20. Kapitel

Ende April war der Winter immer noch nicht vorbei. Auch wenn die Sonne tagsüber schon wärmte, die Nächte waren noch empfindlich kalt. In den Senken und Tälern lagen Reste von schmutzig grauem Schnee.

Nie war mir ein Winter so lang vorgekommen wie in jenem Jahr. Mehrmals am Tag blickte ich sehnsüchtig in den Himmel und hielt Ausschau nach einem Kranich, der nach Norden flog und damit das Ende des Winters ankündigte.

Ich wartete darauf, dass die Wärme der Sonne die Prärie zu neuem Leben erweckte. Ich wartete darauf, dass mein Vater endlich zurückkehrte.

Mai, hatte er geschrieben. Ich zählte die Tage, ohne zu wissen, bis wohin ich zählen sollte. Aber lange konnte es nun nicht mehr dauern. An einem Nachmittag beschloss Tante Charlene mit mir nach Manderson zu fahren, um in Bernies Laden Lebensmittel einzukaufen und die Wäsche zu waschen, die sich bergeweise angesammelt hatte. Ich half ihr, die beiden vollen Wäschekörbe ins Auto zu tragen, dann fuhren wir los.

Nachdem zwei Waschmaschinen beladen und mit Vierteldollarmünzen bestückt waren, schickte Charlene mich auf das Postamt gegenüber, um die Post zu holen.

»Hallo Tally«, sagte Norma, die Postbeamtin, als sie mir vier Briefe aushändigte. Ich freute mich, als ich sah, dass einer von meinem Vater war.

»Alles okay mit deinem Dad?«, fragte sie und hatte auf einmal einen mitleidigen Ausdruck im Gesicht.

»Ich hoffe es«, sagte ich. »Bestimmt schreibt er, wann er nach Hause kommt.«

»Na dann viel Glück«, sagte Norma.

Ich lief zurück zum Laden und brachte Tante Charlene die übrige Post. Dann setzte ich mich draußen auf das Holzgeländer. Erst als ich Dads Brief öffnen wollte, sah ich den roten Stempel auf der Vorderseite. Ich las den Aufdruck und wäre vor Schreck beinahe vom Balken gefallen. Dads Brief kam aus einer Haftanstalt in Kalifornien, einem Staatsgefängnis.

Mit zitternden Fingern riss ich ihn auf und las.

Meine liebe Talitha,

du wirst einen furchtbaren Schock bekommen haben, als du den Absender meines Briefes gelesen hast. Leider kann ich dich nicht beruhigen, denn es ist wahr: Dein Vater sitzt im Gefängnis.

Ich werde beschuldigt, meinem Chef 20 000 Dollar gestohlen zu haben. Das alles ist ein großes Missverständns. Ich würde nie jemanden bestehlen. Ich bin sicher, du weißt das. Das Geld ist verschwunden, jemand hat es genommen, aber ich war es nicht. Ich hoffe, dass sich die ganze Sache schnell aufklärt und ich zu dir nach Pine Ridge zurückkommen kann.

Tante Charlene wird vermutlich nicht an meine Unschuld glauben. Hör einfach nicht hin, wenn sie mich oder dich schlecht macht. Ich will versuchen, im Gefängnis zu arbeiten und euch weiter Geld zu schicken. Aber es wird nicht mehr so viel sein.

Sei tapfer, Braveheart, ich komme bald. Das ist ein Versprechen. In Liebe, dein Dad

Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen, während ich den Brief wieder und wieder las.

Das war nicht möglich. Es konnte einfach nicht wahr sein. Mein Vater, der ehrlichste Mensch, den ich kannte, saß im Gefängnis, weil er ein Dieb sein sollte.

Nun war ich wirklich allein. Diese neue Erkenntnis schien mir unerträglich. Als ich den Kopf hob, sah ich durch den Schleier meiner Tränen eine Gestalt vor mir stehen. Ich wischte mit dem Jackenärmel über meine Augen. Es war Leo Little Moon. Wahrscheinlich hatte er mich durch die Scheibe des Ladens beobachtet und sich Sorgen gemacht.

»Was ist denn los, Tally?«, fragte er bestürzt, als er mein tränenüberströmtes Gesicht sah.

Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht sprechen. Es war, als würde jemand eine Schlinge um meinen Hals legen und langsam immer fester zuziehen. Deshalb reichte ich ihm den Brief.

Leo las. Als er fertig war, nahm er mich wortlos in die Arme und hielt mich eine lange Zeit. So lange, bis mein Körper nicht mehr von Schluchzern geschüttelt wurde.

