10. Kapitel

Inzwischen war später Nachmittag geworden. Eine leichte Brise wehte durch das Tal und machte die Hitze für Menschen und Tiere erträglicher. Während die Wettkämpfe weiterliefen, erkundete Sim das Areal und entdeckte, dass sie nicht mehr die einzige Weiße auf dem Gelände war. Eine Gruppe Jugendlicher stand im Pulk um einen Stand mit T-Shirts. Sie gesellte sich zu ihnen, nur um gleich darauf festzustellen, dass sie auch von den weißen Jungen und Mädchen angestarrt wurde.

Okay, Sim, sagte sie sich, du hast es nicht anders gewollt.

Für zehn Dollar erstand sie ein rotes und ein schwarzes T-Shirt mit aufgedruckten Pferden, die ein indianischer Künstler entworfen hatte. Mit Schere, Nadel und Faden würde sich etwas Passables daraus machen lassen.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Schattenplatz fiel Sim ein Reiter mit langem blondem Haar, Schnauzbart und schwarzem Cowboyhut ins Auge. Er trug eine Lederweste und saß steif wie ein Brett auf seinem Pferd. Der Typ sah aus wie die Reinkarnation von General Custer, dessen Niederlage am Little Bighorn der Anlass des heutigen Feiertags war. Was machte jemand, der dem verhassten General so ähnlich sah, auf einem Pferderennen zu seinem Todestag? Der Mann musste lebensmüde sein, anders konnte Sim sich seine Anwesenheit nicht erklären.

Sie nahm wieder in einem der Klappstühle Platz und hielt Ausschau nach Lukas und Jimi, allerdings vergeblich.

Laut Durchsage waren sie nun beim Höhepunkt des Tages angekommen, dem Capture-the-Flag-Rennen. »Doch zuvor wollen wir all derer aus dem Volk der Lakota gedenken, die in den Jahren nach der Schlacht am Little Bighorn ihr Leben gelassen haben«, sagte Yellowhawk.

Lakota, die gesessen hatten, standen auf. Ein Gebet, dachte Sim geistesgegenwärtig und erhob sich ebenfalls. Sie war nicht religiös, aber nicht sitzen zu bleiben, war ein Zeichen des Respekts.

Jemand anderer als Yellowhawk redete auf Lakota. Sim reckte den Hals, konnte den Sprecher jedoch nicht erkennen, um den sich eine kleine Menschentraube drängte. Sie glaubte, Lukas’ Stimme zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Die dumpfen Schläge einer Handtrommel erklangen, verstärkt durch die Lautsprecher rollten die langsamen Töne über den Platz. Dann setzte der Gesang ein, so hoch und durchdringend, dass schon die ersten Töne haltlos in Sims Inneres drangen und ihr Herz berührten. Sie schloss die Augen, um die Bilder um sich herum auszuschließen und nur der Stimme zu lauschen. Der Duft von verbranntem Süßgras wehte zu ihr herüber.

Okshila ceya I yayayo
Taku wakan wanicelo aheee o.
Oksila ceya I yayayo
Wanbli Gleska wan
Ikce wicasa ca
Cehpikoma yankelo
Okshila ceya I yayayo
Taku wakan wanicelo aheee o.

Obwohl sie kein Wort verstand, wusste Sim, dass es ein trauriges Lied war. Die Stimme hatte etwas Flehendes an sich, strahlte aber auch Kraft aus. Die Trommel verklang. »Wopila Lukas Brave«, sagte Yellowhawk und die Leute klatschten und pfiffen anerkennend.

Lukas hatte gesungen. Sim war immer noch völlig gefangen von seiner schönen, tragenden Stimme und der Eindringlichkeit des kurzen Liedes. Jimi hatte ihr erzählt, dass Lukas die Lieder von einem alten Medizinmann lernte, um später damit zu helfen und zu heilen. Jetzt begriff sie. Für einen Moment hatte Lukas’ Lied eine Tür geöffnet, um ihr den Blick in eine fremde, geheimnisvolle Welt zu gewähren.

