20
Arto Söderstedt vermißte die Sonne normalerweise nicht. Er war ein Liebhaber von Nuancen und hatte herausgefunden, daß sich die Art und Weise, wie die Neuzugezogenen Stockholm genossen, in einer Grauzone zwischen der oberflächlichen Faszination der Touristen und dem trägen Gewohnheitsblick der Ureinwohner befand. Die Sonne förderte beide Verhaltensmuster, während das tiefer gehende Genießen der Neuzugezogenen einen gewissen Grad an Bewölkung erforderte, gerade so viel, daß die Farben zu ihrem Recht kamen, ohne von der Sonne ausgelöscht zu werden. Darüber, daß seine Theorie etwas mit seiner Sonnenüberempfindlichkeit zu tun haben könnte, hatte er noch nicht nachgedacht.
Aber jetzt reichte es mit der Bewölkung. Er stand an einem seiner Lieblingsplätze in der Stadt und sah mit Mühe und Not die Hand vor Augen, keinesfalls aber die Oper auf der einen Seite oder den Palast des Erbfürsten auf der anderen. Darauf steuerte er nun zu, unter seinem affigen Teddy–Regenschirm, den er aus Versehen von zu Hause mitgenommen hatte; er sah die Miene seiner zweitjüngsten Tochter vor sich, wenn sie in ein Meer von Polizeilogos hinaufblickte. Als er die ehrwürdige Treppe hinaufstieg, konnte er nicht umhin zuzugeben, daß er die Sonne wirklich vermißte.
Er war kein eifersüchtiger Typ, aber es kränkte ihn doch, daß er nicht für die USA–Reise in Frage gekommen war; immerhin war er der Experte für Serienmörder. Statt dessen stapfte er jetzt die ewigen Stufen der Feldarbeit sogar bis zur Rezeption des Außenministeriums hinauf.
Die Empfangsdame teilte ihm gemessen mit, daß Justine Lindberger krank sei, Eric Lindberger verstorben sei und daß man im gesamten Außenministerium einen Trauertag ausgerufen hatte. Söderstedt unterließ es, ihr zu sagen, daß diese Information überflüssig war, nicht nur, weil er an dem Fall arbeitete, sondern auch, weil er Augen im Kopf hatte. All dies war nämlich von jeder Morgenzeitung und von allen Morgensendungen des Radios verbreitet worden. Nicht einmal ein Schlafwandler hätte es geschafft, nicht mitzubekommen, daß der furchtbare Kentuckymörder nach Schweden gekommen war, ebensowenig die Tatsache, daß die Polizei dies schon seit fast zwei Wochen wußte, ohne ein Wort darüber zu verlieren und den Bürgern die Chance zu geben, sich zu schützen. Söderstedt hatte acht professionelle Meinungsmacher gezählt, die gefordert hatten, die Köpfe der verantwortlichen Polizeibeamten müßten rollen.
»Haben die Eheleute Lindberger in derselben Abteilung gearbeitet?«
Die Empfangsdame, eine mißtrauische Frau um die Fünfzig, saß hinter ihrer Glasscheibe und sah aus wie das Werk eines modernen Velazquez, ein durch und durch wirklichkeitsgetreues, aber dennoch ungeheuer boshaftes Abbild einer aussterbenden Klasse. Söderstedt kam trotz allem zu der Ansicht, daß er die aussterbenden den heutigen stromlinienförmigen Exemplaren vorzog. Die Frau blätterte mit deutlich zur Schau getragenem Widerwillen in einem Ordner.
Nach großer und fast ächzender Mühe antwortete sie: »Ja.«
Eine sorgfältig überlegte Antwort, dachte Söderstedt und fuhr fort: »Wer ist ihr nächster Vorgesetzter?«
Noch mehr Ächzen, Mühe und Anstrengung. Dann: »Anders Wahlberg.«
»Ist er im Hause?«
»Jetzt?«
Nein, am ersten Dienstag nach Himmelfahrt vor zwei Jahren, dachte Söderstedt und sagte mit einschmeichelndem Lächeln: »Ja.«
Dann wiederholte sich die Prozedur von extremer Anstrengung, die in diesem Fall darin bestand, zwei Tasten auf einem Computer zu drücken. Nach dieser fast übermenschlichen Arbeitsbelastung konnte die Frau nur noch ein vollkommen atemloses Ja hervorbringen.
