27

 

Am nächsten Morgen waren sonderbarerweise alle zur Stelle. Es hätten nur zwei sein sollen, außer Hultin: Chavez und Söderstedt. Aber das routinierte alte Komikerpaar Jalm und Halm kam mit rotgeränderten Augen direkt vom Flugplatz, und ganz hinten saß ein frischgebackenes Dito, die allseits bekannten Bandagenschädel NN; es würde einiger Mühe bedürfen, Norlander und Nyberg jetzt aus dem Spielplan herauszuhalten.

Hultin sah auch nicht aus, als hätte er direkte Schlaftriumphe gefeiert, aber die Brille saß, wo sie hingehörte, und der scharfe Blick ebenso. »Es ist viel passiert«, sagte er. »Wir kneifen ihn in die Arschbacken. Sind alle dazu gekommen, die Zusammenfassung durchzusehen, die ich heute nacht mit Hilfe einer kleinen Telefonkonferenz mit dem Luftraum über dem Atlantik niedergeschrieben habe?«

»Ich habe schon oft zufällig dieses Telefon herausgepfriemelt, das sie da in den Armlehnen haben, aber benutzt habe ich es zum erstenmal«, sagte Hjelm schlafsüchtig.

»Seid ihr dazu gekommen?« wiederholte Hultin.

Alle schienen zu nicken, wenn auch hier und da ein wenig träge.

»Dann wißt ihr, was jetzt die Hauptaufgabe ist: Wayne Jennings' schwedischen Namen herauszubekommen. Fragen sind: Erstens, warum hat er einen Lagerraum bei LinkCoop für seine Aktivitäten benutzt? Es war offenbar eine Gewohnheit, sonst hätte der Sohn nicht den Schlüssel nachgefertigt. Zweitens, warum folterte er den Wachmann Benny Lundberg? Wie verhält sich drittens der vereitelte Einbruch bei LinkCoop zu den gleichzeitigen Morden an Eric Lindberger und Lamar Jennings ungefähr zehn Türen entfernt? Viertens, warum wurde Eric Lindberger getötet? Hat es mit seinen Kontakten in der arabischen Welt zu tun? Fünftens, ist auch Justine Lindberger in Gefahr? Ich habe sie sicherheitshalber unter Schutzbewachung gestellt. Sechstens, können wir Wayne Jennings im Einwanderungsregister von 1983 finden? Siebtens, die schwere und delikate Frage: Ist Wayne Jennings CIA–Mann?«

»Wir können doch den offiziellen Weg gehen«, sagte Arto Söderstedt, »und ganz einfach beim CIA anfragen.«

»Damit, fürchte ich, würden wir nur bewirken, daß er auf die eine oder andere Weise verschwindet.«

»Soweit ich es von dem aus beurteilen kann«, sagte Chavez und wedelte mit Hultins Zusammenfassung, »kann er tatsächlich ebensogut dem militärischen Sicherheitsdienst angehören oder von einer anderen Organisation angeworben worden sein, entweder von der gegnerischen Seite oder der Mafia oder einem Drogensyndikat oder irgendeiner nicht geheuren Freibeuterorganisation.«

»Einverstanden«, sagte Hultin unerwartet. »Es ist viel zu früh, mit dem CIA als Hauptspur zu arbeiten. Was anderes Allgemeines? Nicht? Dann Details. Arto macht mit Lindberger weiter, Jorge mit dem Volvo, Viggo und Gunnar können heute Innendienst machen, nehmt euch die Einwanderungen vor, Paul muß in den Freihafen und schnüffeln, Kerstin nimmt sich Benny Lundberg vor. Wie kommst du mit Lindberger voran, Arto?«

»Eric Lindberger hat eine ganze Menge Aufzeichnungen hinterlassen, die ich jetzt abgecheckt habe. Da finden sich keine Mysterien. Aber sein Kalender enthält eine äußerst interessante Notiz: Am Abend vor seinem Tod hatte er eine Verabredung. Seine Leiche wurde in der Nacht um halb drei von Wayne Jennings in den Freihafen geschleppt, das wissen wir. Um zehn Uhr am Abend davor ist ein Treffen eingetragen: ›Riches Bar‹ steht leider nur da. Ich bin gestern nachmittag im Riche gewesen und habe mich umgesehen. Viel Personal, es ist schwer, jemanden zu finden, der an dem Abend um zehn hinter der Bar stand, aber am Ende habe ich einen Barkeeper aufgetrieben, Luigi Engbrandt. Er strengte sich tierisch an, sich zu erinnern, aber die Bar ist gut besucht. Möglicherweise kann er sich an Lindberger erinnern, falls ja, stand dieser eine Weile am Tresen und wartete auf jemanden. Leider hat Luigi nicht mitgekriegt, ob jemand kam. Ich habe auch Erics Bankkonten gecheckt. Er hinterläßt ein nettes, aber nicht außergewöhnliches Vermögen, insgesamt sechshunderttausend. Heute fange ich mit Justine an.«

»Warum Justine?« sagte Norlander. »Laß sie in Ruhe.«

»Diskrepanzen«, sagte Söderstedt. »Die große Wohnung, die gemeinsame Arbeit der Eheleute, ein paar Ungereimtheiten, die sie bei unserem letzten Treffen von sich gab. In ihrem Kalender sind auch einige interessante Punkte, die sie kommentieren soll.«

»Okay«, sagte Hultin. »Jorge, bist du mit den Autos weitergekommen?«

»Die Autos«, sagte Chavez und zog eine Grimasse. »Ich habe ja eine ganze verdammte Armada von Fußvolk in Bewegung gesetzt. Sie haben bald sämtliche Wagenbesitzer abgeklappert. Zum Glück sind Volvobesitzer in der Regel ordentliche Durchschnittsschweden. Keines von den bisher kontrollierten Autos ist in der Mordnacht gestohlen oder ausgeliehen gewesen. Der Kleinkriminelle Stefan Helge Larsson, dessen Wagen verschwunden war, und er gleich mit, ist nach einem einmonatigen Aufenthalt in Amsterdam zurückgekehrt. Die Verkehrspolizei in Dalshammar, wo immer das liegen mag, hat ihn, Zitat, ›in extremem Drogenrausch‹ auf der E4 geschnappt. Geisterfahrer. Aber ich interessiere mich mehr und mehr für den Wagen, der auf eine nicht existierende Firma zugelassen ist. Den nehme ich mir heute vor.«

»Der Rest dürfte geklärt sein«, sagte Hultin kurz. »Also an die Arbeit. Wir müssen ihn fassen, und am besten gestern, wie gestreßte Unternehmer zu witzeln pflegen.«

»Was geschieht in the medial« fragte die Amerikaschwedin Kerstin Holm.

»Die Hexenjagd geht weiter«, antwortete Hultin. »Das Geschäft mit Schlössern, Waffen und Schäferhunden blüht. Die Köpfe der Verantwortlichen werden verlangt, auf dem Tablett. Hauptsächlich meiner. Hier und da auch Mörners. Bei ihm herrscht Vollzeitpanik. Wollt ihr, daß ich ihn herunterrufe, damit er eine stärkende kleine Rede hält?«

Besser als eine Lötlampe in den Arsch, konstatierte er und blickte über eine vollkommen leere Kampfleitzentrale.

Arto Söderstedt rief unverzüglich Justine Lindberger an. Die Witwe war zu Hause. Ihre Stimme klang erstaunlich frisch. »Justine«, sagte sie.

»Söderstedt, Polizei.«

»Ja?«

»Meinen Sie, daß ich einmal einen Blick in Ihre Agenda werfen könnte?«

»Meine was?«

»Ihren Notizkalender.«

»Meinen Filofax, meinen Sie? Der ist im Außenministerium, fürchte ich. Und ich begreife nicht, was der mit der Sache zu tun haben soll.«

»Ich kann ihn von da holen, wenn es Ihnen zuviel Mühe macht.«

»Nein! Nein danke, ich möchte nicht, daß die Polizei sich an meinem Schreibtisch zu schaffen macht. Ein Bote kann ihn mir bringen. Dann dürfen Sie kommen und einen Blick darauf werfen.«

»Jetzt sofort?«

»Ich bin kaum wach. Es ist zehn nach neun. Sagen wir, um elf?«

»Gut. Bis dann.«

Damit sie Zeit hat, ein paar Änderungen vorzunehmen, dachte er hinterhältig.

Nächster Schritt. Die Bank. Dieselbe Bank wie der Ehemann. Derselbe Bankbeamte.

Er rief an. »Hallo, hier ist Söderstedt«, sagte er singend.

