»Emilys neue beste Freundin nach Felicia wurde Julia, nicht wahr?«
»Ja. Aber über die beiden weiß ich nichts.«
Sara Svenhagen stand abrupt auf. »Dann danke ich dir, Vanja. Kannst du Julia hereinschicken?«
Vanja ging zur Tür. Sie sah noch jünger aus als auf ihrem Weg in die umgekehrte Richtung vor einigen Minuten.
War es wirklich so anstrengend?, dachte Sara und sah ihr nach. War die Pubertät für Mädchen tatsächlich so hart? Vanja öffnete die Tür, und Julia schlenderte herein, dunkel, derb und schlaksig auf eine fast jungenhafte, rockige Hip-Hop-Weise. Hinter ihr an der Tür drängten sich wieder neugierige Klassenkameraden. Einer der Jungen trug ein leuchtend rotes langärmeliges T-Shirt. Saras Blick blieb einen kurzen Augenblick daran hängen, wortlos und gedankenlos, nur wie an einem Fliegenfänger für ihre Aufmerksamkeit.
Dann kam wieder Leben in sie. »Jonatan Jansson!«, rief sie mit der militärischsten Stimme, derer sie fähig war.
Das knallrote T-Shirt erstarrte in der Türöffnung. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sein Träger sich in ihre Richtung drehte.
Obwohl ihre Herzschläge vermutlich im Bruchteil einer Sekunde die Frequenz verdoppelt hatten, gelang es Sara Svenhagen, ihre Stimme wieder auf einen umgänglicheren Tonfall einzustellen. Sie sagte: »Dieses T-Shirt hattest du gestern nicht an, oder?«
»Doch«, erwiderte Jonatan Jansson piepsig.
»Aber nicht, als wir uns unterhalten haben. Da hattest du deinen grünen Fleecepulli an.«
»Da war es ja Abend, und es war kalt.«
»Aber gestern um diese Zeit, als ihr im Wald wart, um Emily zu suchen, da hattest du dieses rote Shirt an?«
»Ja«, sagte Jonatan Jansson.
Sara aktivierte erneut ihre militärische Stimme und sagte: »Kannst du sofort diesen Fleecepulli holen und anschließend Daniel Lindegren, Albin und Alvin Gustafsson sowie Jesper Gavlin herbringen?«
Das rote Hemd verschwand wie der Fuchs bei einer Treibjagd, und Sara wandte sich Julia Johnsson zu, die ebenfalls in der Bewegung erstarrt war und mitten im Raum stand.
Sara zeigte streng auf sie, während sie in einem dicken Stapel Papier blätterte. Sie fand, was sie suchte, tippte darauf und sagte: »Aus deiner gestrigen Aussage, Julia: >Wir sahen Astrid ein paar Mal in der Entfernung, und dann sah ich Anton, Jonatan und Sebastian ein Stück, was ist das, ja nördlich von uns, ich erkannte Jonatans bescheuerten militärgrünen Fleecepulli. Dann kamen wir runter zum Fluss.«
Julia starrte Sara an. Schließlich sagte sie, wie nach einem lang ersehnten Einatmen: »Den bescheuerten Fleece trägt er ständig.«
Sara Svenhagen nickte und beobachtete ihre ebenfalls verstummte Kollegin. Lena Lindbergs dunkle Augenbrauen waren hochgezogen, dem Anschein nach vor allem aus Sorge über den mentalen Zustand ihrer Kollegin.
Da stürmte ein rotes T-Shirt herein, gefolgt von einem Zwillingspaar und einem großen und einem kleinen Vierzehnjährigen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, stöhnte Jesper Gavlin. »Was für Penner seid ihr eigentlich?«
»Deine Aussage gestern, Jesper«, sagte Sara und las: »Albin oder Alvin schrie auf, ich kann sie nie auseinanderhalten, und sagte, er hätte einen Elch gesehen. >Es kann kein Elch gewesen sein<, sagte ich, >die sind ja riesig, du würdest dir in die Hose scheißen.< >Ich hab ihn auch gesehen<, sagte Chicken-Daniel. >Aber ich glaube, es war ein Hirsch, ich hab seinen Rücken gesehen, braungrün, wie ein Rothirsch.< >Haltet die Schnauze, ihr Nullen, sagte ich, und da wurde es still.<«
Die Zwillinge und der Kleine starrten den Großen gekränkt an. Der zuckte mit den Schultern und sagte: »Ja, verdammt, ihr seid doch Nullen. Ich mag euch ja trotzdem.«
»Der Elch«, sagte Sara.
»Ich glaubte, dass ich einen Elch gesehen habe«, sagte einer der Zwillinge. »Es war unheimlich.«
»Zieh den an«, sagte Sara zu Jonatan Jansson. Der tat, was ihm befohlen wurde. »Dreh dich um«, fuhr sie fort.
Er befolgte auch diesen Befehl und stand dann mit dem Rücken zu ihnen wie eine Wand aus militärgrünem Fleece.
»War es so ein Elch?«, fragte sie die Versammlung.
Der Zwilling sah nur verwirrt aus, aber der Kleinste im Kreis, Daniel Lindegren, sagte: »Der Rothirsch.«
»Braungrün«, nickte Sara.
»Ja, so kann es gewesen sein«, sagte Daniel.
»Aber ich hatte doch mein rotes T-Shirt an«, sagte Jonatan und drehte sich um.
»Sie haben nicht dich gesehen«, sagte Sara Svenhagen, ließ die ganze Bande abtreten und wählte eine Nummer auf ihrem Handy.
»Ja«, drang es flüsternd an ihr Ohr.
»Gunnar«, sagte Sara. »Wenn du bei Sten Larsson oder einem anderen deiner Waldschrate bist, check mal, ob einer von ihnen einen militärgrünen Fleecepulli besitzt.«
»Das ist gerade nicht meine größte Sorge«, flüsterte Gunnar Nyberg und war weg.
Sara streckte sich, legte das Handy auf den Tisch und sagte: »Und jetzt, Julia, reden wir über Nacktfotos im Internet.«
Gunnar Nyberg schob das Handy in die Jackentasche und schlich geduckt weiter durch den Wald bei dem kleinen Dorf Vallsäter. Ein paar hundert Meter vor ihm war das ziegelrote Dach eines abgelegenen Häuschens zu erkennen.
Das des dritten und letzten Waldschrats.
Er schlich näher heran, so schnell und so leise er konnte. Der Wald war dicht, überall lagen Äste. Es war schwierig, ihnen auszuweichen. Er hatte das Gefühl, gewaltigen Lärm zu verursachen. Ein Mähdrescher unterwegs im Wald, dachte er und versuchte, schneller voranzukommen.
Sobald Sten Larssons Haus vor ihm lag, suchte er Deckung hinter dem dicksten Baumstamm, den er finden konnte. Vorsichtig zog er den Reißverschluss seines alten Lumberjacks herunter. Die Jacke musste offen sein. Er schob die Hand ins Innere, knöpfte das Achselholster auf, nahm die Pistole heraus und entsicherte sie. Dann steckte er sie zurück und sah zum Haus hinauf.
Auf den ersten Blick wirkte es verlassen, keine Bewegung, keine Veränderung. Aber da war etwas, was nicht unbedingt seiner überhitzten Einbildung entsprang. Im Fenster spiegelten sich Bäume, Himmel und Bäume, und dann bewegte sich ein Baum.
Nur ein klein wenig. Nicht wirklich auffällig. Aber es war windstill. Der Baum konnte sich nicht bewegt haben.
Gunnar Nyberg schlich näher heran. Vorne an der Hausecke hörte er das erste Geräusch. Ein Knarren. Ein Schritt auf einem Holzfußboden? Er beugte sich vor und blickte rasch um die Ecke. Eine Treppe führte zu einer kleinen Veranda vor der Haustür. Vermutlich führte auf der anderen Seite der Veranda eine entsprechende Treppe hinunter. Und die Haustür war angelehnt.
Nyberg fingerte am Achselholster. Reingehen oder nicht? Er zog sich zurück, den Rücken an der Hauswand. Er wollte die Waffe nicht ziehen. Er hasste Schusswaffen. Es war noch nicht lange genug her, seit er einen Menschen erschossen hatte.
Er wartete. Er wollte nicht warten. Das bedeutete, passiv die Zerstörung abzuwarten. Hineinzustürmen bedeutete anderseits, die Zerstörung aktiv zu beschleunigen. Ein ganz unmöglicher, unerträglicher Entschluss.
Den er nicht zu ertragen brauchte.
Die Tür glitt auf. Ein sehr langer Stiefel schob sich auf die Veranda. Ein Arm mit einem zusammengeklappten Laptop darunter. Und dann ein gebräuntes, aristokratisches Gesicht, das sich umsah.
Ihre Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Im selben Augenblick, in dem Carl-Olof Strandberg die Treppe auf der anderen Seite hinunterstürmte, rief Gunnar Nyberg: »Stehen bleiben, oder ich schieße.«
Aber als er in wenigen Sätzen die Treppe hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinuntersprang, hatte er seine Waffe noch nicht gezogen. Er hatte sie auch noch nicht gezogen, als er Strandberg über das verwahrloste Grundstück zu einem Felsblock laufen sah. Als der einstige Kinderarzt den Laptop über den Kopf hob, hielt er sie jedoch in der Hand.
Nyberg richtete die Pistole auf Strandbergs Rücken und brüllte: »Rühr dich verdammt noch mal nicht von der Stelle, du Scheißhaufen!«
Strandberg hielt den Laptop immer noch hoch über den Kopf. Die Situation hätte blockiert sein sollen, angehalten. Aber als Strandberg den Laptop mit voller Kraft auf den Felsen schleuderte, wurde Gunnar Nyberg klar, dass er es wert war. Dass es Strandberg tatsächlich einen Schuss in den Rücken wert war, diesen Computer zu zerstören. Dass er es wert war, dafür zu sterben.
Das Krachen, mit dem der Laptop auf den Felsen aufschlug, war von der scheppernden Art, die einem unmissverständlich klar werden ließ, dass vitale Teile zerbrochen waren. Als der schwere Fischerstiefel angehoben wurde, um die Bruchstücke in noch kleinere Stücke zu zertrampeln, hatte Nyberg schon gezielt. Nicht mit der Pistole.
Er hatte sich geschworen, nie mehr auf einen Menschen zu schießen.
Nur wenige Millimeter trennten den Stiefel noch vom Laptop, als Nyberg Strandberg rammte. Sie flogen in einem sonderbar langsamen Bogen über den Felsblock.
Gunnar Nyberg hatte abgenommen und trainiert. Kilometer um Kilometer war er gelaufen und hatte Kilo um Kilo verloren. Aber ist man einmal zu Schwedens größtem Polizisten gewählt worden, behält der Körper eine gewisse Schwere. Er landete auf dem früheren Kinderarzt und hörte dessen Kopf mit einem knackenden Laut auf eine Felskante schlagen.
Nyberg blieb einen Augenblick auf ihm liegen. Der Körper unter ihm schien leblos. Nyberg drehte Strandbergs Kopf zur Seite und tastete mit zitternder Hand nach der Halsschlagader. Sie pulsierte, ziemlich schnell zwar, aber deutlich und regelmäßig. Er richtete sich in eine hockende Stellung auf und drehte Strandberg auf den Rücken. Ein roter Fleck wuchs ihm auf der Stirn, aber es floss kein Blut. Und der Puls blieb deutlich. Der Mann schien ordentlich ausgeknockt zu sein.
Gunnar Nyberg stand auf und atmete aus. Er sicherte die Pistole und steckte sie zurück in das Achselholster. Dann wandte er sich um. Der zerstörte Laptop lag schräg auf einer abschüssigen Partie des Felsens. Langsam glitt ein Teil aus dem zerstörten Gerät. Nyberg fing es auf und betrachtete es.
Die Festplatte.
Sie sah nicht stark beschädigt aus.
Er fummelte ein Taschentuch aus der Hosentasche, wickelte die Festplatte ein und steckte sie vorsichtig in die leere Tasche seines Lumberjacks. Aus der anderen Tasche zog er sein Handy. Er beobachtete Carl-Olof Strandberg, der reglos dalag. Die Gefahr, dass er zu sich kam, war minimal.
Nyberg gestattete sich ein gewisses Gefühl von Zufriedenheit. Zwar hatte er ein wenig spät reagiert, aber als die Einsicht einmal da war, lief es wie geschmiert. Strandberg hatte die Kartenskizze absichtlich so umständlich angelegt, dass Nyberg aufgehalten würde, während er selbst längst bei Sten Larssons Haus angekommen wäre und den Laptop weggeschafft hätte. Alles hatte gepasst von dem Augenblick an, als Nyberg begriffen hatte, was da in Carl-Olof Strandbergs Blick aufgeblitzt war.
Auf dem Weg zum Haus wählte Nyberg eine Nummer. Während die Verbindung aufgebaut wurde, stieg er die Treppe hinauf und ging ins Haus. Er trat zu einem Schreibtisch und sah auf die Wand darüber. Er nahm gerade eine gerahmte Fotografie von der Wand, als Sara sich im Telefon meldete: »Ja, Sara.«
»Militärgrüner Fleecepulli?«, sagte Gunnar Nyberg. Einen Moment lang war es still.
»Du hörst dich ein bisschen komisch an«, sagte Sara schließlich.
»Ich habe ein Foto hier«, sagte Nyberg und hörte sich weiter komisch an. »Ein großer Lachs aus dem Ängermanälv zwischen einem Carl-Olof Strandberg im Angleroutfit und einem anderen Mann, der Sten Larsson sein dürfte. Er trägt die Angelrute und einen militärgrünen Fleecepulli.«
»Bingo«, stieß Sara aus.
»Du sagst es. Und ich glaube, wir brauchen auch einen Krankenwagen«, sagte Gunnar.
10
Ein Mann sieht ein Paar durch ein Fenster. Er steht mehrere Stockwerke hoch und schaut hinaus in den regnerischen Sommermorgen. Sein Blick erfasst das Paar im oberen Teil des Kronobergsparks. Sie stehen unter einem Regenschirm zwischen den Bäumen, wahrscheinlich sind ihre Hände ineinander verflochten. Dann lassen sie sich los und gehen auseinander, in verschiedene Richtungen, widerwillig getrennt, wie um nicht gesehen zu werden. Das Seltsame ist, dass sie gerade da gesehen werden. Von dem Mann im Fenster. Sein Name ist Paul Hjelm, und in ebendiesem Augenblick weiß er nicht, was er empfinden soll. Zuerst folgt sein Blick der Frau. Galanterweise ist sie es, die den Schirm mitnehmen darf. Sie läuft mit leichten Schritten hinunter zur Polhemsgata, und er denkt, er sollte sich darüber freuen, dass Kerstin Holm endlich jemanden gefunden hat, den sie lieben kann. Oder sollte er eher eine gewisse Trauer darüber spüren, dass es mit ihnen nichts wurde? Dass aus Paul Hjelm und Kerstin Holm kein Paar wurde? Wie einmal vor sieben Jahren. Und unzählige Male im Verlauf dieser Jahre, allerdings rein beruflich. Oder sollte er sogar einen Anflug von Eifersucht spüren? Aber eher doch wohl eine andere Art von Trauer. Er sieht dem Mann nach, der zur Bergsgata hinunterläuft, und denkt: Ich sollte Trauer verspüren über das makabre Spiel des Zufalls. Er sieht Bengt Äkesson um die Ecke verschwinden und hört eine allzu gut bekannte Stimme sagen: »Bengt Äkesson also. Kennst du ihn?«
Paul Hjelm verharrt noch einige Sekunden in diesem herausgehobenen Augenblick von widerstreitenden, aber starken Gefühlen.
Dann wandte er sich dem gut gekleideten Mann zu, der gerade mit der Hacke die Tür schloss, während er mit einem Tablett jonglierte, auf dem zwei randvolle Kaffeetassen standen.
»Gullan ist auf Mallorca«, sagte er entschuldigend und schaffte es, das Tablett auf seinem Schreibtisch abzusetzen, ohne dass ein Tropfen überschwappte.
Wie werde ich jemals über die Tatsache hinwegkommen, dachte Paul Hjelm, dass mein Vorgesetzter Niklas Grundström, Chef der Abteilung für Interne Ermittlungen bei der Polizei, eine Sekretärin hat, die Gullan heißt?
Er selbst war nur Chef der Stockholmsektion für Interne Ermittlungen. Und seine Sekretärin hieß Britta.
Gullan und Britta. Wo sind wir denn? Bei den Kindern von Bullerbü?
Mit dem Untertitel: Wir männlichen Chefs mit weiblichen Sekretärinnen...
»Ja«, sagte Paul Hjelm und setzte sich auf ein entsprechendes Zeichen in den etwas niedrigeren Besucherstuhl, »ich kenne Bengt Äkesson. Kommissar beim Dezernat für Gewaltverbrechen bei der Kripo Stockholm.«
Und Kerstin Holms Liebhaber.
Unterließ er zu sagen.
Grundström verteilte die Kaffeetassen mit eigentümlich abgespreiztem kleinen Finger und sagte: »Ich habe nicht gefragt, ob er dir bekannt ist. Ich wollte wissen, ob du ihn kennst.«
»Nein«, sagte Paul Hjelm. »Kennen tue ich ihn nicht.«
»Gut«, sagte Niklas Grundström und blies vorsichtig auf seinen Kaffee. »Es ist ein heißes Eisen. Die Anzeige kam vor einer Viertelstunde.«
»Sexuelle Belästigung?«
»Ja«, sagte Grundström, »überhaupt nicht gut.«
»Nein«, sagte Hjelm. »Aber wahrscheinlich?«
»Wir müssen wie üblich vorurteilslos an die Sache herangehen. Deshalb die Frage, ob du ihn kennst. Eine Frau namens Marja Willner hat Bengt Äkesson wegen sexueller Belästigung angezeigt, und zwar während einer Vermisstenmeldung nach ihrem verschwundenen Mann, die sie gestern Nachmittag gemacht hat.«
Nachdem Hjelm den verschlungenen Satz für sich geordnet hatte, antwortete er: »Hat sie sich nicht spezifischer geäußert?«
»Doch. >Er hat meine Brüste betatscht und Massen von obszönen Dingen gesagt, die er mit mir machen wollte.< So ungefähr. Ich habe die Aufzeichnung ihrer Anzeige direkt auf dein Handy weitergeleitet. Wunder der Technik.«
»Ich gehe davon aus, dass Diskretion angesagt ist?«
»Hast du Zeit, es persönlich zu übernehmen?«, fragte Grundström und schaute zum ersten Mal von seinem Kaffee auf. »Ich will da keinen anderen einschalten. Es kann ein mediales Spießrutenlaufen werden. Peinlich genaue Sorgfalt und totale Diskretion sind angesagt.«
Paul Hjelm legte eine kurze Pause ein. Damit es den Anschein hatte, als dächte er nach. Eigentlich dachte er darüber nach, warum er diesen Fall unbedingt haben wollte. Aufgrund früherer Erfahrungen als interner Ermittler hätte er jede Verbindung zu seinen ehemaligen Kollegen in der A-Gruppe scheuen sollen wie die Pest. Aber es war wohl ganz einfach aufgrund dessen, was er im Kronobergspark gesehen hatte.
Um Kerstin Holm zu schützen.
Redete er sich ein.
»Ich klemme es schon irgendwie dazwischen«, sagte er.
»Gut«, sagte Grundström und lehnte sich zurück. »Und die Lage sonst?«
Persönliche Töne waren nicht Niklas Grundströms Sache. Seine Frage klang völlig desinteressiert.
Hjelm fand nicht, dass die Situation danach war, mit der Tradition zu brechen, deshalb stand er auf und antwortete: »Gut. Wir sollten Äkesson besser nicht allzu lange warten lassen.«
Grundström nickte und sagte: »War was mit dem Kaffee nicht in Ordnung?«
»Nur das Timing«, sagte Hjelm und verließ den übermächtigen Raum. Er verursachte ihm immer Beklemmungen.
Ja, wie war die Lage eigentlich? Wie sah sein Leben aus? Die Arbeit nahm viel zu viel Zeit in Anspruch, als dass er mit gutem Grund behaupten könnte, ein Leben zu haben. Aber mit echter polizeilicher Ermittlungstätigkeit hatte er schon lange nicht mehr zu tun gehabt. Es war schwer, Frauen zu treffen - er wusste tatsächlich nicht, wo er sie finden sollte -, und außerdem war sein amouröser Enthusiasmus ins Stocken geraten. Es war ein Mysterium, nicht zuletzt deshalb, weil er überzeugt war, der Sinn des Lebens hinge von der Liebe ab. Doch es gab immer wieder Hindernisse. Dabei sollte es so einfach sein.
Außerdem spukten die Erlebnisse des vergangenen Jahres noch in seinem Kopf herum, als seine Exfrau Cilla Opfer eines Verbrechens geworden war. Im Unterschied zu ihm schien Cilla ihr Leben jetzt jedoch wieder zu genießen. Die Kinder Danne und Tora hatten durchblicken lassen, dass sie einen Mann getroffen hatte, aber mehr als das wusste er nicht. Jetzt, da die Kinder erwachsen und ausgezogen waren, hatte er kaum noch Kontakt zu Cilla. Und das war wohl auch gut so.
Nach einem langen Spaziergang, auf dem er sich Marja Willners Anzeige am Handy angehört hatte, gelangte er zur Abteilung der Stockholmer Länspolizei im großen Polizeipräsidium auf Kungsholmen. Er fand Bengt Äkessons Zimmer und klopfte an.
Äkesson, der gerade seine nasse Jeansjacke weghängte, erstarrte, als er Paul Hjelm in der Türöffnung sah. Aber ganz bestimmt aus den falschen Gründen. Vermutlich hatte Kerstin von ihrer gemeinsamen Vergangenheit erzählt.
»Was verschafft mir die Ehre?«, sagte Äkesson eine Spur zu flott und streckte die Hand aus. »Hab ich was ausgefressen?«
»Ja«, sagte Paul Hjelm ohne Umschweife und schüttelte die ausgestreckte Hand.
»Was?«, stieß Äkesson aus. »Ist das dein Ernst?«
»Können wir uns setzen?«, sagte Hjelm und versuchte, neutral zu bleiben. Es durfte keine Rolle spielen, ob dieser Mann letzte Nacht leidenschaftlichen Sex mit Kerstin Holm gehabt hatte oder nicht. Nicht die geringste Rolle.
Nachdem er, als Vorspiel, eine arme Frau, deren Mann verschwunden war, sexuell belästigt hatte.
Nein, weg mit so schäbigen Gedanken, dachte Paul Hjelm und sagte: »Du hast gestern am späten Nachmittag zwischen ungefähr fünf und halb sechs die Vermisstenmeldung einer Frau namens Marja Willner nach ihrem verschwundenen Mann aufgenommen. Stimmt das?«
Äkesson blinzelte und sagte: »Ach du meine Güte.«
»Du scheinst zu begreifen, dass es ernst ist?«
»Was hat sie gesagt?«
»Erzähl du es erst mit eigenen Worten.«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Ihr Mann war verschwunden. Ich machte Überstunden und nahm ihre Meldung entgegen. Es ging vollkommen ruhig zu.«
»Du hast nichts getan, was man als unangebracht bezeichnen könnte?«
»Absolut nicht«, sagte Äkesson in einem bombensicheren Ton, sah aber alles andere als sicher aus. »War sie hübsch?«, fragte Hjelm. »Das weiß ich nicht.«
»Nun komm schon. Wir beide wissen, wie eine hübsche Frau aussieht.«
»Vielleicht«, sagte Äkesson zögerlich. »Also war sie hübsch?« »Ja, okay, sie war wirklich hübsch.« »Geradezu sexy?«
»Tja...«
»Und es ist spät, und man hätte schon Feierabend machen sollen, und dann taucht sie auf mit einem Scheißanliegen und sitzt da und weckt einen da auf der anderen Seite des Schreibtischs, und man versinkt in Fantasien über ihren Körper.«
»Ich bin nicht in Fantasien versunken.«
»Nein, wenn man müde ist, ist es schwer, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Am Ende weiß man nicht genau, ob die Hand, die ihre Brust streichelt, wirklich oder eingebildet ist.«
»Jetzt mach mal halblang«, sagte Äkesson. »Ich bin ein genauso erfahrener Vernehmungsleiter wie du, Paul, und dies hier ist nicht einmal ein Verhör. Also keine billigen Tricks, bitte.«
»Worin bist du denn versunken, wenn es keine Fantasien waren?«
»In Reflexionen. Darüber, wie Menschen sich begegnen. Und nicht begegnen.«
»Erkennst du die Sätze >Ihre Schönheit ist vermutlich eine Bedrohung< und >Sie kleiden sich ziemlich aufreizend<?«
Hjelm beobachtete Äkesson aufmerksam.
Sein Blick flackerte einen Augenblick, dann fasste er sich und sagte: »Ich habe nichts weiter zu sagen, bis ich die Vorwürfe im Einzelnen gehört habe. Und nicht, bevor es sich um ein ordentliches Verhör handelt. Und dann möchte ich einen Anwalt dabeihaben.«
»Das ist dein gutes Recht«, sagte Hjelm. »Ich hatte nur gedacht, dass wir uns vorher ein wenig informell unterhalten könnten.«
»Was soll ich denn getan haben?«
»Es geht um verbale und körperliche sexuelle Belästigung.«
Äkesson stöhnte auf, und Hjelm fuhr fort: »Angenommen, es ist nicht wahr. Angenommen, dass dir kein einziger sexistischer Spruch während des Gesprächs mit dieser sexy Frau über die Lippen gekommen ist - was für ein Motiv könnte sie haben zu lügen?« »Keine Ahnung.«
Paul Hjelm bremste sich erneut. »Ich glaube, ich bin gerade darauf gekommen«, sagte er.