»Glauben Sie, ich kann mit ihm sprechen?«
Es war der Blick, dem vor langer Zeit Plantagenbesitzer mit Ochsenziemern begegnet waren. Die schwarze Sklavin wurde noch einmal gezwungen, sich zu erniedrigen. Sie drückte nicht weniger als drei Tasten der Haussprechanlage und brachte mit dem letzten Rest ihrer gepeinigten Stimme heraus: »Die Polizei.«
»Aha?« schnarrte eine verständnislose Männerstimme aus dem Hörer.
»Geht es?«
»Jetzt?«
»Ja.«
»Ja.«
Das Endergebnis dieses inspirierenden Dialogs war, daß Söderstedt durch einen von Kristallkronleuchtern erhellten Flur nach dem anderen wanderte und sich zwölfmal verlief. Schließlich fand er die ehrwürdige Tür, hinter der sich Außenrat Anders Wahlberg aufhielt. Er klopfte an.
»Herein«, ertönte eine Donnerstimme aus der Tiefe des Raums.
Arto Söderstedt betrat ein elegantes Vorzimmer mit stummer Sekretärin und sah dahinter ein noch eleganteres Büro mit Aussicht auf Strömmen. Anders Wahlberg war Ende Fünfzig und trug seine Korpulenz mit demselben offensichtlichen Stolz wie seinen minzgrünen Schlips, der aussah wie das Lätzchen der jüngsten Tochter nach beendeter Fütterungsschlacht.
»Arto Söderstedt«, sagte Arto Söderstedt. »Reichskriminalamt.«
»Wahlberg«, sagte Wahlberg. »Ich habe gehört, daß es um Lindberger geht. Was für eine Geschichte! Eric kann in der ganzen weiten Welt keinen Feind gehabt haben.«
Söderstedt setzte sich, ohne zu zögern, auf einen Stuhl, direkt gegenüber Wahlbergs kandelabergeschmücktem Mahagonischreibtisch. »Was war Lindbergers Arbeitsbereich?«
»Beide Eheleute sind auf die arabische Welt spezialisiert. Sie haben sich hauptsächlich mit dem Handel mit Saudi–Arabien beschäftigt und an unserer Botschaft dort gearbeitet. Jung und vielversprechend. Die Topdiplomaten der Zukunft, alle beide. Dachte man. War es wirklich ein amerikanischer Serienmörder?«
»Es sieht so aus«, sagte Söderstedt kurz. »Wie alt sind sie? Oder waren?«
»Justine ist achtundzwanzig, Eric war dreiunddreißig. Mit dreiunddreißig zu sterben...«
»Das war die durchschnittliche Lebenserwartung im Mittelalter.«
»Sicherlich«, sagte Wahlberg verwundert.