»Wer?«

»Von der Polizei. Sie haben mir gestern freundlicherweise Einblick in die Konten des verstorbenen Eric Lindberger gewährt. Heute müßte ich einen Blick auf die seiner Frau werfen.«

»Das ist etwas anderes. Tut mir leid, aber das geht nicht.«

»Es geht«, sang er weiter. »Ich kann auch den offiziellen Weg beschreiten, doch dafür habe ich keine Zeit, und wenn bekannt wird,  daß  Sie  die wichtigste Mordermittlung  in Schweden in moderner Zeit behindert haben, wird Ihr Chef ganz sicher erfreut sein.«

Es war einen Augenblick still. »Ich faxe es«, sagte der Bankbeamte.                                                                            

»Wie gestern«, sang Söderstedt. »Danke, danke.«

Er legte auf und klopfte mit den Fingerspitzen aufs Faxgerät. Es begann, zahlenverzierte Papiere auszuspucken. In der Zwischenzeit rief er beim Mieterverein an und ließ sich über die Besitzverhältnisse in bezug auf die Wohnung informieren. Er rief die Kfz–Zulassungsstelle an, das Finanzamt, die Bootsregistrierstelle, das Außenministerium, das Grundbuchamt.

Und er rief die für Justine Lindbergers Bewachung abgestellten Kollegen an. »Ihr fahrt um elf mit mir zu der Lindberger«, sagte er. »Und von dem Moment an laßt ihr sie nicht mehr aus den Augen.«

Dann tänzelte er zur Tür und hinaus in den Flur.

Punkt elf stand er an der Gegensprechanlage in der Riddargata. Eine Minute später saß er auf dem Sofa bei Justine Lindberger. »Schöne Wohnung«, sagte er.

»Hier ist mein Filofax«, sagte sie und hielt ihn ihm hin. Er blätterte ihn durch und schien unberührt, aber sein Gehirn arbeitete unter Hochdruck. Es gab sieben unbekannte Größen in ihrem unzensierten Notizkalender, den er im Außenministerium kopiert hatte. Ein G jeden zweiten Montag um zehn, E sonntags um vier, S zu sporadisch wiederkehrenden abendlichen Zeiten, Bro, das jeden Dienstag zu verschiedenen Uhrzeiten erschien, PPP am 6. September um 13 Uhr 30, AJ am 14. August den ganzen Tag und KT am 28. September um 19 Uhr 30. Er hatte sie alle im Kopf und strengte sich an, dämlich auszusehen, während er sich durch die offizielle Version des Filofax hindurchkämpfte.

»Was ist G?« fragte er. »Und E?«

Sie sah peinlich berührt aus. »G bedeutet Maniküre, sie heißt Gunilla. E sind meine Eltern, jeden Sonntag um vier trifft sich die Familie zum Essen. Ich habe eine große Familie«, fügte sie hinzu.

»PPP und AJ? Wie können Sie alle diese Abkürzungen im Kopf behalten?«

»PPP war ein Essen mit Freundinnen am sechsten, mit Paula, Petronella und Priscilla, um genau zu sein. AJ war eine Weiterbildung im Außenminsterium, Auslandsjournalistik. Aber jetzt reicht es doch wohl.«

»KT?« Er blieb hartnäckig.

»Klassentreffen«, sagte sie. »Ich treffe meine ehemalige Klasse vom Gymnasium.«

»S und Bro?« sagte er in exakt dem gleichen Tonfall.

Sie sah aus, als sei sie vom Blitz getroffen. »Das gibt es nicht«, sagte sie und versuchte, die Ruhe zu bewahren.

Er reichte ihr elegant den Filofax zurück. »S zu sporadischen Abendzeiten, Bro jeden Dienstag zu unterschiedlichen Zeiten«, sagte er mit ritterlichem Lächeln.

»Jetzt phantasieren Sie«, sagte sie.

»Es war ja mit Kugelschreiber geschrieben, also mußten Sie loslaufen und einen völlig neuen Filofax kaufen, um die Seiten mit S und Bro zu ersetzen. Was heißt S, und was heißt Bro?«

»Sie hatten kein Recht, in meinen Sachen herumzuwühlen«, sagte sie, dem Weinen nahe. »Ich habe meinen Mann verloren.«

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich habe durchaus das Recht. Es handelt sich um einen Mordfall von enormer Tragweite. Reden Sie jetzt mit mir.«

Sie schloß die Augen. Und schwieg.

»Diese Wohnung gehört Ihnen«, sagte er ruhig. »Sie wurde vor zwei Jahren gekauft, und Sie haben vier Komma zwei Millionen in bar bezahlt. Sie besitzen auch eine Wohnung in Paris für zwei Millionen, ein Sommerhaus auf Dalarö für zwei Komma sechs Millionen, zwei Autos für siebenhunderttausend, und Sie verfügen über ein Barvermögen von insgesamt achtzehn Komma drei Millionen Kronen. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt und verdienen im Außenministerium monatlich einunddreißigtausend. Dazu kommen natürlich ordentliche Spesen, wenn Sie im Ausland sind. Sie kommen aus einer einigermaßen wohlhabenden Familie, aber keiner reicht an Ihre Summen heran. Können Sie das erklären? Wie haben Sie es Eric erklärt?«

Sie blickte auf. Ihre Augen waren gerötet, aber sie weinte nicht, noch nicht. »Eric akzeptierte es, ohne zu fragen. Meine Familie ist reich, sagte ich, und damit gab er sich zufrieden. Das sollten Sie auch tun. Er war zufrieden mit allem, was hier im Leben ein bißchen Freude schenkt. Gut angelegtes Geld. Geld, das sich vermehrt. Hat man ein Vermögen, dann arbeitet es für einen. Es ist Geld, das in diesem Land Geld verdient, das müssen Figuren wie Sie auch akzeptieren.«

»Das tue ich nicht«, sagte Söderstedt, ohne den Tonfall zu verändern.

»Das sollten Sie aber besser!« schrie sie.

»Was bedeutet S und Bro?« sagte er.

»Bro bedeutet Bro!« schrie sie. »Jeden Dienstag habe ich einen Mann namens Herman in Bro getroffen. Wir haben gefickt. Okay?«

»Hat das Eric auch ein bißchen Freude im Leben geschenkt?«

»Hören Sie auf!« schrie sie. »Glauben Sie nicht, daß ich deswegen Gewissensbisse genug hatte? Er wußte davon, und er hat es akzeptiert.«

»Und S?«

Sie starrte ihn mit wildem Blick an und krümmte sich zusammen. Hatte er sie zu hart angefaßt?

»Da jogge ich«, sagte sie ruhig und atmete aus. »Das sind meine Joggingzeiten. Ich arbeite so viel, daß ich mein Jogging einplanen muß.«

»S wie in Jogging?«

»S wie in Stretching. Das Stretchen dauert länger als das Joggen.«

Er sah sie belustigt an. »Sie planen Ihr Stretching ein? Und Sie wollen, daß ich das glaube.«

»Ja.«

»Und das Geld?«

»Erfolgreiche Börsenspekulation. In Schweden kann man wieder Geld verdienen, Gott sei Dank.«

»Und es hat nichts mit zwielichtigen arabischen Geschäften zu tun?«

»Nein.«

»Ausgezeichnet. Seit einer Viertelstunde stehen Sie unter Bewachung durch die Schutzeinheit des Reichskriminalamts. Wir sind der Meinung, daß Sie in Lebensgefahr schweben.«

Sie starrte den hinterhältigen Finnen haßerfüllt an. »Schutz oder Überwachung?« fragte sie mit erkämpfter Ruhe.

»Wählen Sie selbst«, sagte Arto Söderstedt und verabschiedete sich.

Es hätte ein bißchen besser gehen können, aber er war dennoch zufrieden.

Jorge Chavez hatte an die hundert Wagen ad acta gelegt und konzentrierte sich jetzt auf einen einzigen. Es war ein Vabanquespiel. Die nicht existierende Firma hieß Konditori Havreflarnet, was sich harmlos anhörte und sich gerade deshalb außerordentlich gut zur Tarnung eignete. Sie sollte in der Fredsgata in Sundbyberg liegen, doch da gab es keine verdammte Konditorei, nur ein stinknormales, tristes Konsum.