»Das wird sich sicher schnell aufklären«, sagte er zuversichtlich. »Du musst ganz fest an deinen Vater glauben, Tally. Richard ist Sonnentänzer, er würde niemals stehlen.«

Leos Trost tat mir gut. Trotzdem wäre ich jetzt lieber allein gewesen, eingeschlossen in meinem dunklen Kellerzimmer. Stattdessen stand ich vor Bernies Laden auf offener Straße und heulte. Alle würden sich fragen, was mit mir los war. Norma von der Post hatte den roten Stempel auf dem Umschlag gesehen und sofort gewusst, was los war. Schon morgen würde jeder in Manderson wissen, dass mein Vater im Gefängnis saß, und im Reservat würden die wildesten Gerüchte die Runde machen.

»Ich muss es Tante Charlene erzählen«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, ob ich das jetzt kann.«

»Na komm«, sagte Leo. »Komm mit rein, ich spendier dir erst einmal eine heiße Schokolade. Du bist ja ganz kalt.«

Er schob mich in einen kleinen abgetrennten Raum neben dem Laden und drückte mich auf einen Stuhl. »Schön sitzen bleiben«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«

In den vergangenen Monaten war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der Brand unseres Trailers das Schlimmste war, was ich bisher erlebt hatte. Ich hatte Tante Charlene und meinen Cousin Marlin ertragen, weil ich mir sicher war, dass es bald nur noch besser werden konnte. Schon seit Anfang April wartete ich sehnsüchtig darauf, dass mein Vater endlich wiederkam, um uns ein neues Zuhause zu bauen. Nun, wo ich gehofft hatte, den genauen Tag seiner Ankunft zu erfahren, hielt ich stattdessen einen Brief in den Händen, in dem stand, dass alles noch schlimmer werden würde. Dass mein Vater nicht kommen würde, weil er in einem Gefängnis saß. Verzweifelt kämpfte ich gegen die Mutlosigkeit, die mit voller Wucht über mich hereinbrach. Ich fragte mich, woher ich die Kraft zum Weitermachen nehmen sollte.

Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte meinen Kopf darauf und weinte bitterlich. Meine Angst vor der Zukunft, die Sehnsucht nach meinem Vater, die ganze verdammte Hoffnungslosigkeit brach sich Bahn und strömte in heißen Tränen aus mir heraus.

Erst als ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, spürte ich die Hand auf meiner Schulter. Ich hob den Kopf und sah einen Becher mit dampfender Schokolade vor mir stehen.

»Danke, Leo«, schluchzte ich.

»Ich habe es deiner Tante erzählt«, sagte er und setzte sich zu mir.

»Sie war natürlich außer sich. Ich dachte, dass es dir gut tun würde, wenn du noch eine kleine Pause von ihr hast. Ich fahre dich dann später nach Hause.«

Ich nickte erleichtert.

Leo reichte mir ein Kleenex, und ich trocknete meine Tränen. Tränen lindern den Schmerz, aber sie ändern nichts.

Ein weiteres Mal musste ich mit einer unerträglich scheinenden Situation fertig werden. Nach vorn sehen und nicht zurück, dachte ich. Doch im Augenblick erschien mir das unmöglich.

»Nun wird es erst richtig schlimm werden«, sagte ich und erschrak über den Ton in meiner Stimme. Ich ahnte, dass ich total verzweifelt klang. »Tante Charlene wird jetzt erst recht auf mir herumhacken, und Marlin hat noch einen Grund mehr, mich zu quälen. Wie soll ich das bloß aushalten?«

»Es tut mir so Leid, was du da durchmachen musst«, sagte Leo. »Ich würde dich ja bei mir wohnen lassen, aber wir sind schon zwanzig Personen im Haus, und ich teile das Zimmer mit zwei meiner Brüder. Bei uns ist wirklich kein Platz. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, Tally.«

»Du hilfst mir doch, Leo«, erwiderte ich leise. »Ich bin so froh, jetzt nicht bei meiner Tante sein zu müssen.«

Ich blieb bei Leo im Laden, bis er Feierabend hatte. Es dämmerte schon, als er mich nach Hause brachte. Von Manderson bis zum Haus meiner Tante waren es nur ein paar Meilen, doch ich wünschte, die Fahrt würde ewig dauern.

Scooter und Rip bellten freudig, als ich aus Leos Jeep stieg. Sie sprangen an mir hoch, um mich zu begrüßen. Leo stieg auch aus und umarmte mich noch einmal. Dann drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich.