»Haben sie immer zusammen gearbeitet?«
»Im Prinzip, ja. Sie hatten etwas unterschiedliche Vorgaben bei ihren Geschäftskontakten. Aber abgesehen davon, waren ihre Aufgaben vergleichbar: den Handel zwischen Schweden und in erster Linie Saudi–Arabien zu erleichtern. In enger Zusammenarbeit mit Wirtschaftsvertretern beider Länder.«
»Unterschiedliche Vorgaben?«
»Eric hatte vor allem die großen schwedischen Exportunternehmen auf seiner Liste, Justine die etwas kleineren. Einfach ausgedrückt.«
»Sind sie immer zusammen gereist?«
»Nicht immer, nein. Es gab viele Reisen hin und her, und sie waren nicht immer so aufeinander abzustimmen.«
»Und absolut keine Feinde?«
»Nein. Absolut keine. Nicht die geringsten Unregelmäßigkeiten im Protokoll. Einwandfreie und gediegene Arbeit, generell. Ihnen gehörte die Zukunft, könnte man sagen, wenn es nicht jetzt so makaber klänge. Justine hätte dieser Tage wieder hinunterfliegen sollen, aber ich gehe davon aus, daß sie es jetzt nicht schafft. Es war geplant, daß Eric noch ein paar Monate von zu Hause aus arbeiten sollte. Nun bleibt er zu Hause, in Ewigkeit, Amen.«
»Wissen Sie, was das Ziel von Justines Reise ›dieser Tage‹ war?«
»Nicht im Detail. Sie sollte mich eigentlich heute informieren. Irgendein Problem mit einem neuen Gesetzesentwurf für den Handel mit Kleinunternehmen. Treffen mit saudischen Regierungsvertretern.«
»Und Sie können sich Erics Tod beim besten Willen nicht anders als durch Zufall oder Schicksal erklären?«
Anders Wahlberg schüttelte den Kopf und sah dann auf den Schreibtisch hinunter. Er wirkte, als müsse er weinen. »Wir waren Freunde«, sagte er. »Er war wie ein Sohn für mich. Wir hatten am Wochenende eine Verabredung zum Golf. Es ist unbegreiflich, fürchterlich. Wurde er – gefoltert?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Söderstedt und fand, daß sein mitleidiger Ton falsch klang. Er wechselte zu einem etwas barscheren: »Ich muß Sie wohl nicht daran erinnern, wie wichtig es ist, daß wir diesen Mörder erwischen? Gibt es noch etwas, an das Sie sich erinnern, dienstlich oder privat, das von Bedeutung sein könnte? Die geringste Kleinigkeit kann wichtig sein.«
Es gelang Wahlberg, seine Trauer hinter die Maske des wahren Diplomaten zu schaufeln. Er schien nachzudenken. »Mir fällt nichts ein. Privat waren sie wohl das einzige wirklich glückliche Paar, das ich überhaupt kenne. Es gab eine natürliche Zusammengehörigkeit zwischen ihnen. Ich habe keine eigenen Kinder, und ich werde ihn vermissen, wie man einen Sohn vermißt. Ich werde sein Lachen vermissen, seine natürliche Integrität, seine bescheidene Ruhe. Scheiße.«
»Fällt Ihnen ein Grund dafür ein, warum er sich um halb drei Uhr nachts im Freihafen aufhielt?«
»Nein. Das klingt völlig verrückt. Er hat kaum mal freitags nach der Arbeit allein ein Bier getrunken. Wollte immer direkt nach Hause zu Justine.«
»Ich müßte mir mal sein Büro ansehen. Und wenn Sie dafür sorgen könnten, daß alle seine Computerdateien kopiert und an mich geschickt werden, wäre ich Ihnen besonders dankbar.«
Anders Wahlberg nickte stumm und erhob sich. Er ging auf den Flur und wanderte schwerfällig ein paar Türen weiter in Richtung Treppe. Dann hielt er inne, zeigte auf eine Tür und wandte sich ab. Söderstedt sah der schweren Gestalt nach, bis sie wieder in ihrem Trauerraum verschwunden war. Er trat ein paar Schritte zur Seite. Rechts neben Eric Lindbergers Büro war Justines. Die Eheleute hatten buchstäblich nebeneinander gelebt und gearbeitet. Er betrat Erics Büro.
Es war kleiner als Wahlbergs, hatte kein Vorzimmer, und die Aussicht war nicht Strömmen, sondern die Fredsgata. Eine Tür führte ins Zimmer seiner Frau. Söderstedt stellte fest, daß sie unverschlossen war.
Er verschaffte sich einen schnellen Überblick über den Schreibtisch. Ein mäßiges Durcheinander, nicht mehr. Ein Hochzeitsfoto mit einer sehr jungen dunkelhaarigen Justine und einem etwas älteren, aber ebenso dunkelhaarigen Eric. Sie lächelten das gleiche breite Lächeln, und es schien nicht im geringsten so aufgesetzt wie das Genre es nahelegt, eher professionell eingeübt, und dennoch natürlich. Das glückliche Paar machte den Eindruck, als gehöre es von Geburt an und aus nie in Frage gestellter Gewohnheit dem höheren Bürgertum an, mit voller Kontrolle über alle gebührende Etikette. Keiner von beiden sah aus, als habe er besonders hart für seine Karriere kämpfen müssen, sondern beide wirkten wie die geborenen Diplomaten.