»Weshalb sie lügt?«
»Ich weiß nicht, ob sie lügt. Das werde ich herausfinden. Aber ich glaube, dass dir ihr Motiv gerade klar geworden ist. Dir ist eine Einsicht gekommen.«
»Jaja«, sagte Äkesson sauer. »Ich weiß, dass du gut bist, Hjelm. Ich weiß auch, dass du gern brillierst. Aber jetzt sage ich nichts mehr.«
»Gut«, sagte Hjelm und stand auf. »Du hast ein bisschen Zeit, um deine Gedanken zu sammeln. Wir machen später ein richtiges Verhör, ich ruf dich an und sag dir, wann. Dann erhältst du Einsicht in den vollen Wortlaut der Anzeige. Aber wenn du einen Anwalt mitbringst, wird es hochoffiziell. Und auf gar keinen Fall darfst du in irgendeiner Form Kontakt zu Marja Willner aufnehmen.«
Paul Hjelm verließ den Raum.
Bengt Äkesson saß auf seinem Stuhl wie festgewachsen. In seinem Herzen tobte das Chaos. Er hatte eine fantastische Nacht mit Kerstin Holm verbracht, aber seine Gedanken mussten zurück, durch das Fantastische hindurch und auf der anderen Seite wieder heraus. Aus dem Paradiso ins Inferno. Er versuchte, Klarheit in die Situation mit Marja Willner zu bringen. Zwar hatte er beides gesagt, >Ihre Schönheit ist vermutlich eine Bedrohung< und auch den Satz >Sie kleiden sich ziemlich aufreizend<. Aber sonst? Er hatte angenommen, dass der eifersüchtige Ehemann Grund für sein Misstrauen hatte, dass sie ein spezielles Verhältnis zu Männern habe und sie wegscheuchen musste wie Fliegen. Vielleicht war all das in seinem Blick zu sehen gewesen, vielleicht hatte es für eine Anzeige ausgereicht. Aber er hatte sie nicht angefasst. Wo verlief die Grenze des Übergriffs?
Und vor allem: Wer beging ihn?
Sein Handy klingelte. Kerstin, dachte er und meldete sich. Was zum Teufel sollte er Kerstin erzählen?
Aber die Stimme, die im Handy erklang, war dunkel, fast singend. Eine Soulstimme.
»Ich weiß, dass Steffe Ihnen scheißegal ist«, sagte die Stimme klar und deutlich.
»Marja Willner«, sagte Äkesson heiser. »Was haben Sie getan?«
»Ich habe an Ihrem Blick gesehen, dass Steffe ganz tief unten im Stapel landen würde. Ich bin bereit, einiges für meinen Mann zu tun.«
»Aber...«
»Wenn Sie Tempo machen und sofort nach Steffe suchen, ziehe ich meine Anzeige zurück. Sobald ich ein Ergebnis sehe.«
»War mein Blick wirklich so furchtbar?«
»Er war wie der aller Männer«, sagte Marja Willner gleichgültig. »Machen Sie jetzt Dampf.«
Und weg war sie. Bevor er auch nur auf den Gedanken kommen konnte, das Gespräch aufzunehmen. Und das war natürlich beabsichtigt.
Es gibt viele Arten, Macht auszuüben, dachte Bengt Äkesson. Und viele Arten, der Macht zu begegnen.
Er betrachtete das Handy in seiner Hand. Es zitterte. Es kam ihm plötzlich in den Sinn, wie unglaublich lange es her war, dass seine Hand gezittert hatte. Und dann wählte er die Nummer.
»Kerstin«, kam es kernig aus dem Handy. »Hej, ich bin's«, sagte Äkesson.
»Ja hej«, sagte Kerstin Holm, und ihre Stimme öffnete sich wie eine Blume.
Das genügte Bengt Äkesson. Seine Hand zitterte nicht länger. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich an dich denke«, sagte er.
»Ich auch an dich«, sagte Kerstin und legte auf.
Sie betrachtete die beiden Herren, die ihr am Schreibtisch gegenübersaßen. Diese wohlbekannten Mienen, dachte sie. Schon ihre bloße Anwesenheit tut mir gut. Und doch hatte sie nicht die geringste Absicht, ihnen Einblick in ihr Privatleben zu gewähren.
»Aber weswegen?«, sagte Viggo Norlander. »Du verdächtigst also die Mutter des Mädchens? Und weswegen?«
Kerstin Holm zog die Augenbrauen hoch. »Verdächtigen ist ein viel zu starkes Wort«, sagte sie. »Ich wollte mich nur mit meinen routiniertesten Ermittlern beraten. Bin ich total auf dem Holzweg?«
Arto Söderstedt ließ die Hand durch sein strähniges weißes Haar gleiten und sah nachdenklich aus. Aber er sagte kein Wort.
An seiner Stelle fuhr Norlander fort: »Dein Verdacht gründet sich also darauf, dass sie sich diese Wohnung in Hammarby Sjöstrand eigentlich nicht leisten können dürfte?«
»Das ist, wie gesagt, kein Verdacht.«
»Dann eine Ahnung«, sagte Norlander ungeduldig. »Ein Reflex, ein Instinkt, ein Bauchgefühl. Was auch immer. Eine wilde Spekulation.«
»Nicht nur«, sagte Holm. »Birgitta Flodberg legte auch eine nicht ganz gewöhnliche Distanz an den Tag. Als hätte sie sich nie so recht um ihre Tochter gekümmert. Es ist schwer, genau den Finger daraufzulegen.«
Söderstedt schien endlich zu Ende gedacht zu haben. Er hob die Hand und zeigte auf Kerstin Holms Handy. »Das da«, sagte er, »war ein Liebesgespräch.«
»Was?«, stieß Kerstin aus.
»Hast du jemanden getroffen, Kerstin? War auch Zeit, falls es so ist.«
»Ich bin auf nichts anderes aus als auf deinen Scharfsinn im Fall Emily Flodberg. In jeder anderen Hinsicht darfst du gern Autist sein.«
»Nicht herausreden jetzt, Chefin.«
»Gleichfalls«, sagte Kerstin Holm und unterdrückte ein Lächeln. »Was sagst du zu Birgitta Flodberg, Arto?«
»Ich habe sie nicht getroffen. Ich weiß es nicht. Aber deine Instinkte sind in der Regel mindestens so gut wie meine. Wir sollten sie vielleicht gemeinsam besuchen.«
»Genau daran habe ich auch gerade gedacht.«
»Wir haben ja im Moment nicht so viel zu tun«, sagte Söderstedt. »Du hast alle außer uns an die Arbeit geschickt.«
»Du weißt ja, wie es zugeht in der Premier League. Wer die beste Auswechselbank hat, wird Meister. Raus jetzt. Nach der Mittagspause fahren wir zu ihr. Falls nichts Unvorhergesehenes eintrifft.«
»Das Spiel ohne Ball«, nickte Viggo Norlander todernst, stand auf und zog seinen Kollegen mit sich hinaus auf den Flur der A-Gruppe.
Kerstin Holm blieb noch eine Weile am Schreibtisch sitzen und redete sich ein, dass sie nachdachte. Aber eigentlich ging ihr kein einziger Gedanke durch den Kopf. Vielleicht eine Ahnung - oder nur eine Spekulation -, dass etwas mit Bengt Äkessons Anruf nicht stimmte. Etwas mit seiner Stimme.
Dann gab sie sich einen Ruck und stand auf. Sie trat hinaus auf den trostlosen Siebzigerjahreflur, ging ein paar Türen weiter und betrat, ohne anzuklopfen - Privileg des Chefs -, Raum 304.
Dort saßen drei Personen vor einem Computer. Es war wie im Obduktionssaal. Der Computer war gründlich auseinandergenommen, und aus dem hüllenlosen Inneren liefen kürzlich dort befestigte Minikabel zu einer zusätzlichen Tastatur, die auf dem Schoß eines unbekannten Mannes lag. Der hatte zerzauste Haare, und seine Füße lagen auf dem Schreibtisch. Über der regulären Tastatur saß das ungleichste Paar des gesamten Polizeikorps, Jorge Chavez, 169 cm, und Jon Anderson, 203 cm.
»Wie sieht es aus?«, fragte Kerstin Holm.
»Weiß nicht recht«, sagte Chavez, »wie sieht es aus, Löfström?«
»Nicht schlecht«, sagte der Zerzauste und kaute auf einem Bleistift. Seine Mundwinkel waren schwarz vom Blei. Und das schien noch das Gesündeste an ihm zu sein.
»Nicht schlecht«, wiederholte Chavez und nickte.
»Du bist also der Computerexperte, den uns die Reichspolizeiführung versprochen hat?«, sagte Holm und streckte die Hand aus.
Der Zerzauste errötete und schüttelte ihre Hand. »Axel Löfström«, sagte er. »EDV-Techniker bei der Finanzpolizei.«
»Ja, die haben Computerhilfe sicher bitter nötig«, sagte Holm. »Was heißt >nicht schlecht<?«
»Das hier ist ein äußerst komplexes Schutzsystem«, sagte Löfström. »Es sagt die Wahrheit. Die Daten auf der Festplatte werden tatsächlich gelöscht, wenn man dreimal ein falsches Passwort eingibt. Das Programm beinhaltet eine Hardwarealteration. Aber es soll eine Möglichkeit geben, diese zu umgehen, ich habe ein paar grundlegende Tipps vom FBI bekommen, ausgerechnet. Wir kommen voran. Es sieht nicht schlecht aus.«
Jon Anderson entfaltete seine stattliche Gestalt, streckte sich, dass es in allen Gelenken knackte, und sagte durch ein unterdrücktes Gähnen hindurch: »Aber es gibt ein Fragezeichen.«
»Ja?«, sagte Kerstin Holm.
»Die Kriminaltechniker haben fremde Substanzen an dem Computer gefunden.«
»Was denn? Rauschgift? Sperma?«
»Wir sollten uns vielleicht dem Wesentlichen widmen?« sagte Chavez und starrte wie hypnotisiert auf den Monitor.
»Babynahrung«, sagte Jon Anderson dramatisch. »Genauer gesagt, Fleischklößchen mit Zucker.«
»Zucker?«, stieß Chavez empört aus.
»Hmm«, sagte Kerstin Holm wie Sherlock Holmes und fixierte Chavez. »Und was ist das Wesentliche? Wenn ihr noch nicht in den Computer hineingekommen seid?«
»Hineinzukommen«, sagte Chavez mit überdeutlicher Artikulation, den Blick noch immer wie gebannt auf den erloschenen Monitor gerichtet.
»Und das tut man also, indem man ihn hypnotisiert?«
»Das tut man, indem man nicht dauernd gestört wird.«
»Aha«, sagte Holm und unterdrückte schon wieder ein Lächeln. »Ruf mich sofort an, wenn ihr drin seid.«
Worauf sie den Schauplatz der Katastrophe verließ und durch den Korridor zurückging. Einen Moment lang dachte sie daran, wie es eigentlich um das einzige verheiratete Paar der A-Gruppe bestellt war. Gab es nicht jedes Mal eine seltsame atmosphärische Störung, wenn Jorge Chavez Sara Svenhagen erwähnte und umgekehrt?
Aber das waren zu viele Vermutungen auf einmal.
Wilde Spekulationen.
>Zucker?<
Kerstin Holm kehrte in ihr Zimmer zurück. Tatsache war, dass sie um den Schreibtisch gehen und sich auf ihren Stuhl setzen konnte, bevor sie bemerkte, dass sie nicht allein war.
Auf einem Hocker in der Ecke saß Abteilungsleiter Waldemar Mörner, formeller Chef der A-Gruppe. »Ich stelle fest, dass zwei deiner Leute in ihrem Zimmer sitzen und Büroklammern nach Farben sortieren«, sagte er. »Rote in ein Fach, grüne in ein anderes und so weiter. Sie unterscheiden sogar zwischen türkis und hellblau. Außerdem sitzen zwei Männer über einen Computer gebeugt, der von einem kostenintensiven externen Experten bedient wird. Man kann nicht behaupten, dass deine Auslastung optimal ist.«
Kerstin Holm widerstand dem Impuls, eine Retourkutsche zu fahren, was den personellen Auslastungsgrad des Potentaten selbst betraf. Stattdessen sagte sie mit kluger Vorsicht: »Chavez und Anderson werden bald alle Hände voll damit zu tun haben, eine Festplatte im Detail zu untersuchen, Söderstedt und Norlander werden mir am Nachmittag helfen, ein paar wesentliche Fragen bezüglich des Milieus zu klären, in dem Emily Flodberg aufgewachsen ist. Aber damit können wir erst anfangen, wenn wir wissen, was auf ihrer Festplatte ist. Der Auslastungsgrad darf unter den gegebenen Umständen als optimiert angesehen werden.«
Nichts machte auf Waldemar Mörner mehr Eindruck als ein wohlformuliertes wirtschaftliches Argument - er widmete den größten Teil seiner Zeit dem Konstruieren solcher Argumente. Gleichwohl schüttelte er jetzt den Kopf, beugte sich vor und klatschte eine braune Mappe auf den Schreibtisch. »Zwei von ihnen müssen sich hiermit beschäftigen«, sagte er. »Man kann sich das Szenario von gestern Nacht ungefähr folgendermaßen vorstellen: der Monteliusväg, du weißt, dieser wunderschöne neue Spazierweg auf Mariaberget mit Aussicht über Riddarfjärden auf das Stadshus und ganz Stockholm. Es ist späte Nacht oder früher Morgen, wie man will, die Sonne hat ihr kurzes Bad in der Bucht beendet und steigt gerade wieder am Horizont herauf, in rosa- und orangefarbene Schleier gewandet, die ihren magischen Schimmer über das spiegelglatte Wasser werfen und die schlafende Stadt aufglühen lassen. Ein frisch verliebtes und eine Spur beschwipstes junges Paar ist nach einer nächtlichen Fiesta bei Freunden am Ringväg auf dem Weg nach Hause in die Bellmansgata. Umschlungen wandern die beiden, von der Münchenbryggeri-Seite kommend, den Monteliusväg entlang, fasziniert von der fabelhaften Aussicht. Auf einer Bank etwas weiter vorn, beim Tor zu Ivar Los Park, besser bekannt unter dem Namen Bastis, sitzt ein Mann. Sie sehen ihn erst, als sie über seine ausgestreckten Beine stolpern. Er trägt einen Hut mit breiter Krempe, tief in die Stirn gezogen, sein Kopf ist vorgeneigt, als schliefe er. Sie machen sich ein bisschen Sorgen, er sitzt so reglos da. Die junge Frau tippt ihm leicht an die Schulter. Keine Reaktion. Der junge Mann greift vorsichtig den Hut an der Krempe und hebt ihn an, um das Gesicht zu erkennen. Der Hut ist schwerer, als er sein sollte, aber daran denkt der Jüngling nicht in seinem leicht angesäuselten Zustand. Er hebt den Hut kräftig an. Und der Kopf kommt mit. Er kippt nach hinten, fällt herunter und bleibt auf dem Rücken an den Halswirbeln hängen. Das junge Paar starrt direkt auf die beiden Schnittflächen des durchgetrennten Halses.«
Mörner verstummte. Seine Wangen glühten vor Erzählerfreude.
»Huch«, sagte Kerstin Holm. »Und wenn wir es ein bisschen weniger poetisch und ein wenig stringenter machen?«
»Die Entdeckung erfolgte letzte Nacht, am 15. Juni um drei Uhr vierundfünfzig. Dem vorläufigen Bericht des Gerichtsmediziners zufolge war der Mann da bereits seit zehn Stunden tot, der Leichenstarre nach zu urteilen aber gerade erst auf die Parkbank gesetzt worden. Zum Glück stieß das junge Paar in der Bastugata auf einen Polizeiwagen, der dort Streife fuhr, warum auch immer man da Streife fährt, was dazu führte, dass das Geschehen fast ganz aus dem Polizeiradio heraus und folglich vor den Medien geheim gehalten wurde. Die Identität des Opfers ist noch nicht geklärt. Aber jetzt kommt der Grund, warum der Fall in den Aufgabenbereich der A-Gruppe gehört, was ihm einen internationalen Anstrich verleiht. Der Hals wurde mit einer dünnen Schnur vom Typ Klaviersaite durchtrennt. Nicht gerade ein schwedischer Standardmord.«
»Glatt durch?«
»Ja.«
»Die Kraft, die dafür nötig ist...«
»Die Kraft hat mich dazu veranlasst, mich auf den Fall zu stürzen«, sagte Waldemar Mörner.
»Du fängst an zu begreifen, wie wir denken«, sagte Kerstin Holm unbedacht.
Aber Mörner war nicht gekränkt, im Gegenteil, er leuchtete auf wie die Sonne. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass er seitens der A-Gruppe ein positives Urteil zu hören bekam. »Du willst ihn also haben?«, fragte er, möglicherweise ein wenig stichelnd. »Obwohl der personelle Auslastungsgrad unter den gegebenen Umständen als optimiert angesehen werden kann?«
Kerstin Holm schenkte ihm ein süßes Lächeln, und selten hatte Waldemar Mörner den Flur der A-Gruppe so zufrieden verlassen.
Sie blätterte Mörners braune Mappe durch und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Während sie ihre optimierten Arbeitstruppen zusammenrief, versuchte sie das Bild wegzuwischen, das sich auf ihrer Netzhaut eingeätzt hatte, >die beiden Schnittflächen des durchtrennten Halses<. Die Arbeitstruppen trafen ein, und als sie sich gesetzt hatten, fragte Kerstin vollkommen neutral: »Wie definiert man den Unterschied zwischen türkis und hellblau?«
Arto sah Viggo an, Viggo sah Arto an.
»Türkis hätte eine Nuance Grün«, sagte Arto Söderstedt.
»Hättet ihr nicht eine Arbeit vortäuschen können, als Mörner auftauchte?«
»Glaubst du nicht, dass er das mit der starken Auswechselbank versteht?«
»Jetzt ist jedenfalls Schluss mit der Bankdrückerei«, sagte Kerstin Holm und ließ eine Fotografie aus der braunen Mappe hinübersegeln. Viggo Norlander fing sie auf, fixierte sie und spürte, wie ihm der Mageninhalt hochkam.
Er reichte das Bild an Söderstedt weiter, der zog seine farblose linke Augenbraue hoch und sagte: »Au weia.«
»Also Schluss mit lustig«, sagte Holm. »Stellt fest, wer er ist, wer für eine solche Tat infrage kommen könnte und warum.«
Sie reichte Söderstedt die Mappe rüber, und er schob das Foto hinein. »Schlachtermesser?« »Klaviersaite, wie es scheint.«
»Heiliger Bimbam«, sagte Söderstedt.
»Jedenfalls ziemlich unmusikalisch«, sagte Holm und winkte ihre treuesten Untergebenen aus dem Zimmer.
Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und grübelte über das Wort >Auslastungsgrad< nach. Konnte es Waldemar Mörners eigene Wortschöpfung sein? Wachsende Kritik an seinem abstoßenden Sprachgebrauch hatte ihn zum Besuch eines längeren Rhetorikkurses veranlasst, den er eigentlich nicht hatte machen wollen. Doch das Gerücht, dieses windschnelle Ungeheuer, behauptete, er sei sofort auf den Geschmack gekommen. Inzwischen drückte er sich äußerst respektabel, beinahe lyrisch aus. Was zwar etwas langweiliger war, aber den Vorteil hatte, dass er seine Lyrismen gern eine Spur zu weit spannte. >Auslastungsgrad< konnte also durchaus seine Schöpfung sein.
Als zwei Telefone gleichzeitig klingelten, fühlte Kerstin Holm sich ein bisschen überausgelastet. Auf dem Display ihres Handys erschien der Name >Bengt< - das Haustelefon dagegen war nicht in der Lage, seine Quelle anzugeben.
Also griff sie zuerst zu diesem. »Kerstin Holm hier, bleib einen Moment dran.«
Ich tue unglaublich viel, wenn man bedenkt, wie wenig dabei rauskommt, dachte sie, legte den Hörer des Haustelefons ab und meldete sich am Handy. »Hej, Bengt.«
»Kerstin«, sagte Bengt.
Die Stimme war es, ja. Die Stimme. Das Gefühl, dass etwas mit seiner Stimme nicht in Ordnung war. Schlimme Vorahnungen.
»Ja?«, sagte sie vorsichtig.
Vickan ist zurückgekommen. Du musst verstehen, dass das, was du und ich heute Nacht miteinander hatten, sich nicht wiederholen kann.
Sagte er nicht. Aber so hallte es in ihrem Inneren wider.
»Ich bin auf dem Weg zu Paul Hjelm. Ich will nicht, dass du es von jemand anderem hörst.«
»Zu Paul? Und wieso?«
»Es ist eine Anzeige wegen sexueller Belästigung gegen mich eingegangen.«
»Was sagst du da? Das ist nicht dein Ernst!«
»Du weißt, dass ich unschuldig bin«, sagte Bengt Äkesson unglücklich. »Eine halbe Stunde nach dem angeblichen Vorfall haben du und ich an meinem Herd gestanden, Lachs gebraten und uns berührt.«
»Und was willst du jetzt von mir hören?«
»Dass du mir glaubst. Und dass du mir die Daumen drückst.«
Kerstin Holm schwieg eine Weile und schüttelte dann den Kopf. Es kam ihr vor, als ob er sich löste und nach hinten fiele und an den Halswirbeln hängen bliebe. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Und ich drücke dir die Daumen. Paul Hjelm wird aufgrund einer falschen Aussage kein Urteil fällen.«
»Nein«, sagte Äkesson. »Nein, vielleicht nicht. Ich muss jetzt Schluss machen, ich stehe vor seiner Tür. Ich drück dich.«
Dann war er weg. Kerstin schloss die Augen und dachte über das makabre Spiel des Zufalls nach. Leider zeigten die Zufälle eine Tendenz, Zusammenhänge zu bilden, wenn die A-Gruppe sich ihnen näherte. So viel hatte sie gelernt.
Dann griff sie nach dem Hörer des Haustelefons und sagte matt: »Ja?«
»Kerstin«, sagte Jorge Chavez umso energischer. »Was habe ich da über Paul gehört?«
»Gar nichts«, sagte Kerstin mit einer gewissen Schärfe. »Was gibt es?«
»Wir sind jetzt in Emily Flodbergs Computer.«
Einen kurzen Moment dachte Kerstin Holm an ihren persönlichen Auslastungsgrad.
Dann seufzte sie: »Ich komme.«
11
Das Trio war wieder versammelt. Die Frage war, ob das eine gute Idee war. Es war einfach so gekommen. Vielleicht verlieh es eine Art instinktiver Sicherheit, sich in einer Polizeiwache statt in der immer fremder werdenden Nähe des Waldes zu versammeln.
Allerdings hatten sie dort die ganze Schulklasse samt Anhang zurückgelassen. Sie dort weiter festzuhalten, ohne selbst an Ort und Stelle zu sein, war nicht ganz zu verantworten. Das konnte nicht lange so bleiben. Spätestens morgen würden sie die Truppe ziehen lassen müssen. Und dann würde sie sich über den gesamten Planeten verteilen - die Sommerferien hatten ja begonnen.
Aber es gab immer noch Fragen zu stellen. Das Problem war, dass sie noch nicht wussten, welche. Oder wem sie zu stellen waren.
Die Zeit drängte.
Und jetzt gab es eine Menge anderes zu tun.
Lena Lindberg öffnete ihre Tasche und hievte die neuen Ausdrucke des magischen Computerprogramms heraus, das unter der Bezeichnung ASR lief, Automatic Speech Recognition. Es war ein ziemlich großer Packen.
Gunnar Nyberg stöhnte, als er ihn sah. Er stöhnte noch einmal, als er den Blick in den zum Versammlungsraum umfunktionierten Kaffeepausenraum der Polizeiwache von Sollefteä richtete. Außer Lena Lindberg waren Kommissar Alf Bengtsson und Polizeiinspektor Lars-Äke Ottosson von der Polizei von Sollefteä anwesend. Und auf dem Platz des Vorsitzenden, an der Stirnseite des Tisches, saß Sara Svenhagen. In gewisser Weise erschien das völlig korrekt.
Nyberg stöhnte ein drittes Mal und platzierte neben den Stapel des Stimmdetektors seine wesentlich schlampigeren Aufzeichnungen. Er hatte sie in aller Eile zu Papier gebracht, während er im Krankenhaus auf Informationen über den Gesundheitszustand Carl-Olof Strandbergs wartete. Der Mann kam schließlich aus dem Untersuchungszimmer gestolpert, den Kopf mit einem mächtigen Verband umwickelt. Die Polizeiassistenten, die draußen Wache hielten, legten ihm Handschellen an und transportierten ihn zur Wache. Nyberg saß im Streifenwagen neben ihm; sie wechselten kein Wort. Und wenn er jetzt durch die Tür des Kaffeepausenraums blickte, sah er den mächtigen Verband ab und an im vergitterten Fenster einer Arrestzelle der Polizeiwache auftauchen.