Er arbeitete sich mit gewohnter Intensität durch die Firmenkartei des Gewerbeaufsichtsamts, und schließlich gelang es ihm, als Firmeninhaber einen Sten–Erik Bylund auszumachen, der bei der Entstehung der Handelsgesellschaft im Jahre 1955 im Rasundaväg in Solna gewohnt hatte. Das Register der Reichsversicherungsbehörde zeigte, daß die Firma in Konkurs gegangen war, und Chavez sah sich gezwungen, eine in höchstem Grade manuelle Kartei zu konsultieren und die Akten über Konkursverfahren durchzublättern. Am Ende fand er, was er suchte: Die Konditori Havreflarnet war 1986 in Konkurs gegangen. Der Volvo mit der B–Nummer war 1989 zugelassen worden, drei Jahre nachdem die Firma den Geist aufgegeben hatte. Noch heute war also die in der Praxis nicht existierende Firma als Fahrzeughalter verzeichnet. Steuer und Versicherung waren bezahlt, doch das Geld kam nicht von der Konditori Havreflarnet.

Er fand einen Sten–Erik Bylund, wohnhaft in Rissne. Er begab sich, ohne weitere Überlegungen anzustellen, zu der Adresse, um hart gegen hart zu setzen, eine Taktik, die sich indessen als unangemessen erwies, weil es sich bei der Adresse um ein Altenpflegeheim und bei Bylund um einen hochgradig senilen Dreiundneunzigjährigen handelte. Chavez gab nicht auf, sondern setzte sich dem sein zweites Frühstück genießenden Alten gegenüber und schaute zu, wie dieser sich die Banane in die Achselhöhle steckte. Vielleicht war dies trotz allem keine besonders glaubwürdige CIA–Tarnung.

»Warum haben Sie Ihren Volvo Kombi auf den Namen der Konditorei Havreflarnet registrieren lassen, obwohl die Firma drei Jahre vorher in Konkurs gegangen war? Wer bezahlt die Rechnungen? Wo ist der Wagen?«

Sten–Erik Bylund beugte sich zu ihm vor, wie um ein Staatsgeheimnis mitzuteilen. »Schwester Sten ist stolz auf ihr Bein aus Holz«, sagte er. »Und mein Vater war eine strenge alte Dame, die hatte nichts gegen ein Zwicken oder zwei auf die schnelle.«

»Auf die schnelle?« sagte Chavez fasziniert. Konnte das ein Kode sein?

»Na, aber klar. Er war läufig wie eine Hündin zwischen den Mischrassen. Bruder Linas Brüste wecken heiße Lüste.«

Auch wenn er noch unter einer leichten Fahrtblindheit litt, hatte Chavez jetzt ernste Zweifel, vor allem als Bylund plötzlich aufstand und einer alten Dame sein Geschlecht zeigte, die jedoch nur laut gähnte.

»Mit meinem Alfons war das ganz was anderes«, sagte sie zu ihrer Tischnachbarin. »Der war gut bestückt, das kann ich dir sagen. Einen richtigen Ochsenbraten hatte er da baumeln. Leider hing er nur da und baumelte.«

»Ja, meine Süße«, erwiderte die Tischnachbarin. »Als mein Oliver und ich einmal im Dunkeln saßen und knutschten und er ihn mir hinhielt, da sagte ich aus Versehen: ›Nein danke, mein Lieber, mir ist gerade nicht so nach rauchen.‹ Obwohl er Stunde um Stunde machen konnte, bis man richtig mürbe war, verstehst du, meine Süße. Auch wenn man selbst einen Größeren hatte, wenn du verstehst, was ich meine.«

Chavez bekam den Mund nicht mehr zu und mußte zu Kreuze kriechen. Als er wegging, hörte er die Damen tuscheln: »War das nicht der neue Arzt, meine Süße? Er ist aus dem Libanon, habe ich gehört. Je kleiner der Körper, um so größer das Glied, sagen sie da unten in den Tropen.«

»Ich glaube, das war Oliver. Er besucht mich manchmal. Dafür, daß er tot ist, hat er noch immer ein ordentlich straffes Hinterteil, meine Süße.«

 

Paul Hjelm fröstelte. Von all den Grenzlinien, die er in den letzten vierundzwanzig Stunden überschritten hatte, war die des Wetters die grausamste. Er stand unter dem Schirm mit dem Polizeilogo und sah in geringer Entfernung die langgestreckte Lagerhalle der Firma LinkCoop sich durch das streifige Perpetuum mobile des Regens abzeichnen. Er verstand, was Nyberg gemeint hatte, als er von liegenden Wolkenkratzern sprach. Ein Downtown–Wolkenkratzer in Täby und ein Slumwolkenkratzer im Freihafen. Beide waren umgefallen.

Er passierte mit hoch erhobenem Ausweis das Wachhäuschen und bewegte sich an dem laderampenverzierten Gebäude entlang nach rechts. Die Hölle hatte viele Erscheinungsformen. Er war in einer Drogenhöhle in Harlem gewesen, in Lamar Jennings' trister Wohnung, in der Folterkammer in Kentucky: So verschieden und doch so gleich. Und nun dies, ein tristes graues Lagergebäude im Freihafen, wo die einzige belebende Veränderung seit vielen Jahren das Firmenlogo war, das in spektakulär spektralen Spektren glühte und funkelte. Hier hatte Eric Lindberger seine Hölle erlebt, Benny Lundberg die seine und Lamar Jennings die seine.

Er schaute hinter die weißroten Bänder, die die äußerste rechte Tür der langgestreckten Halle versperrten. Das einzige, was er durch die Regenschleier sah, waren die Leute der Spurensicherung, die sich mit diversem Werkzeug in den Händen hin und her bewegten. Er trat einen Schritt näher und stand an der Treppe eines Lagerlokals, das verblüffend an Wayne Jennings' geheime Folterkammer in Kentucky erinnerte. Der am Boden verschweißte gußeiserne Stuhl schien nahezu identisch zu sein, ebenso die Betonwände und die nackte Glühbirne.

»Wie sieht es aus?« rief er den Technikern zu.

»Ganz ordentlich«, rief einer von ihnen zurück. »Viel organisches Material hier. Hauptsächlich vom Opfer, nehme ich an, aber weil er nicht dazu kam sauberzumachen, könnten wir Glück haben.«

Als das Licht in den Raum fiel, sah er relativ harmlos aus, entwaffnet. Hier hatte also die eigentliche Konfrontation stattgefunden. Hier hatte sich Lamar Jennings mit dem nach einem Abdruck in Modelliermasse angefertigten Schlüssel Zugang verschafft, sich hinter die Kartons in der Ecke gelegt und auf den Vater gewartet; das wirkte am plausibelsten. Wayne Jennings kam mit Eric Lindberger, der entweder bereits bewußtlos oder noch mit Jennings im Gespräch war, setzte ihn in den Stuhl, zog seine Zangen hervor und fing an. Die Konfrontation mit dem teuflischen Vater, den er fünfzehn Jahre lang für tot gehalten hatte, noch dazu beim Ausführen der Handlung, die das grauenvollste seiner inneren Bilder ausmachte, wurde zuviel für Lamar, er konnte nicht kalt bleiben, sondern verriet sich. Wayne hörte ihn, zog die Pistole und exekutierte ihn auf der Stelle.

Man konnte also kaum von einer Konfrontation sprechen. Ein schnelles Beseitigen eher, ohne weitere Überlegung, wie wenn man eine Mücke totschlägt, ohne mit dem Rasenmähen aufzuhören. Ein stilechtes Ende.

Hjelm ging in den Eingang unter dem großen, grotesken LinkCoop–Logo und sprach mit der Rezeptzionistin, einer gegerbten fünfundvierzigjährigen Dame im blauen Arbeitsoverall, der erkennen ließ, daß sie auch als Lagerverwalterin fungierte.

»Was ist das für ein Lager da ganz hinten?« fragte Hjelm.

»Das ist ein Reserveraum«, sagte sie, ohne aufzublicken; offenbar hatte sie es heute schon mehrmals gesagt. »Das bedeutet, daß er leer steht. Wenn wir eine Lieferung hereinbekommen, die größer ist, als wir erwartet haben, gibt es da zusätzlichen Platz. Wir haben ein paar davon.«

»Hält sich dort häufiger jemand auf?«

»In Lagerräumen hält man sich nicht auf«, sagte sie schnippisch. »Da lagert man Sachen.«

Er redete ein bißchen allgemein mit den Lagerarbeitern. Keiner wußte etwas, keiner verstand etwas. Einbruch, ja, das haben wir erlebt, aber Mord, das ist vollkommen wahnsinnig.

Er verlor die Lust und fuhr nach Hause.

Nach Hause ins Polizeipräsidium.