Wenig später kam der Sänger auf Ghost angeritten und Sim bemerkte, wie die Lakota ihm ehrfürchtig Platz machten. Er glitt vom Pferd und legte die Zügel über Ghosts Rücken, der seine Handvoll Hafer bekam.

»Zwei Uhr… sieben Schritte«, sagte Sim. Lächelnd kam er auf sie zu. »Links von dir.«

Er tastete nach dem freien Stuhl und setzte sich neben sie. Die Indianer in ihrer Nähe steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, aber Sim achtete nicht mehr darauf.

»Das war ein trauriges Lied«, sagte sie, »und du hast eine schöne Stimme.«

»Danke.«

»Wovon hat es gehandelt?«

»Es geht darin um die alten Lehren unseres Volkes.« Lukas sprach so leise, dass sie sich zu ihm beugen musste, um ihn überhaupt verstehen zu können. »Darum, dass wir unsere Traditionen bewahren müssen, die zunehmend in Vergessenheit geraten. Wir wissen nicht mehr, was unsere Vorfahren wussten, und das macht uns kaputt. Die Leute sind erschöpft. Das Leben kommt ihnen unerträglich vor, deswegen trinken sie und nehmen Drogen. Sie haben vergessen, wie man ein gutes Leben führt.« Er wandte ihr das Gesicht zu. »Darum das Lied. Die Leute sollen sich daran erinnern, dass wir einst stark waren und warum wir es waren.«

Sim dachte daran, was ihre Tante gesagt hatte, und ihr wurde klar, dass Lukas, obwohl er blind war, genau zu wissen schien, was um ihn herum passierte.

»Du hast noch nicht viel mitbekommen vom Leben im Reservat, Sim. Das hier«, er machte eine umgreifende Handbewegung, »ist nicht der Alltag.«

Seine Worte gingen in fröhlichem Geschrei unter. Der letzte Wettkampf hatte begonnen.

»Was passiert jetzt?«, wollte sie von ihm wissen.

»Ein armes Bleichgesicht wird Custer spielen«, sagte Lukas. »Er bekommt die amerikanische Flagge in die Hand gedrückt und muss den Hügel hinaufreiten. Dann jagen alle hinter ihm her und derjenige gewinnt, der es schafft, ihm die Flagge abzunehmen und damit als Erster durchs Ziel zu reiten. Dem Sieger winkt übrigens ein Geldpreis.«

»Ich habe den Mann gesehen.« Nun wurde Sim einiges klar. »Er sieht tatsächlich aus wie Custer. Wo haben sie den denn her?«

»Yellowhawk schafft es immer wieder, einen aufzutreiben, der lange blonde Haare hat und willens ist, sich vor allen zum Trottel zu machen.«

Sims Blick suchte die Reiter. Der Blondschopf mit dem Hut hatte mit der Flagge in der Hand die Spitze des Hügels erreicht und der Anpfiff zur Verfolgungsjagd ertönte. Mindestens fünfundzwanzig Reiter jagten hinter dem Mann den Hügel hinauf. Vorneweg Jimi auf Black Arrow.

Die Strahlen der sinkenden Sonne fielen auf die Hügel und ließen sie in einem goldenen Licht erstrahlen. Mit wildem Kriegsgeschrei ritten die Indianer dem falschen Custer hinterher und Sim kam es für einen Augenblick so vor, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt worden.

»In den letzten beiden Jahren hat Jimi die Flagge als Erster durchs Ziel gebracht, und wie ich ihn kenne, wird er es auch diesmal schaffen.« Mit seinen Worten holte Lukas sie ins Hier und Jetzt zurück. Die Reiter waren hinter dem Hügel verschwunden. Sim spürte die Aufregung um sich herum.