Die lokale Polizei durchsuchte zurzeit Sten Larssons Haus, aber bisher hatten sie nicht das geringste Anzeichen von irgendwelchem >Teufelszeug< (Kommissar Bengtssons Ausdruck) finden können. Keine Kinderpornografie, keine anderen Computer, keinen Anrufbeantworter, keine >suspekten Sexrequisiten< (wieder Bengtsson).
»Wie ging es mit Julia Johnsson?«, fragte Gunnar Nyberg.
»Wie?«, sagte Lena Lindberg und starrte ihn an.
Er klopfte auf den ASR-Stapel und sagte: »Ich weiß, ich muss das alles durcharbeiten, aber ich bin doch neugierig, was Julia zu den eventuellen Nacktbildern gesagt hat.«
Sara Svenhagen räusperte sich und wandte sich, ein wenig streng, an alle Anwesenden. »Dies hier ist höchst vertraulich, kein Wort, keine Silbe darf aus diesem Raum dringen.«
Alf Bengtsson und Lars-Äke Ottosson nickten andächtig.
Svenhagen fuhr fort: »Emily Flodberg hat kurz vor Weihnachten vorgeschlagen, dass sie und ihre beste Freundin Felicia Lunden sich nackt fotografieren und die Bilder ins Internet stellen. Vermutlich ging es darum, sich Geld zu beschaffen. Von erwachsenen Männern. Felicia machte eine Weile mit, bekam schließlich aber kalte Füße. Das führte zu einer Verstimmung zwischen den Freundinnen, und es dauerte eine Weile, bis Felicia die kompromittierenden Bilder wiederbekam. Da hatte Emily bereits die nächste Freundin an der Angel, Julia Johnsson. Julia gelang es beim Verhör zunächst, die Maske zu wahren, aber schließlich gab sie zu, dass Emily sie unbedingt hatte nackt fotografieren wollen. Als sie sich darauf nicht einließ, nahm auch diese Freundschaft ein Ende. Emily Flodberg scheint jede neue Freundin regelrechten Prüfungen unterzogen zu haben.«
»Und jetzt haben Jorge und die Jungs also ihren Computer geknackt?«, sagte Gunnar Nyberg.
»Angeblich«, nickte Sara und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Sobald sie etwas finden, bekommen wir Bescheid.«
»Was uns auf die Frage unseres Computers bringt«, sagte Gunnar. »Oder besser den von Sten Larsson. Was wissen wir über den Zustand der Festplatte?«
»Es ist ein Experte vom Kriminallabor aus dem Süden eingetroffen«, sagte Kommissar Alf Bengtsson. »Ich muss mich wohl verhört haben, aber ich meine, er sagte, sein Chef heiße Svenhagen...«
»Du hast dich nicht verhört«, sagte Sara Svenhagen, und Nyberg erkannte diese altgewohnte Spannung in der Kiefermuskulatur, die sich immer einstellte, wenn die Rede auf Papa Brynolf kam. Papa Brynolf Svenhagen, Chefkriminaltechniker der Reichskripo.
»Der Experte, er heißt Jerker Ollen, ist jedenfalls an der Arbeit«, sagte Bengtsson, möglicherweise ein wenig verdrießlich, weil ihm das Familienverhältnis nicht erklärt wurde.
Als Dorfbewohner begeisterte er sich vermutlich für Familienverhältnisse, aber sonst gab es nicht viel an ihm auszusetzen. Ein echter Polizeiprofi von der ländlichen Sorte, ein kleines Wohlstandsbäuchlein als Folge der reichlichen Freizeit. Die Sorte Polizist, die noch in Gegenden gedeiht, wo die Leute den Autoschlüssel stecken lassen und nie die Haustür abschließen.
»Und was sagt der Experte Jerker Ollen?«, fragte Nyberg.
»Die Festplatte ist beschädigt«, sagte Bengtsson. »Das wird erstens Zeit brauchen. Zweitens weiß er nicht, wie viel er retten kann. Die Frage ist, was das für unser ersehntes Verhör bedeutet...«
»Ein erstes Verhör muss stattfinden«, sagte Sara Svenhagen und seufzte. »Auch wenn wir nicht mehr als ein Ass im Ärmel haben. Das werden wir allerdings ausspielen. Seid ihr sicher, dass wir das hier machen können?«
Polizeiinspektor Lars-Äke Ottosson stand auf und ging zu einem Nebentisch, auf dem ein altmodischer Aufnahmeapparat stand. Er hantierte ein wenig daran herum und sagte: »Technisch geht es jedenfalls.«
»Außerdem haben wir keinen Verhörraum, in den wir alle hineinpassen«, sagte Alf Bengtsson. »Und ich verlange, dass ich dabei bin, zusammen mit einem meiner Leute.«
»Normalerweise bevorzuge ich einen etwas intimeren Raum«, sagte Svenhagen. »Aber das würde auf einen Mann wie Strandberg auch keinen Eindruck machen.«
Die Anwesenden reihten sich auf der einen Seite des Kaffeetisches auf, Ottosson baute das Mikrofon auf, und Bengtsson holte Carl-Olof Strandberg, der mit Verband und betont nichtssagender Miene eintrat.
Er wurde den fünfen gegenüber platziert und sagte: »Das ist wie in einem amerikanischen Gerichtsfilm. Rechtschaffene Bürger, die, ohne zu blinzeln, die Todesstrafe verhängen.«
»Was macht der Kopf?«, fragte Nyberg.
»Als ob Sie das kümmern würde.«
»Also«, sagte Sara Svenhagen mit erhobener Stimme, »Verhör mit dem verhafteten Carl-Olof Strandberg am 15. Juni um 14.20 Uhr, Polizeiwache Sollefteä.«
Strandberg betrachtete die bunte Schar verächtlich, und Sara fuhr fort: »Woher kennen Sie Sten Larsson in Vallsäter?«
»Wir angeln zusammen«, sagte Carl-Olof Strandberg.
»Hier in der Gegend scheinen alle zusammen zu angeln. Warum haben Sie behauptet, ihn nicht zu kennen?«
»Wegen unseres beiderseitigen Hintergrunds.«
»Zwei angelnde Pädophile?«
»Ich wusste, was Sie daraus machen würden.«
»Was wissen Sie über Sten Larssons Tun und Lassen gestern um ein Uhr?«
»Nichts. Ich war zu dem Zeitpunkt hier in Sollefteä.«
»Wir glauben, er befand sich zu genau der Zeit im Wald beim Gammgärd in Saltbacken. Wir glauben außerdem, dass er auf der Jagd nach Kindern vom Hof war, die sich verlaufen hatten. Und wir glauben, dass Sie davon wussten. Dass sich Spuren dieser Kenntnis in dem Computer befinden, den Sie zerstört haben. Irgendein Kommentar?«
»Keinen.«
»Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, die Polizei in die Irre zu führen, um vor ihr bei Sten Larssons Haus zu sein und seinen Computer zu demolieren? Warum war das so wichtig?«
»Das sind alles Unterstellungen«, sagte Strandberg ruhig. »Ich bin hingefahren, um mir Stens Computer auszuleihen, und dann hat es dieser große Tölpel da so weit gebracht, dass er mir aus der Hand fiel. Er fiel mir aus der Hand, weil er mich plötzlich mit einer Pistole bedrohte. Ohne jeden Grund. Ich war und bin unbewaffnet.«
»Gemeint ist wohl Kriminalinspektor Gunnar Nyberg?«
»Ja. Ein gewalttätiger Mann. Als Polizist völlig ungeeignet.«
»Was werden wir in dem Computer finden?«, fragte Sara Svenhagen geduldig. »Sie können es ruhig gleich sagen, das wird Ihnen vor Gericht zugutegehalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir es finden.«
Carl-Olof Strandberg lächelte schief und sagte: »Wenn es so wäre, würden Sie mich nicht fragen.«
»Warum wollten Sie Larssons Computer gerade jetzt ausleihen?«
»Weil mir der große Tölpel von Polizist gerade jetzt aufgetragen hat, eine Liste über meine Klienten in Solleftei zusammenzustellen. Meine eigene Festplatte ist kaputtgegangen, aber ich habe Back-ups meiner Register in Stens Computer. Ich bin hingefahren, um die Liste zu erstellen, um die ich gebeten worden war. Und dafür wurde ich bewusstlos geschlagen und musste mit dem Krankenwagen abgeholt werden. Ich zeige den genannten Gunnar Nyberg hiermit wegen schwerer Körperverletzung an.«
»Beeindruckende Verteidigungsstrategie«, sagte Sara Svenhagen. »Aber für eine hoffnungslose Sache. Wo ist Ihre eigene Festplatte?«
»Kaputt«, sagte Strandberg. »Völlig hinüber. Weggeworfen.«
»Wir haben es mit zwei kaputten Festplatten zu tun. Sie wollen das auf einen Zufall zurückführen?«
»Auf den Zufall und auf schwere Körperverletzung seitens eines Polizisten.«
»Sie begreifen wohl, dass wir erstens Ihre Festplatte finden und zweitens Sten Larssons Festplatte retten werden? Werden wir dann so viel Kinderpornografie finden, dass die Geschichte sexueller Übergriffe umgeschrieben werden muss?«
»Beeindruckende Anklage. Aber für eine hoffnungslose Sache.«
Sara Svenhagen hatte fast vergessen, wie sich die wirklich routinierten Verdächtigen im Verhör verhalten. Carl-Olof Strandberg war einmal Kinderarzt und Kinderpsychiater gewesen. Er hatte mit den schwersten Fällen an den Schulen Stockholms gearbeitet und konsequent das Vertrauen der Kinder missbraucht. Das war über Jahre so gegangen und hatte seinen Höhepunkt in der Entführung dreier Jungen aus verschiedenen Schulen in der Stockholmer Innenstadt gehabt. Zwei starben, wurden aber nie gefunden, und einer war nach wie vor nicht ansprechbar. Strandberg hatte ihn allem Anschein nach mit seinem gesamten beruflichen Können in die totale Blockade manipuliert. Seine Kälte in dieser Verhörsituation bewegte sich um den Nullpunkt. Es gab nicht einen Spalt in der Mauer.
Trotzdem musste Sara sich ihren Kopf weiter an dieser Mauer blutig stoßen. Um Emily Flodbergs willen. Sie fuhr fort: »Sie wussten, dass es auf Gammgärd von Vierzehnjährigen wimmelte? Genau das richtige Alter für Sie und Larsson. Sie haben darüber sicher mit ihm diskutiert? Ein bisschen gelacht und gescherzt über, sagen wir, Leckerlis, gemischte Häppchen? Ich nehme die Jungs und du die Mädchen?«
»Nein.«
»Wie oft trägt Sten Larsson einen militärgrünen Fleece-pulli?«
»Sie wollen es so aussehen lassen, dass wir viel zusammen sind. Das ist nicht der Fall. Keiner von uns will zusammen mit dem anderen gesehen werden. Das würde falsche Signale aussenden. Wir angeln einige Male im Jahr zusammen. Das ist unser ganzer Umgang.«
»Außer über das Internet.«
»Das sind leere Anschuldigungen.«
»Wie oft trägt er also einen Fleecepulli?«
»Immer«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Er ist ein richtiger Waldschrat.«
»Sten Larsson war im Wald, als Emily Flodberg verschwand. Jetzt sind beide verschwunden. Larsson hat sie sich geschnappt. Wo sind sie?«
»Sie vergessen meine Berufserfahrung«, sagte Strandberg und fixierte Svenhagen. »Ist man einmal als Pädophiler abgestempelt, wird die ganze übrige Existenz ausgelöscht. Trotzdem möchte ich auf meine Berufserfahrung verweisen: Ich glaube nicht, dass Sten jemanden entführt hat.«
»Warum nicht?«
»Er kann es nicht. Seine Psyche ist nicht so.« »Im Unterschied zu Ihrer?«
»Zum Beispiel im Unterschied zu meiner, ja. Und Ihrer, Frau Svenhagen.«
»Aber in seiner Vergangenheit hat es tatsächlich Übergriffe gegeben. Vergewaltigungen.«
»Impulsive Aktionen«, sagte Strandberg und hob die Hände. »Die Begierde überkommt ihn, dann muss er agieren. Er ist kein Mann der Planung. Es ist möglich, dass er im Wald war und von Begehren getrieben war, es ist sogar möglich, dass er ein Mädchen überfallen hat - das weiß ich nicht - , aber dann hätten Sie sie gefunden. Tot oder lebendig.«
»Angenommen, er vergewaltigt sie im Wald«, fuhr Sara fort. »Warum sollte er sie danach nicht mitnehmen? Tot oder lebendig?«
»Das entzieht sich meiner Einschätzung.«
Es war interessant zu sehen, wie Carl-Olof Strandberg sich verwandelte. Er war nicht mehr das unschuldig angeklagte Opfer eines Komplotts, nicht mehr der abweisende alte Zyniker. Er wurde wegen seiner Berufskenntnisse gehört, wie in der guten alten Zeit. Und vielleicht ließ sich über diesen Berufsstolz ein Weg durch die Mauer finden.
»Und wie sieht Ihre professionelle Einschätzung aus?«, fragte Sara mit aller Milde.
»Sten Larsson gehört zu denen, die sich schämen«, sagte Strandberg, die Stirn in professionelle Falten gelegt. »Die sich hinterher schämen. Die so schnell wie möglich nur weg und das Ganze vergessen wollen. Sie löschen alle Spuren des Ereignisses aus ihrem Bewusstsein. Sie schleppen kein Opfer mit sich, das sie daran erinnert. Schnell hinein, schnell wieder raus. Als wäre es nie geschehen. Und deshalb brauchen sie immer mehr und mehr.«
»Sie reden, als wäre er immer noch ein aktiver Vergewaltiger«, sagte Sara Svenhagen. »Aber es ist fast zwanzig Jahre her, seit er sich der zweifachen Vergewaltigung an zwei Teenagern aus der Gegend schuldig gemacht hat. Er hat fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Sie scheinen sehr viel mehr über seine jetzigen Aktivitäten zu wissen als ich.«
»Er war unschuldig«, brummte Strandberg. »Genau wie ich.«
»Ich frage mich aber, ob Sie uns nicht gerade eine Menge erzählt haben. Ihr seid unterschiedliche Typen von Pädophilen? Ihr erzählt euch viel über Präferenzen und Begierden? Und wo wird sich das wohl abspielen, wenn es stimmt, dass ihr euch nur einige Male im Jahr seht? Kann es sein, dass es im Internet geschieht, mit Massen von Beweisen auf einer verschwundenen beziehungsweise zerstörten Festplatte?«
Strandberg verzog das Gesicht. Dann sagte er: »Sie verstehen mich falsch. Ich habe ein professionelles Urteil abgegeben. Alles, was ich sage, wird gegen mich verwendet. Ich muss lernen, den Mund zu halten.«
Sara Svenhagen hatte das Verhör bisher, wie verabredet, allein geführt. Aber ein Blick zu Gunnar Nyberg gab ihm zu verstehen, dass er jetzt eingreifen konnte. Er sagte: »Sie verstehen sicher, Herr Strandberg, dass wir davon ausgehen, dass Sie die Spuren eines Pädophilennetzwerks vernichten wollten.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, brummte Strandberg stur.
»Ich glaube, Sie halten uns für mittelmäßige Streifenpolizisten, aber ich und Sara Svenhagen - vor allem Sara - haben uns ziemlich intensiv mit Verbrechen befasst, die mit Kinderpornografie zu tun haben. Wir kennen euch.«
»Das ist das Interessante an dieser Sache«, sagte Sara Svenhagen mit einem Blick auf Nyberg. »Die Tatsache, dass Sie und Sten Larsson - ein Pädophiler, der Jungs, und einer, der Mädchen bevorzugt - über das Netz Kontakt zueinander hatten, deutet auf einen größeren Zusammenhang hin. Sonst hättet ihr einander ja nicht besonders viel zu sagen.«
»Ganz zu schweigen davon, wie unergiebig der Austausch von Bildern gewesen wäre«, sagte Nyberg. »Inkompatible Fotos.«
Strandberg schwieg und starrte auf den Tisch. »Eine Sache ist mir aufgefallen«, sagte Sara langsam. »Wir müssen natürlich abwarten, was bei der Untersuchung von Sten Larssons Festplatte herauskommt, aber es scheint, dass Sie, seit Sie aus dem Gefängnis heraus sind, keine aktiven Übergriffe mehr begangen haben. Wenn Sie nicht darauf bestanden hätten, Ihre Unschuld zu beteuern, hätten Sie jetzt doch ein relativ versöhntes Leben führen können. Anstatt von innen her von einem unbestimmten und irregeleiteten Hass zerfressen zu werden. Wäre es nicht besser gewesen, der Polizei zu zeigen, wo Sie die beiden Jungen begraben haben? Und ihr zu erzählen, was Sie mit ihnen gemacht haben? Sie sind jetzt alt, Strandberg, wollen Sie wirklich ganz unversöhnt sterben?«
Strandberg schüttelte müde den Kopf. Er sah jetzt erledigt aus, völlig erledigt.
Gunnar Nyberg sagte: »Wenn Sie uns sagen, wohin Sten Larsson Emily Flodberg gebracht hat, ist schon vieles gesühnt.«
Carl-Olof Strandberg sah jetzt sehr alt aus. Aber als er zu Sara und Gunnar aufsah, war sein Blick erfüllt von zäher, überzeugter Widerstandskraft. »Sie sind die Hüter der Normalität«, sagte er. »Sie setzen voraus, dass die Sexualität ein bestimmtes Aussehen haben muss, ein kontrolliertes Aussehen. Alles andere ist krank, pervers, ungesetzlich. Aber Ihre Vorstellung von Sexualität ist eine kulturelle Konstruktion des neunzehnten Jahrhunderts. Plötzlich, nach Jahrtausenden menschlicher Entwicklung, wird festgesetzt, dass erwachsene heterosexuelle sogenannte Liebe die Norm und Normalität ist - und heute sehen wir ja, wie gut diese >Liebe< funktioniert. Ehen zerbrechen am laufenden Band. Die Liebe hat ihre im neunzehnten Jahrhundert definierte Rolle ausgespielt. Plötzlich wurde bestimmt, dass Sexualität und Pubertät zusammenhängen - dass es Sexualität vor der Pubertät nicht geben darf. In fast allen früheren Gesellschaften war Mädchen- und Knabenliebe die selbstverständliche Einweihung in die Sexualität. Jetzt lässt man die Kinder allein mit ihrer Verwirrung, ohne irgendeine hilfreiche Hand vor dem entscheidenden Schritt.«
»Sie sind völlig wahnsinnig«, zischte Sara Svenhagen. »Die Kinder bitten weiß Gott nicht um Hilfe. Ihr seid es, die sie als reine Objekte sehen, als Gegenstände, mit denen man tun kann, was man will.«
Ohne eine Miene zu verziehen, fuhr Strandberg dort fort, wo er aufgehört hatte: »Es war fundamental, dass die Sprengkraft der Sexualität, als wir uns im neunzehnten Jahrhundert in die Richtung eisern kontrollierter Gesellschaften entwickelten, in Schach gehalten wurde. Die Obrigkeit erfand eine Normalität und schuf die sexuelle Scham. Eine effektivere Kontrollmethode ist nie entwickelt worden. Die Sexualität auf eine Handlung unter anderen reduzieren, auf etwas, was ab und zu einfach getan werden muss, und sie in banale Rahmen zwingen, bei ausgeschaltetem Licht, unter der Decke. Zusehen, dass sich der Mensch immer selbst begrenzt. Und stirbt, ohne an der mächtigen, universalen Kraft teilgehabt zu haben, die sich Sexualität nennt.«
Es entstand eine Pause, klebrig vor Unbehagen.
»Sie haben zwei Jungen ermordet, Strandberg«, sagte Gunnar Nyberg schließlich. »Und den dritten haben Sie zu einem psychiatrischen Pflegefall gemacht. Der Junge wäre vermutlich lieber gestorben, als Tag für Tag durch die Hölle zu gehen, die Sie geschaffen haben. Ist das die Knabenliebe, von der Sie reden?«
»Rein theoretisch«, sagte Strandberg, »sind enorme Kräfte vonnöten, wenn der Mensch sich über seine selbst auferlegten Begrenzungen erheben will. Um zu begreifen, wie viel im Leben er versäumt. Die Selbstbegrenzung ist eine äußerst starke Kraft, zu der wir von Geburt an erzogen werden. Manchmal ist sie nie zu brechen.« »Gewalt also? Mord?«
»Die befreite Sexualität bewegt sich in unmittelbarer Nähe der Gewalt. Sie ist eine Freizone außerhalb der Normalität.«
»Dann«, sagte Sara mit großer Kraft, »will ich Ihnen von der befreiten Sexualität erzählen. Zurzeit findet ein Prozess in einer kleinen Stadt namens Arlon in Belgien statt. Ein Mann, den man >das Monster von Charleroi< nennt, wird in ein paar Tagen verurteilt werden. Eigentlich heißt er Marc Dutroux. Er hat sein Leben lang kleine Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet. Es ist absolut abscheulich, und allein schon die Vorstellung, was diese eingesperrten, ständig erniedrigten kleinen Mädchen während ihrer letzten Tage durchgemacht haben, übersteigt jede Grenze des menschlich Tolerierbaren. Die Obrigkeit erhebt sich immer über die moralischen Gesetze, die sie selber schafft. Sie sind die Obrigkeit.«
»Ich bemerke«, sagte Strandberg mit einem spöttischen Lächeln, »dass Sie, Frau Svenhagen, selbst gewisse sexuelle Probleme haben. Ist die Lust ausgeblieben? Nach der Geburt des ersten Kindes?«
Sara Svenhagen war von allen Menschen, die Gunnar Nyberg kannte, der am wenigsten gewalttätige. Trotz der Extremsituationen, denen sie während ihrer Zeit als Pädophilenermittlerin ausgesetzt gewesen war, hatte er nie erlebt, dass es ihr auch nur in den Sinn gekommen wäre, Gewalt anzuwenden. Aber als sie jetzt aufstand, sah er etwas in ihren Augen, was er noch nie gesehen hatte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie durch das bloße Handauflegen wieder auf den Stuhl. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich desorientiert - er war es nicht gewohnt, als Stimme der Vernunft zu agieren.
Aber als er den Blick zwischen seinen beiden Kolleginnen hin und her gehen ließ, verstand er, dass genau das jetzt seine Rolle war. Er sagte: »Wir müssen zum Ausgangspunkt zurückkommen, Strandberg. Sind Sie ganz sicher, dass Sie im Hinblick auf die Ankunft einer siebten Klasse in Saltbacken keinerlei Kontakt mit Sten Larsson gehabt haben?« »Ja«, sagte Strandberg kurz.
Das spöttische Lächeln saß noch in seinem Mundwinkel. Nyberg wusste, dass es um jeden Preis weggezaubert werden musste.
Mit einem Ass im Ärmel.
»Nicht einmal per Handy?«, fragte er beiläufig.
Strandberg war stumm. Das Lächeln verschwand.
Oder besser, es wechselte über auf Gunnar Nyberg, der fortfuhr: »Wie Sie wissen, haben wir Ihr Handy beschlagnahmt. Das Adressbuch war leer. Das ist ungewöhnlich. Es sieht fast so aus, als hätten Sie es gelöscht. Hingegen werden bekanntlich die zuletzt gewählten Nummern gespeichert. Sie haben ein Gespräch geführt, als Sie im Auto zu Larssons Haus unterwegs waren, um seine Festplatte zu zerstören. Ein Gespräch mit einem anderen Handy. Das war als Einziges noch im Handy, und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, es zu löschen. Sind Sie immer so ungeschickt?«
»Ein großer Polizistentölpel hatte Sie gerade verhört«, sagte Sara Svenhagen gedämpft. »Ihr Haus wurde gerade durchsucht. Die Polizei weiß, dass Sie die Festplatte aus Ihrem Computer entfernt haben. In dieser Stresssituation kommen Sie auf die schlaue Idee, den Polizistentölpel auf einen Umweg zu schicken, um früher als er bei Larssons Haus zu sein und auch dessen Festplatte zu entfernen. Sie rasen mit einem Höllentempo nach Vallsäter, und während der Fahrt telefonieren Sie. Mit wem? Ja, natürlich mit Sten Larsson. Aber Sie bekommen keine Antwort - Gesprächsdauer null, sagt das Handy. Warum rufen Sie Larsson an? Um ihn zu warnen natürlich und ihm zu sagen, dass die Polizei ihm auf der Spur ist.«
»Sie verstehen sich darauf, Kinder zu entführen«, ergriff Nyberg wieder das Wort. »Es scheint sehr wahrscheinlich, dass Sie ihm geholfen haben, die Entführung zu arrangieren - und dass Sie gleichzeitig für ein gutes Alibi für sich selbst gesorgt haben. Sie wissen, wo die beiden sind. Sie wissen genau, welche wunderbar grenzüberschreitenden Aktivitäten in diesem Augenblick an einem einsamen Ort irgendwo tief im Wald stattfinden. Wo sind sie?«
Carl-Olof Strandberg hatte sein Lächeln ganz und gar verloren. »Aber Sie können doch nicht glauben, ich hätte etwas mit dieser Sache zu tun«, sagte er mit einem Ausdruck, der unverstelltem Erstaunen zumindest ähnlich war.
