3. Kapitel

Lukas bedauerte, dass Jimi die Einladung zum Essen ausgeschlagen hatte. Er mochte Jo und war gerne bei ihr. In ihrem Blockhaus war es gemütlich und sauber (es war das gemütlichste und schönste Haus, in dem er je gewesen war). Er mochte den Geruch von Holz in den Räumen und die Duftexplosion exotischer Gewürze, wenn er den Küchenschrank über dem Herd öffnete. Die Deutsche konnte gut kochen. Sie benutzte die Gewürze für ihre fremdartigen Gerichte, die sich von dem, was Lukas sonst zu essen bekam, wenn er mit Jimi zu Big Bat’s, Subway oder zu Taco Bell ging, ziemlich unterschieden. Ganz zu schweigen vom ewigen Dosenfutter, das ihn zu Hause bei Bernadine erwartete.

Jo hatte einen kleinen Garten hinter dem Haus, in dem sie Gemüse, verschiedene Salatpflanzen, Tomaten und Kräuter anbaute. Den Samen ließ sie sich aus Deutschland schicken und den besten Salat im ganzen Res gab es bei ihr. Genauso wie den besten Kaffee und die köstlichste Schokolade.

Aber Jimi hatte einen Anruf bekommen und musste einer Frau aus Porcupine ein Beutelchen Stachelschweinborsten vorbeibringen, die sie dringend für eine Halskette brauchte – ein Geschenk für eine Namensgebungszeremonie. Das war ein triftiger Grund und Lukas musste ihn akzeptieren.

Zweimal im Monat fuhr Jimi mit Bernadines Sohn Tyrell den weiten Weg bis nach Denver, um dort bei einem Großhändler billig Perlen, Leder, verschiedenfarbige Stoffe, künstliche Sehne und andere Grundmaterialien für kunsthandwerkliche Arbeiten einzukaufen, die Bernadine dann mit einer kleinen Gewinnspanne an die Leute im Reservat weiterverkaufte. Damit machte sie Jo Klinger und ihrem Laden zwar Konkurrenz, aber Jo hatte deswegen nie ein böses Wort verloren. »Leben und leben lassen« war ihre Devise, ganz im Gegensatz zu vielen Einheimischen im Res, die sich gegenseitig nicht das Fleisch in der Suppe gönnten. Die alten Tugenden der Lakota, zu denen neben Selbstbeherrschung, Standhaftigkeit und Tapferkeit auch Großzügigkeit gehörte, waren im Kampf ums tägliche Überleben verschütt gegangen.

Die besagten Stachelschweinborsten hatte Jimi allerdings nicht vom Großhändler aus Denver, sondern von einem unglücklichen Stachelschwein, das er letzte Woche auf dem Weg nach Pine Ridge über den Haufen gefahren hatte.

Lukas’ Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatte er nichts Ordentliches mehr zwischen die Zähne bekommen. Bestimmt hatte Jo etwas Besonderes gekocht für ihre Nichte. Wie gerne würde er jetzt mit Jo und Sim im Blockhaus am Tisch sitzen und ihren Gesprächen lauschen. Wenn Jo Sommergäste hatte, dann erfuhr er jedes Mal etwas Neues aus der Welt, die hinter den Reservatsgrenzen lag. Fremde Länder faszinierten ihn, vielleicht deshalb, weil sie unerreichbar für ihn waren.

Manchmal wechselten Jos Landsleute in seinem Beisein Worte in ihrer Muttersprache. Er mochte den poltrigen, gewittrigen Klang der deutschen Worte. Jimi dagegen behauptete, wenn Deutsche sich unterhielten, würde es immer nach Streit klingen.

Vor allem aber interessierte ihn Sim, die anscheinend nicht freiwillig hier war. Als Jimi seinen Mustang vom Schotterweg auf die Asphaltstraße lenkte, hielt Lukas es nicht länger aus. »Nun erzähl schon, wie sieht sie aus?«

»Keine Ahnung«, antwortete Jimi nach einigem Zögern, »jedenfalls nicht wie ein Mädchen.«

Nicht wie ein Mädchen? »Wie dann?«

»Na ja, eher wie ein komischer Vogel. Sie trägt keine… wie soll ich sagen… üblichen Klamotten.«

»Kannst du ein bisschen ins Detail gehen?« Lukas platzte beinahe vor Neugier. »Wie wär’s, wenn du sie mir einfach beschreibst, ohne deine geschätzte Wertung, bitte.«