Obwohl er vielleicht zu weitreichende Schlüsse aus einem Standardfoto zog.
Außerdem fand er überall verstreute Aufzeichnungen, auf offiziellem Briefpapier des Ministeriums ebenso wie auf gelben Merkzetteln und in einem Terminkalender von der dickeren Sorte. Söderstedt suchte den korrekten Begriff – irgend etwas mit »fax«, Filofax, hieß es nicht so? Jedenfalls sammelte er alles zusammen, stopfte es in seine Aktentasche, öffnete die Zwischentür und begab sich in Justines Zimmer. Es war so gut wie identisch mit dem ihres Mannes.
Er inspizierte auch ihren Schreibtisch, den das gleiche Hochzeitsfoto zierte – oder eher ein anderes aus derselben Serie. Beider Lächeln war hier etwas schwächer, etwas weniger selbstgefällig; eine vage Unruhe schwebte über ihnen, eine Störung. Der kleine Unterschied zwischen den Fotos sprach Söderstedts extrem gutentwickelten Sinn für Nuancen an.
Wie bei ihrem Mann, so lagen auch hier auf diverse Papiere gekritzelte Notizen auf dem Tisch und in den Schubladen, in denen er herumwühlte, obwohl das kaum als legal zu bezeichnen war. Er schrieb die zum Teil kryptischen Aufzeichnungen ab und zog ein dem von Eric gleichendes Filofax aus einer Schreibtischschublade. Er sah sich weiter im Raum um. In einer Ecke fand er, was er suchte: einen Minikopierer. Er kopierte etwas nervös den Terminkalender für den letzten und den nächsten Monat; das sollte reichen. Er packte die Kopien und die Abschriften zu dem schon beschlagnahmten Material in die Aktentasche und legte Justine Lindbergers Terminplaner wieder dorthin, wo er ihn gefunden hatte. Dann kehrte er ins Zimmer von Eric Lindberger zurück, trat auf den Korridor und trabte die Treppe hinunter. Er nickte der Empfangsdame gut gelaunt zu, sie jedoch sah aus, als hätte sie Hundescheiße gegessen. Er spannte den gloriosen Teddy–Regenschirm auf und stürzte sich hinaus in den strömenden Regen.
Er hatte den Dienst–Audi auf der anderen Seite von Gustav Adolfs Torg parken müssen, beim Opernhaus, und lief nun quer über den Platz, die Aktentasche an den Körper gepreßt. Der Teddy–Regenschirm schützte kaum mehr als seinen Schädel. Er sprang in den Audi und öffnete die Aktentasche. Er blätterte die blassen Kopien von Justine Lindbergers Terminplaner durch, um für das Treffen mit der jungen Witwe ein paar Trümpfe in der Hand zu haben. Er hoffte, sie nicht ausspielen zu müssen.
Dann wendete er den Wagen in Richtung Strömmen, fuhr am Opernkeller vorbei, überquerte Blasieholmen und Nybrokajen, fuhr die Sibyllegata hinauf und bog beim Armeemuseum rechts in die Riddargata ein. Der alberne Ballon, in dem sich den ganzen Sommer über Touristen hatten herumfahren lassen, war immer noch da, sah aber im Regen total verlassen aus.
Ein Stück den Hügel hinauf hielt er an, parkte grob ordnungswidrig vor dem Lieferanteneingang eines Geschäfts und hastete in einen Hauseingang, wo er, vor dem Regen geschützt, neben dem Namensschild »Eric und Justine Lindberger« auf einen Knopf der Gegensprechanlage drücken konnte. Nachdem er viermal geklingelt hatte, hörte er ein schwaches: »Ja?«
»Justine Lindberger?«
»Nicht wieder die Presse, hoffe ich?«
»Die Polizei. Kriminalinspektor Arto Söderstedt.«
»Kommen Sie herein.«
Der Türöffner summte, und er trat ein, kletterte sechs fahrstuhllose Treppen hinauf und traf Justine Lindberger in der Tür stehend an. Viggo Norlander hatte nicht übertrieben, als er ihre spröde Schönheit mit ziemlich unpoetischen Worten beschrieben hatte. Söderstedt zog es vor, sie sich als langbeinige arabische Prinzessin vorzustellen, die auf einem weißen Pferd durch die Wüste preschte. Er schämte sich ein wenig dieser klischeehaften ersten Assoziation.