»Die Sache trägt Ihre Handschrift«, sagte Nyberg ruhig. »Sie hatten Ihre Festplatte entfernt, Sie wussten, dass wir kommen würden. Wenn wir sie nicht finden, wird sich die ganze Erniedrigung, die Sie zuletzt erlebt haben, wiederholen. Wir werden davon ausgehen, dass Sie der Kopf hinter allem sind. Und wir werden nicht nachgeben. Erzählen Sie jetzt von Sten Larsson. Wo ist er? Wo sind sie?«
Strandberg schloss die Augen. Er saß eine Weile so da, ehe er antwortete: »Wäre ich an der Planung beteiligt gewesen, wäre ich dann so dusselig gewesen, Stens Computer in seinem Haus stehen zu lassen?«
Gunnar, Sara und Lena sahen einander an. Alle waren wieder präsent, zu hundert Prozent.
»Warum nicht?«, sagte Nyberg. »Sie waren ja auch dämlich genug, ihn anzurufen.«
»Ich musste an seinen Computer, weil, wie gesagt, die Liste meiner Klienten darin war. Angerufen habe ich, um zu hören, ob er zu Hause ist. Und falls nicht, um ihm zu sagen, dass ich in sein Haus gehe. Ich weiß, wo er den Schlüssel hat. Aber es stimmt, dass ich ihn nicht erreicht habe.«
»Nein«, sagte Svenhagen. »Dann hätten Sie zuerst bei ihm zu Hause angerufen. Sie haben auf dem Handy angerufen, weil Sie wussten, dass er nicht zu Hause war.«
»Aber denken Sie doch nach«, sagte Strandberg mit zumindest einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Warum hätten wir den Computer, gesetzt den Fall, wir hätten konspiriert, in seinem Haus lassen sollen? Sie hätten ihn ja jederzeit holen können. Es war doch nur ein Zufall, dass Nyberg zuerst zu mir kam.«
»Vielleicht war nicht genau geplant, wann es passieren sollte, und Larsson verfügt vielleicht nicht über Ihre Präzision beim Handeln. Aber als Sie begriffen haben, dass Larsson Ihren Plan realisiert hatte, haben Sie sofort reagiert«, sagte Sara Svenhagen.
»Ich habe nichts mit Sten Larsson geplant! Er ist ein Bauerntölpel!«
»Schreien Sie nicht«, sagte Gunnar Nyberg ruhig. »Sie wissen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir herausfinden, was Sie um jeden Preis verbergen wollten, und bis Larssons Festplatte rekonstruiert ist und wir Listen über alle Gespräche von und an Ihr und Larssons Handy haben.«
»Dann werden Sie sehen, dass ich seit über einem Monat nicht mit ihm telefoniert habe. Ich weiß nichts von dieser Sache.«
»Aber Sie gehören demselben Pädophilennetz an?«, sagte Sara Svenhagen. »Und das wollten Sie verbergen?«
Strandberg schloss wieder die Augen.
Sara Svenhagen fuhr fort: »Es gibt einen Unterschied zwischen Entführung - Vergewaltigung - Mord und dem Besitz von Kinderpornografie. Wollen Sie wirklich wieder wegen Entführung - Vergewaltigung - Mord in den Knast? Wo es vielleicht nur um ein paar Bilder in einem Computer geht?«
»Ich habe gesehen, mit welcher Wucht Sie den Computer auf den Felsen geschleudert haben«, sagte Nyberg. »Sie taten es, obwohl ich meine Pistole auf Sie gerichtet hatte. Zerstören, was in dem Computer war, das war es wert, dafür zu sterben. Ich glaube immer noch, dass Sie hinter dieser ganzen Scheiße stecken. Sie sind ein Sadist und Mörder, der wieder gefoltert und gemordet hat.«
»Nein«, sagte Strandberg mit geschlossenen Augen. »Nein.«
»Doch«, brüllte Nyberg mit Donnerstimme. »Doch, Sie Teufel. Sie wissen, wo sie sind. Ich werde Sie erwürgen.«
Strandberg warf sich zurück, sodass der Stuhl umfiel. Nyberg war zur Stelle und erhob sich über dem Liegenden wie ein Grizzly über seiner täglichen Mahlzeit. »Ich bringe Sie um!«, schrie er.
»Helfen Sie mir«, schrie Strandberg. »Ich gestehe. Ich bin hingefahren, um die Festplatte zu zerstören, weil Spuren darauf sind.«
Gunnar Nyberg kehrte still an seinen Platz am Kaffeetisch zurück. Bengtsson und Ottosson starrten ihn wie gelähmt an. Sara und Lena waren aufgestanden und halfen Strandberg wieder auf seinen Stuhl. Dann kehrten auch sie auf ihre Plätze zurück.
»Spuren?«, sagte Sara Svenhagen milde.
»Spuren, die zu mir führen«, sagte Strandberg lahm. »Aber ich habe seit zwanzig Jahren keinen Finger gegen einen Menschen erhoben. Und Sten auch nicht. Wir schauen uns Bilder an und begnügen uns damit. Gibt es Bilder von Jungen im Netz, schickt er sie mir und umgekehrt.«
»Wenn Sie Bilder von Mädchen finden, schicken Sie sie an ihn?«
»Ja. Das ist alles. Aber ich will lieber sterben, als wieder ins Gefängnis zu gehen. Das ist ja auch ein Verbrechen, Besitz von Kinderpornografie. Mir war klar, dass ich das verhindern musste.«
»Um jeden Preis«, nickte Nyberg. »Sie haben also wirklich keine Ahnung, wo Sten und Emily sind?«
»Ich glaube nicht einmal, dass Sten sie geschnappt hat. Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Sie müssen mir glauben.«
Polizeiblicke wurden ausgetauscht, darunter zwei immer noch versteinerte. Aber die übrigen drei schienen einhellig.
Strandberg wusste wirklich nichts von den Ereignissen im Wald bei Saltbacken.
»Wie weit reicht das Netzwerk?«, fragte Sara Svenhagen schließlich.
»Wir sind ein paar Leute, die Bilder austauschen, das ist alles.«
»Sind Balten dabei? Litauer?«
»Keine Ahnung«, sagte Strandberg kleinlaut. »Es gibt nur Decknamen. Erfundene Signaturen. Der Einzige, den ich kenne, ist Sten.«
Sie ließen ihn in die Arrestzelle zurückkehren. Er war jetzt ein anderer. Der Verband um den Kopf war verrutscht, und er sah zwanzig Jahre älter aus.
Kommissar Alf Bengtsson wandte sich an Gunnar Nyberg und fragte heiser: »Geht das immer so zu?«
»Wie war das doch gleich?«, sagte Nyberg und klopfte einen Papierstapel zurecht. »Manchmal sind enorme Kräfte vonnöten, wenn der Mensch sich über seine selbst auferlegten Begrenzungen erheben will.«
»Jedenfalls haben wir die Bestätigung, dass die Handynummer die von Sten Larsson ist«, sagte Sara Svenhagen. »Also sind es drei Gesprächslisten, die schnellstmöglich beschafft werden müssen: die von Emily und die von Larsson und Strandberg. Lena, übernimmst du das?«
Lena Lindberg nickte. Es war, als hätte sie die Fähigkeit zu sprechen völlig verloren.
»Und ihr bekommt also keine Antwort, wenn ihr Sten Larssons Handynummer wählt?«, sagte Bengtsson.
»Nein«, sagte Nyberg. »Keine Antwort und keine Mailbox. Aber wir müssen es weiter versuchen. Es ist jedenfalls nicht abgeschaltet.«
»Nehmen wir an, Strandberg sagt die Wahrheit«, fuhr Svenhagen fort. »Larsson handelt aus eigenem Antrieb. Wenn wir davon ausgehen, dass der Fleecepulli der von Larsson war, dann war er im Wald, als die Suche gestartet wurde.
Er bewegte sich nach Norden - zuerst gesehen von Julia Johnssons Gruppe, dann von der von Jesper Gavlin -, auf die Stelle zu, wo Jesper schon ein Stück von Emilys Jacke gefunden hatte. Dann lief sie also vorweg und Larsson hinter ihr her. Aber ziemlich weit hinter ihr, fast eine Viertelstunde. Was bedeutet das?«
»Dass wir noch einmal in den Wald müssen«, sagte Lena Lindberg leise.
12
Es gibt eine Theorie, die besagt, dass jedes Mal, wenn ein Mensch an einen anderen denkt, Spuren entstehen. Diese Spuren sollte eine sensible Seele in genügend weitem Abstand wahrnehmen können. Es heißt, dass die Spuren unterschiedlich aussehen - je nachdem, ob es ein negativer oder positiver Gedanke ist. Und dass sie einen besonderen Glanz bekommen, wenn zwei Menschen gleichzeitig aneinander denken. Aus stratosphärischer Höhe würde eine solche Seele den Erdball wahrnehmen, als wäre er von einer changierenden Hülle umschlossen, einem feinmaschigen Gewebe aus bunten Fäden, die von Zeit zu Zeit aufblitzen. Es soll ein faszinierendes Schauspiel sein.
Aber die Theorie besagt auch, dass unmittelbar unter dieser Hülle eine zweite existiert. Das sind die Spuren der tatsächlichen Kontakte zwischen den Menschen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Hüllen soll so groß sein, dass keine sensible Seele ihn überleben kann.
Deshalb kann es nie einen Menschen geben, der in der Lage wäre, von diesem Schauspiel zu berichten. Und die Theorie bleibt eine Theorie.
Außerdem würde die arme Seele sich nicht in stratosphärischer Höhe aufzuhalten brauchen. Es würde durchaus genügen, wenn sie beispielsweise auf dem Dach des Polizeipräsidiums in Stockholm wäre.
Paul Hjelms Aufgabe war es, die Wahrheit herauszufinden. Genau darauf waren seine gesammelten Energien ausgerichtet. Der Übergang zum Posten des Leiters der Abteilung für Interne Ermittlungen hatte ein unvermeidliches Moment von Objektivität mit sich gebracht. Er musste seine Wahrheitserforschung mit bedeutend größerer Neutralität durchführen als früher. Als in diesem Augenblick Bengt Äkesson ins Zimmer trat und das morgendliche Bild aus dem Kronobergspark wachrief, fragte sich Paul Hjelm, was die Objektivierung seiner gesammelten Energien eigentlich mit ihm machte.
War es nicht gleichbedeutend mit sterben?
Er dachte an Kerstin Holm. Er dachte an all die gemeinsame Energie, die sie im Lauf der Jahre produziert hatten. War es nicht ganz ungewöhnlich, dass ein Mann und eine Frau so nachhaltig in die gleiche Richtung strebten? Wirklich ungefähr gleich dachten und fühlten? Gerade im Moment spürte er zum Beispiel, dass sie an ihn dachte; in diesem Gedanken lag ein starkes Vertrauen. Aber dieses Vertrauen verlangte zugleich, dass er seine Arbeit machte, dass er nicht pfuschte und das Problem unter den Teppich kehrte.
Das Problem hieß Bengt Äkesson und sah nicht so aus, als wollte es sich unter den Teppich kehren lassen. Der klarblaue Blick war zielbewusst in Paul Hjelms gerichtet. Hjelm betrachtete diesen Blick prüfend - das brachte ihn in der Regel recht weit. Aber in diesem Fall war er gar nicht sicher, wie die Wahrheit aussah. Richtig sicher war er sich nur in einem einzigen Punkt, nämlich dem, dass es ihm nicht gelingen würde, hundertprozentig objektiv zu sein.
Sie blieben eine ganze Weile so stehen - ein Geist namens Kerstin Holm musste sich einmischen, damit Paul Hjelm eine kleine Geste vollführte und Bengt Äkesson sich setzte.
»Nun?«, sagte Hjelm. »Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was gewesen ist?«
»Natürlich habe ich das«, sagte Äkesson und verstummte. Der Blick war noch da und grub sich in Hjelms Inneres. Es war, als träte man in einen blauen Bannkreis ein.
»Was hast du vor?«, fragte Paul Hjelm und hielt dem Blick stand. »Du hast etwas auf der Zunge.«
»Ich versuche mir ein Bild davon zu machen, wer du bist«, sagte Äkesson.
»Hat Kerstin das nicht erzählt?«
Äkesson blieb stumm. Der Bannkreis verschwand. Erlosch.
War das wirklich nötig?, dachte Paul Hjelm. Hätte ich nicht, und wenn auch nur aus rein taktischen Gründen, damit hinterm Berg halten sollen? Nein, dachte er dann. Nein, die Wahrheit verlangt es. Die Wahrheit verlangt, dass die Karten auf den Tisch kommen. Von allen Beteiligten.
»Das hätte ich mir denken sollen«, murmelte Äkesson kleinlaut. »Vor Paul Hjelm kann man nichts verbergen.«
Doch, dachte Paul Hjelm traurig. Der Sinn des Lebens ist ein tief verborgenes Geheimnis. Aber wer ihn geheim hält, ist ein noch tiefer verborgenes Geheimnis. »Gut, dass du es jetzt eingesehen hast«, sagte er ruhig.
»Kerstin vertraut dir«, sagte Äkesson, den Blick auf einen Punkt knapp unterhalb der Schreibtischplatte gerichtet. »Ich würde sagen, dass sie dir blind vertraut.«
»Was hast du denn ergründen wollen, bevor ich deine Konzentration gestört habe?«
»Ob sie im Jetzt lebt oder in der Vergangenheit. Ob du dich nicht inzwischen auch in einen von diesen Beamten verwandelt hast, bei denen die Objektivität als Schutzwall gegen das Leben funktioniert.«
Es gibt keine originellen Gedanken mehr, dachte Paul Hjelm. Alle denkbaren Gedanken schweben über uns, und wenn wir in seltenen Augenblick hochzuspringen und einen davon zu fangen vermögen, hat jemand anders das auch schon getan. Die Originalität ist unsere lächerlichste Illusion. Direkt nach der Objektivität. »Und warum wolltest du das ergründen?«, fragte er.
»Weil meine Zukunft davon abhängt«, sagte Äkesson.
»Inwiefern?«
»Wirst du es schaffen, dir mit dieser Geschichte die Hände schmutzig zu machen? Oder leitest du sie einfach nach einer summarischen Durchsicht ans Gericht weiter?«
»Ist sie so schmutzig?«, fragte Paul Hjelm.
Äkesson ließ von Neuem seinen blauen Bannkreis aufleuchten. Und für einen kurzen Augenblick fand Paul, dass er verstehen konnte, was Kerstin an ihm gesehen und was sie für ihn eingenommen hatte. In dem Augenblick beschloss er, sich die Hände schmutzig zu machen.
Aber er musste sich eingestehen, dass er das wahrscheinlich schon getan hatte, als die Phrase summarische Durchsicht sein Ohr erreicht hatte...
»Allerdings nicht physisch«, sagte Äkesson. »Das Schmutzige ist, dass eine unglaublich schöne Frau eine falsche Anzeige wegen sexueller Belästigung erhebt, um ihren Mann zurückzubekommen, der ihr weggelaufen ist.«
»Wie sollte ihr das gelingen?«
»Indem ich den Nichtfall vom untersten Teil des Stapels verschwundener Personen ganz obenauf lege. Ihn zu einem Fall mache.«
Paul Hjelm nickte. »Du hast also Kontakt zu Marja Willner aufgenommen?«, sagte er. »Obwohl ich dir das ausdrücklich untersagt habe?«
»Sie hat mich angerufen.«
»Kannst du das beweisen?«
»Sie hat mich auf meinem privaten Handy angerufen, das im Telefonbuch steht, und zwar von einem öffentlichen Telefon am Hauptbahnhof.«
»Das hast du kontrolliert?«
»Ja. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Keine Bandaufnahme, keine nachweisbare Nummer.« »Und was sagte sie?«
»Sie war sehr geradeheraus. Sie hat ungefähr gesagt: >Tu, was ich sage, und ich ziehe meine Anzeige zurück. Weigere dich, und ich zieh mein Ding durch.<«
»Und was ist dein Vorschlag für die Lösung dieses Dilemmas?«, fragte Paul Hjelm, obwohl er es bereits selbst eingesehen hatte.
Bengt Äkesson zog die Augenbrauen in die Höhe. Er artikulierte seine Antwort mit Nachdruck: »Dass du beschließt, die Ermittlung wegen des Verschwindens von Stefan Willner zu einem Teil der Ermittlung meiner eventuellen Schuld zu machen.«
»Du möchtest, dass der oberste Chef der Stockholmer Abteilung für Interne Ermittlungen dir hilft, einen weggelaufenen eifersüchtigen Ehemann zu suchen?«
»Das kommt darauf an, ob dieser Chef die Objektivität als Schutzwall gegen das Leben benutzt.«
Hjelm konnte ein kleines Kichern nicht unterdrücken. Er trat aus dem hellblauen Bannkreis heraus, legte die Hände in den Nacken und sagte: »Also machen wir uns die Hände schmutzig. Was hast du?«
Äkesson lächelte dünn und sagte: »Bei der Elektrizitätsfirma, wo Stefan Willner arbeitet, ist ein Wagen verschwunden. Obwohl die Willners ein eigenes Auto haben, scheint er sich einen Firmenwagen mit Kran unter den Nagel gerissen zu haben.«
»Er musste also etwas transportieren«, nickte Hjelm. »Gab es in ihrer Aussage einen Anhaltspunkt?«
»Er hat sie mit den Worten verlassen: >Jetzt ändere ich verflucht noch mal die ganze Geschichte. Du wirst schon sehen, du Sau. Und das wird niemand ignorieren.<«
»Warum redet ein Elektriker von der Geschichte? Weil er in Gamla Stan gräbt?«
Bengt Äkesson lachte wieder. »Du hast also die Akte gelesen? Du wusstest also, dass ich dich um das hier bitten würde?«
Hjelm stand auf, sah auf seine Armbanduhr und sagte: »Und du wusstest also, dass ich Ja sagen würde? Denn ich nehme an, du hast mit Willners Kollegen, sagen wir, um halb eins ein Treffen verabredet?«
»Um Viertel vor«, sagte Äkesson und stand ebenfalls auf. »Ich wusste ja nicht, wie lange ich brauchen würde, dich zu überzeugen.«
Sie maßen sich eine Weile mit Blicken, bis Äkesson sagte: »Es ist dir wohl klar, dass wir die beiden Männer sind, die Kerstin auf der ganzen Welt am nächsten stehen?«
»Das ist mir sehr deutlich bewusst«, sagte Hjelm. »Ist das ein Problem?«
»Nicht für mich«, sagte Äkesson. »Du bist ein Ex.«
Kerstin Holm gelang es nicht, ihre Gefühle zu ordnen, während sie den Korridor der A-Gruppe im Polizeipräsidium entlangwanderte. Sie sah Bengt Äkesson vor sich in den Momenten der Verführung. War dieser blaue Bannkreis, in den sie sich hatte ziehen lassen, irgendwie fragwürdig? Wäre er wirklich fähig, eine halbe Stunde bevor er sie traf und verführte, eine Frau sexuell zu belästigen? (Na ja, sie hatte ihrerseits wohl ebenso verführt...) War er wirklich so knallhart? Oder war es ihm selbst nicht bewusst? Oder - und das glaubte sie - war er ganz einfach unschuldig? Sie musste zugeben, dass sie in letzter Zeit auf eine Reihe von Frauen gestoßen war, die die neue Aufmerksamkeit für patriarchalische Verhaltensmuster missbrauchten.
Ohne dass sie den Übergang genau ausmachen konnte, vermischten sich die Bilder von Bengt mit früheren Bildern aus einem Hotelzimmer in Malmö, aus New York in der Sommerhitze, von einem Rasen in Skövde, auf dem sie verletzt lag, von einer Kugel am Kopf getroffen, und zu Paul Hjelm aufblickte und sagte: >Ich liebe dich.< Das war jetzt lange her. Aber das Spiel der inneren Bilder schien keiner Chronologie zu folgen.
Seit damals war ihr Schädelknochen an der linken Schläfe hauchdünn. Als ob die Trennung zwischen innerer und äußerer Welt nicht wirklich existierte.
Dann setzte sie um dies alles eine Klammer, öffnete eine Tür und trat ins Zimmer zu Jorge Chavez und Jon Anderson. Sowie dem kostenintensiven externen Experten Axel Löfström. Es standen jetzt drei Monitore auf Jons und Jorges gemeinsamem Schreibtisch, aber alle waren mit ein und derselben Festplatte verbunden.
Emily Flodbergs.
»Lasst hören«, sagte Kerstin Holm knapp.
»Wir sind drin«, sagte Chavez und sah auf. »Die Festplatte enthält eine riesige Menge Daten - ich kann mir vorstellen, dass dem Computer Emilys Hauptinteresse im Leben galt. Es gibt immer noch eine Menge versteckter und passwortgeschützter Dateien, aber die meisten sind jetzt frei, einschließlich der besuchten Internetsites.«
Kerstin Holm zog einen Stuhl heran und klemmte sich zwischen Jon und Jorge. Es war ziemlich eng im Zimmer.
»Können wir schon Schussfolgerungen ziehen?«, fragte sie.
»Wir haben uns die Arbeit aufgeteilt«, sagte Jon Anderson und tippte auf seiner Tastatur. »Axel kämmt die Festplatte durch, damit uns nichts entgeht. Jorge nimmt ihre Internetgeschichte. Und ich habe den Rest. Aus meiner Sicht gibt es noch nicht viel zu sagen. Sie hat viele Computerspiele gespielt, vor allem solche, bei denen man fiktive Welten errichtet, manche davon ziemlich gewalttätig. Nicht viele selbst verfasste Texte außer ein paar Hausarbeiten. Ich gehe gerade alle Word-Dokumente durch.«
»Kein Tagebuch?«, fragte Kerstin Holm.
»Kein digitales, soweit ich es beim gegenwärtigen Stand beurteilen kann. Aber es gibt, wie gesagt, viel passwortgeschütztes Material.«
»Sie hat mit der Hand Tagebuch geschrieben«, sagte Jorge Chavez. »In Saras Bericht von dort oben in Saltskogen stand doch, dass das Tagebuch mit Emily verschwunden ist.«
»Saltbacken«, korrigierte Kerstin nickend. »Und du?«
»Zum Glück hat sie die Spuren, wenn sie Internetseiten besucht hat, nicht gelöscht«, sagte Jorge und gab der Tastatur einen Schubs, dass sie über den Schreibtisch rutschte. »Aber der Nachteil ist, dass es unendlich viele sind. Ich habe noch keinen richtigen Überblick.«
»E-Mails?«
»Es gibt ein ganz normales E-Mail-Programm, Outlook Express. Ich habe die gesendeten und empfangenen E-Mails durchgesehen, aber es sieht völlig harmlos aus. Beinahe ein bisschen offiziell. Ich denke mal, dass es noch weitere E-Mail-Adressen gibt. Hotmail und Yahoo sind unter den besuchten Seiten.«
Kerstin Holm verzog das Gesicht kaum merklich und sagte: »Und die obligatorische Frage: Irgendwelche Sexseiten?«
Jorge Chavez zuckte die Schultern. »Direkt pornografische Seiten habe ich nicht gefunden, aber ich ahne Kontaktseiten... Die Grenzlinie dazwischen ist manchmal haarscharf.«
»Also keine direkten Schlüsse?«, fasste Kerstin Holm zusammen und unterdrückte ein Seufzen.
»Ich finde schon«, sagte Axel Löfström.
Die übrigen drei starrten verwundert auf die kostenintensive externe Kapazität.
Sich auf die Beweiskraft einer dunklen Erfahrungswelt stützend, führte er seinen Gedankengang zu Ende. »Dies hier ist der Computer einer Unschuld«, sagte er trocken.
Arto Söderstedt blickte über das in frühsommerlichem Regen ertrinkende Stockholm, und eine Bewegung in den Augenwinkeln ließ ihn den Blick nach unten richten. Er stand unter einem Regenschirm auf dem Monteliusväg, einem künstlich angelegten Wanderweg oberhalb des Steilufers von Mariaberget, und schaute nach unten. Der Felsen fiel wirklich senkrecht ab, und auf halber Höhe hing ein Mann mit einer Art Hammer in der Hand. Er hackte sich langsam durch den Regen aufwärts.
»Was tut der da?«, stieß Viggo Norlander unter seinem eigenen Regenschirm aus.
»Der gibt sich 'ne Dröhnung«, sagte Söderstedt.
»Komisches Kifferlokal«, sagte Norlander.
»Endorphine«, sagte Söderstedt und widerstand der Versuchung, ein paar kleine Steine hinunterzutreten.
»Was bitte?«
»Das Leben ist zu einer Jagd nach Kicks geworden. Manche brauchen ganz einfach Endorphinkicks. Diese Figur da schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Endorphinkick und Exhibitionismus im Doppelpack.«
Sie wandten sich von dem Kletterer ab und einer Parkbank mit idealer Aussicht über Stockholm zu. Im Moment allerdings war sie regennass. Als ob der Regen die letzten Spuren des schrecklichen Anblicks fortwaschen wollte, der vor gar nicht langer Zeit zwei unschuldigen Nachtschwärmern hier begegnet war. Ein barmherziger Regen des Vergessens, wie er seit der Gründung der Stadt immer wieder auf Stockholm gefallen war.
»Allen zur Warnung«, sagte Söderstedt.
»Was?«, sagte Viggo Norlander.