Jetzt hielt sie nichts mehr auf ihrem Klappstuhl. Sie lief ein paar Schritte nach vorn und spähte zum Hügel hinüber. Würde Lukas recht behalten und Jimi als Erster mit der Flagge in der Hand ins Ziel reiten?

Black Arrow hatte einen schnellen Start hingelegt und schon nach wenigen Minuten konnte Jimi die anderen Reiter abhängen. Es ging bergauf und er beugte seinen Oberkörper nach vorn, den Schweißgeruch seines Pferdes in der Nase. Die kräftigen Muskeln unter ihm bebten, während er hinter Custer den Hügel hinaufjagte. Das lange blonde Haar des Mannes, das unter seinem Hut hervorquoll, bauschte sich im Wind. Krampfhaft umklammerte das Bleichgesicht den Stiel der amerikanischen Flagge.

Obwohl das Ganze nur ein Spiel war, kam es Jimi in diesem Moment nicht so vor. Sein Gesicht war mit einer weißen Zickzacklinie, einem schwarzen Streifen und weißen Punkten bemalt, und vor dem Startschuss hatte er das Gummiband aus seinem Pferdeschwanz gezogen. Nun flogen seine langen Haare im Wind. Er war nicht mehr länger Jimi Little Wolf, Waisenjunge und Drogendealer aus Pine Ridge, dem ärmsten und hoffnungslosesten Indianerreservat der Vereinigten Staaten von Amerika. Jetzt war er Crazy Horse, Kriegshäuptling und unversöhnlicher Feind aller Weißen. Tashunka Witko, der dem verhassten General George Armstrong Custer und seiner Siebten US-Kavallerie am Little Bighorn in Montana ein bitteres Ende bereitet hatte.

Adrenalin schoss durch Jimis Adern bis unter die Haarwurzeln und er drückte Arrow die Fersen in die Flanken. Hinter sich hörte er das Kriegsgeheul der anderen und auch aus seiner Kehle flog ein gellender Schrei, der dem blonden Mann vor ihm, das hoffte er, einen Schauer über den Rücken schicken würde.

Gelbhaar jagte den Hügel hinab ins Tal und verlor seinen schwarzen Hut. Hell und schutzlos leuchteten seine blonden Locken in der Sonne. Jimi war inzwischen auf fünf Meter an ihn heran und der Abstand schwand zusehends. Jimi (Crazy Horse) konnte das Schlachtgetümmel hören, die Schüsse der Soldaten und die Schreie der getroffenen Krieger.

Er selbst war unverwundbar, denn auf seiner Brust lag der Wotawe, die Kriegsmedizin, die Crazy Horse in jener Schlacht getragen hatte und die ihn vor den Kugeln seiner Feinde beschützt hatte.

Schon war er auf zwei Meter an Custer heran und spürte die wachsende Panik des Mannes, der nicht mehr sicher sein konnte, dass alles nur ein Spiel war und er bei dieser Hatz mit dem Leben davonkommen würde.

Gelbhaar stieß einen verzerrten Laut aus, als Jimi sich herüberbeugte und mit ausgestrecktem Arm nach der Flagge griff. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke und Jimi sah die nackte Angst in den Augen des Weißen. Dieser Moment verschaffte ihm ungeheure Befriedigung. Er entriss dem Mann die Flagge und stieß ein Triumphgeheul aus, das selbst in seinen Ohren wie das eines Wahnsinnigen klang.

Jimi trieb Arrow an Gelbhaar vorbei, jagte das Pferd in halsbrecherischem Tempo zwischen den Hügeln entlang zum Ziel, während das Bleichgesicht zurückblieb, geschlagen und froh, unversehrt davongekommen zu sein.

