18. Kapitel

Nun, da mein Vater nicht mehr da war, um seine Hand schützend über mich zu halten, war ich Tante Charlenes Launen ausgeliefert wie ein einzelner Baum dem Wind in der offenen Prärie. Meine Tante hasste ihr Leben, sie war unzufrieden mit allem, und deshalb hatte sie auch kein Mitleid mit anderen.

Die Tage wurden kürzer, die Luft kühler. Es regnete viel, und Marlin war wieder öfter zu Hause. Als ich zum ersten Mal merkte, dass jemand in meinem Zimmer gewesen war und in meinen Sachen gestöbert hatte, beschwerte ich mich bei Tante Charlene.

»Marlin schnüffelt in meinen Sachen herum«, sagte ich wütend.

»Warum schließt du nicht ab?«

»Das tue ich. Er muss einen Schlüssel haben.«

Meine Tante zuckte die Achseln. Es würde Marlin wenig interessieren, wenn sie ihm Vorhaltungen machte. Er hatte schon lange keine Angst mehr vor Strafe.

Einmal hörte ich, wie sie ihn bat, nicht im Haus zu rauchen. »Alles stinkt, und ich bekomme keine Luft. Ich möchte nicht, dass du im Haus rauchst.«

»Und?«, meinte er verächtlich. »Was willst du dagegen tun?«

Tante Charlene konnte nichts dagegen tun. Genauso wenig, wie ich etwas dagegen tun konnte, dass Marlin in meinem Zimmer herumwühlte oder die Toilette im Keller benutzte.

In solchen Momenten hasste ich ihn.

Als Dad das nächste Mal anrief, hatte er einen guten Job als Zimmermann bei einer Baufirma gefunden und schickte Tante Charlene von nun an regelmäßig Geld, wovon mir ein Teil als Taschengeld zustand – für Kleidung und Schulsachen und kleine Wünsche.

Der November neigte sich dem Ende zu und kalte Winde aus dem Norden hatten die warme Herbstluft weggefegt. Es waren graue Tage, und ohne meinen Vater erschienen sie mir noch dunkler und trüber als sonst zu dieser Jahreszeit.

Die Alten im Reservat waren besorgt, denn es gab Anzeichen, dass ein besonders harter Winter bevorstand. Ich würde nicht frieren und auch nicht hungern im Haus meiner Tante – aber um die Pferde machte ich mir Sorgen.

Ich half Neil jetzt jeden Abend beim Füttern der Tiere. Wir trafen uns an der Scheune und warfen den Pferden Heuballen in die Futterkrippe. Sie tauchten sofort ihre Köpfe hinein und ließen ihre zufriedenen Kaugeräusche hören. Für Taté und Grey hielt Neil eine besondere Futtermischung in einem Futtersack bereit.

»Warum bekommen sie extra Futter?«, fragte ich. »Weil sie Männer sind?«

Er lachte kopfschüttelnd. »Nein. Weil mein Vater und ich mit Grey und Taté im Dezember am Big-Foot-Ritt teilnehmen werden. Sie müssen knapp 200 Meilen bei eisiger Kälte durchhalten, und damit sie etwas auf den Rippen haben, wenn es losgeht, bekommen sie eine Extraration.«

Ich schluckte. Neil würde also tatsächlich am Big-Foot-Ritt teilnehmen – etwas, wovon ich nur träumen konnte.

»Du reitest den Hengst?«, fragte ich voller Bewunderung.

»Ja. Taté ist jetzt mein Pferd. Pa hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.«

Neil war jetzt 17. Ernst und stark wie ein junger Krieger. Ich hätte ihm gerne gezeigt, wie sehr ich ihn mochte, aber dann hätte er sich vielleicht wieder zurückgezogen und das wollte ich nicht. Im Augenblick kamen wir ganz gut miteinander aus, wobei ich immer darauf bedacht war, ihm nicht auf die Nerven zu gehen.

»Ich würde auch gerne mitmachen bei diesem Ritt«, sagte ich sehnsüchtig. »Davon träume ich schon lange.«

»Na ja«, meinte Neil trocken, »reiten kannst du ja. Aber für den Ritt brauchst du ein gutes Pferd, eines, das kräftig genug ist, um die Kälte auszuhalten. Aber das Wichtigste ist, dass du deinem Pferd vertrauen kannst und dass das Pferd dir vertraut. Sonst kannst du die Sache gleich vergessen. Außerdem brauchst du einen Transporter, der dein Pferd nach Eagle Butte bringt, ins Standing-Rock-Reservat, wo der Ritt startet. In unseren Pferdeanhänger passen aber nur zwei Pferde.«

Ich senkte traurig den Kopf. Ich hatte kein Pferd und schon gar kein Geld für einen Transporter. An diesem Ritt teilzunehmen, war einer meiner vielen Träume, die zu den unerfüllbaren gehörten. Aber ich würde weiterträumen, um die Realität wenigstens hin und wieder zum Schweigen zu bringen.