»Bestimmt ist er hier als abschreckendes Beispiel hergesetzt worden, gleichsam vor die Augen von ganz Stockholm. Wie der Schandpfahl auf dem Marktplatz im Mittelalter. Oder auf dem öffentlichen Galgenhügel. Das Rad mit den zur Schau gestellten Körperteilen. Bestimmt war der eigentliche Zweck des Ganzen eine Warnung. Extreme Gewalt als öffentliches Schaustück.«
»Vielleicht«, meinte Norlander. »Aber in dem Fall ist es misslungen.«
»Wieso?«
»Es weiß doch niemand etwas davon, außer ein paar nächtliehen Betrunkenen und einer faulen Polizeistreife in der Bastugata.«
»Das ist reiner Zufall«, entgegnete Söderstadt und trat näher an die Parkbank heran. »Es hätte einen Aufschrei in den Medien geben müssen. Lediglich eine Polizeistreife, die an und für sich vorbildlich arbeitete, nachdem sie erst einmal angebissen hatte, stand dem im Wege. Der polizeiliche Auftrag ist inzwischen zweigeteilt: Verbrechen aufklären und sie von den Medien fernhalten. Du hast ja mit ihnen gesprochen, Viggo. Was haben sie in der abseits gelegenen Bastugata gemacht?«
»Sie faselten irgendwas von einem möglichen Einbruch, aber es lag keine entsprechende Meldung vor. Schließlich gaben sie zu, dass sie eine Kaffeepause gemacht haben. Sie zogen sich von der etwas belebteren Hornsgata zurück, um ihren Seven-Eleven-Kaffee zu trinken und ihren Seven-Eleven-Mazariner zu mampfen.«
»Aber das ändert nichts an der Absicht«, sagte Söderstedt. »Am Motiv. Es geht trotz allem darum, dass das Opfer einer brutalen Hinrichtung zur Schau gestellt werden sollte.«
»Aber für wen? Wir wissen ja nicht einmal, wer der Mann ist. Das klingt nach einem Schlag ins Leere.«
Söderstedt ging um die Parkbank herum und schaute über die verregnete Stadt. »Ich glaube, du legst den Finger auf die Kernfrage«, sagte er. »Es ist ein internes Zeichen. Für eine spezifische Gruppe. Sie sollten sofort verstehen, wer er war und dass man es auf sie abgesehen hatte.«
»Sind das nicht ein bisschen zu weitreichende Schlüsse?«, wandte Norlander unter seinem Schirm ein. »Vielleicht ist er aus reinem Zufall hier abgeladen worden.«
»An diese Art Zufall glaube ich nicht. Das hier ist dermaßen extrem, das bedeutet mehr. Sag bloß, du findest nicht, dass es förmlich nach wichtiger Mitteilung stinkt.«
Norlander beobachtete Söderstedt hinter der Parkbank. Statt eines kreideweißen Herrn unter einem triefenden Regenschirm tauchte ein Mann mit einem tief in die Stirn gezogenen Hut vor seinem inneren Auge auf. Jemand fasst die Krempe an und hebt sie hoch, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Und der Kopf kommt mit. Er neigt sich mit nach hinten, fällt herunter und bleibt auf dem Rücken an den Halswirbeln hängen. Viggo Norlander starrt direkt auf die beiden Schnittflächen des durchgetrennten Halses.
Er erschauderte und räumte ein: »Doch.«
»Doch?«
»Doch, nein, ich sage nicht, dass es nicht nach Mitteilung stinkt.«
»Aber an wen ist die Mitteilung gerichtet?«, sagte Söderstedt.
»Eine Mafiagruppierung?«
»Das wäre das Schwierigste, denn dann erklärt sich die Tatsache, dass er nicht in der Polizeikartei steht, damit, dass er Ausländer ist. Und dann dürften wir ihn nie ausfindig machen.«
»Und dann«, sagte Norlander, »findet er sich auch nicht auf der Liste verschwundener Personen, mit der wir uns befassen müssen.«
»Es wäre schön, wenn wir einen anderen Zugang fänden«, sagte Söderstedt. »Aber im Augenblick sehe ich keinen.«
»Wir müssen an Gruppierungen denken und uns an die bekannten Zuträger wenden.«
»Und so weiter nach dem Polizeihandbuch...«
»Ausnahmsweise, ja«, sagte Norlander und machte auf dem Absatz kehrt.
Söderstedt folgte ihm sanftmütig.
Paul Hjelm war der Meinung, dass ein rascher Blick auf Bengt Äkesson ausreichen müsste, um zu erkennen, wer hier das Sagen hatte. Das hätte er natürlich vorher wissen sollen.
Aber die Situation war so außergewöhnlich, dass er jedes Gefühl dafür verloren hatte, wer wen manipulierte. Der Manipulationen und Machtspiele unendlich überdrüssig, begann er sich beinahe - beinahe - damit zu versöhnen, dass dies das Leben war. Das soziale Leben.
»Rille«, stellte sich der Mann vor, dem er in dem dunklen Raum am Lindhagenplan die Hand schüttelte.
»Berra«, sagte der etwas jüngere und blondere Mann, dem er anschließend die Hand gab.
Der untersetzte, redselige Mann mit Hosenträgern, der zwischen den beiden stand und wie der Boss wirkte, verdeutlichte: »Rikard Landberg und Bert Olofsson, Stefan Willners engste Kollegen. Und ich bin also Leif-Äke Kvarn, Geschäftsführer und Inhaber von Kvarns Elektriska AB.«
Paul Hjelm nickte und machte eine Handbewegung zu einer Reihe öliger Wagen in dem schmutzigen Kellerraum. »Und das sind also die Firmenwagen?«, sagte er.
»Ja«, sagte Leif-Äke Kvarn und zog an seinen Hosenträgern. »Der ganze Park bis auf einen Wagen. Uns ist schon mal der eine oder andere Wagen draußen in der Stadt demoliert worden, aber noch nie hat uns jemand einen geklaut. Das kommt daher, dass unser Sicherheitsniveau verdammt hoch ist. Man braucht einen Code, eine Karte und zwei Schlüssel, um hereinzukommen. Das ist der Vorteil, wenn die Garage in unmittelbarer Nähe der Werkstatt liegt.«
»Es kann also keiner außer Stefan den Wagen genommen haben?«
»Nein«, sagte Kvarn und nahm Anlauf zu seinem nächsten Wortschwall. »Ganz ausgeschlossen. Ich habe acht Angestellte, und die anderen sind da. Und außer dem Code, der Karte und den Schlüsseln, um in die Garage zu gelangen, muss man noch durch drei Schlösser durch, um sich im Büro den Schlüssel zu holen. Das letzte ist in einem Safe, zu dem nur drei Vorarbeiter die Kombination kennen. Steffe ist einer von ihnen. Oder war, muss ich wohl sagen. Der wird nie wieder für mich arbeiten.«
»Können Sie sagen, wann der Wagen verschwand?«
»Rille und Berra haben ihn am Freitagnachmittag reingebracht. Dann verschwand er irgendwann am Wochenende. Genauer kann ich es nicht sagen.«
»Was ist das für ein Wagen?«
»Ein Wagen für unterirdische Elektroarbeiten mit einer Persenning über der Ladefläche. Mit einem Kran für Kabelarbeiten. Ein starker Brummer, kann bis zu zwei Tonnen heben, und wenn man die Stützbeine ausfährt, noch mehr.«
Hjelm gelang es, den Wortschwall einzudämmen, indem er sich den beiden Blaumanngekleideten zuwandte, die ihren großspurigen kleinen Chef flankierten.
»Erzählen Sie von Freitag«, sagte er. »War etwas Besonderes los?«
Rikard Landberg und Bert Olofsson sahen sich an.
Schließlich sagte Rille: »Es war überhaupt nichts Besonderes an dem Tag. Wir ziehen neue Kabel in der Stora Nygata ein und waren praktisch den ganzen Tag unten im Loch. Wir wären sicher heute fertig geworden, wenn wir nicht hergerufen worden wären, um mit Ihnen zu reden.«
»Das Loch?«
»Es ist eine Grube in der Straße«, sagte Berra. »Mit einer Plane abgedeckt. Von außen sieht es wie ein Zelt aus.«
»Ein niedriges Zelt«, präzisierte Rille.
»Wie war Steffe am Freitag?«, fragte Hjelm.»Wie immer?«
»Ja, verflucht«, sagte Rille. »Wie immer ziemlich gedämpft vor dem Wochenende, aber sonst war nichts Besonderes. Er hat ein paar Probleme mit seiner Frau.«
»Aber darüber redet er nicht direkt«, sagte Berra.
»Können Sie sich erinnern, ob irgendetwas Besonderes passierte? War er zum Beispiel zeitweilig allein in der Grube?«
Es blieb eine Weile still. Blicke wurden gewechselt. Dann begannen Rilles Augen zu leuchten. Er zeigte auf Berra und sagte: »Systembolaget.«
»Wieso, was?«, sagte Berra verwirrt.
»Wir wollten in den Laden und uns fürs Wochenende mit Alkohol eindecken. Steffe sollte mit. Aber dann hatte er - was hat er gesagt? - Flecken auf die Hose bekommen und konnte nicht mitkommen.«
»Öl«, nickte Berra. »Genau. Als wir vom System zurückkamen, war er weg. Er nimmt die U-Bahn und fährt deshalb nicht mit uns zurück hierher. Also haben wir den Wagen allein zurückgefahren. Die Nahverkehrsverbindungen hier sind nicht die besten, um es mal so zu sagen.«
Er sah kurz zu Kvarn und fuhr mit übertriebener Betonung fort: »Aber sonst ist es ein verdammt guter Arbeitsplatz.«
»Und das war alles?«, sagte Hjelm.
»Es war schon ein bisschen komisch«, sagte Rille mit einem Schulterzucken. »Ein bisschen Öl am Blaumann ist doch kein Grund, nicht ins System zu gehen.«
Paul Hjelm nickte und warf einen Blick auf den stummen Bengt Äkesson, der im Raum umherging und sich umsah und nur zweideutig mit den Schultern zuckte. Sie waren kein richtig eingespieltes Duo.
»Und nach dieser Sache haben Sie also nichts mehr von ihm gehört?«, fragte Hjelm.
»Nix«, sagte Rille.
»Wir sind direkt nach Nyköping abgedampft«, sagte Berra.
»Ein Radius von hundert Kilometern«, sagte Rille. »Von Stockholms City«, sagte Berra.
Kerstin Holm saß in ihrem Zimmer und dachte über drei Dinge nach, die sich auf beunruhigende Weise miteinander verflochten: Vorurteile, Liebe und die schwierige Beziehung zwischen diesen beiden.
Zuerst Vorurteile. Emily Flodberg war jetzt seit über vierundzwanzig Stunden verschwunden. Die Zeit lief ihnen davon, und Kerstin fragte sich, wie weit sie sich auf ihre Vorurteile verlassen konnte. Denn war das, was ihren Spürsinn auf Birgitta Flodberg lenkte, etwas anderes? Was war es an dieser schlechten Entschuldigung für eine Mutter, das so hartnäckig ihre Aufmerksamkeit festhielt? Und warum überhaupt >eine schlechte Entschuldigung für eine Mutter<?
Kurz gesagt, sie war frustriert.
Man musste etwas in der Hinterhand haben, wenn es einen Sinn haben sollte, mit Emilys Mutter zu sprechen. Es gab zwei Punkte, an denen man graben konnte. Leider verlangten beide nach etwas, was man nicht hatte: Zeit. Als Erstes war Chavez' und Andersons Bericht über Emilys Festplatte abzuwarten. Als Zweites eine gründliche Durchleuchtung von Birgitta Flodbergs finanzieller Situation.
Immer dieses >abwarten<.
Sie stand in ständigem Kontakt mit Jorge, der zuletzt in seiner ein wenig irritierenden Art angedeutet hatte, er sei auf die Spur von etwas gekommen. Ihm zufolge handelte es sich darum, >die Spuren einiger gelöschter Bilder zusammenzufegen und danach ein Puzzle daraus zu legen<. Kerstin war sich nicht sicher, ob die Metaphorik stimmte.
Jon Anderson hatte schlicht nichts zu sagen. Und die mystische externe Aushilfskraft Axel Löfström war noch stummer, falls das überhaupt möglich war.
Also Ausgrabungspunkt Nummer zwei. Birgitta Flodberg war weder Opfer noch Verdächtige, und sie hatte keine kriminelle Vergangenheit. Somit hatte Kerstin Holm keinerlei juristische Handhabe, um tiefer in ihrer Finanzsituation zu graben. Aber es existierte die öffentliche Steuererklärung, und die bestätigte nur, was Kerstin schon gesehen hatte: Frau Flodbergs Einkünfte reichten exakt für die monatliche Zahlung für ihre Wohnung. Einen Kredit hatte sie nicht aufgenommen; Birgitta Flodberg musste also die Kapitaleinlage für die Wohnung in bar geleistet haben. Doch es gab kein Kapital, von dem sie das Geld hätte nehmen können.
Die Frage blieb: Woher kam das Geld? Eigentlich gab es nur zwei Antworten. Entweder verfügte Birgitta Flodberg über ein ausgeklügeltes System von Steuertricks einschließlich geheimer Konten in der Schweiz oder auf den Cayman Islands, oder sie hatte einen Koffer mit Bargeld im Kleiderschrank.
Beide Möglichkeiten ließen auf eine Form von Kriminalität schließen. Im ersten Fall wäre sie wohl kaum allein, sondern ein Glied oder ein Außenposten in einem irgendwie gearteten größeren Geflecht. Im zweiten Fall handelte es sich eher um eine Form von Kriminalität, vielleicht lagen im Kleiderschrank die Reste eines unaufgeklärten, tja, Postraubs.
Oder alles waren Vorurteile.
Dann Liebe. Eigentlich sollte sie sich in einem Zustand der Gelöstheit befinden. Es war ziemlich genau zwei Jahre her, seit sie zum ersten Mal in Bengt Äkessons blauen Bannkreis geraten und darin in die Irre gegangen war. Als sich zeigte, dass er von einem blonden Bombeneinschlag namens Vickan in Beschlag genommen war, da war ihr schlummerndes Begehren bereits geweckt, ungefähr wie bei einem Bären, der aus dem Winterschlaf geweckt wird. Sie floh zu einem Mann, der sie auf schmähliche Weise hinterging.
Sie war nicht besonders pessimistisch veranlagt, aber der Vorfall hatte sie dazu gebracht, daran zu zweifeln, dass sie je wieder mit jemandem zusammenleben könnte. Vielleicht hatte sie unrealistische Ansprüche, war zu alt - oder es stimmte ganz einfach etwas nicht mit ihr. Als sie jetzt zuließ, dass sie wieder in den blauen Bannkreis gezogen wurde, war sie äußerst vorsichtig, ging wie auf dünnem Eis und wagte am Ende den Absprung.
Das Ergebnis war die vergangene Nacht, das Ende eines Prozesses und der Anfang eines neuen. Aber das Fantastische der Nacht hatte sich bereits in etwas ganz anderes verwandelt, in eine Frage des Vertrauens. Und in diesen Regionen war die Verbindung von Liebe und Vorurteilen aktiviert worden. Gerade als die Liebe die Chance bekam, sich in Freiheit zu entfalten, kam die Störung - es war fast ein Muster in ihrem Leben. Die Störung bestand in der Frage, was sie in diesen blauen Bannkreis gezogen hatte - war es wirklich Vertrauen gewesen? War es nicht eher - Gefährlichkeit? Sie fragte sich, ob die Forderung nach Vertrauen nicht erst in zweiter Linie auftaucht, wenn eine Frau einen Mann begehrt. Und wenn das so ist: Hatte diese Gefährlichkeit nicht auch eine Kehrseite, eine Nachtseite? Die Forderung nach Vertrauen war viel zu schnell und von der falschen Seite gekommen. Natürlich würde sie bis zum letzten Blutstropfen an seiner Seite stehen - nach außen hin. Aber wie sicher war sie im Innersten?
Und was bewirkte dies nun wiederum für die Liebe, die genau jetzt die Chance haben sollte, sich zu entfalten?
Ihre früheren Erfahrungen mit Männern boten wenig Trost. War nicht ihr ganzes Inneres darauf eingestellt, Vorurteile gegenüber Männern zu haben? Kerlen? Jetzt musste sie einer Frau gegenüber Stellung beziehen, die behauptete, sexuell belästigt worden zu sein, ein Phänomen, mit dem sie selbst nur allzu viele Erfahrungen gemacht hatte. Die Frage des Vertrauens richtete sich in mindestens ebenso starkem Maß an sie selbst wie an Bengt Äkesson.
Konnte sie sich selbst vertrauen?
Alle möglichen widersprüchlichen Gefühle sollten sie durchströmen, sie sollte ihr Herz in der Hand tragen. Merkwürdigerweise empfand sie aber ziemlich wenig, als befände sie sich in sehr weitem Abstand von sich selbst und blickte auf sich hinunter.
Sie fragte sich, wo die Grenze einer Abwehrreaktion verlaufen durfte.
Eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche. So hatte Arto Söderstedt die Sache immer betrachtet. Nüchtern und besonnen. Er war Humanist genug, um an die Seele zu glauben, und es war immer so offensichtlich, dass die Seele weit, weit weg war.
Sie war auch jetzt weit weg. Aber eine Leiche war nicht immer eine Leiche. Es gab Ausnahmen.
Der Kopf des Mannes lag an Ort und Stelle auf der Metallbahre; wäre nicht die schwache rote Linie am Hals gewesen, dann wäre eine Leiche wirklich eine Leiche gewesen. Aber die Linie war da, und in ihrer ganzen Anspruchslosigkeit rief sie die entsetzlichsten Bilder hervor. Söderstedt fühlte sich schwindelig, als er sich zum mit Abstand ältesten Gerichtsmediziner der Welt umwandte, dem pensionsverweigernden Uhu namens Sigvard Qvarfordt.
»Du bist zwar immer ziemlich weiß«, knarrte Qvarfordt, »aber jetzt ist der Kittel weißer als du.«
Söderstedt blickte an dem absurden Krankenhauskittel hinunter. Das Ding war wirklich sehr weiß.
»Gibt es etwas zu sagen?«, brachte er heraus und spürte Viggo Norlanders prüfenden Blick im Nacken. Er sah ihn vor sich, wie er für einen Augenblick von seinem Computerausdruck aufblickte und mit einer gewissen Verwunderung die momentane Schwäche des ebenso routinierten Kollegen betrachtete.
Qvarfordt musterte ihn eine Weile mit dem Rest eines objektiv prüfenden ärztlichen Blicks und kam anscheinend zu dem Ergebnis, dass der Weiße nicht ohnmächtig werden würde. Er drehte sich um, schwenkte den Arm in Richtung der Leiche und sagte: »Ein bisschen. Mann um die fünfzig, leicht übergewichtig, einsvierundsiebzig groß, einundneunzig Kilo, helle Haut, rotblondes Haar. Er starb gestern, Montag, den vierzehnten Juni, ungefähr um fünf Uhr am Nachmittag. Die Todesursache dürfte offensichtlich sein. Er starb an Strangulierung. Dass der Kopf dabei gleich mitkam, war mehr ein Nebeneffekt, gibt aber zugleich eine Andeutung von der aufgewendeten Kraft.«
Söderstedts Lebensgeister kehrten allmählich zurück, zumindest einige, und er sagte: »Kann man sich eine Vorstellung von dieser Kraft machen?«
Der Raum gewann wieder Konturen. Sie waren zu fünft darin, davon einer nicht mehr in der Lage zu antworten. Und da Arto Söderstedt nicht die Absicht hatte, seine Frage selbst zu beantworten, gab es drei mögliche Kandidaten. Dennoch wusste er sofort, wer antworten würde. Er drehte sich um und betrachtete die beiden Männer hinter sich, ebenso in Weiß gekleidet wie er und Qvarfordt. Norlander stand völlig unberührt da und studierte eingehend einen Computerausdruck.
Neben ihm stand ein mindestens ebenso unberührter sehniger Herr im fortgeschrittenen mittleren Alter, der allzu viele gemeinsame Züge mit Sara Svenhagen aufwies, als dass man ein gutes Gefühl dabei gehabt hätte. Es gab einem nämlich nie ein gutes Gefühl, Saras schöne Gesichtszüge in der grotesk kantigen Zerrspiegelversion ihres Vaters wiederzuerkennen.
»Groß«, sagte Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen und nickte bedächtig. »Sehr groß. Aber nicht unkontrolliert.«
»Nein«, knarrte Qvarfordt. »Die Schnittflächen sind merkwürdig sauber.«
»Ein genau geplanter Mord?«, sagte Söderstedt.
»Und ganz sicher nicht der erste«, sagte Svenhagen. »Hier sind routinierte Hände am Werk gewesen.«
»Profi?«
»Vielleicht. Aber ich habe keine internationale Parallele gefunden.«
»Was?«, sagte Viggo Norlander und blickte von seiner Liste auf.
Brynolf Svenhagen betrachtete ihn eher müde als streng und verdeutlichte: »Ich bin weltweit auf nichts Vergleichbares gestoßen. Aber ich suche natürlich weiter.«
»Ausgezeichnet«, sagte Söderstedt, um den Grantigen bei Laune zu halten. »Von welcher Art Kräften sprechen wir? Auf jeden Fall nicht übermächtigen? Als ob es maschinell gemacht worden wäre, mithilfe einer Höllenmaschine? Oder von einem übermenschlichen Wesen?«
»Nein«, sagte Svenhagen, ohne eine Miene zu verziehen. »Es handelt sich um menschliche Kräfte, aber an der oberen Grenze. Von uns hier drinnen hätte wohl nur Norlander Kraft genug - er müsste aber noch ordentlich üben, um die Präzision zu erreichen. Das ist nicht seine stärkste Seite.«
Viggo Norlander blickte auf und zog beide Augenbrauen in die Höhe. Dann wandte er sich wortlos wieder der Liste zu.
»Der Mörder ist groß, stark, fokussiert, zielgerichtet, kaltblütig und - vollkommen wahnsinnig?«, sagte Söderstedt.
»Das oder ein Profi«, sagte Svenhagen.
»Oder sowohl als auch«, sagte Norlander, ohne den Blick zu heben.
»Nein«, sagte Söderstedt nachdenklich, »nicht vollkommen wahnsinnig. Es ist ein großer, starker Hass im Spiel, so viel ist klar. Es spielt eigentlich kaum eine Rolle, ob der Mörder von jemandem, der hasst, beauftragt war oder ob er selbst hasst - Hass ist der Kern. Entweder ist es rein persönlich, aber dann wird diese dramatische Präsentation auf Mariaberget sinnlos, oder das Opfer repräsentiert etwas Verhasstes, aber dann muss man sich fragen, wie der Hass so stark werden kann. Wenn dies nicht das erste Opfer ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um etwas rein Persönliches handelt, geringer. Die Routine im Morden, die du andeutest, Brynolf, verstärkt meinen ersten Eindruck, nämlich den, dass hier etwas im Gang ist, vielleicht sogar eine Mordserie, und dass sie jetzt - mit dem gründlich durchdachten Beschluss, das Opfer allen zur Warnung gleichsam zur Schau zu stellen - zu eskalieren beginnt. Was es auch sein mag - wir sehen etwas Besorgniserregendes. Wir müssen aus diesem Opfer das Maximale herausholen, denn ich frage mich, ob dies nicht ein wirklich gefährlicher Mörder ist. Bisher hat er seine Opfer versteckt, es ist niemand gefunden worden, jetzt wählt er plötzlich die entgegengesetzte Strategie.«
»Wir arbeiten auf Hochtouren mit der DNA des Opfers«, erwiderte Svenhagen und schien von Söderstedts Tirade tatsächlich ein wenig beeindruckt zu sein. »Bisher haben weder die DNA noch die Fingerabdrücke irgendwelche Treffer erbracht.«
Arto Söderstedt nickte und sagte: »Gibt es einen Hinweis darauf, wo sich die Leiche während der zehn Stunden zwischen Eintritt des Todes und der Deponierung auf der Parkbank am Monteliusväg befunden hat?«
»Der Körper ist quasi staubgesaugt«, sagte Svenhagen. »Wenn eine fremde DNA daran ist, finden wir sie. Außerdem haben wir gewisse Partikel gefunden, die möglicherweise deine Frage beantworten. Allem Anschein nach handelt es sich um eine Art Flusen, vielleicht von einem Teppich, und um etwas Schmieriges, wahrscheinlich Ol.«
»Der Kofferraum eines Wagens?«
»Durchaus denkbar.«
»Und die Kleidung?«, fuhr Söderstedt fort. »Was hatte er an? Welcher Stil, Typ?«
»Man kann von einem eleganten, sommerlich leichten hellen Anzug über einem quer gestreiften T-Shirt sprechen«, sagte Svenhagen. »Ein kleines Tuch um den Hals. Und dann der berüchtigte breitrandige Hut. Auch der hell, beinahe weiß, mit schwarzem Band. Aber ihr habt die Bilder ja gesehen.«
»Es war nicht direkt die Kleidung, die meine Aufmerksamkeit geweckt hat«, sagte Söderstedt zurückhaltend. »Künstlerkleidung? Vielleicht etwas jugendlicher, als ihm angestanden hätte?«
»Vielleicht«, sagte Svenhagen mit einem Schulterzucken. »Ich würde so was nie tragen. Ein bisschen bohememäßiger Stil, vielleicht, aber nichts Außergewöhnliches... Und ihr, findet ihr etwas in den Registern?«
Viggo Norlander blickte von seiner Computerliste auf: »Was?«
»Heißt es neuerdings >Was?<« fragte Söderstedt. »Was ist aus dem guten alten >Schnauze< geworden?«
»Schnauze«, sagte Norlander und fügte hinzu: »Was?«
»Aha«, sagte Söderstedt. »Ich verstehe.«
»Ein bisschen Ernsthaftigkeit, wenn ich bitten darf«, sagte Svenhagen urgesteinkantig. »Wie läuft es mit den Listen, Norlander?«
»Verschwundene Personen«, sagte Viggo Norlander und gab der Computerliste einen Klaps. »Wer sagt uns denn, dass er eine verschwundene Person ist? Vielleicht war er gar nicht verschwunden, als er starb?«
»Geschweige denn vermisst«, sagte Söderstedt. »Aber wir haben sonst nicht viel, woran wir uns halten können. Falls nicht...«
»Nicht die drei Punkte«, sagte Norlander. »Die sind scheißanstrengend.«
»Ich frage mich...«, sagte Söderstedt und zögerte.