»Söderstedt«, keuchte er und wedelte mit seinem Polizeiausweis. »Ich hoffe, ich störe nicht allzusehr.«
»Kommen Sie herein«, sagte sie noch einmal. Ihre Stimme war vom vielen Weinen geschwächt.
Die Wohnung sah ungefähr so aus, wie er es erwartet hatte, durchgestylt elegant, exklusiv, aber nicht protzig, eher streng, delikat. Im stillen tastete er nach Adjektiven.
Er wurde zu einem Ledersofa gewiesen, das absolut unbenutzt aussah. Es war selbstverständlich bequem bis an die Schlafgrenze. Justine Lindberger setzte sich auf die Kante eines stilvollen Sprossenstuhls auf der anderen Seite des zitronenfarbenen flachen Glastischs im Wohnzimmer. Eine Glastür führte auf einen Balkon mit Aussicht auf Nybroviken und Skeppsholmen.
»Mein Beileid«, sagte er gedämpft. »Ist die Presse sehr lästig?«
»Es ist furchtbar«, sagte sie.
»Ich will mich bemühen, es so kurz wie möglich zu machen«, begann Söderstedt und fuhr fort: »Haben Sie irgendeine Idee, was der Anlaß dafür gewesen sein könnte, daß Ihr Mann ermordet wurde?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Bisher war sie seinem Blick sorgsam ausgewichen, wie auch jetzt wieder. »Nein«, sagte sie. »Wenn es sich um einen Serienmörder handelt, dann war es wohl ein Zufall. Der grausamste, den man sich vorstellen kann.«
»Und es gibt keine andere Möglichkeit? Nichts im Zusammenhang mit Ihren Kontakten zur arabischen Welt?«
»Unsere Kontakte waren äußerst friedlich.«
»Sie sollten am Freitag nach Saudi–Arabien fliegen. Welchen Auftrag hatten Sie?«
Sie begegnete endlich seinem Blick. Ihre dunkelbraunen Augen waren voller Trauer, aber einen kurzen Augenblick lang erschien es ihm, als gäbe es eine noch tiefere Trauer in ihnen, eine Schuld, die noch tiefer war als die, die der Überlebende dem toten Partner gegenüber immer empfindet; all das Ungetane, das ungetan bleiben würde, alles, worüber man hätte reden sollen, was man aber aufgeschoben hatte. Es war mehr als das, dessen war er sich sicher, aber ihr Blick wich seinem aus, bevor er ihn festhalten konnte.
»Es ging um Detailfragen bezüglich einiger neugegründeter saudischer Importlager, um die Konsequenzen für schwedische Kleinunternehmen. Was sollte das mit der Sache zu tun haben?«
»Sicher gar nichts. Ich muß mir nur die Situation klar vorstellen können. Gibt es zum Beispiel jemanden, der ein Interesse daran haben könnte, daß Sie zu dem Treffen nicht erscheinen, was wohl der Fall sein wird?«
Sie nickte schwer und lange.
Dann begegnete sie wieder seinem Blick, und vielleicht gab es da einen kleinen neuen Funken in ihren Augen. »Meinen Sie, daß es sich nicht um den – wie haben Sie ihn genannt – Kentuckymörder handelt?«
Sie spuckte das Wort regelrecht aus.
»Ich versuche nur, eine Alternative zum Zufall zu finden«, erwiderte Söderstedt sanft.