Als Jimi mit geschwenkter Flagge über dem Kopf durchs Ziel ritt, brüllte die versammelte Menge los. Jimi Little Wolf war der Held des Tages, ein Krieger, eine Hoffnung, wie Crazy Horse es gewesen war. Ein grandioses Gefühl. In diesem Moment schwor er sich, den Medizinbeutel des Häuptlings und die ledernen Geisterfiguren wieder in seinen Besitz zu bringen und dafür zu sorgen, dass ihre Macht dafür eingesetzt wurde, sein Volk stark zu machen, damit es wieder in der Lage war, gegen die fortwährende Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Zur anschließenden Siegerehrung erschien auch Lukas. Er und Jimi waren die Gewinner des Gefallenen-Krieger-Rennens. Yellowhawk las nacheinander die Namen der Gewinner in den übrigen Kategorien vor. Zuletzt wurde Jimi als Sieger des Capture-the-Flag-Rennens bekannt gegeben und noch einmal bejubelten ihn die Leute. Er war der Champion, der Star des Tages.

Jimi wusste, dass das seine Chancen bei den Lakota-Mädchen an diesem Abend enorm erhöhen würde. Aber hatte er auch Sim beeindrucken können?

Yellowhawk verteilte die Preisgelder an die Gewinner. Dollar, die Jimi ein, zwei Joints und einen angenehmen Abend sichern würden.

Doch das allerletzte Rennen des Tages stand noch aus. Es war das Thundering-Hooves-Rennen, ein Zwanzig-Meilen-Ritt, der sie von Oglala über die Grass Creek Road hierher zurückführen sollte. Zwar würde das Rennen erst gegen Sieben in Oglala starten, aber die extreme Hitze des Tages hatte sich bisher kaum gelegt und das Rennen würde den Pferden und ihren Reitern viel abverlangen. Nur wenn beide in guter Verfassung waren, durften sie an den Start gehen. Arrow war nach der wilden Jagd über die Hügel verschwitzt, doch in einer Stunde würde er sich so weit erholt haben, dass Jimi sich mit ihm ins Feld einreihen konnte.

Sie trennten sich. Lukas ritt zum Festplatz, wo die Tipis standen und wo es später ein Lagerfeuer und Livemusik geben würde. Jimi ritt zu Sim zurück. Als er bei ihr ankam, hob sie die Kamera und drückte auf den Auslöser. Das Klicken versetzte ihm einen Stich und er schluckte ärgerlich. Wie schon sein Idol wollte auch Jimi nicht fotografiert werden. Von Tashunka Witko gab es kein einziges Abbild, keine Fotografie und auch kein Gemälde. Man erzählte sich, dass er groß und gut aussehend gewesen war und dass sein Haar sich leicht wellte.

Jimi stieg vom Pferd, doch als Sim noch einmal auf den Auslöser drücken wollte, wandte er den Kopf zur Seite und wehrte ein zweites Foto mit der Hand ab wie ein Filmstar, der sich vor Paparazzi schützen musste.

»Tut mir leid.« Sim ließ die Kamera sinken.

Jimi sagte nichts, was ihn selbst wunderte. Einen normalen Touristen hätte er jetzt zur Schnecke gemacht.

Gemeinsam packten sie die Sachen zusammen und er holte den Mustang, um Stühle und Kühlbox in den Kofferraum zu laden.

»Wo ist eigentlich Lukas?«, fragte Sim.

»Schon auf dem Festplatz.« Er schlug die Kofferraumklappe herunter und warf ihr den Autoschlüssel zu. Sim fing ihn auf und sah Jimi mit großen Augen an. »Ich reite beim letzten Rennen mit und komme später nach«, erklärte er. »Fahr zum Festplatz, Lukas wartet dort auf dich.«

»Aber…«

»Was?«

»Ich kann nicht Auto fahren.«

»Der Mustang hat Automatikschaltung, das ist kinderleicht.« Langsam wurde Jimi ungeduldig. Er hatte Sim für cool gehalten, aber nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Erst fotografierte sie ihn mit seiner Gesichtsbemalung wie ein exotisches Tier und nun zierte sie sich, seinen Wagen die eine Meile zum Festplatz zu fahren.