»Nun komm schon zu Potte«, sagte Norlander ungeduldig.
»Die Leichen müssen da sein...« »Was?«
»Er hat schon früher Leuten mit seiner Klaviersaite den Hals durchtrennt, wenn wir mal davon ausgehen, dass er seine Präzision nicht an Hunden trainiert hat. Es gibt aber nirgendwo Leichen. Also hat er sie entweder richtig gut vergraben, oder er hat die Wunde erfolgreich verdeckt. Um eine so grobe Verletzung zu verdecken, bedarf es einer noch größeren Verletzung. Ich glaube, wir müssen unter richtig entstellten Leichen suchen, Viggo. Ungeklärte Todesfälle unter Opfern von Verkehrsunfällen, bei Frontalzusammenstößen. Oder verbrannte Leichen, verkohlte Körper. Wo niemand eine Köpfung sucht oder zu finden vermag.«
»Was?«, sagte Norlander.
»Enthauptung«, verdeutlichte Söderstedt.
»Gut«, stieß Svenhagen aus. »Gut gedacht. Selbstredend.«
Arto Söderstedt starrte verwirrt auf den plötzlich ausgelassenen Chefkriminaltechniker.
Dann hörte man ein knarrendes Geräusch. Die drei wandten sich um und erblickten den Gerichtsmediziner Sigvard Qvarfordt, wie er ein Laken über den Toten schlug. Dabei erklärte er mit knarzender Stimme: »Da ist noch eine Sache, die ihr in eure Überlegungen einbeziehen müsst...«
»Ich ahne drei Punkte«, sagte Viggo Norlander.
Qvarfordt ignorierte ihn gnadenlos und knarzte weiter: »Er hatte Aids.«
Ein metallicblauer Dienst-Volvo, Typ >gehobener Beamter<, glitt durch Stockholm. Aus den Stereolautsprechern erklang eine schöne, aber zeitweilig disharmonische Klavierwanderung vor dem Hintergrund einer fetzigen Rhythmussektion. Das fand auf jeden Fall Paul Hjelm und drehte die Lautstärke auf, sodass die Geräusche der Stadt verschwanden.
Auf dem Beifahrersitz hielt Bengt Äkesson sich die Ohren zu. »Was ist das für ein verdammter Lärm?«, schrie er.
Paul Hjelm seufzte und dachte an Kerstin Holm. Was hast du getan, Kerstin?, dachte er. Du, die im Chor singt und Jazz liebt. Du mit deinem Gefühl für die musikalischen Nuancen des Lebens. Was tust du mit diesem Neandertaler? Unnötige Frage...
»Das ist das Esbjörn Svensson Trio, EST«, sagte er. »Seven Days of Falling. Phantastische Musik.« »Es ist grotesk«, schrie Äkesson.
Endlich ein Polizist, der ein richtiger Polizist ist, dachte Hjelm. Aber was hat er mit dir zu tun, Kerstin?
»Das Stück heißt Ballad for the Unborn. Achte mal auf die kleinen rhythmischen Wechselläufe. Ganz wunderbar.«
Er lehnte sich zurück, ließ die sehr speziellen Klänge das Wageninnere erfüllen, gab Gas, schlängelte sich zwischen den ständigen Baustellen auf Vasabron in Höhe von Strömsborg hindurch, Stockholms kleinster Insel, und gelangte bei Riddarhuset auf den alten Stadsholm hinaus. Vor der Front des Wagens erstreckte sich die Lilla Nygata so schnurgerade, dass man bis nach Södermalm sehen konnte. Aber man konnte nicht hineinfahren. Er wendete bei der Riddarholmskirche und ließ den Wagen zu der zentralen Bebauung von Gamla Stan hinaufgleiten.
»Wir haben zwei Stellen, an denen wir ansetzen können«, sagte Paul Hjelm. »Wir haben das Öl an der Hose, und wir haben die Äußerung >Jetzt ändere ich verdammt noch mal die ganze Geschichte<. Aber es ist doch bestimmt ein und dieselbe Stelle, nämlich die, an der er selbst gegraben hat?«
»Mach das mal leiser«, schrie Äkesson.
Hjelm beobachtete ihn, während er in die Stora Nygata einbog und den metallicblauen Dienst-Volvo in südlicher Richtung durch Gamla Stan gleiten ließ. Ein paar Sekunden zu lange ließ er die Musik laufen, dann drehte er den Ton leiser.
»Also«, sagte Äkesson vergrätzt. »Er hat in der Grube etwas gefunden, was er holen wollte. Dafür musste er den
Kranwagen der Firma entwenden. Er verheimlichte seinen Fund, indem er einen Ölfleck auf der Hose vorschob, damit die Kumpel verschwanden und ihn in Ruhe ließen. Und das, was er fand, sollte >die ganze Geschichte ändern<. Ich nehme an, wir haben es hier mit Archäologie zu tun.«
Hjelm lächelte. Zwei gute Polizisten können noch so verschieden sein, aber sobald es um Spürsinn geht, sind sie sich gleich.
»Aber das ist jetzt weg«, sagte Hjelm. »Was?«
»Genau. Was ist weg? Das ist die Kernfrage.«
»Was ändert die Geschichte?«, sagte Äkesson und zuckte mit den Schultern.
Die Zeltbahn war gelb und lag fast auf Höhe des Straßenniveaus. Eine frühsommerliche Brise wehte darüber und ließ sie Wellen werfen wie ein Rapsfeld im böigen Wind. Paul Hjelm parkte vorschriftswidrig an der Kreuzung zu Tyska Brinken und sprang geschmeidig aus dem Dienst-Volvo. Äkesson war ebenso schnell draußen. Sie waren exakt gleichzeitig bei der gelben Plane und hoben sie an.
Es gab natürlich nichts zu sehen.
Rille und Berra hatten zwei Arbeitstage Zeit gehabt, um sämtliche Reste möglicher Beweise zu vernichten. Es gab nichts dort unten in dem Durcheinander von Schlamm und Kabeln und Leitungen und Rohren, das auch nur im Geringsten als geschichtsverändernd gedeutet werden konnte.
Paul Hjelm streckte den Rücken und blickte sich in der Stora Nygata um. Die Fassaden waren glitzernd schön auf diese mittelalterliche, immer wieder renovierte Art von Gamla Stan. Die Zahl der Geschäfte war Legion, neu eröffnete Cafes und hippe Ladenlokale mischten sich mit alten Tabakläden und Antiquariaten. Auf der anderen Straßenseite lag ein anscheinend neu eingerichtetes Immobilienmaklerbüro. Und im Schaufenster, schräg oben hinter den Annoncensäulen, die mit Wohnrechtverträgen für renovierte Luxuswohnungen warben, saß etwas, das Paul Hjelms Interesse weckte. Er überquerte die Straße und trat näher. Bengt Äkesson folgte ihm zögerlich.
Gemeinsam betrat das ungleiche Duo ein Immobilienbüro, das förmlich nach Nouveau Riche stank. Hier drinnen herrschte eine kühle, leicht parfümierte Atmosphäre, und aus den prächtigen Räumen aus dem 15. Jahrhundert war ein leichtgewichtiges Boudoir in blauen Nuancen und Achtzigerjahrechrom geworden. Paul Hjelm trat an den Empfangstisch, an dem eine ansehnliche junge Frau in einem Sommerkleid in passendem Blau mit einem Headset über ihrer wohlgeformten Frisur saß und ihm entgegenlächelte. Er lächelte zurück und drehte einen ihrer drei Flachbildschirme zu sich. Ihre Proteste waren sanft, aber deutlich. Während er ihr seinen Polizeiausweis hinhielt, beobachtete er den Bildschirm.
»Geh zurück zur Tür«, sagte er.
»Ich?«, stieß Bengt Äkesson aus und bewegte sich unsicher durch den Raum.
»Nein, Sigmund Freud«, sagte Paul Hjelm.
Äkesson schlurfte in seinen ewigen Jeans zurück zur Tür und erschien auf der Mitte des Bildschirms. Hjelm drehte den Monitor noch ein Stück weiter in seine Richtung.
»Machen Sie meinen Monitor nicht kaputt«, sagte die Empfangsdame erschrocken.
Hjelm betrachtete das Bild mit Äkesson im Zentrum. »Jetzt komm her«, sagte er.
»Ich?«, fragte Äkesson.
Doch diesmal erhielt er keine Antwort. Hjelm war ganz auf den Bildschirm fixiert. Unten rechts an der Stelle, die Äkesson verlassen hatte, leuchtete es gelb.
Gelb wie ein Rapsfeld im Wind.
Hjelm trat ans Schaufenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und klopfte leicht an die gut versteckte kleine Videokamera an der Decke über dem Schaufenster. »Läuft die Kamera die ganze Zeit?«
Die Empfangsdame drehte ihren Monitor wieder zu sich, ganz vorsichtig, als ob ihre weitere Anstellung mit dessen Winkel stehe und falle, und antwortete spitz: »Je mehr Überwachung, desto günstiger die Versicherung.«
»Und Sie speichern die Aufnahmen?«
»Sie werden eine Woche lang auf einer separaten Festplatte gespeichert, ja. Danach werden sie überspielt.«
Paul Hjelm nickte und kehrte an den Empfangstisch zurück. »Wo ist diese Festplatte?«
»Ein Stockwerk höher, im Safe«, sagte die Empfangsdame.
»Wir müssten sie mal ausleihen. Mein Kollege hier wird die Aufnahmen des ganzen Wochenendes durchsehen. Und missverstehen Sie bitte meinen entgegenkommenden Ton nicht als Anfrage.«
Die Empfangsdame nestelte das Headset aus ihrer Frisur, während sie ihn beobachtete und zu überlegen schien, wie sie seine letzte Äußerung interpretieren sollte. »Ich spreche mit meinem Chef«, sagte sie und verschwand im Inneren des in kühlem Blau schimmernden Lokals.
Als sie allein waren, sagte Bengt Äkesson mit grimmigem, in die Länge gezogenem Ton: »>Mein Kollege hier wird die Aufnahmen des ganzen Wochenendes durchsehen<...«
»Ich gehe davon aus, dass das ganz im eigenen Interesse des Kollegen ist«, entgegnete Hjelm galant.
»Hm«, schnaubte Äkesson und wandte sich zur Straße um.
»Jetzt sei nicht bockig«, sagte Hjelm. »Dies ist ein Geschenk des Himmels. Nimm es an. Es ist dein Weg aus der Sache heraus.«
Bengt Äkesson betrachtete ihn und sagte ernst: »Manchmal machst du mir Angst, Paul Hjelm.«
Der Computer einer Unschuld, dachte Jorge Chavez. Von wegen.
Es gab zwar nur wenige handfeste Beweise in Emily Flodbergs Computer, dass sie Homepages besucht hatte, die nicht jugendfrei waren, aber es fanden sich Andeutungen. Sie hatte den Ordner mit früheren Besuchen gründlich gelöscht, alle temporären Dateien mit Internetanschluss waren entfernt, und sie hatte ein gut funktionierendes Spurenlöschprogramm.
Normalerweise registriert ein Computer alle Bewegungen im Internet. Aber das Netz bot inzwischen eine Vielzahl von Programmen, die mehr oder weniger effektiv alle Spuren löschen. Nützlich zum Beispiel für Verheiratete, die Pornoseiten besuchten, oder für Angestellte, die während ihrer Arbeitszeit aktives Dating betrieben. Das von Emily benutzte Programm gehörte zur Spitzenklasse in dieser Technologie. Es war nicht möglich, besuchte Homepages aufzuspüren.
Aber es gab einen anderen Weg.
Es begann damit, dass Axel Löfström sich über Chavez' Computer beugte und sagte: »Dieses FailSafe ist verflucht lästig, aber das weißt du ja.«
Jorge Chavez gab seine Schwächen nicht gern zu. In diesem Fall hätte es kein Problem sein müssen, weil sein Gegenüber ein Profi reinsten Wassers war, aber es widerstrebte ihm dennoch zu sagen: »Nein, ich weiß nicht, was FailSafe ist.«
Deshalb tat er es auch nicht, sondern sagte stattdessen: »Ich bin nicht sicher, ob mir sämtliche aktuellen Details des Verfahrens geläufig sind.«
Was den kostenintensiven externen Experten indessen nicht sonderlich beeindruckte, der jetzt zeigte, warum gewisse Ausgaben gut investiertes Geld sind.
Axel Löf ström rettete Jorge Chavez' Tag. Statt einer leeren Mappe mit endgültig gelöschten Homepages offenbarte sich eine andere Methode, die zwar zeitaufwendig, aber effizient Emilys Bewegungen im Netz über einen praktisch unbegrenzten zurückliegenden Zeitraum hervorzauberte. Man musste auf ziemlich komplizierten Wegen über Emilys Internet Provider gehen und eine bizarre Reihe von Daten dechiffrieren.
Sich zu bedanken kam Chavez jedoch nicht in den Sinn. Es gab schließlich Grenzen.
Also war es ihm endlich gelungen, eine Erfolg versprechende Spur zu finden, die nicht unbedingt dafür sprach, dass dies der Computer einer Unschuld war. Eine ganze Reihe von Punkten ließ auf das genaue Gegenteil schließen.
Und da war er jetzt. Genau an der Schwelle dessen, was man vielleicht einen Durchbruch nennen könnte.
Seine Finger ruhten auf der Tastatur. Seit er aufgehört hatte, E-Bass zu spielen, hatte Chavez kein solches Wohlgefühl in den Fingerspitzen mehr verspürt, was vermutlich einiges über seine und Saras Beziehung aussagte. Er saß dort an der Schwelle eines Durchbruchs und ließ für einen Augenblick seine Gedanken nach Ängermanland wandern. Er fragte sich, womit Sara sich in diesem Moment beschäftigte, woran sie dachte, ob er in ihrer Vorstellungswelt überhaupt noch eine Rolle spielte. In letzter Zeit hatte es nicht so gewirkt. Ihre Tochter Isabel war zwei Jahre alt, und ihr Sexualleben war völlig zum Stillstand gekommen. Er versuchte sie zu verstehen, er tat wirklich alles, was in seiner Macht stand, fand er, um zu begreifen, wie Leidenschaft sich so schnell in Überdruss verwandeln kann. Sie hatte zwar keine Kindheit voller Berührungen gehabt wie er selbst, sie war eher urschwedisch aufgewachsen, mit dem emotionalen Krüppel Brynolf als Vater, aber dennoch war es verblüffend, wie sie einen dermaßen raschen Übergang zu vollziehen vermochte, von einer Beziehung, in der man sich ständig berührte, zu einer, in der man jede Form von Kontakt vermied. Wirklich verblüffend, wenn man darüber nachdachte.
Wozu im Moment aber kaum der richtige Zeitpunkt war.
Aber wann war denn der richtige Zeitpunkt? Wann schafft man es, das zu tun, was immer, immer, immer getan werden muss, damit eine Beziehung überleben kann: einander Bestätigung zu geben, darüber zu sprechen, dass man einander noch liebt?
Geben und sprechen, sprechen und geben.
Dachte Jorge Chavez, und auf dem Bildschirm öffnete sich eine Homepage, auf deren Startseite ein kleines Rechteck in der Mitte fragte: >Passwort?<
Chavez ließ alle verwickelten Gedanken fallen, streichelte mit den Fingern die Tastatur und sagte laut: »Meine Herren.«
Jon Anderson und Axel Löfström blickten in seine Richtung, vielleicht nicht allzu begeistert, eher irritiert über die Störung, aber sie guckten auf jeden Fall.
Chavez fuhr ermuntert fort: »Ich befinde mich auf der Schwelle zu Emily Flodbergs privater Homepage. Jemand interessiert?«
Zwei Bürostühle rollten in seine Richtung und schienen den ganzen Raum in Schwingung zu versetzen.
Chavez öffnete seine Brieftasche und zog einen zusammengefalteten gelben Post-it-Zettel heraus. Er faltete ihn auseinander und las laut: »>Mistah.<«
Er betrachtete die Kollegen, um zu sehen, ob sie eine Reaktion zeigten. Nichts. Dann leuchtete Andersons Gesicht auf, und sein schlaksiger Körper streckte sich. »Mistah Kurtz«, nickte er. »Aus Herz der Finsternis. So nennen die Schwarzen den selbst ernannten Diktator Kurtz. Die Klasse hat doch da oben in Saltbacken Joseph Conrad gelesen.«
Chavez nickte und sagte: »Diesen Zettel hat Kerstin unter einem Haufen von Post-it-Blöcken in Emilys Zimmer gefunden. Es kann das Passwort sein.«
»Versuchen wir's«, sagte Axel mit einem Nicken.
Chavez beugte sich über den Computer, ließ die Fingerspitzen ein letztes Mal über der Tastatur schweben und gab >Mistah< ein.
Das Bild verschwand abrupt.
Aber am Fuß der Seite, in der unteren Zeile vom Internet Explorer, tickte ein wachsender blauer Stapel.
Nach zehn Sekunden intensiven Wartens tat sich eine Seite mit großen Lettern auf: >Emmys erotische Seite<.
»Emmy?«, sagte Jon Anderson skeptisch.
»Erotisch?«, sagte Axel Löfström noch skeptischer.
Der Computer einer Unschuld, dachte Chavez wieder und klickte den dubiosen Titel an. Wieder verschwand das Bild, und der wachsende blaue Stapel wurde sichtbar.
Dann erschien ein Foto.
Chavez warf einen Blick auf das neben ihm auf dem Schreibtisch liegende Foto von Emily Flodberg und konnte nur konstatieren, dass das nackte Mädchen in aufreizender Pose auf dem Schirm dieselbe Person war.
Emily nackt.
Das war alles.
Als Chavez den Pfeil über das Bild zog, veränderte es sich. Als ob es einen Link verbarg. Er drückte darauf. Ein Text erschien. Chavez las laut: »>Es kostet hundert Kronen das Stück, wenn du mehr Bilder sehen willst. Sie werden besser, das verspreche ich, und sie haben eine hohe Auflösung. Du kannst direkt bezahlen via.. .< Und dann eine Reihe von Banken. Und sie nimmt sage und schreibe auch American Express.«
»Meine Fresse«, sagte Jon Anderson und starrte auf den Schirm. »Wie kann sie per Kreditkarte kassieren?«
»Das ist heutzutage total einfach«, sagte Axel Löfström mit gewohnter Kennerschaft.
Chavez fuhr fort: »Und dann dieser hübsche Schriftzug: >Schreib etwas in mein Gästebuch oder schick mir eine Mail.<«
»Eine Mailadresse«, nickte Anderson. »Jetzt aber.« »Kontrolliert erst einmal das Gästebuch«, sagte Löfström unerwartet aufgekratzt.
Chavez klickte sich zu dem sogenannten Gästebuch durch, einem Internetdienst, wo man öffentliche, für jedermann lesbare Mitteilungen auf einer Seite hinterlassen kann.
Es war keine erbauliche Lektüre, die dem Trio vor dem Computer der vierzehnjährigen Emily Flodberg entgegenkam. Männer jedes Alters und mit verschiedenen Formen absurder Pseudonyme, so genannten Nicks, hatten Mitteilungen hinterlassen, die von Emilys Körper sprachen und was mit diesem getan werden sollte. Es war zutiefst abstoßend.
»Sie hat den Kopf tief in den Rachen des Löwen gesteckt«, sagte Anderson. »Warum?«
»Sie testet ihre Attraktivität«, sagte Axel Löfström, wiederum von einer dunklen Erfahrungsgrundlage aus. »Die Möglichkeiten, Bestätigung zu erhalten, haben sich mit dem Internet lawinenartig vermehrt.«
»Künstliche Bestätigung«, sagte Chavez.
»Kontrollier mal die letzte Mitteilung«, Löfström zeigte darauf. >I will get you, you little whore, wherever you go I will be there and catch you and fuck you till you die.<
»Au weia«, sagte Anderson. »Wann ist die gekommen? Lass mal sehen, neunter Juni, am Tag bevor die Klasse nach Ängermanland gereist ist?«
Chavez nickte grimmig. »Ich sehe nach, woher sie gekommen ist«, sagte er und tippte wild auf der Tastatur.
Eine Liste rollte über den Bildschirm. Die Server aller Besucher von Emilys Homepage. Identitäten waren nicht zu erkennen, aber in den Fällen, in denen die Server eine Nationenkennzeichnung hatten, konnte man sehen, aus welchen Ländern die Besucher kamen.
»Check mal den letzten Besucher«, sagte Löfström.
Chavez ließ die Liste auf und ab scrollen. »Sie sind gleich«, sagte er. »Das gleiche Land bei der Drohung und bei den letzten Besuchern: Punkt >lt<. Was für ein Land ist >lt<?«
»Litauen«, sagte Jon Anderson.
13
Nichts vermochte das muffige Hotelzimmer in dem muffigen Vorort aufzuhellen, nicht einmal der Gedanke an das versprochene Geld. Denn Geld hatte nur einen Zweck, nämlich den, Marja davon abzuhalten, ihre Liebhaber zu treffen. Und es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie sich in Hotelzimmern wie diesem trafen. Vielleicht hatten sie sich sogar hier getroffen, genau in diesem Zimmer, in diesem Bett. Genau in diesem Bett hatte Marja sich vielleicht von zwei oder drei Liebhabern so richtig als Frau bestätigen lassen.
Das Warten tat Steffe nicht gut. Die Dämonen versammelten sich um ihn und verhöhnten ihn. All diese geilen Männer, die über den gehörnten Ehemann lachten.
Es war lange her, seit er etwas gegessen hatte.
In seinem Leben gab es zurzeit vier Dinge: einen beladenen Firmenwagen, zwei Handys, eines davon in einem Stoffbeutel, und Marja.
Der Wagen stand gut versteckt in der Garage des Hotels. Er ging jede Stunde hinunter und überprüfte sie - die Gegend war unsicher, es war nicht undenkbar, dass jemand auf die Idee kam, den Wagen auszuräumen.
Manchmal schwang er sich auf die Ladefläche und lugte unter den Sargdeckel.
Das Skelett hatte einen magischen Schimmer angenommen. Während er es betrachtete, war er nicht mehr sicher, ob er sich von ihm trennen sollte. War es nicht besser, mit ihm zu verschwinden?
Und sich ein Leben mit diesem Skelett aufzubauen?
Aber das ging vorbei, wenn er den Deckel wieder zurückschob. Dann kam Marja zurück, und sie kam nie allein. Sie war immer in Begleitung ihrer Liebhaber, dieser obszön tanzenden Horden brünstiger Männer mit größeren und standhafteren Organen als seinem. Er musste sie zurückgewinnen.
Er blätterte fieberhaft im Fotoverzeichnis seines Handys. Das graue korrekte Gesicht des Buchhalters. Das rote brutale des Leibwächters. Die Bilder, die seine Lebensversicherung waren.
Er hatte keine Ahnung, wer sie waren, aber sie hatten seine Annonce im Internet verstanden; für die meisten Menschen musste sie vollkommen kryptisch gewesen sein. Aber er hatte begriffen, dass es irgendwo irgendjemanden gab, der den wahren Wert des Skeletts kannte. Sie hatten nicht nur das erlösende Wort entdeckt und verstanden, sondern waren auch unglaublich schnell gewesen, als ob das Netz ein lebender Organismus wäre und sie jede kleine Veränderung im Körper dieses Organismus mitbekämen. Und als ob sie die ganze Zeit genau hinter diesem Skelett hergewesen wären.
Als ob sie eine konstante Überwachung betrieben.
Vermutlich wussten sie, wo er jetzt gerade war. Es war nicht ganz unmöglich, dass sie im Zimmer nebenan einen Mann postiert hatten.
Steffe stand auf und begann, die Wände abzutasten. Er wusste, wie winzig die Löcher sein konnten, durch die heutzutage eine Mikrokamera passte. Er würde sie nicht entdecken. Aber versuchen musste er es.
Etwas in ihm war tatsächlich ganz unter Kontrolle. Er beobachtete sich selbst von irgendwo oben, sah seine eigene Paranoia und glaubte, darüber lachen zu können. Nur sah auch das Lachen nicht besonders froh aus.
Er stand auf dem Bett - diesem Bett, in dem Marja und die fünf nackten Männer sich ständig in den altbekannten Bahnen zu bewegen schienen -, als das Signal kam. Zuerst verstand er nicht, was es war, dachte an Feueralarm, Bombenalarm, Luftalarm. Dann sah er das leichte Vibrieren des kleinen Stoffbeutels.
Der Beutel ging kaputt, als er ihn öffnen wollte. Das kleine Band, an dem man ziehen musste, riss ab. Er riss den Beutel an der Naht auf, und zum Vorschein kam ein Handy der neuesten Generation. Sony Ericsson.