»Es ist meine Aufgabe, die Geschäfte schwedischer Unternehmen in Saudi–Arabien zu erleichtern – auf Kosten einheimischer Unternehmen. Ich bin zur Zeit die einzige, die voll über die Situation informiert ist, und meine Abwesenheit könnte zu gewissen Konkurrenzvorteilen für Unternehmen aus anderen Ländern führen.«
»Welche Branchen werden von diesen neuen saudiarabischen Gesetzen berührt?«
»Vor allem die Maschinenbauindustrie. Aber es geht um viel zu kleine Veränderungen, als daß es eine Form von Gewalt motivieren könnte, und schon gar nicht einen Mord.«
Söderstedt nickte und änderte den Kurs: »Wie würden Sie Ihr Verhältnis beschreiben? Ihre Beziehung zu Ihrem Mann?«
»Es war sehr gut«, sagte Justine direkt. »Sehr, sehr gut. In jeder Hinsicht.«
»Ist es nicht schwierig, mit seinem Ehemann zusammenzuarbeiten?«
»Im Gegenteil. Wir haben ein gemeinsames Interesse. Hatten. Vergangenheit«, schrie sie plötzlich, stand auf und lief hinaus auf die Toilette. Er hörte die Hähne so wild rauschen wie auf einer japanischen Oberklassetoilette.
Söderstedt stand auf und wanderte durch die Wohnung. Sie war viel größer, als der erste Eindruck hatte vermuten lassen. Er ging und ging, es nahm kein Ende, und dann war er plötzlich wieder am Ausgangspunkt. Es gab drei Eingangstüren im Treppenhaus, also umfaßte die Lindbergersche Wohnung die gesamte Etage, die ursprünglich in drei Wohnungen unterteilt war. Er hatte mindestens zehn Zimmer gezählt. Drei Toiletten. Zwei Küchen. Warum zwei Küchen?
Natürlich war ihm bekannt, daß Angestellte des Außenministeriums ein gutes Grundgehalt bekamen und daß die Zulagen es möglicherweise fast verdoppelten, aber eine solche Wohnung mußte an die fünf Millionen Kronen gekostet haben, wenn nicht mehr. Höchstwahrscheinlich war hier von beiden Seiten ein hübscher Batzen Familienkapital investiert worden.
Er setzte sich wieder und sah aus, als habe er sich nicht vom Fleck gerührt, als sie zurückkam.
Ihr Gesicht war leicht gerötet und sah frisch gewaschen aus. Im übrigen wirkte sie unverändert. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie und kehrte auf die Kante des weißen Sprossenstuhls zurück.
»Das macht doch nichts«, sagte er großzügig. »Sie haben keine Kinder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin erst achtundzwanzig. Wir hatten noch viel Zeit.«
»Das hier ist eine ziemlich große Wohnung für zwei Personen ...«
Sie begegnete seinem Blick, sofort in Verteidigungsposition. »Wollen wir nicht lieber bei der Sache bleiben?« fragte sie bissig–rhetorisch.
»Tut mir leid, aber wir müssen über die Erbfragen sprechen. Wie ist es? Erben Sie alles?«
»Ja. Ja, ich erbe alles. Glauben Sie, ich hätte meinen eigenen Mann gefoltert? Glauben Sie, ich hätte ihn eine höllische Stunde da sitzen und leiden lassen, während ich zwei widerwärtige Zangen in seinen Hals gestochen hätte?«
Aha, dachte er. Jetzt Öl auf die Wogen. »Verzeihen Sie mir«, sagte er. »Es tut mir leid.«
Das reichte nicht ganz. Sie war aufgestanden und schrie fast. Eine zunehmende Panik steigerte ihre Stimmfrequenz. »Kleine Leute wie Sie können nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sehr ich ihn geliebt habe. Und jetzt ist er tot, weg, für immer. Ein verdammter Irrer hat meinen Geliebten gefoltert und ihn ins Meer geworfen. Können Sie sich überhaupt vorstellen, was er durchgemacht hat in dieser grauenhaften Stunde? Ich weiß, daß ich das letzte Bild war, das er vor sich gesehen hat, ich muß mich damit trösten, daß ihn das getröstet hat. So muß es gewesen sein. Es war meine Schuld, daß er gestorben ist! Ich hätte sterben sollen, nicht er! Er ist statt meiner gestorben!«
Während die Wortflut über ihn hereinbrach, hatte Söderstedt sich zum Telefon bewegt. Er wollte gerade einen Krankenwagen anrufen, als Justine Lindberger abrupt verstummte und sich setzte.