Jimi seufzte dramatisch und legte los: »Sie ist ein richtiges Bleichgesicht mit heller Haut, an die vermutlich nie ein Sonnenstrahl gelangt. Gelbgrüne Stachelbeeraugen, so dick mit schwarzer Schminke umrandet, dass sie aussieht wie ein Waschbär. Rot gefärbte Stachelhaare, Storchenbeine und Titten winzig wie Mäusenasen. Ach ja und sie hat da diese hässliche Narbe in der Oberlippe.«

Lukas amüsierte sich über den Zoo in Jimis Beschreibung. Jimi Little Wolf war in den vergangenen Jahren ein Meister der Beobachtungskunst geworden und Lukas wusste das zu schätzen. Durch Jimis Fantasie wurde seine dunkle Welt bunter und größer. Während er ihm die schräge Kleidung von Jos Nichte schilderte und von ihren blauen Fingernägeln erzählte, entstand ein Bild in Lukas’ Kopf, ein Bild von einem bunten, geheimnisvollen Mädchen mit winzigen Brüsten und einer furchtbaren Narbe im Gesicht.

Die meisten Leute glaubten, Lukas könne nicht viel anfangen mit Farben. Aber das war ein Irrtum. Er war nicht von Geburt an blind gewesen – sieben Jahre lang hatte er sehen können. Bis zu dem Unfall, bei dem seine Mutter starb und sein Leben in undurchdringliches Schwarz getaucht wurde. Doch die Farben waren in seinem Kopf. Er kämpfte beharrlich darum, sie nicht an die Dunkelheit zu verlieren. Indem er sie mit Eigenschaften, Gerüchen und Gefühlen verband, versuchte er, sie festzuhalten.

Die Farbe Grün war der Duft frisch geschnittenen Grases, Gelb so gemütlich wie ein Nickerchen am Nachmittag. Weiß war so weich wie der Flaum einer Adlerfeder und Braun der bittersüße Kakaogeschmack von Schokolade. Die Farbe Blau war die Weite des Himmels, Rot bedeutete glühende Hitze und Blut und Hass. Schwarz war so sanft wie die Nüstern eines Pferdes, war die Fülle von schwerem Indianerhaar.

Durch ihre verrückten Klamotten würde sich Sim von den Mädchen im Reservat unterscheiden, die meistens in Einheitskleidung unterwegs waren: Jeans und T-Shirt im Winter. Shorts und T-Shirt im Sommer. Mädchen in Röcken gab es hier so gut wie gar nicht, außer auf dem Powwow natürlich, aber das war etwas anderes.

Simona. Er mochte den Klang ihres Namens, was sie anscheinend nicht tat. Sie hatte abgeklärt wirken wollen, aber ihre Stimme war unsicher und rau. Sie hatte kaum etwas gesagt, und wenn, dann hatte sie langsam gesprochen, als müsse sie die Worte erst suchen. Dabei sprach sie ziemlich gut Englisch. Ihre Stimme klang ehrlich und verriet ihm mehr als die Worte, die sie sich abgerungen hatte.

Da ihm die Mimik der Menschen verwehrt blieb, war die Stimme sein erster Eindruck, wenn er auf einen Unbekannten traf – und meistens blieb es auch dabei. Mit den wenigsten Menschen wurde Lukas so vertraut, dass sie ihn ihre Hände oder gar ihr Gesicht berühren ließen, damit er sich eine echte Vorstellung von ihnen machen konnte. Viele Menschen hielten das gar nicht aus, selbst wenn sie Lukas besser kannten. Also musste er sich auf ihre Stimmen verlassen, um sich ein Bild von ihnen zu machen.

Die Leute ahnten nicht, wie sehr sie sich beim Sprechen offenbarten. Lukas lauschte auf die Nuancen im Klang der Stimme. So konnte er herausfinden, ob jemand log, ob er ängstlich war oder wütend. Er konnte erkennen, ob sein Gegenüber klug war oder eher träge im Geist. Ob er spontan war oder zurückhaltend, spröde oder offen. Er konnte Zweifel aus der Stimme herauslesen, Sehnsüchte und manchmal sogar Wünsche.

Sim hatte cool wirken wollten, doch dahinter verbarg sich Unsicherheit. Unter ihrem mürrischen Desinteresse brodelte Neugier. Und sie war von Jimi beeindruckt gewesen, obwohl sie mit aller Macht versucht hatte, das zu verbergen. Ihr Atem hatte sie verraten. Wenn sie mit Jimi gesprochen hatte, war Befangenheit in ihrer Stimme gewesen.