»Ich habe noch nie hinter einem Steuer gesessen«, beteuerte Sim. »Und du hängst doch an deinem Auto, oder?«

Jimi seufzte. Er musste für Arrow noch einen Platz in einem der Pferdeanhänger finden und würde zu spät in Oglala am Start sein, wenn er nicht in der nächsten halben Stunde hier wegkam.

Er sah sich um, entdeckte seinen Kumpel Rob Whitefeather und winkte ihn heran. »Kannst du mein Auto zum Festplatz fahren?«

Robs Blick fiel auf Sim. »Ja, klar.«

»Nimm sie mit.«

»Okay.« Rob grinste.

Jimi schnappte sich Arrows Zügel und führte ihn zu einem der Pferdeanhänger.

»Viel Glück«, rief Sim ihm nach, aber er war in Gedanken schon beim Rennen.

Lukas stand mit Ghost an der Zufahrt zum Festgelände und wartete auf die Ankunft von Jimis Mustang. Endlich hörte er das vertraute Motorengeräusch. Das Auto hielt, Türen klappten und jemand kam auf ihn zu. Ein Hauch von Himmel stieg in seine Nase. »Sim? Jimi?«

»Nur ich«, antwortete Sim. »Jimi nimmt am letzten Rennen teil. Ein Kumpel von ihm hat mich hergefahren.«

Sie war enttäuscht und versuchte, es zu verbergen, doch ihre Stimme verriet sie. Das versetzte Lukas einen Stich. Bis Jimi vom Thundering-Hooves-Rennen zurückkehrte, musste Sim wohl oder übel mit ihm vorliebnehmen, und wie es schien, hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt.

Lukas mochte Sim. Er mochte ihren Geruch, ihre Stimme und seine Vorstellung von ihr. Doch sie interessierte sich für seinen besten Freund. Okay, das war nichts Neues, doch in diesem Fall wusste er nicht, ob er damit klarkommen würde.

»In zwei Stunden ist er wieder da«, sagte er.

»Sicher?«

»Nichts ist sicher.« Das klang defensiver, als er beabsichtigt hatte, und er bereute seine Worte sofort.

»Wenn ich nicht halb elf zu Hause bin, lässt meine Tante mich nie wieder weg.«

Das war es also, dachte er, schon halb versöhnt. Sie machte sich Sorgen, nicht rechtzeitig nach Hause zu kommen. »Du wirst pünktlich sein, ich verspreche es.« Er hörte, wie Sim erleichtert ausatmete. »Jetzt würde ich gerne Ghost zu den anderen Pferden bringen. Hilfst du mir?«

»Ja, klar.«

Ghost wusste, wo es zur Koppel ging. Sim folgte den beiden.

»Wieso machst du eigentlich nicht beim Rennen mit?«, fragte sie ihn.

Lukas antwortete nicht gleich. Er überlegte, ob er die Wahrheit sagen sollte, denn es würde so klingen, als ob er Jimis Teilnahme am Rennen missbilligte.

»Tut mir leid, wenn ich was Falsches gefragt habe.« Sie klang verunsichert.

»Nein, warum solltest du nicht fragen?«

Zweimal war er mit Ghost dieses Rennen geritten, hatte sein Pferd bis an die Grenze seiner Kräfte getrieben. Das wollte er nie wieder tun. Lukas beteiligte sich gerne an den Wettkämpfen, jedoch ohne den ehrgeizigen Siegeswillen, den Jimi dabei an den Tag legte. »Ich war zweimal dabei, das ist genug.«

Sim schwieg. Das schätzte er so an ihr. Sie wartete, bis er von sich aus weiterreden würde.