Kerstin Holm fühlte sich nicht in der Verfassung, schwere, anstrengende Gespräche zu führen wie mit Benny Lundbergs Eltern. Sie spürte den Jetlag und hatte außerdem eine stressige Arbeitswoche hinter sich. Sie wollte schlafen. Statt dessen saß sie in einer kleinen Wohnung in Bagarmossen bei einem geschockten und trauernden Paar, das sie persönlich für ihr Unglück verantwortlich machte.

»Mit der Polizei geht es bergab«, sagte der Vater, der sich Mühe gab, das Gesicht zu wahren, obwohl jedes seiner Worte seine tiefe Trauer verriet. »Wenn sie das Verbrechen bekämpfen würden, statt sich positiver Sonderbehandlung und anderem Scheiß zu widmen, dann würde unser Sohn nicht wie ein verdammtes Paket daliegen, dem man nur noch den Gnadenschuß verpassen kann. Jeder zweite Bulle ist eine Frau. Ich bin ein alter, fetter Schulhausmeister, aber ich würde locker zehn von diesen Bullenweibern von mir abschütteln und abhauen, glauben Sie mir.«

»Ich glaube es Ihnen«, sagte das Bullenweib, um weiterzukommen.

»Laßt die Männer ihre Dinge tun und die Frauen ihre, verdammich!«

»Ihren Sohn hat ein Mann mißhandelt und keine Frau.«

»Das wäre auch noch schöner!« schrie der Vater verwirrt. »Ein Mann ist Herr in seiner Burg. Es geht mit allem bergab.«

»Jetzt hören Sie auf, und setzen Sie sich hin«, mußte sie ihn schließlich anschnauzen.

Der große Mann starrte sie an, verstummte mitten in seinem Redeschwall und setzte sich wie ein gescholtener grüner Bengel.

Kerstin fuhr fort: »Ich bedaure wirklich und zutiefst, was Ihrem Sohn zugestoßen ist, aber was er braucht, ist Ihre Hilfe dabei, wieder hochzukommen, keine Gnadenschüsse.«

»Lasse würde das nie tun«, schluchzte die kleine verhuschte Mutter. »Er ist nur so ...«

»Ich weiß«, unterbrach Kerstin. »Keine Sorge, aber bitte beruhigen Sie sich und versuchen Sie, meine Fragen zu beantworten. Benny wohnte ja zu Hause. Er hatte im August Urlaub. Wissen Sie, warum er fast unmittelbar danach wieder Urlaub machte?«

Der Vater saß vollkommen erstarrt da. Die Mutter zitterte, antwortete aber: »Er war im August mit ein paar Freunden vom Militär auf Kreta. Mehr Urlaub hatte er nicht geplant. Aber er spricht ja nur noch so wenig mit uns.«

»Sagte er nichts davon, warum er zu Hause war?«

»Er habe Sonderurlaub bekommen. Das war alles, was er gesagt hat. Einen Bonus.«

»Bonus für was?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Welchen Eindruck machte er in diesen Tagen?«

»Froh. Froher als seit langem. Erwartungsvoll. Als hätte er beim Bingo gewonnen oder so.«

»Hat er gesagt, warum?«

»Nein, nichts. Wir haben auch nicht gefragt. Ich war wohl ein bißchen in Sorge, daß irgendein krummes Ding lief, jetzt, wo er endlich eine ordentliche Arbeit bekommen hatte.«

»Hat er früher krumme Dinger gedreht?«

»Nein.«

»Ich bin hier, weil ich seinen ...« – sie hätte beinah Mörder gesagt – »seinen Peiniger fassen will, nicht um ihm etwas anzulasten. Erzählen Sie jetzt.«

»Er war Skinhead. Früher. Dann machte er die Ausbildung bei der Marine und wurde ein neuer Mensch. Er versuchte, Berufssoldat zu werden, und bewarb sich bei der Polizeihochschule, aber seine Noten waren zu schlecht. Dann bekam er diese Arbeit als Wachmann. Es war wunderbar.«

»Ist er vorbestraft?« fragte Kerstin und verfluchte ihre Säumigkeit; natürlich sollte sie nicht hier sitzen und sie danach fragen, das hätte sie im voraus wissen sollen. Hätte nicht einer von denen, die ein bißchen besser mit so was vertraut waren, dies übernehmen können? Gunnar Nyberg wollte doch nichts lieber als Feldarbeit machen. Sie kam praktisch direkt aus den USA. Dämlicher Alter, dachte sie mit Adresse Hultin.

»Ein paar Jugendstrafen wegen Körperverletzung«, sagte die Mutter verlegen. »Aber nur gegen Neger«, fügte sie schnell hinzu.

Gott im Himmel, dachte Kerstin Holm. Sie sagte: »Seitdem nichts?«

»Nein.«

»Okay. Was können Sie über gestern erzählen?«

»Er war ziemlich angespannt. Saß eingeschlossen in seinem Zimmer und telefonierte ziemlich viel.«

»Sie haben nicht gehört, was er gesagt hat?«

»Glauben Sie, ich belausche heimlich meinen eigenen Sohn?«

Ja, dachte Kerstin. »Nein«, sagte sie. »Natürlich nicht. Aber man kann ja zufällig was mitbekommen.«

»Nein, das kann man nicht.«

Die nicht auch noch, dachte Kerstin und stöhnte. Sie bildete sich ein, daß sie das Stöhnen weitgehend in ihrem Innern behielt. »Entschuldigung«, sagte sie matt. »Und was geschah danach?«

»Gegen fünf ging er aus. Er sagte nicht, wohin, aber er wirkte nervös und aufgeregt. Als würde er einen Bingogewinn abholen oder so.«

»Und er hat nichts gesagt, woraus man entnehmen könnte, wohin er wollte oder was er vorhatte?«

»Er sagte nur: ›Jetzt könnt ihr bald hier ausziehen, Mama.‹«

»Haben Sie etwas in seinem Zimmer angefaßt?«

»Wir haben die ganze Nacht im Krankenhaus gesessen. Nein, wir haben nichts angefaßt.«

»Darf ich es mir ansehen?«

Sie wurde zu einem Raum geführt, dessen Tür den Eindruck eines Jungenzimmers machte. Dicht an dicht alte, abblätternde Aufkleber von Kaugummipäckchen.

Innen war es ein wenig anders. Sie dankte der Mutter und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Eine enorme schwedische Fahne bedeckte zwei Wände des Zimmers, sie war in der Mitte hinter dem Bett geknickt. Sie hob den Stoff ein wenig an und blickte dahinter. Ein paar Banderolen waren ein Stück weit hinter der Flagge versteckt. Sie sah sie nicht richtig, doch sie erkannte die schwarzweißgoldroten Streifen; wahrscheinlich waren es Miniatur–Nazifahnen. Sie schaute ein bißchen zwischen den CDs. Heavy Metal hauptsächlich, aber auch ein paar »Weiße–Macht«–Scheiben. Eins war klar, Benny Lundberg hatte mit seiner Vergangenheit nicht besonders radikal gebrochen.

Sie ging zum Telefon auf dem Nachttisch und suchte nach einem Telefonblock. Sie fand ihn schließlich auf dem Fußboden. Er war leer, aber auf dem obersten Blatt waren Vertiefungen zu erkennen; daran können sich die Kriminaltechniker die Zähne ausbeißen, dachte sie und hatte das Gefühl, daß sie zitierte. Sie nahm den Hörer ab und drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Fräulein Uhr leierte ihr Zahlen ins Ohr. Sie schnitt eine enttäuschte Grimasse. Das einzige, was sie daraus schließen konnte, war, daß Lundberg eine bestimmte Zeit auf gar keinen Fall verpassen wollte.

Sie wählte eine Nummer.

»Teleservice? Hier ist Kerstin Holm, Reichskriminalamt. Sehen Sie meine Nummer auf dem Display? Gut. Können Sie eine Eilüberprüfung vornehmen und eine Aufstellung sämtlicher eingegangener und ausgegangener Gespräche der letzten vierundzwanzig  Stunden  an Kommissar Jan–Olov  Hultin

beim Reichskriminalamt mailen? Höchste Dringlichkeitsstufe. Danke.«

Sie inspizierte rasch den überfüllten Schreibtisch. Comics, Pornohefte ganz offen, was würde die Mama sagen? Reklamestifte, Militärzeitschriften, Müll. In der obersten Schublade zwei Dinge von Interesse: zum ersten ein kleiner Beutel mit Pillen, ohne Zweifel die guten alten Russeneinser, anabole Steroide; zum zweiten eine kleine Dose mit Schlüsseln, vermutlich Reserveschlüssel: Hausschlüssel, Autoschlüssel, Fahrradschlüssel, Schlangenschloßschlüssel, Kofferschlüssel und schließlich ein Schlüssel, den sie vage kannte. War das nicht ein Schlüssel für ein Bankfach? Was konnte Benny Lundberg in einem Bankfach haben? Seine Waffe? Es lag bestimmt ein ganzes Arsenal unter den Fußbodenbrettern, aber kaum in einem Bankfach. Nein, das paßte nicht ins Profil. Sie griff erneut zum Telefon.