Nicht, dass ihn das überrascht hätte. Jimi gefiel jedem Mädchen, sie warfen sich ihm reihenweise an den Hals. Er sah gut aus (das sagte jede) und seinem verwegenen Charme konnte kaum eine widerstehen. Sein großes Vorbild war Crazy Horse, der zum Mythos gewordene Häuptling, der mit seinen Kriegern und Verbündeten die Siebte Kavallerie unter General Custer am Little Bighorn vernichtend geschlagen hatte.

Was Lukas allerdings überraschte: Sim hatte auch Eindruck auf Jimi gemacht.

Jimi Little Wolf grub jede an, ob sie nun hübsch war oder hässlich, klein oder groß, dick oder dünn. Er testete seine Wirkung, das konnte er einfach nicht lassen. Nur weiße Mädchen passten nicht in sein Beuteschema, sie interessierten ihn nicht, da hatte er seine Prinzipien. Dass es bei Jos Nichte anders war, musste etwas bedeuten.

Sollte er Jimi fragen, ob er richtig lag? Mit Sicherheit würde er alles abstreiten und ihn auslachen.

Jimi drosselte das Tempo, sie hatten Manderson erreicht. Nach dem Ortsschild durfte man bloß noch fünfundzwanzig Meilen pro Stunde fahren, der Kinder wegen. Jimi bog von der Straße und der Mustang rumpelte durch ein tiefes Schlagloch. Wie immer machte Jimi halt vor Pinkys Laden, um sich noch eine Cola, Tabak oder Kondome zu kaufen.

»Brauchst du was?«, fragte er.

»Ein paar neue Augen.«

»Okay. Ich frag mal, ob heute welche mitgekommen sind.«

»Ein Sandwich wäre super«, sagte Lukas, »und ein Wasser.«

»Ja, klar. Was sonst, du Langweiler.«

Jo zeigte Sim, wo sie schlafen würde. Es war ein geräumiges Zimmer mit zwei unverkleideten Holzwänden, die runden Balken waren auf der Innenseite lackiert worden. An der rückwärtigen Wand stand ein Doppelbett mit einem großen Starquilt, einer aus gelben, orangefarbenen und roten Rauten zusammengenähten Steppdecke. Auf dem Quilt lag eine hübsche, bunt gewebte Umhängetasche.

»Die ist für dich«, sagte Jo. »Ein kleines Willkommensgeschenk.«

Sim bedankte sich brav und nahm den Raum weiter in Augenschein. In einer Ecke standen ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl, in der anderen ein Kleiderschrank. Die Lampe auf dem Nachtkästchen hatte einen roten Stoffschirm mit schwarzen Pferden und an den beiden weiß gestrichenen Wänden hingen gerahmte Bilder mit Pferdemotiven. Meine Schwester, die Pferdenärrin, hatte ihr Vater Tante Jo immer genannt.

Sim ließ ihren Rucksack aufs Bett fallen und trat ans Fenster. Es bot Aussicht auf die Zufahrt vor dem Haus, die anderen Gebäude und die baumlosen Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten. Nur Gras und Himmel.

Gegenüber von ihrem Zimmer lag ein zweiter, fast identisch eingerichteter Raum, dazwischen befand sich das Bad.

»Im Sommer vermiete ich an Urlaubsgäste«, sagte Jo. Derzeit war das andere Zimmer von einem Journalisten aus Deutschland bewohnt, der sich für mehrere Wochen eingemietet hatte, zurzeit aber in den Black Hills unterwegs war.

Wenig später saßen sie in dem großen Raum mit den breiten Holzdielen, der sich in Küche und Wohnzimmer teilte, am Tisch. Während sie Büffelstew, Salat aus Jos Garten und selbst gebackenes Graubrot aßen, wurde es draußen dunkel. Jo fragte ihre Nichte eine Menge über ihre Eltern und Großeltern aus, und obwohl Sim der lange Flug in den Knochen steckte und sie todmüde war, gab sie so gut sie konnte Auskunft. Sie wollte ihrer Tante das Gefühl geben, dass mit ihr alles in Ordnung war und sie sich keine Sorgen um sie machen musste. Wenn Erwachsene sich Sorgen machen, dann stellten sie zu viele unangenehme Fragen, beobachteten einen unablässig und warfen nur so mit Verboten um sich.