Sie rang zwar noch die Hände im Schoß, aber sie war plötzlich ruhig genug, um ihm mitzuteilen: »Ich habe im Bad ein paar Beruhigungstabletten genommen. Sie fangen an zu wirken. Machen Sie weiter.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Machen Sie weiter.«
Söderstedt kehrte verlegen zum Sofa zurück und setzte sich. Jetzt hockte auch er auf der vorderen Kante. Er versuchte, schnell und richtig zu schalten: »Was haben Sie damit gemeint, daß Sie statt seiner hätten sterben sollen?«
»Er war der glücklichere Mensch von uns beiden.«
»Nur deshalb?«
»Das ist nicht wenig. Die Welt hätte weniger verloren, wenn ich statt seiner gestorben wäre.«
Söderstedt dachte an den haarfeinen Unterschied zwischen den Hochzeitsfotos auf den Schreibtischen der Eheleute und frohlockte insgeheim, weil er ins Schwarze getroffen hatte. »Können Sie das ein bißchen ausführen?«
»Alles ging so leicht für Eric, er glitt sorglos durch die Welt. Ich tue das nicht. Überhaupt nicht. Mehr wollte ich gar nicht sagen.«
Söderstedt hütete sich zu drängen; er war beunruhigt genug über ihren Zustand. Statt dessen fragte er: »Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum er sich um halb drei Uhr nachts im Freihafen aufhielt?«
»Absolut nicht. Ich glaube auch nicht daran. Er muß gezwungen worden sein.«
Er wechselte schnell wieder die Spur, zielstrebig, aber auch verwirrt: »Wie ist die Situation in Saudi–Arabien zur Zeit?«
Sie sah ihn verwundert an.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie sieht es zum Beispiel mit dem Fundamentalismus aus?«
Sie wirkte leicht mißtrauisch, antwortete aber professionell: »Es gibt ihn. Aber zur Zeit stellt er kein nennenswertes wirtschaftliches Hindernis dar. Er wird von den Regimen in Schach gehalten, oft mit ziemlich harten Mitteln.«
»Was ist mit den Frauen? Gibt es nicht wieder häufiger Schleierzwang ?«
»Sie dürfen nicht vergessen, daß der Fundamentalismus eine volksnahe Bewegung ist und daß das, was, mit westlichen Augen betrachtet, wie Zwang wirkt, nicht immer einer ist. Wir sind zu schnell dabei, anzunehmen, daß unsere Normen die allein selig machenden sind. Es gibt tatsächlich immer noch bedeutend mehr Menschen, die sich mit der linken Hand den Hintern abwischen, als solche, die mit der rechten Hand grüßen.«
»Sicher«, sagte Söderstedt und nahm Anlauf. »Aber ist es nicht so, daß der Golfkrieg einen ganz anderen Effekt hatte als den beabsichtigten? Die Amerikaner haben sich auf Saddam Hussein eingestellt, der fast ein säkularisierter Diktator ist, haben hemmungslos Zivilisten ermordet, Frauen und Kinder, haben Saddam an der Macht gehalten, die Moslems zusammengeschweißt und in Saudi–Arabien wegen des Öls so viele Ressourcen zerstört, daß ein großer Teil des Geldes dem arabischen Fundamentalismus zugute kam. Saudi–Arabiens Fundamentalisten sind ja die reichsten und die am besten organisierten in der ganzen arabischen Welt, die Spinne in einem weltumfassenden Netz, und das in höhstem Maße mit amerikanischen Mitteln. Ist das nicht Ironie des Schicksals?«
Justine Lindberger starrte den merkwürdigen, kreideweißen, feingliedrigen, finnlandschwedischen Polizeibeamten sprachlos an, der offenbar nichts dagegen hatte, freimütig seine politischen Theorien auszubreiten.
Schließlich sagte sie bedächtig: »Vielleicht sollten Sie Politiker werden.«
»Nein, danke«, sagte Arto Söderstedt.