»Ist da der Kundendienst von Sparbanken? Hej, hier Kerstin Holm, Reichskriminalamt. Haben Sie ein Zentralregister Ihrer Bankfachinhaber? Oder muß ich – okay, ich warte. Hej, Polizei hier, Kerstin Holm, Reichskriminalamt. Haben Sie ein Zentralregister Ihrer Bankfachinhaber? Oder muß ich zu jeder einzelnen Filiale gehen? Aha, ausgezeichnet. Es dreht sich um Lundberg, Benny. Wie man's spricht. Nein, okay. Danke für die Unterstützung.«

Sie rief mit Hilfe der Auskunft noch einige Banken an. Schließlich hatte sie Glück. Die Handelsbank in der Götgata bei Slussen. Vielen Dank. Sie nahm den Notizblock und den Bankfachschlüssel mit, das mußte reichen. Bennys Mutter stand nicht unerwartet unmittelbar vor der Tür, als Holm sie ohne Vorwarnung aufriß. Sie wischte einen Fleck am Türpfosten fort.

»Haben Sie ein neueres Bild von Benny?« fragte Kerstin Holm kurz angebunden.

Die Mutter irrte eine Weile durch die Wohnung und fand ein Bild der ganzen Familie. Benny stand in der Mitte, die Arme um die Eltern gelegt, die unbestreitbar sehr klein aussahen.

Er lachte breit und ein wenig gekünstelt. Okay, das mußte genügen.

Als sie die Eltern mit ihrer nach innen gekehrten Trauer verließ – und welche Trauer ist nicht nach innen gekehrt? saß der Vater noch immer wie versteinert auf dem Sofa.

Sie nahm die U–Bahn nach Slussen. Es ging schnell. Sie kämpfte sich im strömenden Regen den Peter Myndes Backe hinauf und bog in die dort beginnende Götgata ein, ging noch ein paar Meter aufwärts, an den Geldautomaten vorbei und in die Handelsbank. Sie ging an der elektronischen Schranke vorbei, was zu lautstarken Protesten der Mittagspäusler führte, und hielt ihren Polizeiausweis in die Höhe. »Es geht um ein Bankfach«, sagte sie zu der Kassiererin.

»Das ist dort drüben«, sagte die Kassiererin und zeigt auf einen Mann mit Schlips, der seelenruhig während des Mittagsansturms dasaß und seine Nägel säuberte. Er stand auf, als er den Polizeiausweis sah.

»Bankfach. Benny Lundberg«, sagte sie kurz.

»Schon wieder?«

Sie zuckte zusammen. »Wieso wieder?«

»Sein Vater war hier, als wir gerade geöffnet hatten, und war am Bankfach. Er hatte eine unterzeichnete gesetzliche Vollmacht und seinen eigenen sowie den Ausweis des Sohns mit.«

»Verflucht«, sagte sie. »Wie sah er aus? So?«

Sie hielt dem Bankangestellten das Familienfoto der Lundbergs hin. Er nahm es und gab es sofort zurück. »Absolut nicht«, sagte er. »Dies hier ist ja ein Arbei... ein ganz anderer Typ.«

»Das ist Benny Lundbergs Vater«, sagte sie. Das Gesicht des Mannes wurde lang und länger. »Wie sah er aus?« wiederholte sie.

»Ein älterer distinguierter Herr mit Bart.«

»Da sieht man mal«, sagte sie. »Mit Bart und allem. Sie begleiten mich jetzt ins Präsidium und helfen uns bei der Erstellung eines Phantombilds.«

»Aber ich arbeite.«

»Nicht mehr. Zuerst einen schnellen Blick ins Bankfach, das leer sein dürfte. Nummer?«

»254«, sagte der Mann und zeigte den Weg.

Benny Lundbergs Bankfach war in der Tat leer. Leerer ging's nicht.

Sie nahm den Bankangestellten mit, und sie setzten sich in ein Taxi. Auf zu neuen Phantombildern. Allmählich hatte sie die Phantome satt.

Viggo Norlander hatte Kopfschmerzen. Gunnar Nyberg hatte Kopfschmerzen. Norlander hatte seinen ganzen Krempel genommen, war umgezogen zu Nyberg und hatte in einer Blitzaktion Kerstin Holms Platz okkupiert. Da saßen sie jetzt und versuchten, ihre klugen Köpfe zusammenzustecken, ohne zusammenzustoßen.

Zwischen ihnen lag ein Stapel Endlospapier mit dem Ausdruck einer Liste der Einwanderer des Jahres 1983; da waren sie gesammelt, wie in einem extrem komprimierten und vollkommen egalitären Ghetto. Chavez, der den Ausdruck hatte machen lassen, hatte dafür gesorgt, daß die amerikanischen Einwanderer ein Sternchen in der Spalte vor ihrem Namen bekamen. Ansonsten war die Aufstellung chronologisch geordnet.

Es waren Tausende von Namen, doch nur etwa einhundert Amerikaner. Trotzdem dauerte es seine Zeit. Es mußten viele Informationen verglichen werden, Abstimmungen von Geschlecht und Alter und diesem und jenem.

Norlander war übel. Er hatte das Krankenhaus viel zu früh verlassen. Die mikroskopisch kleinen Zahlenreihen tanzten ihm vor den Augen. Dieser verdammte übereifrige Chavez hatte garantiert eine Schriftgröße ausgesucht, die perfekt geeignet war, die Kopfschmerzen zu erhalten und Übelkeit zu fördern. Er lief hinaus und übergab sich. Nyberg hörte ihn durch die offenen Türen. Es war eine prachtvolle Kaskade, deren Geräuschwellen durchs Polizeipräsidium hallten.

»Das hat's gebracht«, sagte er, als er zurückkam.

»Fahr nach Hause und schlaf«, sagte Nyberg und befingerte seine bandagierte Nase.

»Nur wenn du das auch tust.«

»Okay, dann laß uns mal. Keine Pausen mehr.«

Norlander warf ihm einen mörderischen Blick zu und machte weiter.

Schließlich kristallisierte sich eine Liste von achtundzwanzig Personen heraus, männliche Amerikaner, die um 1950 geboren waren. Sechzehn von ihnen hatten sich 1983 in Stockholm und Umgebung befunden. Jetzt mußte eine Abstimmung aller achtundzwanzig mit dem Melderegister vorgenommen werden, um zu sehen, wer von ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch in Schweden war und sich in Stockholm und Umgebung aufhielt. Es waren vierzehn.

»Sind Diplomaten mit auf der Liste?« fragte Nyberg.

»Weiß nicht. Ich glaube nicht. Die sind ja keine Einwanderer.«

»Kann er nicht an der amerikanischen Botschaft gelandet sein?«

»Der Kentuckymörder an der amerikanischen Botschaft? Wäre das nicht doch ein bißchen happig?«

»Naja. Es war nur so ein Gedanke.«

»Vergiß ihn.«

»Gastforscher vielleicht? Diese Liste ist nicht komplett.«

»Ich muß an die Luft«, sagte Norlander, der wie ein Chamäleon wieder die Farbe des Verbands annahm. »Ich mach die obere Hälfte bis – was steht da? – Harold Mallory in Vasastan. A bis Ma. Du nimmst die untere.«

Norlander verschwand, bevor Nyberg ihm davon abraten konnte, den Wagen zu nehmen. Er hatte keine Lust, ihn als, Zitat, ›in extremem Drogenrausch‹ Geschnappten aus Dalshammar abzuholen.

Nyberg blieb sitzen. Er starrte auf Norlanders Gekritzel, eine kopierte Liste mit sieben amerikanischen Einwanderern anno 1983, um die er sich jetzt kümmern sollte. Morcher, Orton–Brown, Rochinsky, Stevens, Trast, Wilkinson, Williams.

Konnte man Trast heißen, Drossel? Papa Schwarzdrossel. Hieß es auf englisch eigentlich trast?