»Halt dich tapfer, Tally«, sagte er. »Dein Vater ist bestimmt schnell wieder draußen. Und wenn du Hilfe brauchst, dann ruf mich an. Die Nummer hast du ja.«

Tante Charlene schimpfte wie eine alte Rohrdrossel, als sie endlich über mich herfallen konnte. Sie glaubte natürlich nicht im Geringsten daran, dass Dads Verhaftung nur ein Missverständnis war. Charlene war fest davon überzeugt, mein Vater hätte das Geld genommen, weil er endlich ein Haus kaufen wollte.

»Ehrliche Arbeit war ihm wahrscheinlich zu mühsam«, zeterte sie.

»Er wollte schneller ans Ziel kommen, auf seine Art. Nun muss er dafür büßen.«

»Dad ist kein Dieb«, sagte ich. »Niemals. Er ist ein Sonnentänzer.«

Charlene lachte bitter und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du glaubst auch noch an solche Märchen, Kind. Das ist doch alles bloß Getue. Sonnentanz, tapfere Krieger, schnelle Reiter. Diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Und bloß weil einer ein Sonnentänzer ist, heißt das noch lange nicht, dass er nicht stehlen würde, wenn die Not groß ist. Dein Vater hat es nicht mehr ausgehalten, von dir getrennt zu sein. Deshalb hat er es getan.«

Nun machte sie auch noch mich für alles verantwortlich, das war typisch für Tante Charlene. Dad war schuldig in ihren Augen, und ich war es auch.

Später, in der Abgeschiedenheit meines Kellerzimmers, nahm ich eine Schere und schnitt meinen langen Zopf ab. Unsere Vorfahren taten das, wenn jemand, den sie liebten, gestorben war. Ich tat es, weil ich das Gefühl hatte, dass an diesem Tag meine Träume gestorben waren.

Den Zopf steckte ich in eine Tüte, weil ich ihn am nächsten Tag verbrennen wollte. Meine Haare reichten jetzt nur noch bis auf die Schultern – und wellten sich mehr als zuvor.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag im Bett und dachte über die Möglichkeiten nach, die mir blieben. Nach Kalifornien trampen vielleicht, wie ich es schon einige Male vorgehabt hatte, wenn das Leben in Charlenes Haus mir unerträglich erschienen war. Mir eine Stellung als Hausmädchen suchen (dann würde ich wenigstens für meine Arbeit bezahlt werden), und Dad sooft es ging im Gefängnis besuchen.

Ob Stormy mich vermissen würde, wenn ich nicht mehr kam?

Ich trug mich mit dem Gedanken, meinem Vater einen Rechtsbeistand zu besorgen. Dabei dachte ich an Arnold Colder, den jungen Anwalt aus Kalifornien, der Weiße, der beim Sonnentanz im Hells Canyon unter den Tänzern gewesen war. Ob er bereit sein würde, einen Mann zu verteidigen, der keinen Cent für seine Verteidigung bezahlen konnte?

Ich rollte das Kissen unter meinem Kopf zusammen und verschob es ein wenig, weil es schon ganz feucht war von meinen Tränen. Und plötzlich wusste ich: Ich würde nicht davonlaufen, nein. Das war keine Lösung. Ich glaubte immer noch daran, dass eines Tages alles besser werden würde. Und auch wenn ich dazu verdammt war, unter einem Dach mit Tante Charlene und meinem Cousin Marlin zu leben, so hatte ich doch Leo, der sich um mich sorgte. Ich hatte Della, Tom, Neil und die Mädchen. Ich hatte Adena. Und Stormy natürlich.

Am nächsten Tag beschäftigte mich Tante Charlene wie gewohnt den ganzen Vormittag im Haus. Ich wusch ab, wischte das Badezimmer, legte die Wäsche, leerte die Abfalleimer und fütterte die Hunde, die auch noch ein paar Streicheleinheiten bekamen.

Die Tüte mit meinem Zopf hatte ich schon in der Jackentasche, aber ich kam nicht dazu, sie zu verbrennen.

Gegen Mittag kam Marlin aus seinem Zimmer geschlichen. Er sah blass und verquollen aus, als hätte er geweint. Vermutlich hatte er Drogen genommen. Tante Charlene ignorierte das Aussehen ihres Sohnes, genauso, wie sie seine zwielichtigen Freunde ignorierte.

Stattdessen erzählte sie ihm sofort, dass sein Onkel im Gefängnis saß, weil er Geld von seinem Chef gestohlen hatte.