Und trotzdem kam sie, die gefürchtete Frage.

»Warum trinkst du, Mona?«

Sim verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück. »Weil ich Lust dazu habe.«

»Du hättest sterben können.«

Sim sah aus dem Fenster in die Nacht und verdrehte die Augen. Sie war noch nicht mal richtig angekommen und schon ging der Psychoterror los. Die Fantasieunterhaltung mit ihrer Tante war eine ganz andere gewesen.

»Ich will nicht darüber reden, okay?«

»In Ordnung«, sagte Jo. »Aber wenn dir danach ist, mit jemandem zu sprechen, ich bin da, um zuzuhören.«

»Ja, schon klar.« Sim machte sich keine Illusionen darüber, was bei den Erwachsenen zuhören bedeutete. Man kam mit etwas nicht klar und machte den Fehler, es ihnen zu erzählen. Daraufhin teilten sie einem mit, wo es langging im Leben – obwohl sie im Grunde selber von nichts eine Ahnung hatten. Zumindest war das bei ihren Eltern der Fall. Ihr Vater verbrachte mehr Zeit in seinem Krankenhaus als mit seiner Familie. Und ihre Mutter – die kümmerte sich aufopferungsvoller um die Probleme ihrer Schüler als um die ihrer eigenen Tochter.

Seit Merle in England war, hatten sie als Familie kaum noch etwas zusammen unternommen, so, als ob Sim allein den Aufwand nicht lohnte. Abgesehen davon, dass sie gar keine Lust hatte, etwas mit ihren langweiligen Eltern zu unternehmen – sie hätten es ja wenigstens versuchen können.

Tante Jo legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du bist müde, nicht wahr? Geh und schlaf dich ordentlich aus.« Aber als Sim erleichtert aufstehen wollte, griff die Hand zu und hielt sie fest. »Da ist noch etwas, Mona.«

Jetzt kommt’s, dachte sie und hob den Kopf.

»Es gibt ein paar Regeln für deinen Aufenthalt hier.«

Regeln? »Und die wären?« Misstrauisch starrte sie ihre Tante an.

»Regel Nr. 1: Keinen Alkohol und keine Drogen. Regel Nr. 2: An den Wochentagen wird halb acht aufgestanden, es gibt eine Menge Arbeit. Ab vier hast du Freizeit – und an den Wochenenden natürlich auch.«

»Freizeit?«, stieß sie hervor. »Was soll ich denn hier tun in der Pampa?«

»Prärie«, sagte Jo.

»Was?«

»Prärie, nicht Pampa. Wir sind in Nordamerika.«

Sim verdrehte die Augen.

»Was du hier mit deiner freien Zeit anfangen kannst, wirst du schnell herausfinden. Ich werde dich nicht festbinden, okay? Regel Nr. 3: Ich will immer wissen, wo du bist. Das Reservat ist nicht Weisburg.«

»Ach nee, da wäre ich nie drauf gekommen.« Weisburg war ein Kuhdorf, aber das hier, das war ein großes, allumfassendes Nichts. Ein Nichts mit Regeln.

»Wir kriegen das schon hin, Mona«, sagte Jo und strich Sim mit der Hand über die Wange.

Sie zog den Kopf weg. »Hör auf, mich Mona zu nennen, okay? Ich hasse diesen Namen.«

»Kein Problem.« Ihre Tante hob beschwichtigend die Hände. »Komm erst einmal an, wir reden morgen weiter. Und schlaf gut, ja?«

Sim rang sich ein »Du auch« ab. Sie duschte und ging ins Bett. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Es war warm – trotz des offenen Fensters. Die Grillen zirpten und Sim hörte das leise Schnauben der Pferde. In der Ferne heulte ein Kojote und Juniper, die weiße Wolfshündin, antwortete.

Sim war todmüde und gleichzeitig völlig aufgedreht. Es war die Wut in ihrem Bauch, die sie nicht schlafen ließ. Und die Angst. Die Angst, ohne ihren treuesten Freund klarkommen zu müssen, wo es doch nichts gab da draußen, was sie von ihm ablenken konnte.

Keinen Alkohol und keine Drogen. Als ob sie ein süchtiger Freak wäre. 7:30 Uhr aufstehen und bis 16 Uhr arbeiten. Das klang verdammt nach Arbeitslager. Ich will immer wissen, wo du bist… Wo, zum Teufel, sollte sie denn hingehen?