Neil stupste mich mit der Faust unters Kinn und sagte: »Nun lass mal den Kopf nicht hängen, Tally. Vielleicht lässt sich ja im nächsten Jahr was machen.«

Ich nickte, war aber davon überzeugt, dass er mich bloß trösten wollte.

Stormy zog ihre Nase aus dem Heu und kam zu mir herüber. Sie knabberte an den Knöpfen meiner Jacke, und ich musste lachen, weil ihre Mähne voller Moos und Grashalme war.

Neil hielt mir den Futtersack hin, und ich nahm eine Hand voll Körner für Stormy heraus. Ich schlang meine Arme um ihren Hals, vergrub meine Nase in ihrem dichten Winterfell und flüsterte: »Eines Tages werde ich mit dir auf den Spuren meiner Vorfahren reiten, hörst du?«

Mitte Dezember brachen Tom und Neil nach Norden auf, um mit vielen anderen Reitern am Big-Foot-Ritt teilzunehmen.

Beinahe jeden Tag lief ich zu Della hinüber. Während ich mit Bey und April und Miss Lillys Kätzchen spielte, ließ ich mir von Neils Mutter erzählen, wo die Reiter gerade waren und wie es ihnen in der eisigen Prärie auf den Rücken ihrer Pferde erging.

Bei Della war es gemütlich, und ich bekam fast immer einen Becher heiße Schokolade. Manchmal half ich ihr Stoffreste zuzuschneiden, denn Della Thunderhawk konnte wunderschöne Quilts nähen. Das Rattern ihrer Nähmaschine wurde zu einem vertrauten Geräusch, und manchmal nahm sie sich sogar die Zeit, mir etwas zu zeigen.

Ich hatte das Lachen wiedergefunden, und das Leben in Tante Charlenes Haus war zu einer Art Alltag geworden. Dad rief nun nicht mehr so oft an. Er wollte das Geld lieber sparen. Ich versuchte nicht mehr rund um die Uhr an ihn zu denken, und es gab Tage, wo mir das tatsächlich gelang.

In einer Nacht, es war eine Woche vor Weihnachten, erwachte ich von einem merkwürdigen Schmerz, einem unangenehmen Ziehen im Bauch. Als ich Licht anmachte und aufstand, entdeckte ich einen kleinen Blutfleck auf dem Laken. Ich hatte meine Periode bekommen. Schon so lange hatte ich dieses Ereignis herbeigesehnt, und nun war es auf einmal eingetreten. Zum Glück hatte ich vorgesorgt und schon seit einiger Zeit ein Päckchen Monatsbinden im Schrank aufbewahrt.

Ich wechselte das Laken und mein Nachthemd, und als ich wieder im Bett lag, im Dunkel meines Kellerzimmers, fühlte ich mich so allein wie noch nie zuvor. Ganz still und leise hatte mein Körper begonnen sich zu verändern. Aber niemand war da, dem ich es erzählen konnte, niemand, der mich in den Arm nehmen würde.

Was diese Dinge anging, war Dad immer unkompliziert und offen gewesen, und nun vermisste ich ihn mit der ganzen Kraft meiner Sehnsucht.

Als er das nächste Mal anrief aus San Francisco, überlegte ich, ob ich es ihm erzählen sollte. Doch sosehr ich mich freute, seine Stimme zu hören, ich spürte auf einmal, dass die alte Vertrautheit, die immer zwischen uns bestanden hatte, nicht mehr da war. Dad war meilenweit von mir und meinen Sorgen entfernt, darüber täuschte auch die Nähe seiner Stimme nicht hinweg.

Es ging ihm gut. Er arbeitete viele Stunden am Tag und sparte, soviel er konnte. Es war sonnig und warm am Pazifik, und er hatte ein paar Freunde gefunden. Indianer wie er, mit denen er seine Sehnsucht nach der Familie und dem heimatlichen Boden teilen konnte.

Mein Vater war mir fremd geworden.