»Im vergangenen Jahr hat einer der Reiter sein Tier derart gejagt, dass es in der Hitze zusammenbrach und erschossen werden musste«, erzählte er. »Seitdem heißt es auch das Selbstmord-Rennen. Pferde tun alles für ihre Reiter, deshalb ist es umso schlimmer, wenn man ihr Vertrauen missbraucht. Ghost ist für mich nicht nur ein Pferd, er ist mein Freund, mein Kola, und sein Vertrauen ist mir wichtiger, als bei einem Rennen Sieger zu sein.«

»Und Jimi sieht das nicht so?«

»Jimi ist Jimi. Er will gewinnen. Und wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, ist er dabei.«

Mit Sims Hilfe führte er Ghost auf die kleine Koppel unter Bäumen, auf der noch andere Pferde standen. Der Schecke schnaubte unwillig.

»Ich weiß«, Lukas strich über seinen Hals, »du kennst einige hier nicht. Aber du wirst schon klarkommen mit ihnen. Es ist ja nur für eine Weile.« Ghost war ein geselliges, ein verträgliches Pferd, und wenn die anderen ihn in Ruhe ließen, würde er keinen Ärger machen.

Eine Weile standen sie noch am Koppelzaun, weil Sim sich die Tiere anschauen wollte. Lukas musste schon seit geraumer Zeit auf die Toilette, aber auch wenn er ungefähr wusste, in welcher Richtung die Klohäuschen standen, ohne Hilfe würde er nicht hinfinden. Er konnte sich in Sims Beisein aber auch nicht einfach an den Wegesrand stellen und pinkeln. Der quälende Druck auf der Blase trieb ihm die ersten Schweißperlen auf die Stirn.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Sim.

Starrte sie ihn etwa an? »Ja. Das heißt, nein«, presste er hervor. »Kannst du mich zur Toilette bringen? Sie muss irgendwo dort drüben sein.« Er deutete in Richtung Westen.

»Klar, kein Problem, ich muss auch mal.«

Erleichtert atmete Lukas auf. Er streckte seine rechte Hand aus und ließ sie auf halber Höhe in der Luft schweben, um sie auf Sims Schulter zu legen. »Du musst mich führen, okay?«

»Okay.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre linke Schulter. Dann lief sie los, langsam, damit er ihr folgen konnte. Aber es funktionierte nicht, sie kamen einfach nicht in einen vernünftigen Gleichklang mit ihren Schritten und Lukas trat ihr in die Fersen.

»Sorry«, sagte er.

Sim blieb stehen. »Bei Jimi und dir sieht es ganz leicht aus.«

»Kein Problem.« Lukas versuchte ein Lächeln und hoffte, dass es bei ihr ankam. »Lauf einfach los, vergiss, dass ich da bin.« Hauptsache, wir kommen ans Ziel, bevor ich in die Hose gepinkelt habe.

Sim versuchte es, aber nach ein paar Schritten stoppte sie unvermutet und er stieß gegen ihren Rücken. Ihre Hand griff nach seiner.

»Versuchen wir es so.«

Lukas’ Finger schlossen sich um ihre Hand, die warm war und ein bisschen klebrig. Er war es gewohnt, sich an anderen festzuhalten und führen zu lassen. Nach dem Unfall, als Siebenjähriger, hatte er lernen müssen, anderen Menschen zu vertrauen, sonst wäre er erledigt gewesen.

Schon bald roch Lukas, dass sie die beiden Plumpsklos erreicht hatten. Sim blieb stehen, ließ ihn aber nicht los.

»Was ist?«

»Beide besetzt, wir müssen warten.«

Auch das noch. Um sich abzulenken, versuchte Lukas, sich vorzustellen, was für ein Bild sie abgeben mussten, Hand in Hand vor den beiden Klohäuschen. Wenn er nicht so dringend gemusst hätte, hätte er es komisch finden können.

Zwei Türen klappten gleichzeitig. Sim führte ihn, legte seine Hand auf den Türgriff.