Jetzt hätte sie wirklich einen kräftigen Schluck vertragen können. Etwas, das sie herunterholen würde von ihrem Zorn und ihr helfen würde einzuschlafen. Aber mit Sicherheit war das Blockhaus ihrer Tante eine alkoholfreie Zone. Sonst wäre sie schließlich nicht hier.

Jimi betrachtete seinen Freund, der mit Kopfhörern auf seinem Bett lag und mit geschlossenen Lidern alten Lakota-Gesängen lauschte. Lukas hatte sich in seine Welt zurückgezogen, an irgendeinen Ort in seinem Kopf, an dem niemand ihn erreichen konnte. Jimi kannte das. Wenn er Lukas jetzt anspräche, würde der Freund ihn nicht hören, obwohl er Ohren wie ein Luchs hatte.

Er machte sich Lukas’ geistige Abwesenheit zunutze und ging die paar Meter nach drüben in den Präsidentenpalast. Der Präsidentenpalast war das große Doppelhaus mit vier Schlafzimmern und zwei Bädern, in dem Bernadine Jumping Eagle mit Tyrell, ihrem fünfundzwanzigjährigen Sohn, und sieben Pflegekindern wohnte. Misty, die Jüngste, war acht, dann kam der zwölfjährige Trent. Zwei Mädchen – Debbie und Tunie – hatten selber kleine Kinder, obwohl sie noch nicht mal achtzehn waren. Außerdem wohnten die beiden vierzehnjährigen Cousins Marcus und Nunpa und der sechzehnjährige Chance im Haupthaus. Lukas, die dreizehnjährige Roxie, Teena (sie war sechzehn) und er selbst wohnten in einem baufälligen Trailer, der rund fünfzig Meter entfernt unter einer Pappel stand.

Das große Haus mit den vielen Zimmern wurde von allen Präsidentenpalast genannt, weil es ein Geschenk von Bill Clinton an Bernadine war, nachdem 1999 ein Tornado ihren alten Trailer in Oglala dem Erdboden gleichgemacht hatte. Präsident Clinton hatte Bernadine die Super-Mom von Pine Ridge genannt und dafür gesorgt, dass sie und ihre vielen Pflegekinder das Haus bekamen. Die Geschichte von Super-Mom, der großartigen Bernadine Jumping Eagle, die sich rührend um obdachlose Waisenkinder kümmerte, hatte damals in allen Zeitungen gestanden. Aber da hatte Jimi noch bei seinem Großvater und Lukas bei seiner Mutter gelebt, und was in der Zeitung stand, hatte sie nicht die Bohne interessiert.

Ein Zuhause mit einem eigenen Bett zu haben, war die eine Seite der Medaille, doch mit einer Super-Mom hatte Bernadine wenig zu tun. Und das große Haus auch nichts mit einem Palast – jedenfalls nicht mehr, nachdem Bernadine und verschiedene Kids zwölf Jahre darin gehaust hatten. Die Zimmer waren heruntergekommen, die Möbel abgeschabt und überall lagen Klamotten und Unrat herum, weil sich niemand verantwortlich fühlte, am allerwenigsten die Hausherrin. Sie war der Meinung, dass ihre Pflegekinder für Ordnung zu sorgen hatten, wo sie ihnen doch ein Dach über dem Kopf und drei Mahlzeiten am Tag ermöglichte.

Jimi sah das anders, aber was sollte er machen?

Bernadines Zimmer war für die Kids tabu. Jimi hatte hin und wieder einen Blick hineinwerfen können und gestaunt. Es war sauber und ordentlich, die hellen Möbel gepflegt, vor den Fenstern hingen violett schimmernde Vorhänge. Der Bildschirm des Plasmafernsehers, der in Bernadines Zimmer flimmerte wie ein buntes Kaminfeuer, war riesig.

Bernadine Jumping Eagle schien es an nichts zu fehlen. Was nicht weiter verwunderlich war, schließlich kassierte sie für elf Jugendliche und zwei Babys Pflegegeld vom Staat, das war mit Sicherheit ein ansehnliches Sümmchen. Jimi nahm an, dass davon auch der Fernseher und die Möbel abgefallen waren. Manchmal hatte er nicht übel Lust, Bernadine beim Jugendamt anzuzeigen. Aber es war nicht nur er, der von ihr abhing, sondern auch Lukas und all die anderen.