Weihnachten kam heran, und ich freute mich darauf, denn Charlie und Nellie White Elk hatten mich eingeladen, ein paar Tage bei ihnen zu verbringen. In vielen Familien, die die indianischen Traditionen bewahrten, wurde Weihnachten gefeiert – wenn auch ohne Weihnachtsbaum. Es gab kleine Geschenke und etwas Besonderes zu essen. Ich war froh, aus meinem Kellerzimmer herauszukommen und endlich wieder eine längere Zeit mit Adena verbringen zu können.

Am Tag vor Weihnachten machte ich das Haus sauber und buk Erdnussbutterplätzchen. Tante Charlene rührte sich nicht von ihrer Couch, und es sah so aus, als wollte sie Weihnachten ausfallen lassen. Ihre Trägheit wog schwerer als ihr neuer Glaube. Aber das war mir egal, ich würde schließlich nicht da sein. Am nächsten Vormittag wollte Charlie White Elk mich abholen und mit nach Porcupine nehmen.

Gegen Abend hielt ein Auto vor dem Haus. Zuerst dachte ich, Marlin käme zurück, aber seine Kumpanen brachten ihn nie bis vor die Tür. Sie setzten ihn immer unten an der Straße ab.

Auf den Stufen vor der Tür stand Leo Little Moon und brachte ein Paket von meinem Vater. Lächelnd überreichte er es mir. »Dein Dad hat es an unsere Adresse geschickt und darum gebeten, dass du es noch vor Weihnachten bekommst, Tally.«

Ich freute mich riesig, Leo zu sehen. Und obwohl ich wusste, dass meiner Tante neben vielen anderen Lakota-Traditionen auch die Regeln der Gastfreundschaft abhanden gekommen waren, bat ich Leo herein. »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte ich ihn.

»Tee wäre mir lieber«, sagte er.

Ich brühte uns einen Tee und machte einen Teller mit Erdnussbutterplätzchen zurecht. Leo sah mir dabei zu, und in seinem Blick lag etwas, dass ich nicht zu deuten wusste.

Als der Tee fertig war, brachten wir alles nach unten, in mein Kellerzimmer. Leo sah sich um und sagte: »Ist doch ganz gemütlich hier.«

Ich wusste, dass er Recht hatte. Die Wohnungssituation im Reservat war desolat, und im Winter, wenn überall das Geld für Heizmaterial fehlte, hausten oft zwei oder drei Familien in einem Haus, und mehrere Personen teilten sich Zimmer, die so groß waren wie dieses.

»Für einige Zeit ist es in Ordnung«, sagte ich. »Es kommt eben nie Licht herein.«

»Na ja, ich hoffe, dein Dad kommt bald zurück und holt dich hier raus.«

»Ja, das hoffe ich auch.«

Leo zeigte auf die Zeichnungen von Stormy und den anderen Pferden, die ich an die Wände gepinnt hatte. »Sind die von dir?«

Ich nickte.

»Die sind schön. Du bist ja eine richtige Künstlerin.«

Er nahm ein Plätzchen. »Auch von dir?«

Ich nickte noch einmal.

Leo kaute genüsslich. »Mmm, die sind köstlich. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als dir einen Heiratsantrag zu machen, Talitha Running Horse. Du bist eine gute Partie, sehr vielseitig begabt.« Er lächelte.

Röte stieg mir ins Gesicht, und ich senkte verlegen den Kopf.

Leo wurde auf einmal ernst. »Du hast dich verändert, Tally. Bist erwachsen geworden.«

In meinem Hals kratzte es es, als ich sagte: »Ich bin erst fünfzehn, Leo.«

»Na ja, dann muss ich wohl noch warten mit dem Heiratsantrag.«

Das klang richtig enttäuscht, und ich musste lachen.

Ich erzählte Leo von meinem Vater und dass er jetzt Geld verdiente, von dem er uns ein Haus bauen wollte. »Vielleicht kommt er im Mai zurück«, sagte ich.

»Na, das klingt doch toll. Nur noch fünf Monate. Die vergehen wie im Fluge, Tally. Glaub mir.«

Leo Little Moon trank seinen Tee und futterte Plätzchen. Ich bekam die neuesten Geschichten und ein paar alte Witze zu hören. Seine fröhliche Art steckte mich an. Als Leo aufbrach, um nach Hause zu fahren, brachte ich ihn bis zur Tür. Im Flur zog er etwas aus der Tasche seines Parkas. »Ach, ehe ich es vergesse: Ich habe auch ein kleines Geschenk für dich.« Er übergab mir ein in Weihnachtspapier gewickeltes Päckchen. »Fröhliche Weihnachten, Tally.«

»Danke Leo«, sagte ich überrascht. »Aber ich habe gar nichts für dich.«

»Oh«, meinte er. »Deine Erdnussbutterplätzchen sind die besten, die ich je gegessen habe. Aber eine Umarmung würde ich auch nicht abschlagen.«

Ich umarmte ihn und spürte seine Lippen an meiner Stirn.