»Ist das auch das Männerklo?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Ja. Kommst du klar?«

»Ja. Und du, kommst du klar?«

»Das hoffe ich doch. Bin nebenan.«

»Na denn.«

Nachdem er sich erleichtert hatte, verließ er das Klohäuschen, ging ein paar Schritte und lauschte, bis er das Plopp, plopp, plopp deutlich vernahm. Zielgerichtet lief er auf den Wasserhahn zu und wusch seine Hände. In seinem Rücken hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und wieder zuschlug. Gleich darauf stand Sim neben ihm.

»Wie hast du den Wasserhahn gefunden?«, fragte sie erstaunt.

»Ich habe das Wasser gerochen – wie ein Pferd.«

»Wirklich?«

Lukas rieb sich die Hände an seiner Hose trocken. »Unsere Vorgänger haben den Wasserhahn aufgedreht, also kannte ich die Richtung.« Er musste schmunzeln. »Der Wasserhahn tropft. Ich bin dem Tropfen nachgegangen.«

»Dann stimmt es also, was man sagt. Dass bei Menschen, die nicht sehen können, die anderen Sinne stärker ausgeprägt sind.«

Er zuckte mit den Achseln. »Wenn das Sehen wegfällt, laufen die übrigen Sinne auf Hochtouren. Außerdem kann man es trainieren, das Hören, Riechen und Tasten.«

»Verstehe. Aber woher wusstest du, dass ich einen Sonnenbrand hatte?«

»Du kamst aus der Dusche und deine Arme haben geglüht wie Heizstrahler.« Lukas lächelte. »Gehen wir zurück zum Festplatz? Mein Geruchssinn ist jedenfalls dafür.«

Sim schob ihre Hand in seine.

Sie holten sich jeder einen Hotdog, mit dem sie sich auf einen abgesägten Stamm unter einen Baum setzten. Lukas genoss den Schatten, seinen Hotdog und Sims Gesellschaft. Er lauschte den Stimmen und dem Gelächter der anderen, hörte das Schnauben der Pferde und fühlte sich zufrieden.

»Warum mag Jimi es eigentlich nicht, fotografiert zu werden?«, fragte Sim mitten in sein Wohlbefinden hinein.

Jimi, Jimi, Jimi, dachte er. »Hast du etwa versucht, ihn zu fotografieren?«

»Ja. Er sah cool aus mit seiner Kriegsbemalung und ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Jimi hält es wie Crazy Horse. Der hat sich auch nie fotografieren oder malen lassen.«

»Weil er Angst hatte, dass man ihm die Seele rauben könnte?«

»Tashunka Witko hatte vor nichts Angst. Er wollte einfach nicht abgebildet werden. Abgesehen von seinen Verwandten und Freunden brauchte niemand zu wissen, wie er aussah.«

»Was war eigentlich so Besonderes an ihm?«, fragte Sim. »Ich meine, außer dass er Custer am Little Bighorn besiegt hat.«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Jap.«

Lukas überlegte kurz, wo er anfangen sollte, und begann zu erzählen. »Als sich Häuptling Red Cloud nach dem Vertrag von Fort Laramie ins Reservat zurückzog, wurde Crazy Horse zum Anführer der letzten freien Lakota und damit zum Symbol des Widerstandes gegen die Weißen. Er war ihr unversöhnlichster Feind und wollte die Black Hills, in denen sie Gold gefunden hatten, nicht aufgeben. Bis ins Frühjahr 1877 streifte er durch die Paha Sapa. Seine Leute, es waren so an die neunhundert Männer, Frauen und Kinder, litten Hunger. Sie hatten keine Munition mehr und überall in den Bergen lauerte die Armee. Die Lage war aussichtslos, aber er gab nicht auf.«

»Dann sieht sich Jimi also als Rebell und würde am liebsten wie Crazy Horse gegen die Weißen kämpfen?«

Ihre Frage klang nicht spöttisch, eher ein wenig befremdet. Kein Wunder, schließlich war sie selber eine Weiße.

»Tashunka Witko war nicht nur ein mutiger und loyaler Kriegshäuptling, er war immer auch besorgt um die Alten und Kranken, die Frauen und Kinder«, verteidigte Lukas den Häuptling. Oder verteidigte er Jimi?