Gunnar Nyberg fühlte sich nicht richtig motiviert. Obwohl er genau das sein sollte. Es kam ihm zu trostlos vor, ein routinemäßiges Durchkämmen. Dabei wollte er nur raus und dem Mörder eins auf die Schnauze geben. Wenn er seinen Schock mit Benny Lundberg außer acht ließ, kam er nicht richtig klar damit, daß Wayne Jennings ihn hatte zu Boden schlagen dürfen.

Niemand schlug Gunnar Nyberg zu Boden. Das war Regel Nummer eins.

Er blieb ein bißchen länger, als er sollte. Er trat an den Spiegel und untersuchte sein Gesicht. Sein Verband war auf einen Nasenschutz reduziert, eine Plastikschiene von der Art, wie heroische Fußballspieler sie tragen, nachdem der Arzt den Blutstrom gestillt hat. Sie war mit bizzaren Gummibändern im Nacken befestigt. Blaue Flecken begannen sich um den Nasenschutz herum auszubreiten. Er verzichtete darauf, sich vorzustellen, wie es darunter aussah. Es war zum Kotzen, daß er immer wie ein Schlachtfeld aussehen mußte, wenn die Fälle ihrer Lösung zugingen.

Denn der Fall ging doch wohl seiner Lösung zu?

Er kehrte an den Schreibtisch zurück und sank auf den Stuhl, der besorgniserregend knarrte. Er hatte Gruselgeschichten von Bürostühlen gehört, die durchgedreht waren und sich in gräßliche Folterinstrumente verwandelt hatten, Mechanismen, die einen halben Meter hoch in den Enddarm schossen. Er dachte an sein zusammengebrochenes Bett und schaukelte ganz leicht im Stuhl. Er klang wirklich ein kleines bißchen mörderisch. Die Rache der Bürostühle IV. Der Hollywooderfolg lief vor ausverkauften Häusern. Durchgesessene Kinosessel jubelten und ließen Federn springen, die die Leinwand durchbohrten. Kein Computerbildschirm blieb trocken. Gardinen schneuzten sich in sich selbst. Büro um Büro überall in den USA revoltierte.

Zerstreutheit war nur der Vorname. Warum? Es gab immer einen Anlaß für seine Zerstreutheitsanfälle. Etwas scheuerte irgendwo, irritierte. Etwas machte, daß er mit der Liste nicht hundertprozentig zufrieden war.

Er begann die Namen zu sortieren und eine geeignete Routenführung zurechtzulegen. Drei in der Innenstadt, zwei in nördlichen Vororten, einer im Süden. Obwohl sie jetzt sicher arbeiteten. Also Arbeitsplätze. Huddinge, zwei in Kista, zwei an der Technischen Hochschule, Nynäshamn, Danderyd. Reihenfolge: Danderyd, Techniche Hochschule, Kista, Huddinge, Nynäshamn. Oder Kista, Danderyd, Technische Hochschule, Huddinge, Nynäshamn. Das war vielleicht besser.

Er legte die Liste hin und starrte an die Wand. Er testete seine Stimme und arbeitete sich durch eine Skala. Unschöner nasaler Ton. Wieder eine Verletzung, die seine Singstimme beeinträchtigt hatte. Darin lag etwas Unangenehmes. Strafe? Mahnung? Mahnung vielleicht. Erinnerung.

Plötzlich waren sie wieder da. Gunilla. Die geplatzten Augenbrauen. Tommys und Tanjas kugelrunde Augen. Müßt ihr ausgerechnet jetzt kommen?

Es gab einen einzigen versöhnlich stimmenden Zug in seiner Vergangenheit: Er hatte nie die Kinder angerührt, nicht ein einziges Mal die Hand gegen Tommy und Tanja erhoben.

Bekam er deswegen die ganze Zeit Prügel, daß es ihm die Stimme verzerrte? Damit er nie vergaß, warum er sang? Gerade weil es eine unglaublich unpassende Gelegenheit war, ergriff er sie.

Es gab zwei Tommy Nybergs in Uddevalla. Er rief den ersten an. Er war vierundsiebzig und stocktaub. Er rief den zweiten an. Eine Frau meldete sich. Ein Baby schrie im Hintergrund. Eine Enkelkind? dachte er.

»Ich möchte Tommy Nyberg sprechen«, sagte er mit überraschend fester Stimme.

»Er ist nicht zu Hause«, sagte die Frau. Sie hatte eine feine Stimme. Mezzosopran, schätzte er.

»Darf ich nur zuerst fragen: Wie alt ist Tommy?«

»Sechsundzwanzig«, sagte sie. »Wer sind Sie denn?«

»Sein Vater«, sagte er geradeheraus.

»Sein Vater ist tot. Hören Sie auf.«

»Ist das sicher?«

»Mausetot. Ich habe ihn gefunden. Und jetzt hör auf mit den Faxen, alter Sack.«

Sie knallte den Hörer auf. Er mußte ja nicht mehr unbedingt in Uddevalla wohnen, klar. Außerdem war Tommy vierundzwanzig, rechnete er rasch aus. Alter Sack? dachte er und lachte. Ein Galgenlachen. Es gab noch eine Chance.

Es gab eine Tanja Nyberg–Nilsson. Verheiratet. Ein Doppelname.

Er rief an. Eine Frauenstimme meldete sich. Sanft. Ruhig.

»Tanja.«

Was bildete er sich ein, den Frieden zu stören? Leg auf, leg auf, leg auf, sagte seine innere Stimme. Du hast deine Schiffe hinter dir verbrannt. Es ist zu spät.

»Hallo«, sagte er und schluckte heftig.

»Hallo, wer ist da?«

ja, wer war da? Der unbekannten Frau eben hatte er unbedacht das Wort »Vater« hingeworfen. War das wirklich ein Titel, um den er sich verdient gemacht hatte?

»Gunnar«, sagte er in Ermangelung eines besseren Einfalls.

»Welcher Gunnar?« sagte die Frau und verstummte. Sie sprach einen Westküstendialekt; es klang nach Göteborg, aber auch nicht ganz.

»Gunnar Trolle?« sagte sie nach einer Weile, ein wenig mißtrauisch. Warum rufst du an? Es ist schon lange vorbei, das weißt du.«

»Nicht Gunnar Trolle«, sagte er. »Gunnar Nyberg.«

Es wurde vollkommen still. Hatte sie aufgelegt?

»Papa?« sagte sie fast unhörbar.

Die kugelrunden Augen. War es möglich weiterzureden?

»Geht es dir gut?« fragte er.

»Ja«, sagte sie nur. »Warum...«

Sie brach ab.

»Ich habe in der letzten Zeit viel an euch gedacht«, sagte er.

»Bist du krank?« fragte sie.

Ja, vollkommen unsäglich.

»Nein. Nein, ich ... weiß nicht. Ich wollte nur wissen ... ob ich euch völlig zerstört habe. Sonst nichts.«

»Du hast versprochen, nie Kontakt zu uns aufzunehmen, hat Mama gesagt.«

»Ich weiß. Ich habe es gehalten. Jetzt seid ihr erwachsen.«

»Einigermaßen«, sagte sie. »Wir haben nie von dir gesprochen. Es war, als hättest du nie existiert. Bengt ist unser Vater geworden. Unser richtiger Vater.«

»Bengt ist euer richtiger Vater«, sagte er. Wer zum Teufel war Bengt? Er fuhr fort: »Ich bin etwas anderes. Ich würde dich gern treffen.«

»Ich erinnere mich nur an Schreie und Gewalt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was das für einen Unterschied machen würde.«

»Ich auch nicht. Würdest du mir verbieten zu kommen?«

Sie schwieg. »Nein«, sagte sie schließlich. »Nein, das würde ich nicht.«

»Du bist verheiratet«, sagte er, um seinen inneren Jubel zu verbergen.

»Ja«, sagte sie. »Noch keine Kinder. Keine Enkel«, fügte sie hinzu.

»Deshalb rufe ich nicht an«, sagte er.

»Doch«, sagte sie.

»Wie geht es Tommy?«

»Gut. Er wohnt in Stockholm. Östhammar. Er hat einen Sohn. Da hast du deinen Enkel.«

Er nahm die kleinen Hiebe mit offenen Armen entgegen. Mitten auf die Nasenmaske, mit einem Lächeln.

»Und Gunilla?« fragte er vorsichtig.