»Danke Leo, dass du gekommen bist«, sagte ich. »Das war eine richtig schöne Überraschung.«

»Ich habe mich auch gefreut, dich zu sehen.« Er öffnete die Tür und vor uns stand Marlin.

Mein Cousin war so überrascht, Leo Little Moon vor sich zu haben, dass er ihn mit offenem Mund anstarrte. Marlin fror, dass sah ich an seinen roten Ohren. Sein Atem, der uns entgegenschlug, roch nach Alkohol.

»Hallo Marlin«, sagte Leo ziemlich locker.

Aber Marlin ging an ihm vorbei ins Haus, ohne ihn oder mich zu grüßen.

Leo zuckte die Achseln. »Lass dich von seinem Gehabe nicht beeindrucken.«

»Das versuche ich schon seit Jahren«, sagte ich und mühte mich um ein Lächeln.

Er stieg in seinen Jeep, und ich rieb mir fröstelnd die Arme. Es war bitterkalt, und mein Atem wurde zu einer weißen Wolke in der Dunkelheit. Ich winkte Leo, als er davonfuhr.

Leo Little Moons Geschenk war ein Eau de Toilette, das nach Maiglöckchen duftete. Im Paket meines Vaters fand ich eine Ananas, mehrere Tafeln Schokolade und vier in Weihnachtspapier gewickelte Päckchen, von denen zwei für mich waren und jeweils eins für Marlin und Tante Charlene. Den übrig gebliebenen Platz im Karton hatte Dad mit Nüssen verschiedener Sorten aufgefüllt.

Ich packte meine beiden Päckchen gleich aus, weil ich es nicht erwarten konnte. In einem waren zwei T-Shirts, eins mit einem stilisierten Orca darauf, und das andere zierte ein Bild der Navajo-Rockgruppe Blackfire, die ich so gerne hörte. Im zweiten Paket waren drei Bücher, die Dad für mich ausgesucht hatte. Damit waren einige lange Winterabende im Kellerzimmer gerettet.

Am nächsten Vormittag kam Charlie White Elk und holte mich nach Porcupine. Fern von Marlin und Charlene ging es mir so richtig gut. Adena und ich halfen Nellie ab und zu in der Küche, aber die Pflichten hielten sich in Grenzen. Wir hatten den ganzen Tag Zeit, um über Dinge zu reden, die uns beschäftigten.

Auch in der Nacht. Ich schlief mit in Adenas Bett, und in den dunklen Stunden vertrauten wir einander an, was wir bei Tageslicht nicht auszusprechen wagten. Das meiste davon hatte mit unserem Körper zu tun und der Grenze, die wir längst überschritten hatten.

Als Adena erfuhr, dass ich nun auch meine Regelblutung hatte, fühlte sie sich verpflichtet mich darauf hinzuweisen, was ich von nun an zu beachten hatte.

»Du darfst nie über eine Person hinwegtreten, die am Boden sitzt oder liegt«, sagte sie, »das würde dir sonst als Respektlosigkeit ausgelegt werden. Auch über Kleidungsstücke oder Schuhe einer anderen Person darfst du nicht hinwegsteigen.«

Ich musste lachen, aber Adena stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite. »Das ist nicht witzig, Tally. Du darfst jetzt deine Haare, die sich auf der Bürste sammeln, nicht mehr in den Mülleimer schmeißen, das wäre sonst ein Zeichen von mangelnder Selbstachtung.«

»Was mache ich denn damit?«, fragte ich neugierig und konnte ein Kichern kaum verbergen.

»Du musst sie verbrennen.«

»Auch das noch«, sagte ich.

Nun lachte Adena.

Im Flüsterton erzählten wir von unseren beunruhigenden Wünschen, die auf einmal da waren und die mit jenen jungen Männern zu tun hatten, denen unser Herz gehörte.

In meinem Fall war es immer noch Neil Thunderhawk, auch wenn Leo Little Moon jetzt wieder öfter meine Gedanken beschäftigte. Adena hatte sich in einen Jungen verliebt, der Silas Bell hieß. Er ging in ihre Klasse, war aber schon sechzehn. Silas mochte Adena auch.