»Dann kann er also nichts mehr schicken«, war alles, was Marlin dazu sagte.

»Im Knast bekommen die auch Geld«, erwiderte Charlene. »Dann muss er eben alles schicken, was er hat.«

Marlin schlang einen Teller Spagetti mit Tomatensoße hinein, dann machte er sich auf den Weg zur Straße, wo ihn seine Kumpels abholen und wer weiß wohin mit ihm fahren würden. Wenn ich seine Mutter wäre, ich würde wissen wollen, wo mein Sohn sich herumtreibt und vor allem, mit wem, dachte ich. Aber Tante Charlene schien froh zu sein, dass Marlin weg war, und verzog sich wie gewohnt auf ihre Couch.

Seit jener Nacht im Dezember, als wir auf so ungewohnte Weise miteinander geredet hatten, ließ Marlin mich in Ruhe. Er schnüffelte nicht mehr in meinem Zimmer herum, benutzte die Toilette im Keller nicht mehr, und es schien, als hätte er den Spaß daran verloren, mich zu ärgern. Wir redeten nie wieder über persönliche Dinge. Aber wenn wir einander etwas zu sagen hatten, geschah es in einem ganz normalen Ton.

Nur manchmal, da bedachte mein Cousin mich mit einem Blick, der mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Es war ein Blick voller Kummer und Resignation. Ein Hilferuf – doch ich wusste nicht, wie ich helfen sollte.

Nachdem Marlin gegangen war, machte ich zum zweiten Mal den Abwasch und räumte die Küche auf. Tante Charlene saß im Wohnzimmer, in ihre Seifenoper vertieft. Sie würde auch den Nachmittag und den Abend auf diese Weise verbringen.

Ich zog mich warm an und schlüpfte nach draußen. Scooter und Rip hatte ich beigebracht, dass sie nicht bellen sollten, wenn ich das Haus betrat oder verließ. Dafür bekamen sie hin und wieder einen kleinen Leckerbissen von mir.

Schnell eilte ich davon, bevor meine Tante etwas bemerkte, mich zurückrufen und mir noch mehr Hausarbeiten aufbrummen konnte. Ich schlüpfte unter den Drahtzäunen hindurch und sah in der Ferne die Pferde grasen. Sie hatten ein Stück Wiese gefunden, auf dem die Sonne das erste frische Grün hervorgebracht hatte, und zupften dort an den Halmen.

Stormy wieherte freudig, als sie mich kommen sah, und auch die anderen Tiere hoben ihre Köpfe. Der gefleckte Hengst war nicht bei ihnen, also musste Neil mit ihm ausgeritten sein. Seit Psitós Tod im Winter hatte ich auf keinem Pferderücken mehr gesessen, und jetzt spürte ich, wie ich mich danach sehnte. Seit Neils Bericht vom Big-Foot-Ritt wünschte ich mir so sehr mit Stormy im nächsten Winter daran teilzunehmen. Sie war nun groß und kräftig genug, um eingeritten zu werden.

Stormy leckte vom Salz, dass ich ihr gab, und sie folgte mir, als ich weiterlief. Mit leiser Stimme erzählte ich ihr von meinen Plänen. Wie immer erwies sich Stormy als gute Zuhörerin. Manchmal schnaubte sie leise, vielleicht vor Empörung oder aus Mitleid mit mir. Sie zupfte an meinem Ärmel, und ich gab ihr noch ein paar Krümelchen Salz, die sie lecken konnte.

»Ich werde dich reiten, Stormy«, sagte ich. »In diesem Sommer werde ich auf deinen Rücken steigen und du wirst mich durch die Hügel tragen. Und im Winter werden du und ich am Big-Foot-Ritt teilnehmen. Es muss klappen, ich werde schon eine Möglichkeit finden.« Stormy blieb stehen und scharrte mit einem Huf im Gras.

»Was ist denn?«, fragte ich. »Heißt das: Ja, Tally, du wirst mich reiten, und ich werde dir gehorchen? Oder bedeutet es: Nein Tally, auf mir wird nie jemand reiten, auch du nicht?«

Die Stute hob den Kopf und wieherte. Dann nickte sie mehrmals.

»Ach Stormy«, sagte ich, »du lässt mich nicht im Stich, wie mein Dad es getan hat.« Als ich das sagte, liefen mir erneut Tränen über die Wangen. Ich hatte das Gefühl, in einem Strom zu stehen und fortgerissen zu werden, haltlos umhergeschleudert von Kräften, die so viel stärker waren als ich.