»Ein richtiger Held also?«

»Kann man so sagen.«

»Aber wenn seine Leute hungerten, während er Krieg führte, dann kann er nicht so besorgt um sie gewesen sein, wie du behauptest.«

»Er führte keinen Krieg, er wollte unsere heiligen Berge nicht aufgeben, das ist etwas ganz anderes. Außerdem beugte er sich schließlich der Aufforderung seines Onkel Spotted Tail und erschien Anfang Mai mit seinen Leuten in Fort Robinson in Nebraska, um sich zu ergeben. Doch die weißen Soldaten trauten ihm nicht. An einem Abend im September sollte er in einen Gefängnisraum gesperrt werden. Er wehrte sich, zwei Wachposten packten ihn an den Armen und ein Soldat stieß ihm sein Bajonett in die Seite.«

Lukas verschwieg Sim, dass die Wachposten Lakota gewesen waren. »Das Bajonett durchbohrte seine Niere und er starb noch in der Nacht. Kurz vor seinem Tod hat er noch mit seinem Vater gesprochen: ›Sag den Leuten, dass sie sich jetzt nicht mehr auf mich verlassen können.‹«

»Er ist am Wounded Knee begraben, nicht wahr?«

»Niemand weiß, wo er wirklich begraben liegt. Aber es könnte sein. Tashunka Witko hatte einen Cousin, er hieß Horn Chips und wurde später sein Medizinmann. Er war bei der Bestattung dabei und wusste, wohin der Leichnam gebracht worden war. Jimi ist ein Nachfahre von Horn Chips, er…« Lukas beendete den Satz nicht wie beabsichtigt, weil ihm klar wurde, dass es Jimi nicht gefallen würde, wenn Sim etwas über ihn wusste, das er ihr nicht selbst erzählt hatte. Stattdessen sagte er: »Er ist sehr stolz darauf.«

Gitarrenklänge ertönten. Die Band – vier Halbwüchsige aus Pine Ridge, die sich Red Eagles nannten, hatte inzwischen ihr Equipment aufgebaut und die Jungs stimmten ihre Instrumente. Lukas hatte die Red Eagles hin und wieder auf KILI Radio gehört und wusste, dass die Gitarren- und Sangeskünste der vier haarsträubend waren – dafür hatten ihre selbst geschriebenen Texte etwas durchaus Kämpferisches, das den Leuten im Res gefiel.

Inzwischen musste die Sonne untergegangen sein, denn die Luft war kühler und das Atmen leichter geworden. Der Duft von verbranntem Süßgras zog in Lukas’ Nase.

Hufgetrappel und anerkennende Rufe und Pfiffe drangen jetzt an sein Ohr. Die hohen Triller der Frauen gingen ihm jedes Mal durch Mark und Bein. Er wusste, was die Aufregung bedeutete: Die Reiter vom Thundering-Hooves-Rennen waren zurück – und mit ihnen Jimi. In seinem Inneren spürte Lukas leises Bedauern darüber, dass die Zeit, in der er Sim für sich allein gehabt hatte, so schnell vergangen war.

»Das Rennen ist vorbei«, sagte sie mit aufgeregter Stimme, »die Reiter sind zurück.«

»Ich weiß.«

»Nur Zweiter«, stieß Jimi frustriert hervor, als er ein paar Minuten später vor ihnen stand. Lukas roch Arrows Schweiß an Jimis Kleidern.

»Man kann nicht immer gewinnen, Champ.«

»Ich hol mir was zu trinken, bin gleich wieder da.«

Lukas hätte gerne gewusst, wer das Rennen gewonnen hatte, aber es war besser, Jimi nicht danach zu fragen. Die Tatsache, nur Zweiter geworden zu sein, würde ihn den ganzen Abend nicht loslassen und Lukas wusste, was das bedeutete.