebendige Stimme war doch allemal besser. Und die Stimme von Christine Clöfwenhielm klang lebendiger, als ihm seit Langem eine Stimme erschienen war.

20

Auch kurz vor Mittsommer enthalten die Nächte in Stockholm Spuren von Dunkelheit. Die Sonne taucht nur kurz unter die Wölbung des Horizonts. Die Nacht zeigt sich beinahe unmerklich, wenn man sich nicht mitten in ihr befindet. Aber tut man das, dann ist es sehr besonders. Alles wird still. Alle Geräusche scheinen mit der Sonnenscheibe hinuntergesogen zu werden. Alle Bewegungen erstarren. Es ist, als wäre man der Einzige, der nicht bemerkt hat, dass man sich in einem Standfoto befindet.