»Ja«, sagte er atemlos.
»Wir sind bereit, die Lieferung anzunehmen«, sagte eine polierte Stimme, die nicht zu verkennen war.
»Wann und wo?«, brachte Steffe über die Lippen.
»Heute Nacht«, sagte der Buchhalter. »Sie warten um dreiundzwanzig Uhr null null im Auto am Värmdöleden in Höhe von Sickla. Mit eingeschaltetem Handy.«
»Und das Geld?«, fragte Steffe.
»Liegt dann bereit«, sagte der Buchhalter leise. »Bargeld in kleinen Scheinen, wie vereinbart. Sorgen Sie dafür, dass die Ware unbeschädigt ist.«
»Der Ware geht es bestens«, sagte Steffe.
»Und Ihnen?«, sagte der Buchhalter überraschend.
»Mir geht es gut.«
»Klingt nicht so.«
»Nein? Scheißen Sie drauf.«
»Nun ja«, sagte der Buchhalter ruhig. »Hauptsache, die Ware ist zum genannten Zeitpunkt in unbeschädigtem Zustand da, dann mag es Ihnen gehen, wie es will.«
Dann war er weg.
Steffe betrachtete das Handy. Er nahm den zerrissenen Stoffbeutel und stopfte es hinein. Es sah etwas traurig aus. Im Bett lag Marja mit acht nackten Männern.
14
Sara Svenhagen saß mit dem Laptop auf den Knien im Wagen und betrachtete Nacktfotos. Mit der schnurlosen Internetverbindung dauerte es eine gewisse Zeit, sie herunterzuladen, und so konnte sie jedes Bild ausgiebig ansehen.
Dann und wann ließ Lena Lindberg auf dem Fahrersitz den Blick herüberschweifen, und der Wagen fuhr Schlangenlinien auf der kurvigen Reichsstraße 90. Mit ein wenig Glück würden sie in wenigen Minuten wieder in Saltbacken sein.
Sie sollten sich natürlich auf die abschließenden Interviews mit der zum letzten Mal versammelten Schulklasse konzentrieren, doch das war nicht einfach. Dies alles war so - schwierig zu handhaben.
Sara wusste überhaupt nicht, wie sie sich zu Emily Flodbergs nacktem vierzehnjährigen Körper verhalten sollte. Dies waren die Bilder, für die Emily von denen, die sie ansehen wollten, Geld kassierte.
»Soll man das Pornografie nennen?«, fragte Gunnar Nyberg schüchtern vom Rücksitz.
»Pornomäßig angehaucht, aber nicht pornografisch«, sagte Lena Lindberg.
»Was heißt das?«, fragte Gunnar.
»Nacktbilder mit pornografischer Attitüde«, sagte Lena. »Eine Ausstrahlung, die besagt, dass man Sex haben will. Aber die Bilder an sich sind ja ziemlich harmlos.«
»Verglichen womit?«, fragte Sara und fühlte sich alt und ausgeschlossen.
»Verglichen mit dem allgemeinen Angebot im Internet«, sagte Lena.
Sara betrachtete sie. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich merklich verändert. Beide trugen ein Geheimnis mit sich herum, so viel war klar, und es kam ihr immer mehr so vor, als wären ihre Geheimnisse entgegengesetzter Art. Sara selbst war kaum in der Lage, sich einzugestehen, dass mit ihrer Sexualität etwas passiert war, dass sie die Lust daran verloren und im Grunde keine Ahnung hatte, wie es dazu gekommen war. Sie liebte Jorge, aber es lief nichts mehr. Es war, als wäre ihr das Gefühl abhandengekommen. War sie ausgebrannt? War es eine Reaktion auf die Geburt? Allgemeiner Lebensüberdruss? Nein, das stimmte nicht, nicht richtig. Erst jetzt - als sie den echten oder unechten Sog im Blick der verschwundenen Vierzehnjährigen sah - konnte sie sich die Tatsache eingestehen, dass sie die Lust verloren hatte. Aber warum das so war, blieb ihr schleierhaft.
Sie wünschte wirklich, dass ihr Jorge fehlen würde, wie er ihr immer gefehlt hatte - und sie ihm -, wenn sie getrennt gewesen waren. Aber es war einfach nicht so.
Bei Lena schien es umgekehrt zu sein. Auf irgendeine Weise musste sie gemeinsam mit dem kantigen Geir, der Sara in erschreckendem Maße an ihren Vater Brynolf erinnerte, ihre Lust in die richtigen Bahnen gelenkt haben. Seltsam war, dass die Offenherzigste der Offenherzigen die Sprache verloren hatte. Die Zeit der intimen Gespräche zwischen Sara und Lena war vorüber.
Und als zusätzliches Irritationsmoment saß Gunnar auf der Rückbank, der sich in seiner Liebesgeborgenheit mit Ludmila aufgehoben fühlte, wo alles immer nur gut war.
Dieses verdammte gut.
Sara kehrte zu den Fotos zurück. Ein weiteres erschien. Es stimmte - die Posen waren verhältnismäßig unschuldig. Trotzdem war sie splitternackt.
Was war hier eigentlich los? Ging es um Bestätigung? Welche spezifischen Träume verwirklichte Emily? Und wessen Träume? War es wirklich ihre eigene Idee? Steckte ein heimlicher Zuhälter dahinter? Und hatte es wirklich etwas mit Litauen zu tun?
Sie las laut aus einer E-Mail vor: »>I will get you, you little whore, wherever you go I will be there and catch you and fuck you till you die.<«
»Aus Litauen«, sagte Gunnar Nyberg. »Wollen wir aufgrund der vier litauischen Autos ein mit dunkelhäutigen Männern bevölkertes Szenario konstruieren? So ein Szenario wäre ziemlich schrecklich.«
»Aber wäre es denn wahrscheinlich?«, fragte Sara. »Sind unsere Litauer eine Art Sextouristen, nur in umgekehrter Richtung? Nicht mehr schwedische Männer, die ins Baltikum fahren, um sich billig zu verlustieren, sondern litauische Männer, die nach Schweden kommen, um sich teuer zu vergnügen? Fünfzehn, zwanzig Männer wegen ein paar Nacktfotos im Internet, wo das Angebot, wie schon gesagt, enorm ist? Ist das wahrscheinlich?«
»Es ist verdammt viel Zufall«, sagte Gunnar Nyberg. »Der vierte Wagen ist unterwegs verschwunden. Genau hier in der Gegend.«
Er nahm sein Handy und drückte eine gespeicherte Nummer.
»Glaubst du im Ernst, dass sich jemand meldet!«, sagte Lena Lindberg hitzig. »Du bildest dir doch nicht ein, dass Sten Larsson rangeht.«
»Wir müssen es trotzdem versuchen«, entgegnete Nyberg sanft.
Es knisterte im Polizeifunk, und nach einigen tapferen Versuchen kam die Stimme durch.
Eine raue Männerstimme sagte: »Nachricht an alle. Ein weißer Personenwagen mit litauischem Kennzeichen ist östlich von Ristna bei einer Hütte gesehen worden. Alle in der Nähe befindlichen Wagen bitte schnellstmöglich dorthin.«
Sara Svenhagen wurde nach vorn geschleudert. Einen kurzen Augenblick - die Millisekunden, bis sie vom Gurt gehalten wurde - fühlte es sich an, als befände sie sich im freien Fall. Als sie wieder zurückprallte, verstand sie, was Schock war. Physischer Schock.
Der Wagen stand still, quer auf der Straße. Gunnar Nyberg sah an seinem Körper hinunter und sagte sich, dass er drei von vier Malen auf dem Rücksitz keinen Sicherheitsgurt anlegte. Dies hier war das vierte Mal. Er fragte sich, ob Lena Lindberg das wusste oder ob er sich bei einem Glücksengel bedanken sollte.
Lena selbst hatte schon den Rückwärtsgang eingelegt und vollführte eine elegante Kehrtwendung auf einer Straße, die derartige Manöver eigentlich nicht zuließ. Ihr Blick war fest auf die Fahrbahn gerichtet. »Ich habe vor einer Minute ein kleines Schild mit Ristna gesehen«, sagte sie.
»Hast du gewusst, dass ich angeschnallt war?«, fragte Gunnar Nyberg mit einer gewissen Steifheit.
»Es ist selbstverständlich, dass Polizisten sich anschnallen, sobald sie sich in ein Auto setzen«, sagte Lena forsch. »Da, Ristna.«
Sie folgten der Richtung ihres Zeigefingers durch die Frontscheibe und sahen ein kleines rotgelbes Schild, das direkt in den tiefsten Urwald zeigte. Dann war der Zeigefinger mit dem Rest der Hand wieder am Lenkrad, das kräftig nach links gedreht wurde. Der Wagen hüpfte auf eine ausgesprochen mittelmäßige Schotterpiste, dass Steine und Erde nur so in die Gegend spritzten.
»Östlich von Ristna«, sagte Sara Svenhagen, ohne ihr pochendes Herz beruhigen zu können. »Wenn wir diesen Weg nehmen, müssen wir also zuerst durch das Dorf. Drei Kilometer, dem Schild zufolge.«
»Die stimmen nie«, sagte Lena Lindberg und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
»Wenn es fünf, sechs Mann sind und sie Emily bei sich haben, sollten wir vielleicht nicht so viel Lärm machen«, sagte Sara und kam sich vor wie in einem Traum.
»Sollen wir auf Verstärkung warten und den Bauernlümmeln Gelegenheit geben, den Einsatz zu vermasseln?«, sagte Lena.
»Die Bauernlümmel verfügen über Ortskenntnis«, sagte Sara.
»Wir machen das hier selbst«, beschloss Gunnar Nyberg einstimmig.
»Ganz meine Meinung«, sagte Lena Lindberg. »Du brauchst ja nicht mitzukommen«, fügte sie zu Sara gewandt hinzu.
»Hör schon auf«, sagte Sara und griff mit der Hand in ihre Jacke. Die Dienstwaffe, die sie nie benutzte, ruhte über ihrem Herzen, das sich weigerte, seine groteske Schlagfrequenz zu senken.
Sie erreichten ein kleines Dorf, wenn die Bezeichnung Dorf überhaupt angebracht war. Es handelte sich vielmehr um drei kleine rote Holzhäuschen mitten im Wald. Sie fuhren durch das kleine Ristna und waren wieder in der Wildnis.
Doch dann stand ein alter Mann in hohen Gummistiefeln am Wegrand und winkte. Sie hielten neben ihm, und Sara ließ das Seitenfenster herunter.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte der Mann in atemlosem Ängermanlanddialekt.
»Ja«, sagte Sara, so forsch sie konnte; ihre Stimmte kickste, im Takt mit den Herzschlägen.
»Ich habe angerufen«, fuhr der Mann fort. »Sie sind da oben, den Hang hinauf, in Lilltorpet. Jede Menge Leute, die irgendein Kauderwelsch reden.«
»Haben Sie ein Mädchen gesehen?«, fragte Sara.
»Nein«, sagte der Mann. »Aber mindestens fünf Kerle. Die reinsten Gangster.«
»Wie weit ist es bis Lilltorpet?«, dröhnte Gunnars Bass von der Rückbank.
»Den Hang hinauf«, sagte der Mann. »Vielleicht zweihundert Meter.«
»Sie haben uns kommen hören«, nickte Lena Lindberg am Steuer.
»Und jetzt haben sie uns anhalten hören«, sagte Sara und dachte an Isabel. Während der letzten Minuten hatte sie ihre zweijährige Tochter beinahe ununterbrochen vor sich gesehen.
Aber hinter Isabel gewann etwas anderes Konturen. Etwas, was gerade in diesem Moment eine neue Färbung annahm. Es war Jorge. Und es waren die ersten kleinen Anzeichen, dass sie ihn vermisste.
»Stell den Wagen hier ab«, sagte Gunnar Nyberg und öffnete die hintere Tür.
Lena Lindberg fuhr den Wagen an die Seite, löste den Sicherheitsgurt und zog den Reißverschluss ihrer Jacke herunter. Sie zog ihre Pistole heraus und entsicherte sie. Dann ging sie los, den ansteigenden Viehpfad hinauf. Gunnar Nyberg griff ebenfalls zu seiner Waffe und setzte seinen massiven Körper in Bewegung, ihr nach, mit einer Geschmeidigkeit, die Sara Svenhagen stets von Neuem in Erstaunen versetzte. Sie selbst ging dicht hinter ihnen. Sie fragte sich, wie oft sie eigentlich schon ihre Dienstwaffe gezogen hatte.
Sehr oft war es nicht gewesen.
Je weiter der Pfad in den Wald führte, desto dichter rückten die Bäume heran. Es war schwer vorstellbar, wie ein Auto hier hatte hinauffahren können. Schließlich war nur noch der Wald da.
Sie schlichen sich auf die Anhöhe. Ein schwaches Rauschen durchzog den Wald, als versuchte er, etwas zu sagen.
Vielleicht wollte er sie auf seine zurückhaltende Art warnen.
Nichts war zu sehen. Sie überquerten die Hügelkuppe. Mitten im undurchdringlichsten Unterholz tat sich plötzlich eine kleine Öffnung auf. Licht fiel ihnen entgegen. Und in das Rauschen des Waldes mischten sich vage Andeutungen von Stimmen.
Durch die Öffnung konnten sie die Konturen einer kleinen roten Hütte ausmachen. Lilltorpet. Und daneben nahmen sie die noch vageren Konturen eines weißen Autos wahr.
Sie schlichen ein Stück näher heran.
Plötzlich ertönte ein Schrei, ein Brüllen. Es hallte durch den Wald und ließ das warnende Flüstern der Bäume verstummen. Es klang kaum menschlich. Eher wie ein Laut aus tiefster Urzeit.
Gunnar Nyberg ging auf die Knie und kroch unter das dichte Astwerk. Lena Lindberg fand auf der anderen Seite einer großen Fichte ein anderes Loch. Sie sahen sich von der Seite an.
Hier war das Sichtfeld nicht mehr verdeckt. Das Haus und der Wagen waren jetzt ganz deutlich.
Das Kennzeichen war zweifelsfrei litauisch. Aber es war kein Mensch zu sehen.
Lena Lindberg erstarrte, als der Schrei wieder ertönte. Sie warf einen Blick zu Gunnar Nyberg hinüber - und vertraute ihm.
Als der Schrei zum dritten Mal ertönte, hatte er sich verändert, war runder geworden, klang menschlicher. Fast wie ein Lachen. Ein brutales männliches Lachen.
Ein dumpfer Schlag war zu hören. Ein einziger, wie wenn man auf eine Trommel mit lose gespanntem Fell schlägt. Ein vierter Schrei - und jetzt waren es mehrere Stimmen. Eine Kakophonie von Brunstschreien.
Nyberg machte Lindberg ein Zeichen. Sie nickte und hob die Waffe, wie um ihm Deckung zu geben. Er duckte sich und lief mit all seiner gesammelten Geschmeidigkeit hinüber zu dem kleinen Haus. Er presste den Rücken gegen die raue rote Wand und hob die Waffe in Brusthöhe, die beiden großen Hände um den Kolben. Dann nickte er.
Lena Lindberg blickte zur Seite, zu der Öffnung, durch die Nyberg sich geschlängelt hatte. Sara Svenhagen tauchte auf, offensichtlich widerwillig. Sie richtete sich auf, kam in die Hocke, hob die Waffe und nickte kurz, bevor Lena Lindberg zum Haus lief.
Jetzt standen die beiden an die rote Holzwand gedrückt. Gunnar machte ein Zeichen zu Sara hinüber. Es bedeutete: >Bleib da, gib uns Deckung.< Oder möglicherweise: >Du, meine Lichtgestalt, darfst dich keiner unnötigen Gefahr aussetzen<.
Die Lichtgestalt dachte an eine dunkle Gestalt. Sara stand dort mit gezogener Waffe und dachte immer intensiver an Jorge.
Gunnar zeigte nach rechts. Lena nickte.
Gerade als sie losgehen wollten, jeder nach einer Seite, war wieder ein schwerer Schlag zu hören, auf den ein Brüllen folgte, das die vorigen noch übertraf.
Lena verharrte einen Moment, bevor sie nach rechts ging. Gunnar ging um die Ecke nach links.
Lena näherte sich der Hausecke. Sie warf einen Blick um die Ecke und zog den Kopf schnell wieder zurück. Nichts. Nur Wald. Reiner, unberührter Wald. Dunkler, finsterer Wald. Dann glitt sie um die Ecke und bewegte sich lautlos die Giebelseite des Hauses entlang. Sie näherte sich der nächsten Ecke.
Sie drückte den Kopf gegen die raue Holzwand. Ihr Haar blieb an Splittern hängen. Und dann äugte sie um die Ecke.
Als sie den Kopf zurückzog, ordnete sie die Eindrücke schnell. Ein großer, grobschlächtiger Mann, der eine Axt über den Kopf erhoben hatte. Und zwei andere mit einer Art Handwaffen, wie zwei grobe Stemmeisen nebeneinander.
Richtige Folterwerkzeuge.
Jetzt durfte kein Fehler passieren. Ein einziger falscher Schritt, eine einzige kleine Nachlässigkeit, und sie konnte sich ihr Ende ausmalen.
Stemmeisen ins Gesicht.
Das Adrenalin pumpte durch ihren Körper. Sie fühlte es wieder. Sie stand vor Geirs gespanntem, rot flammendem Körper.
Sie warf sich um die Ecke und brüllte: »Hands in the air. This is the Swedish Police!«
Der Mann mit der Axt war gerade dabei zu werfen. Die Axt verließ seine Hand wie in Zeitlupe. Lena folgte ihrem Flug durch die Luft und dachte Millionen Gedanken, alle wortlos. Dann traf die Axt mit einem dumpfen Schlag auf einen Baumstumpf, wie wenn man auf eine Trommel mit lose gespanntem Trommelfell schlägt.
Die Axt saß.
Die Männer mit den Folterwerkzeugen standen wie versteinert da.
»Drop your weapons!«, brüllte Lena und fragte sich, wo Gunnar war.
Es waren fünf Männer. Keiner der beiden mit den Folterwerkzeugen machte die geringsten Anstalten, sie fallen zu lassen. Einer von ihnen hob sein Stemmeisen sogar in die Luft. Als wäre er im Begriff, damit nach ihr zu werfen. Als sollte das Doppelstemmeisen im nächsten Augenblick ihren Körper treffen. Sie drehte die Pistole zu ihm hin und richtete sie direkt auf seinen Körper. Er hielt seine furchtbare Waffe immer noch erhoben. Sie drückte den Zeigefinger fester gegen den Abzug.
Ja, sie würde ihn erschießen. Nein, sie würde nicht von diesem Ding durchbohrt werden.
Der Zeigefinger balancierte auf dem Druckpunkt.
»Stopp!«, ertönte ein mächtiges Gebrüll im Hintergrund. »Nicht schießen, Lena!«
Und dann tauchte Gunnar hinter den Männern auf. Sie drehten sich zu ihm um. Alle Gesichter wandten sich in seine Richtung. Wenn sie jetzt schießen wollte, musste sie den Mann in den Rücken schießen.
Sie schaute Gunnar Nyberg an. Sie sah, wie er die Waffe senkte. Sie sah ihn auf Teller und Besteck zeigen, die im verwahrlosten Garten verstreut lagen. Sie sah ihn auf Haufen von Baumaterial zeigen, auf drei Zementmischer und schweres Werkzeug. Und sie sah ihn die Hand zum Waldrand ausstrecken, wo die Grundmauern eines nahezu herrschaftlichen Gebäudes aufragten.
Er trat auf den Mann mit dem erhobenen Folterwerkzeug zu und streckte die Hand aus. Der Mann reichte ihm das Werkzeug, ohne zu zögern.
Lena Lindberg hielt noch immer die Pistole im Anschlag und den Finger am Druckpunkt des Abzugs.
Gunnar Nyberg winkte ihr mit dem Folterinstrument zu und rief: »Nimm die Pistole weg, Lena. Es sind Kuhfüße.«
»Was?«, krächzte Lena und sah Sara Svenhagen neben Gunnar auftauchen.
»Es sind Kuhfüße, mit denen man Nägel zieht«, sagte Sara. »Nimm jetzt die Pistole weg.«
Im Hintergrund waren Polizeisirenen zu hören.
Lena Lindberg ließ die Waffe sinken und merkte, dass sie weinte.
Sie saßen wieder im Wagen. Gunnar Nyberg fuhr. Lena Lindberg saß auf dem Rücksitz und fühlte sich erledigt.
»Mittagspause auf dem Schwarzbau«, sagte Sara Svenhagen. »Da kann man sich ein wenig mit Axtwerfen vergnügen. Und lachen und herumbrüllen.«
»Man wagt sich kaum vorzustellen, wessen Luxusvilla sie da bauen«, sagte Gunnar Nyberg. »Möglicherweise sollte man auf einen lokalen Politiker tippen.«
Eine Weile war es still im Wagen. Sie bogen wieder auf die Reichsstraße 90 ein. Lena Lindberg blickte auf den umliegenden Wald. Er war in ein eigenartiges Licht getaucht. Das Licht der Frühsommersonne wirkte kalt, wie es in Strahlen zwischen die dicken Baumstämme fiel. Eine Sonne, die nicht zu wärmen vermochte, die aber sehr gut dazu geeignet war, Dinge deutlich werden zu lassen. Jeder Stamm, jeder Ast, ja, jede Tannennadel schien ihr mit großer Klarheit entgegenzukommen. Als wollte der Wald etwas. Sein Rauschen, sein Licht wollte etwas. Sie begriff nur nicht, was.
Aber der Wald verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit.
»Das ist anscheinend ein nahezu industrielles Gewerbe«, sagte Sara. »Der Chef dieser kleinen Gruppe war ja ziemlich gesprächig. Es handelt sich um insgesamt vier Arbeitsteams. Und eine von vier Baustellen, die mittels Schwarzarbeit betrieben werden. Sie gehen von der einen zur anderen.«
Wieder war es eine Weile still. Sara Svenhagen sah auf die Zeitanzeige des Laptops, auf dessen Bildschirm die Nacktbilder sich weiter abwechselten. Zwei Uhr. Sie konnten die Schulklasse nicht länger festhalten als bis zur Abfahrt des Zugs von Solleftei nach Stockholm. Er ging um Punkt vier. Danach würden sie sich in alle Winde zerstreuen, und die Möglichkeit, sie noch einmal gründlich zu befragen, wäre für immer vorbei.
»Welche entscheidenden Fragen versäumen wir zu stellen?«, fragte sie in einem Ton, der im Nachhinein beinahe verzweifelt klang. Doch die Kollegen schienen es nicht zu bemerken. Sie hingen ihren eigenen Gedanken nach. Lena zum Beispiel sah alles andere als fit aus. Wie viel hatte eigentlich gefehlt, dass sie den armen litauischen Schwarzarbeiter mit dem Kuhfuß in der Hand niedergeschossen hätte? Wie viele Milligramm Druck hatten eigentlich gefehlt, um den Schuss losgehen zu lassen? Was war los mit ihr? Was hatten der Wald und die Natur mit ihr gemacht?
Und Gunnar Nyberg, der schien sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, nicht zu schnell zu fahren. Zu schnell zu fahren war ein Instinkt, den er sich im Verlauf mehrerer Jahre mit seinem knallgelben Renault antrainiert hatte. Bei einhundertachtzig Stundenkilometern war er ein ausgezeichneter Fahrer, aber bei neunzig ein beinahe miserabler. Er schaltete falsch und fuhr ruckhaft wie ein Fahrschüler.
»Wir müssen zurück zum Ausgangspunkt«, sagte er gequält. »Warum ist Emily Flodberg verschwunden? Wir sind der Antwort noch nicht nähergekommen.«
»Ja«, sagte Sara Svenhagen. »Wir müssen zurück zum Ausgangspunkt. Aber was ist der Ausgangspunkt? Was ist Emily? Ist sie ein Opfer? Machen wir einen Denkfehler, wenn wir sie als Opfer sehen? Die Nacktfotos lösten erwartungsgemäß bei einer Reihe von Männern aggressive Geilheit aus - offenbar handelt es sich im Gästebuch auf ihrer Homepage um eine große Anzahl verschiedener Aggressionen.«
Nyberg warf die Hände in die Luft, sodass der Wagen ins Schlingern geriet, und rief empört: »Warum geht die Erotik, das Schönste, was wir Menschen überhaupt haben, so oft mit Aggressionen einher? Was läuft da falsch bei so vielen Männern?«
»In deiner Vergangenheit hat es ja auch einige Aggressionen gegeben«, sagte Sara Svenhagen in der stillen Gewissheit, dass sie selbst nie betroffen sein würde.
»Aber nie im Zusammenhang mit Sex«, sagte Gunnar Nyberg. »Nie in irgendeiner Verbindung mit Erotik. Ich verstehe den Zusammenhang ganz einfach nicht. Vielleicht bin ich zu wenig Mann, um das zu begreifen.«
»Das liegt daran, dass du ein attraktiver Mann bist«, sagte Sara mit einem kleinen Lächeln. »Aber wenn man nicht besonders attraktiv ist und vom anderen Geschlecht nichts als Ablehnung erfährt, dann entstehen Aggressionen.«
»Das ist eine Vereinfachung«, sagte Lena Lindberg mit verhaltener Stimme von hinten.
Gunnar und Sara drehten sich zu ihr um und sahen sie an. Gunnar hätte es besser nicht getan, denn der Wagen geriet erneut ins Schlingern und näherte sich gefährlich dem Straßengraben.