»Sie wohnt noch zusammen mit Papa in dem Haus. Sie überlegen, ob sie sich statt dessen eine Wohnung und ein Sommerhaus anschaffen sollen.«

»Gute Idee«, sagte er. »Bis bald dann. Ich melde mich.«

»Hej dann«, sagte sie. »Paß auf dich auf.«

Das würde er tun. Mehr denn je. Dieser sanfte Uddevalladialekt. Dabei hatte sie ein so ausgeprägtes Stockholmerisch geredet. Er erinnerte sich noch so gut an die kleinen E statt der Ä. Guck mal Mama, der Ber da im Kefig. Man konnte ein anderer werden. Den Dialekt wechseln und ein anderer werden.

Da kam ihm der Gedanke. Genau da und in diesem Moment kam ihm der Gedanke.

Genau da und in diesem Moment faßte Gunnar Nyberg den Kentuckymörder.

Er brauchte nicht Amerikaner zu sein. Es wäre sogar sinnvoller gewesen, ihn zu etwas anderem zu machen. Vielleicht nicht Norweger oder Kenianer, aber etwas, was plausibel war.

Er blätterte wie wild in der Computerliste. Er nahm sich Namen für Namen für Namen vor und ignorierte die Sternchen.

Hjelm kam herein. Er starrte verwundert auf den intensiv lesenden Giganten. Eine enorme Aura von Energie stieg wie eine Gewitterwolke über ihm auf.

»Hej du«, sagte Hjelm.

»Schnauze«, sagte Nyberg liebenswert.

Hjelm setzte sich und hielt die Schnauze. Nyberg las weiter. Es verging eine Viertelstunde, zwanzig Minuten.

April, Mai. 3. Mai: Steiner, Wilhelm, Österreich, geb. 42, Hün, Gaz, Mongolei, geb. 64, Harkiselassie, Winston, Äthiopien, geb. 60, Stankovskij, B ...

Gunnar Nyberg hielt abrupt inne. »Knall, Peng, Treffeeer«, brüllte er. »The Famous Kentucky Killer. Hol ein Foto von Wayne Jennings. Sofort!«

Hjelm starrte ihn an und schlich hinaus, auf einmal maßlos untergeben. Nyberg sprang auf und ging im Zimmer auf und ab, nein, rannte im Zimmer auf und ab wie eine gemästete Ratte in einem zu kleinen Eichhörnchentretrad.

Hjelm kam zurück und warf Wayne Jennings' großes Jugendporträt auf den Schreibtisch. »Hast du es dir vorher nicht angesehen?« fragte er.

Nyberg starrte darauf. Der breit lächelnde Jüngling mit den stahlblauen Augen. Er deckte das Gesicht mit den Händen ab und ließ nur die Augen frei. Der Blick war ihm schon einmal begegnet. In seinem Innern färbte er das Haar grau und verschob den Haaransatz nach oben. Er fügte ein paar Falten hinzu.

»Darf ich vorstellen: Robert Mayer«, sagte er. »Sicherheitschef bei LinkCoop in Täby.«

Hjelm sah Jennings an, dann Nyberg. »Bist du sicher?« sagte er.

»Da war etwas, was mir irgendwie bekannt vorkam. Ich habe es nur nicht zusammengekriegt. Er muß sich einer plastischen Operation unterzogen haben, aber die Augen und den Blick ändert man nicht so leicht. Er ist es.«

»Okay«, sagte Hjelm und versuchte, sich zu fassen. »Wir brauchen eine Bestätigung. Es ist logisch, daß du nach der Geschichte mit Benny Lundberg Kontakt aufnimmst.«

»Ich?« Nyberg blieb der Mund offenstehen. »Ich mache Hackfleisch aus ihm.«

»Wenn jemand anders geht, wird er mißtrauisch. Du mußt es sein. Und es muß nach Routine aussehen. Tu so, als wärst du schwer von Begriff, das dürfte möglich sein. Nimm irgendein schmutziges und gänzlich irrelevantes Foto mit.«

Er suchte fieberhaft nach einem Foto, irgend etwas. Er riß die Schreibtischschublade auf und fand ein Paßbild eines friedlich lächelnden Manns um die Sechzig. »Das hier geht gut«, sagte er. »Wer ist das?«

Nyberg blickte zerstreut auf das Foto. »Das ist Kerstins Pastor.«

Hjelm hielt inne und betrachtete den Mann. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er auf Kerstins Platz saß. »Weißt du davon?«

»Ja«, sagte Nyberg. »Sie hat es mir erzählt.«

Hjelm spürte einen kleinen Stich und wedelte steif mit dem Bild. Dann sagte er: »Okay. Das muß gehen. Wir wischen es ab, und du siehst zu, daß du Mayers Fingerabdruck draufkriegst.«

»Können wir ihn nicht einfach herholen? Wenn wir nur die Fingerabdrücke haben, ist doch alles klar.«

»Vielleicht kommen wir gar nicht so weit. Es sind starke Kräfte involviert. Ein Anwalt kann ihn freibekommen, bevor Fingerabdrücke überhaupt aktuell werden. Und wir können ihn nicht herbitten. Dann haut er ab. Ich frag mal Hultin.

Er rief an. Hultin kam sofort ins Zimmer, als hätte er draußen gestanden und gelauscht.

Er überschaute die Situation im Nu. Er sah Hjelm an. Dann nickte er. »Okay, so machen wir's. Daß Gunnar und Viggo im Freihafen aufgetaucht sind, muß er als reinen Zufall betrachten. Was es ja auch war, daß ihr endlich auf die Idee kamt, die übrigen Lagerräume da unten durchzuchecken. Er dürfte keine Ahnung haben, wie weit wir inzwischen sind. Es sei denn, beim FBI gibt es eine undichte Stelle. Ich habe gerade einen Bericht von Kerstin bekommen. Sie ist unterwegs. Benny Lundberg hatte Geheimnisse in einem Bankfach, und die sind heute morgen abgeholt worden, wahrscheinlich von diesem Robert Mayer mit einem bescheuerten angeklebten Bart. Wir kriegen ein Phantombild.«

»Was machen wir mit dem Kontrollieren der Fingerabdrücke«, sagte Hjelm. »Es gibt ja diese neuen Mikrovarianten.«

»Kannst du damit umgehen?«

»Nein. Aber Jorge.«

»Hol ihn. Wir fahren alle zusammen. Falls er versucht, sich dünnezumachen, wenn Gunnar da ist.«

Hjelm lief in sein Büro. Chavez war da. Er grübelte immer noch über »Schwester Sten ist stolz auf ihr Bein aus Holz« und »Bruder Linas Brüste wecken heiße Lüste« nach. Waren das wirklich Kinderzimmerreime?

»Besorg dir einen tragbaren Computer mit Fingerabdruckprogramm«, sagte Hjelm. »Wir nehmen K. hops.«

Die Reime fielen platt auf den Boden, und Chavez nahm Tempo auf. Er kam als letzter zu Hultins Dienstwagen und warf sich neben Hjelm auf die Rückbank, den kleinen Computer auf dem Schoß. Hultin fuhr wie eine gesengte Sau nach Täby. Gunnar Nyberg saß neben ihm. Er hatte sich einigermaßen gefaßt und dann LinkCoop angerufen, in genau dem passenden blasierten Ton. Robert Mayer war im Hause. Und würde es auch in den nächsten Stunden noch sein. Nyberg bat um ein Gespräch mit ihm über die Ereignisse der Nacht. Da war außerdem ein Foto, das er ihm zeigen mußte.

Kein Problem.

Sie bogen von Norrtäljevägen ab, fuhren an Täby Zentrum vorbei, das durch die Regenschwaden nur verschwommen zu erkennen war, und gelangten auf die kleinen Straßen.

»Das geht so nicht«, sagte Nyberg plötzlich. »Die haben Bronto–Überwachung. Wachhäuschen an den Toren. Monitorsystem. Er wird alles sehen.«

Hultin fuhr an eine Bushaltestelle und hielt an. Er versuchte, die Situation einzuschätzen, dann wendete er und fuhr zurück. Es war unglaublich frustrierend. Im Parkhaus des Polizeipräsidiums stieg Nyberg um in seinen guten alten Renault. Er fuhr hinterher bis Täby.

Hultins Volvo bog auf einen Parkplatz bei einem Industriegebäude ein paar hundert Meter vor den Toren von LinkCoop ein. Dort blieben sie im Sturm stehen.

Als Nyberg am Wachschalter vorbeirollte, war alles genau wie bei seinem letzten Besuch. Äußerlich.