»Willst du mir damit sagen, dass Silas Bell seine Zunge in deinen Mund stecken darf?«, fragte ich und unterdrückte ein Kichern.

»Das darf er«, sagte Adena. »Und du wirst es nicht glauben, aber er kann es viel besser als Randee!«

Es war eine herrliche Zeit, die fünf Tage gingen viel zu schnell vorbei. Die Heimkehr war ernüchternd. Tante Charlene lag reglos auf der Couch. Fünf Tage lang hatte sich niemand um den Haushalt gekümmert, und es sah so aus, als ob es fünf Wochen gewesen wären. Aus Plastikeimern quoll Müll, und auf Bergen von Geschirr gammelten Essensreste.

Ich machte mich gleich daran, das schmutzige Geschirr zu spülen, die angesammelten Abfälle nach draußen zu bringen und die Fußböden zu wischen. Marlin hatte sich einfach die Nüsse aus meinem Zimmer geholt und überall lagen Nussschalen herum.

Ich setzte Teewasser auf und brachte meiner Tante einen Becher Hagebuttentee, zusammen mit den Zimtplätzchen, die Nellie mir eingepackt hatte. Charlene war dankbar dafür und fragte mich sogar, wie ich die Tage bei den White Elks verlebt hatte. Für sie und Marlin war Weihnachten ausgefallen, wie ich es vermutet hatte.

»Für wen soll ich kochen und backen?«, fragte sie resigniert. »Marlin ist nie zu Hause, und wenn, dann kommt er nur, weil er Hunger hat oder Geld braucht. Gebe ich ihm welches, setzt er es in Zigaretten oder Alkohol um. Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit nimmt er auch Drogen.« Sie weinte, und ich versuchte sie zu trösten. Helfen konnte ich ihr nicht.

Irgendwann verschwand sie in ihrem Zimmer. Ich schlüpfte in meine Winterjacke und machte mich auf den Weg zum Haus der Thunderhawks. Della und die Mädchen waren allein zu Hause. Neil und sein Vater waren immer noch mit ihren Pferden auf dem Big-Foot-Ritt unterwegs und würden mit den anderen Reitern am nächsten Tag in Wounded Knee eintreffen. Della fuhr bestimmt hin, und ich hoffte mitfahren zu können.

Doch als sie mich hereinbat, zerschlugen sich meine Hoffnungen. Bey und April lagen mit glühenden Gesichtern auf der Couch im Wohnzimmer.

»Geh nicht zu nah an sie ran, sie haben Fieber«, sagte Della. »Der Arzt war schon da und hat Medikamente dagelassen. Vielleicht geht es ihnen morgen besser.«

Die Mädchen winkten mir, und ich ging zu ihnen, um sie zu begrüßen. Mit glasigen Augen lächelten sie mich an. Es ging ihnen wirklich schlecht, das merkte ich daran, wie reglos und still sie waren, wo sie doch sonst keine Minute still sitzen konnten und meist pausenlos plapperten.

Ich hatte für jede ein kleines Geschenk, eine bunte Haarspange aus Glasperlen, die sie mit matten Bewegungen auspackten.

Della brachte ihren Töchtern zwei Becher mit einem Tee, den sie aus der inneren Rinde der Traubenkirsche gebrüht hatte. »Gut, dass du gekommen bist, Tally«, sagte sie. »Ich hatte den ganzen Tag mit den Mädchen zu tun und bin noch nicht dazugekommen, die Pferde zu füttern. Wäre schön, wenn du mir helfen würdest.«

Als wir zur Scheune kamen, waren die Tiere schon da. Sie hatten Hunger. Ihre warmen Leiber drängten zum Futterkasten, und ihr weißer Atem bildete gespenstische Wolken. Ich begrüßte Stormy und half Della, die Heuballen in den Futterkasten zu bringen.

Die Tiere fraßen sofort. Nur Psitó stand mit hängendem Kopf etwas abseits und fraß nicht.

»Was ist mit ihr?«, fragte ich Della.

»Ich weiß auch nicht. Sie lahmt immer noch und scheint krank zu sein. Psitó ist schon alt, Tally. Vielleicht ist sie einfach müde.«

Ich wollte nicht wissen, was das für ein Pferd bedeutete: alt und müde zu sein. Ich streichelte Psitó, und sie schob ihre feuchten Nüstern in meine Hand.

»Werde wieder gesund, meine Perle«, flüsterte ich in ihr Ohr und legte meine Wange an ihren Kopf.