»Wie meinst du das?«, fragte er und fischte die Kotflügel aus den Blumenwiesen.
»Es kann viele Gründe dafür geben, dass Sexualität und Aggressionen zusammengehören«, sagte Lena, immer noch mit gedämpfter Stimme. »Und die sind nicht immer besonders klar.«
Sara hielt den Blick auf Lena gerichtet und spürte, dass ihr eine kleine Einsicht kam. Aber die behielt sie für sich. »Zurück also«, sagte sie, »zu Emilys Verschwinden. Wenn wir davon ausgehen, dass es mit den Nacktfotos zu tun hat - was ist dann geschehen? Hatte sie mit einem Mann aus dem Gästebuch eine Verabredung? Hat sie hier oben in Ängermanland Kontakte gehabt? Oder hat jemand herausgefunden, wer sie ist, und sich die Mühe gemacht, der ganzen Klasse hier herauf in die Pampa zu folgen? Warum hat er sich nicht in Stockholm an sie rangemacht? Das wäre doch viel einfacher gewesen.«
Gunnar Nyberg zeigte auf den Bildschirm auf Sara Svenhagens Schoß und sagte: »Es ist nicht gerade einfach herauszufinden, wer sie ist, wenn man nur diese Bilder hat. Vom Gesicht sieht man nicht viel.«
»Aber wenn sie solche Sachen wie Kartenzahlung und einen Server hat, dann finden sich ihre Daten an vielen Stellen im Netz«, sagte Sara. »Für einen Hacker wäre es nicht besonders schwer, sie zu identifizieren. Aber für mich klingt es trotzdem nicht plausibel. Auf die Verbindung zwischen den Nacktbildern und ihrem Verschwinden kann ich mir keinen Reim machen.«
»Jemand hat die Bilder gesehen«, sagte Gunnar Nyberg. »Es kann dieser Litauer im Gästebuch sein, nichts spricht dagegen, es ist nur kein litauischer Schwarzarbeiter. Er hat sie im Netz gesehen und ist wie verhext von ihr. Er kennt sich mit dem Internet aus und findet sie über ihren Server. Er kennt ihre Identität und ihre Adresse. Aber er hat auch viel Geduld, plant sorgfältig und wartet den günstigsten Augenblick ab. Dieser Augenblick ist gekommen, als sie sich in den finsteren ängermanländischen Wald begibt - vielleicht sogar, um ihren unwiderstehlichen Flaumbart zu treffen.«
»Außerdem«, sagte Lena Lindberg von hinten, »kann er tatsächlich einer der Schwarzarbeiter sein. Ich hoffe, die hiesige Polizei stellt alle Identitäten fest. Einer von ihnen könnte doch mit dem Gästebuch auf Emilys Homepage in Verbindung gebracht werden.«
Sara Svenhagen nickte. »Schwarzarbeit auf dem Bau als Deckmantel«, sagte sie. »Durchaus möglich.«
»Ich habe mit Alf Bengtsson gesprochen«, sagte Nyberg. »Sie sollten alle litauischen Identitäten genau überprüfen. Ich bin deiner Meinung, Lena, es ist eine interessante Idee.«
»Du brauchst mir nicht nach dem Mund zu reden«, sagte Lena. »Ich stehe nicht vor einem Nervenzusammenbruch.«
»Okay«, sagte Gunnar und machte eine genügend abrupte Handbewegung, um den Wagen das Gleiche tun zu lassen. »Entschuldige, dass ich es für eine gute Idee gehalten habe.«
»Jetzt lassen wir das«, sagte Sara vermittelnd. »Die Litauer stehen weiterhin auf unserer Liste. Aber zurück zum Ausgangspunkt. Warum geht sie in den Wald? Sollen wir wirklich an einen hiesigen Flaumbart glauben?«
»Nein«, sagte Gunnar. »Eher nicht. Was haben wir? Was muss überprüft werden? Sten Larsson ist ja da im Wald. Der grüne Fleecepulli folgt ihr in einiger Entfernung. Aber in so großer Distanz, dass er sie nicht sieht. Was bedeutet das eigentlich? Warum ist er zur gleichen Zeit wie sie im Wald? Aber weit von ihr entfernt? Warum bewegen sie sich in die gleiche Richtung - aber im Abstand von zwanzig Minuten? Und Emily vorneweg? Es kann nicht sein, dass er sie verfolgt, sie ist zu weit vor ihm, aber es kann sein...«
»Dass sie miteinander in Kontakt sind«, platzte Lena Lindberg dazwischen. »Sein Handy ist weg, ihres auch. Sie standen in Kontakt. Er hatte wegen der Nacktbilder im Netz Kontakt mit ihr aufgenommen, und als sich zeigte, dass der Zufall es so gut mit ihm meinte, sie ihm praktisch auf dem Tablett zu servieren, brauchte er nur noch den Mund aufzumachen. Er bot ihr so viel Geld an, dass sie nicht widerstehen konnte. Sie ruft ihn von ihrem Zimmer aus an, erhält die Bestätigung ihrer Absprache - deshalb war der letzte Eindruck, den sie auf dem Zimmer machte, >richtig froh< - und zieht los, um ihren unbekannten Wohltäter zu treffen. In der Zwischenzeit rufen sie sich an. Er wartet da draußen, aber sie geht in die falsche Richtung. Es dauert ein bisschen, bis sie sich finden. Aber als das endlich geschieht, ist es schon zu spät.«
Sara Svenhagen blickte von ihrem Laptop auf und nickte. »Aber zu spät für wen?«, fragte sie. »Was?«, sagte Lena Lindberg.
»Jorge schreibt hier gerade etwas Interessantes«, sagte Sara und zeigte auf den Bildschirm. »Er hat eine ganz andere Art von Internetseiten gefunden, die Emily besucht hat. Offenbar genügend viele, dass sie ein Muster ergeben. Was mich zu meiner eben so sorgfältig ignorierten Frage zurückbringt: Ist Emily wirklich ein Opfer?«
»Was für Seiten?«, fragte Lena.
»Gewaltseiten«, sagte Sara. »Zwei Sorten anscheinend. Teils Messerseiten en masse. Verschiedene Typen von Messern, hauptsächlich Kampfmesser, Springmesser, Wurfmesser, Stilette, Butterflies. Teils eine Art ultrafeministischer Männerhasserseiten. Amazonen. Jorge schreibt: >Männer werden nicht mehr gebraucht. Gebraucht wird nur noch das Sperma, und das kann man inzwischen in sehr exakt abgestimmten Formaten tiefgefroren erhalten, nuanciert bis zur Form des Ringfingers. Einmal befruchtet, braucht die Frau den Mann überhaupt nicht mehr.<«
»Das hört sich an, als wäre er in allerbester Stimmung«, sagte Gunnar Nyberg.
»Auf jeden Fall sind es Internetseiten dieser Art«, fasste Sara Svenhagen zusammen und klappte den Laptop zu.
Sie waren angekommen.
Gunnar Nyberg fuhr auf den Parkplatz von Gammgärden und stellte den Motor ab. Sie blieben einen Augenblick im Wagen sitzen und betrachteten den umgerüsteten alten Bauernhof, der dort am Waldrand lag und in dem das Sonnenlicht immer noch wie verzaubert glänzte. Ein gefundenes Fressen für jedes schwedische Fremdenverkehrsbüro.
Das Idyll wurde möglicherweise durch eine ziemlich große Anzahl mürrischer Teenager leicht beeinträchtigt. Aus einer anderen Perspektive hätte man hingegen durch diese jugendliche Blüte das Idyll als vollendet betrachten können.
»Macchiato«, sagte Gunnar Nyberg.
»Was?«, sagte Sara Svenhagen.
»Befleckt«, sagte Nyberg. »Ich frage mich, wie viele in der Stadt lebende Schweden gewohnheitsmäßig ihren Macchiato bestellen und nicht wissen, dass der Name dieses wunderschönen Kaffeegebräus >befleckt< bedeutet. Wie dieses Bild.«
»Wen fragen wir was?«, sagte Lena Lindberg mit gnadenloser Gleichgültigkeit gegenüber diesem Meinungsaustausch.
Sara betrachtete Gunnar. Gunnar betrachtete Sara. Dann sagten sie, gleichzeitig wie auf Kommando: »Marcus.«
Sie saßen im Garten. Es war, als strömte Leben aus dem Wald, dessen eigentümliche Versuche, sich mitzuteilen, immer deutlicher wurden. Zumindest empfand Lena Lindberg es so, die, getreu ihrer Gewohnheit, ein wenig abseits gelandet war. Immer wieder zog es ihren Blick hinaus zum dunklen Grün der Nadelbäume, und ein Schaudern überkam sie.
Marcus Lindegren schien dagegen von derartigen Anfechtungen unbehelligt zu sein. Er war ein eleganter Mann an die fünfzig, mit - in Sara Svenhagens Augen - einem Gesichtsausdruck, der auf schwere Störungen sowohl im Verhältnis zu seinem eigenen Ich als auch zur ihn umgebenden Wirklichkeit schließen ließ. Die Proportionen waren unverhältnismäßig. Die Außenwelt schien mehr eine Störung in dem allumfassenden Ich darzustellen als das Ich einen Teil der Außenwelt. Egozentrik war ihr schon früher begegnet, und nicht zu knapp, doch dies hier hatte eine ganz eigene Dimension.
»Was heißt: >Wie es ablief?<«, fragte Lindegren mit großer Skepsis.
»Das war keine Fangfrage«, sagte Gunnar Nyberg. »Es war eine direkte, ganz einfache Frage: Wie lief es ab, als Sie beschlossen, die Klassenfahrt nach Saltbacken in Ängermanland zu machen?«
»Es war selbstverständlich meine Idee«, sagte Marcus Lindegren unbeirrt. »Man kann nicht behaupten, dass die anderen in diesem sogenannten Klassenfahrtrat besonders aktiv waren.«
»Und wer gehörte diesem Rat an?«
Lindegren vollführte eine ausholende Handbewegung zu dem umliegenden Garten. »Die hier. Die Kasper.«
Sara Svenhagen las eine Liste vor: »Also: Lisa Lunden, Nils Anderberg, Alma Richardsson, Sven-Olof Törnblad und Reine Gustafsson?«
»Und deren Eltern. In diesem Fall. Dass es in anderen Fällen nicht vorkommt, ist wahrlich kein Mysterium.«
»Und wie lief es ab?«, fuhr Sara fort. »Sie hatten also in Dagens Nybeter eine Annonce gefunden? Und darüber wurde bei einer Sitzung des Klassenfahrtrats diskutiert?«
Marcus Lindegren setzte eine Leidensmiene auf. Es handelte sich augenscheinlich um das Leiden der Selbstaufopferung. »Das ist so lange her«, stöhnte er. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«
»Wann war es?«
»Kann es im März gewesen ein? Mitte März? Wir waren zu Hause bei Anderbergs am Ringvägen... Die Zeitung lag gefaltet auf dem Tisch, die Annoncenseite nach oben...«
»Hatten die Eltern Anderberg sie da hingelegt? Lag sie da, als Sie kamen?«
»Aber das weiß ich nicht mehr«, stieß Lindegren beinahe schreiend hervor. »Wie soll ich mich an so etwas erinnern können? Und warum zum Teufel sollte das von Bedeutung sein?«
Gunnar Nyberg beugte sich über den wackeligen Gartentisch, der bedrohlich schaukelte.
»Warum haben Sie dann behauptet, es sei Ihre Idee gewesen hierherzufahren.«
»Ich habe die Entscheidung vorangetrieben. Es schien eine gute Wahl zu sein.«
»Die Zeitung lag also auf dem Tisch«, sagte Sara geduldig. »Wie ist sie dorthin gekommen?«
Marcus Lindegren stöhnte erneut und sagte nach einer Weile mit einer Klarheit, die nicht zuletzt ihn selbst überraschte: »Jemand hat sie da hingelegt. Jemand hat sie da hingelegt und gesagt, das hier sieht doch ganz gut aus. Die Annonce war mit Kugelschreiber mehrmals eingekreist.«
»Ausgezeichnet«, sagte Sara. »Und versuchen Sie jetzt, darauf zu kommen, wer das war. Mann oder Frau zum Beispiel.«
Lindegren prustete und stiefelte weiter durch den offenbar sehr selten besuchten Sumpf der Erinnerung. »Frau«, sagte er. »Aber wer zum Teufel war es? Manche von den Frauen habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Dann kümmerten sie sich um nichts mehr. Danach musste ich alles allein organisieren.«
»War es eine von den Müttern, die mit hier sind?«
Lindegren starrte Sara an, als sähe er sie zum ersten Mal. Nachdem er eine Weile wie verhext dagesessen hatte, sagte er: »Ja, tatsächlich. Ich frage mich, ob es nicht die arme unbedarfte Alma war.«
»Alma Richardsson?«, sagte Gunnar Nyberg. »Die Sie angebaggert haben?«
»Wie bitte?«, stieß Lindegren aus und wandte sich zu Nyberg um.
»Nichts«, sagte Sara und warf Gunnar einen bösen Blick zu. »War sie hartnäckig?«
»Was?«, sagte Lindegren, der inzwischen ehrlich verwirrt wirkt. Von seinem Ego war nicht mehr viel übrig.
»War Alma Richardsson begeistert, als sie Saltbacken vorschlug. Sie haben eben gesagt, sie hätte gemeint, das sähe doch gut aus. Aber war sie hartnäckig?«
Marcus Lindegren ließ seinen erstaunten Blick zum Wald hinüberschweifen. »Ja«, sagte er schließlich. »Das war sie tatsächlich.«
Das Beste an diesem Job ist, dass man so unglaublich viele verschiedene Menschen trifft, dachte Sara Svenhagen. Die Verhaltensmöglichkeiten des Menschen waren wirklich unzählig. Sie konnte sich nicht verkneifen, ein paar Überlegungen über die menschliche Natur anzustellen, als sie Alma Richardsson gegenübersaß.
Die Frau, die jetzt auf Marcus Lindegrens Platz saß, war ein seltsam nervöser Mensch. Als spürte sie jeden Augenblick ein bis zur Grenze der Überanstrengung unterdrücktes Bedürfnis, sich über die Schulter zu schauen.
Zugleich sah sie wesentlich jünger aus als ihre Kolleginnen im sogenannten Klassenfahrtrat. Tatsache war, dass sie süß war. Sie verkörperte quasi die Definition des fragwürdigen Begriffs >süß<. Vermutlich hatte sie an einer Reihe schlechter Erfahrungen mit Männern zu tragen.
Wie so viele Frauen, dachte Sara bitter und sagte: »Ich möchte eine Stelle aus einer Zeugenaussage vorlesen, ist das in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte Alma Richardsson mit nervöser Mädchenstimme. »Wenn wir nur bald von hier wegkommen. Ich halte es nicht mehr aus.«
»Was?«
»Alles. Marcus...«
»Ich lese«, sagte Sara. »>Scheiß-Marcus, Scheiß-Plastiksoldat, der glaubt, er wäre der fucking King, und dann liegt er unter einem Busch an der Straße und bumst die Mutter von Tunten-Johnny, Pimmel-Alma, als Emily verschwunden ist und alles drauf ankommt, dass es schnell geht.<«
»Aber Herrgott«, sagte Alma Richardsson bestürzt. »Bumst?«
»Ist es das, worauf Sie reagieren?«, sagte Sara. »Nicht auf >Tunten-Johnny< ?«
»Ich weiß, dass er von manchen so genannt wird... Ich habe versucht, mit der Klassenlehrerin darüber zu reden, aber ich glaube, sie will so etwas gar nicht hören. Sie will in ihrer schönen Welt von Literatur und Rosen leben.«
»Herz der Finsternis ist wohl nicht gerade Rosen...«
»Doch«, sagte Alma Richardsson bestimmt.
Es blieb eine Weile still, als hätte man gemeinsam beschlossen, eine Pause einzulegen, dann fuhr Alma mit etwas tieferer Stimme fort: »Mein Sohn ist ein bisschen anders als die meisten. Und wenn man heutzutage eines nicht sein darf, dann anders. Sie wachsen in einer harten Welt auf. Manchmal glaube ich, dass er eigentlich gar nicht hätte auf die Welt kommen sollen, dass es ein Irrtum Gottes war. Er hat keinen Vater.«
»Keinen Vater?«
»Ich habe keinerlei Erinnerung daran, wie er entstanden ist. Es war eine chaotische Zeit in meinem Leben. Ich sehe nicht einmal ein Gesicht vor mir, das ich mit der Vaterschaft verknüpfen könnte. Nichts. Wie eine Jungfrauengeburt. Und das war es gewissermaßen wohl auch. Ich war jung und extrem unschuldig und ließ Männer Sachen mit mir machen, um gesehen zu werden und Bestätigung zu finden. Ich bin damit sicher nicht allein, aber so kam es mir vor. Als ob ich nur einsamer und einsamer würde mit jedem Mal. Jedem Mal, wenn ich... mich öffnete...«
Sara Svenhagen warf einen Blick zu Lena Lindberg hinüber, die die Brauen hochzog. Keiner hatte eine Beichte erwartet, zumal sie auf etwas ganz anderes eine Antwort suchten. Sara wusste selbst nicht recht, warum sie sich auf dieses Gleis begeben hatte. Aber es hatte Früchte getragen, das Eis war gebrochen und was ihr sonst an Klischees noch alles einfiel.
Sie fuhr fort: »Warum wird er denn Tunten-Johnny genannt?«
»Weil alles, was in der Männerwelt anders ist, als schwul gilt. Johnny ist stark auf seine eigene Art und Weise, nicht auf ihre.«
»War es Johan, der vorschlug, dass die Klassenfahrt nach Saltbacken gehen sollte?«
Es war ein Schuss ins Ungewisse, aber es kam ihr richtig vor. Der richtige Zustand.
Alma Richardsson hatte ein völlig anderes Verhältnis zur Vergangenheit als Marcus Lindegren, das war deutlich. Sie hatte keine Probleme damit, in den Ablagerungen des Vergangenen zu graben und das Richtige zu finden. »Der Klassenfahrtrat hatte sich bei Nisse und Johanna versammelt, um mögliche Reiseziele zu diskutieren. Ich hatte eine Annonce mitgebracht, die interessant zu sein schien, von einem Bauern namens Arvid Lindström in Saltbacken in Ängermanland.«
»Und warum hatten Sie die dabei?«
»Johan bittet mich im Allgemeinen nicht um Dinge, er ist viel für sich allein, aber hier schien es, als wollte er wirklich etwas. Ich hatte das Gefühl, es ihm schuldig zu sein, für ihn zu sprechen. Ein paar Tage vor dem Treffen hatte er mich noch einmal bearbeitet und gesagt, dass er genau hierhin wollte, nach Saltbacken.«
»Und warum wollte er das?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Alma Richardsson und beugte sich zurück wie nach einem harten Aerobictraining.
Johan Richardsson war nicht besonders feminin, und es gab keinerlei äußere Anzeichen dafür, dass er im Begriff war, seine Homosexualität zu entdecken. Dagegen war er besonders, und es war schwer zu sagen, auf welche Weise er besonders war. Äußerlich sah er aus wie all die Vierzehnjährigen, die auf dem Gelände umherwuselten, aber sein Blick war ein wenig schärfer, ein wenig suchender - vielleicht sogar ein wenig intelligenter. Aber vor allem sensibler.
Johan Richardsson gehörte zu den Menschen, die ihr Herz in der Hand tragen.
Der Gedanke überraschte Sara. Woher kam er? Sie hatte plötzlich die Vision einer Großstadtstraße in Schwarz-Weiß. Aber hier und da ging ein einzelner Mensch in Farbe, und diese Farbenfrohen trugen ihr Herz in den Händen, und alle erkannten sich und nickten sich verstohlen zu. Als könnten sie einander nie erreichen.
Es war ein sehr merkwürdiger und sehr ergreifender Anblick.
Sie gestattete sich einige Sekunden, die Vision wegzublinzeln, und wandte sich dann Johan Richardsson zu.
Er saß in einer vollkommen schwarz-weißen Welt und hielt sein pochendes rotes Herz in der Hand. Sara blickte nieder, und auch in ihrer Hand lag ein pulsierendes Herz.
Alles, was sie dachte, war: Es muss meines sein.
Gunnar Nyberg sah zwar nicht, was geschah, war aber wachsam genug, um die Aufmerksamkeit von seiner sehr geliebten Kollegin abzulenken. Er sagte: »Im März hast du, Johan, deine Mutter dazu überredet vorzuschlagen, dass die Klassenfahrt hierhin gehen sollte. Du hast also den Anstoß dazu gegeben, dass ihr euch jetzt hier auf Gammgärden in Saltbacken befindet. Warum?«
Johan sah Nyberg mit einem traurigen Lächeln an und sagte: »Es hat sich gezeigt, dass es keine gute Idee war, nicht wahr?«
»Hast du das Gefühl, dass du Schuld trägst an Emilys Verschwinden?«
Das traurige Lächeln verschwand, und zurück blieb nur die Trauer. »Gewissermaßen schon«, sagte Johan. »Ich hätte nicht auf sie hören sollen. Ich hätte genauso feige sein sollen wie immer und mir nichts daraus machen sollen.«
»Woraus, Johan?«
»Aus ihrer Hartnäckigkeit. Aber ich konnte es nicht. Ich glaube, es war das erste Mal, dass sie mich überhaupt bemerkt hat.«
»Von wem redest du?«
»Von Emily natürlich.«
Gunnar Nyberg warf einen Blick auf seine Kolleginnen, um zu sehen, ob sie reagierten. Das taten sie. Sara riss sich aus ihrem Dämmerzustand, und Lena arbeitete sich aus dem Loch hervor, in das sie immerzu hineinfiel.
Sie waren, wie man so sagt, ganz Ohr.
Gunnar Nyberg wandte sich wieder Johan Richardsson zu und fragte klar und deutlich: »War es Emily Flodberg selbst, die genau hierhin wollte?«
»Sie kam sogar mit einer Zeitung«, sagte Johan. »Sie hatte eine Annonce eingekreist und bat mich, meiner Mutter zu sagen, dass wir dahin fahren sollten.«
»Warum kam sie zu dir?«
»Ich war natürlich blind. Ich dachte, es wäre, weil sie mich mochte.« »Aber?«
»Aber es war klar, dass es nur war, weil meine Mutter im Klassenfahrtrat saß. Und ich war leicht zu beeinflussen.«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Als klar war, dass es nach ihren Wünschen lief, war ich ihr wieder total egal. Erst hat sie mich gelockt, dann hat sie mich weggeworfen.«
»Findest du nicht, du hättest nach Emilys Verschwinden sagen sollen, dass es ihr Wunsch war hierherzukommen?«
»Es hat niemand danach gefragt«, sagte Johan und sah traurig aus.
Weil es kurz vor Mittsommer war, konnte man nicht von Dämmerung reden, die Sonne ließ weiter unverdrossen ihre Strahlen zwischen den Baumstämmen hindurchfallen. Dennoch lag etwas in der Luft, was Dämmerung andeutete - ein Duft, ein Frieden, eine Stille, eine Bewegungslosigkeit, was indessen durch die Aktivität im Hintergrund vollauf kompensiert wurde.
Es war Zeit für die Abreise. Die Vierzehnjährigen liefen aufgeregt hin und her. Erst jetzt würden die Sommerferien richtig anfangen.
Es war, als hätte Emily Flodberg nie existiert.
Sara Svenhagen, Lena Lindberg und Gunnar Nyberg saßen noch an dem Gartentisch.
Eigentlich kann man nie nachvollziehen, was ein anderer Mensch erlebt, wie nah man einander auch stehen mag, aber jetzt hatten sie das Gefühl, die Melancholie wirklich zu teilen, die sich auf sie herabsenkte. Wenn die Schulklasse verschwand, würde die Melancholie sich ihrer bemächtigen, nach ihren Herzen greifen und das Lebensblut aus ihren Seelen saugen.
Doch das war in der Regel reinigend.
»Es ist ein langer Tag gewesen«, sagte Sara matt. »Aber er ist noch lange nicht zu Ende. Was haben wir eigentlich?«
»Mehr, als wir geglaubt haben«, sagte Gunnar Nyberg ebenso matt und tippte mit geübter Hand Sten Larssons Telefonnummer auf seinem Handy ein. »Wir befinden uns gewissermaßen im Inneren von Emilys Plan. Warum wollte sie gerade hierher?«
»Hat es nicht mit den Pädophilen zu tun?«, sagte Lena.
»Die Nacktbilder und Männerhasserseiten im Internet. Gerade hier haben wir eine ungewöhnlich dichte Besiedelung von Pädophilen.«
»Und Messerseiten...«, sagte Sara. »Vielleicht jagt nicht Sten Larsson Emily durch den Wald - sondern umgekehrt?«
»Hat sie die Männer mit der Homepage angelockt und dann beschlossen, gegen Pädophile vorzugehen?«, sagte Gunnar. »Mein Gott, sie ist doch erst vierzehn! Das ist zu ausgeklügelt, ganz unmöglich. Sie ist ein Kind.«
»Die Altersstufen erleben zurzeit eine sonderbare Veränderung«, sagte Lena. »Erwachsene werden Kinder, und Kinder werden Erwachsene. Unsere Zeit ist in Unordnung.«
»Die Zeit ist aus den Fugen«, sagte Gunnar Nyberg altersweise.