Nicht zuletzt die wunderschönen Zwillinge in der Anmeldung. Obwohl er versicherte, allein den Weg zu finden, ging eine von ihnen vor ihm durch das stilreine Gebäude; er war immer mehr davon überzeugt, daß es sich um eine durchdachte Marktstrategie handelte. Sein Interesse an dem superkurzen Rock und den Geheimnissen, die er barg, war jedoch herabgesetzt. Unglaublich gespannt betrat er das Zimmer von Sicherheitschef Robert Mayer mit den flimmernden Monitoren an den Wänden.

Mayer richtete seinen eisblauen Blick auf ihn. Wayne Jennings' Blick. Nyberg strengte sich aufs äußerste an, um nicht angestrengt zu wirken. Robert Mayer sah völlig entspannt aus; nur sein Blick schien fixiert zu sein und geradewegs durch ihn hindurchzusehen. Am Abend vorher hatte Robert Mayer Benny Lundberg gefoltert, Viggo Norlander ausgeknockt und Nybergs Nasenbein an drei Stellen gebrochen. Er selbst dagegen wirkte frisch wie eine Heckenrose.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte er und klopfte sich leicht an die Nase.

»Es ist ein harter Job«, sagte Nyberg und schüttelte Mayers Hand. Diesmal verzichtete er auf den Mr.–Sweden–Handschlag.

»Ich habe mir einmal genauer angesehen, wozu dieser Lagerraum in der letzten Zeit benutzt worden ist«, sagte Mayer, setzte sich und faltete die Hände im Nacken. »Er hat wirklich leer gestanden, da werden nur alte leere Kartons gelagert. Er ist also so gut wie jedem zugänglich gewesen. Und offenbar auch für so gut wie jeden Zweck.«

Nyberg konnte nicht umhin, von Mayers professioneller Art beeindruckt zu sein. »Eine furchtbare Geschichte«, sagte er nur.

»Wirklich«, sagte Mayer mitfühlend.

Nyberg hätte am liebsten gekotzt. Er sagte: »Dies läßt natürlich den Einbruch in einem neuen Licht erscheinen.«

Mayer nickte nachdenklich. »Benny, ja«, sagte er. »Meldet einen Einbruch in einem Lagerraum, während zur gleichen Zeit in einem anderen der Kentuckymörder in Aktion ist. Wird dann selbst in diesem anderen fast ermordet. Was fangen Sie damit an?«

»Nichts, im Augenblick«, sagte Nyberg ausdruckslos. »Aber wir fragen uns natürlich, was Benny Lundberg für eine Rolle spielte.«

»Es wirkt zweifellos sehr sonderbar«, sagte Mayer. »Wir wußten ja, daß er eine Vergangenheit als Skinhead hatte, fanden jedoch, daß er die Chance verdiente, ein neues Leben zu beginnen. Jetzt deutet wohl das meiste darauf hin, daß er mit dem Einbruch zu tun hatte ...«

»Ich verstehe nicht richtig«, sagte Nyberg ausgesucht dämlich.

»Ich will mich nicht in Ihre Arbeit einmischen«, sagte Mayer knapp. »Das ist ja wohl kaum nötig. Sie waren ja drauf und dran, ihn zu schnappen.«

»Es wäre schön, sich das zur Ehre anrechnen zu können, aber die Wahrheit ist, daß wir nur da unten waren, um eine Routinekontrolle aller Lagerräume in der Nähe durchzuführen.«

Nyberg holte das Foto von Kerstin Holms verstorbenem Pastor hervor und hielt es Mayer hin. Mit der Bildseite nach unten, so daß Mayer es anfassen und umdrehen mußte.

Er betrachtete es und schüttelte den Kopf. Nyberg nahm es zurück und steckte es in seine Brieftasche.

»Tut mir leid«, sagte Mayer. »Müßte ich ihn kennen?« »Wir haben ihn in einem Wagen erwischt, der mit hoher Geschwindigkeit den Freihafen verließ. Einer der Lagerarbeiter meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Daß er eventuell bei LinkCoop gearbeitet hätte.« »Nein, mir sagt das Bild nichts.«

Nyberg nickte gemessen und stand auf. Sie gaben sich zivilisiert die Hand.

Er mußte sich beherrschen, um nicht durch die Korridore   zu laufen. Er lächelte den Zwillingsrezeptzionistinnen zu und  bekam doppelte Rendite. Sein Wagen rollte bedächtig durchs  Tor und verschwand sanftmütig um die Ecke.

Die letzten zwanzig Meter gab er heulend Gas; das wenigstens durfte er sich wohl erlauben. Er lief in geduckter Haltung hinüber zu Hultins Volvo, stieg ein und ließ sich in den Sitz fallen.

»Alles okay?« fragte Hultin.

»Ich glaube, ja«, sagte er und reichte Chavez das Foto nach hinten. Es hatte etwas zutiefst Makabres: die Fingerabdrücke des Kentuckymörders quer über dem Gesicht des schüchternen, krebskranken Pastors. Mit Plastikhandschuhen führte Chavez das Foto in einen kleinen Scanner ein, der an der Seite  des tragbaren Computers angebracht war. Alles war vorbereitet. Nybergs Fingerabdrücke waren eingegeben, ebenso die  von Wayne Jennings. Nach einer unangenehm langen Warte– Xeit piepte das Gerät. »Match« blinkte es auf dem Bildschirm.

»Wir haben ein ›Match‹ für Gunnar Nybergs Fingerabdrücke«, sagte Chavez.

Keiner antwortete. Sie warteten. Die Zeit dehnte sich end los. Jede Sekunde war ein Schritt in die Hoffnungslosigkeit.

Dann ein weiteres Pling, ein weiteres »Match«.

»Nicht wieder Nyberg?« sagte Hjelm.

»›Match‹ für Robert Mayer«, sagte Chavez. »Wayne Jennings und Robert Mayer sind ein und dieselbe Person.«

Ein silbergrauer Volvo Turbo auf dem Parkplatz eines Industriegeländes in Täby vibrierte vom mehrfachen Seufzen der Erleichterung.

»Wir können nicht einfach hineinstürmen«, sagte Hultin. »Er sieht uns mindestens zwei Minuten vorher. Ich schätze mal, er braucht nicht mehr als zehn Sekunden, um sich in Luft aufzulösen.«

Eine Weile war es still. Man hätte es brainstorming nennen können, wenn es nicht eher einem Sturm geglichen hätte, der durch Totenschädel pfiff.

»Ich muß es selbst machen«, sagte Nyberg. »Ich glaube, ich habe dämlich genug gewirkt, um etwas vergessen haben zu können.«

»Du hast eine Gehirnerschütterung«, sagte Hultin.

»Das ist korrekt«, sagte Nyberg und sprang in seinen Wagen. Er kurbelte das Seitenfenster herunter. »Haltet euch bereit. Ich rufe an, sobald etwas ist.«

»Sei vorsichtig«, sagte Hultin. »Er ist einer der routiniertesten Profikiller der Welt.«

»Jajaja.« Nyberg winkte irritiert ab und fuhr davon.

Am Wachhäuschen gab er an, er habe vergessen, nach einer Sache zu fragen, und wurde durchgelassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mayer–Jennings ihn seit fünfzehn Sekunden im Blickfeld; er konnte schon weg sein. Nyberg hoffte von ganzem Herzen, einen richtig bescheuerten Eindruck gemacht zu haben. Polizeitrottel. Die Zwillingsrezeptzionistinnen lächelten und meldeten ihn, und es gelang ihm, dem tanzenden Minirock abzuschwören; sie sollte jedenfalls nicht dabei draufgehen. Ideen und Pläne überschlugen sich in seinem Kopf. Wie sollte er es anstellen? Mayer hatte aller Wahrscheinlichkeit nach binnen einer Zehntelsekunde eine Waffe bereit. Jede Andeutung von Drohung würde Gunnar Nyberg auf der Stelle das Leben kosten, er hätte keine Chance. Er wollte sein Enkelkind sehen. Er kam zu einem Entschluß.

Mayer stand wartend im Gang vor seinem Büro; er sah ein wenig mißtrauisch aus, was vermutlich bedeutete, daß er vor  Mißtrauen kochte.

Nybergs Gesicht hellte sich auf, als er ihn sah und auf ihn zuging. »Tut mir leid«, sagte er ein wenig außer Atem und legte den Kopf schief. Aber mir ist da noch etwas eingefallen.«

Mayer hob die eine Augenbraue und war bereit. Seine Hand bewegte sich ein paar Millimeter zum Jackenaufschlag und wurde zurückgezogen.

Gunnar Nyberg schlug ihn nieder. Ein gewaltiger Aufwärtshaken warf ihn durch den Gang. Der Kopf krachte gegen die Wand. Er blieb liegen.

So ging das.