Bevor Jimi das Haus betrat, atmete er noch einmal tief durch. Tyrell durfte nicht merken, wie angespannt er war. Er durfte die Angst nicht spüren, die Jimis Herzschläge beschleunigte. Alles ist wie immer, so redete er sich Mut zu. Tyrell verdächtigte ihn nicht. Eine Menge Leute konnten das Päckchen mit dem Kokain genommen haben. Er musste nur cool bleiben.

Fucking-Tyrell saß mit Debbie und Chance auf der Couch vor dem Fernseher und guckte Spiderman. Eine Stimme aus dem Fernseher mahnte: »Aus großer Kraft folgt große Verantwortung, merk dir das.«

Jimi blieb einen Moment neben der Couch stehen. »Komme ich ungelegen?«, fragte er schließlich.

Tyrell seufzte und stemmte sich aus dem Polster. Jimi folgte ihm zu seinem Zimmer, das abgeschlossen war. Der Schlüssel hing um Tyrells stiernackigen Hals. Aus dem Nachbarraum (Bernadines Reich) ertönte lautes abgehacktes Schnarchen und Tyrell grinste kopfschüttelnd.

Er schloss auf und knipste das Licht an. Das Bett mit der zerwühlten Bettwäsche nahm einen Großteil des Raumes ein. Am Fußende stand ein riesiger Plasmafernseher, obwohl Tyrell sowieso meistens mit den anderen im Wohnzimmer vor der Glotze hing.

Jimi kannte jeden Winkel in Tyrells Zimmer, der mit Blicken erfassbar war. Ein verschlossener Spind stand in einer Zimmerecke und ein Kleiderschrank ohne Türen in einer anderen. Im Regal an der Wand befand sich nur eine teure Musikanlage und auf dem Tisch unter dem Fenster entdeckte er eine Neuanschaffung: ein Computer mit Fünfundzwanzig-Zoll-Flachbildschirm.

Wie immer, wenn er hier war, blieb sein Blick an dem Spind mit dem fetten Vorhängeschloss hängen. Jimi war felsenfest davon überzeugt, dass sich irgendwo in diesem Raum das kleine Holzkästchen befand, das ihm gehörte. Es war unscheinbar, aber sein Inhalt von großem Wert. Damals, vor zehn Jahren, als er todunglücklich und völlig verstört ins Haus von Bernadine gekommen war, hatte Tyrell seine Sachen durchwühlt – dessen war er sich sicher. Seitdem war das Kästchen verschwunden.

Deshalb blieb Jimi nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, um das Kästchen mit seinem wertvollen Inhalt aus Tyrells Fängen zu befreien. Vorher konnte er nicht von hier weg.

Es war jetzt fünf oder sechs Wochen her, da hatte der Zufall ihm einen Trumpf in die Hand gespielt, eine Gelegenheit, es Tyrell mit gleicher Münze heimzuzahlen. Debbie hatte eine Party gefeiert. Kurz zuvor waren Chance und Tyrell mit einer frischen Ladung Kokain aus Denver zurückgekommen und Tyrell wollte wie immer das Kokain unter die Leute bringen. Das meiste in Zwei-Gramm-Zeitungsbriefchen, aber gelegentlich hatte er auch größere Deals am Laufen.

Im großen Haus war es an diesem Nachmittag zugegangen wie in einem Taubenschlag. Tyrell hatte getrunken oder sich anderweitig zugedröhnt. Trotzdem stieg er in seinen Wagen und wollte wegfahren, als er anscheinend etwas vergessen hatte und noch mal ins Haus zurücklief.

Jimi war kurz darauf aus dem Präsidentenpalast gekommen und an Tyrells Wagen vorbeigegangen, als er die in Zeitungspapier gewickelten Päckchen auf dem Beifahrersitz liegen sah. Ohne eine Sekunde nachzudenken, hatte er durch das offene Fenster gegriffen und eines davon unbemerkt an sich genommen.

Unbemerkt? – Das war die große Frage, die ihn seither verfolgte. Als Tyrell ein paar Minuten später wieder aus dem Haus kam und losfuhr, war Jimi längst auf der Koppel bei den Pferden gewesen. Unterdessen waren drei Autos gekommen und wieder abgefahren. Vermutlich hatte Tyrell erst bei der Abwicklung seiner Deals gemerkt, dass eines der Päckchen fehlte. Jeder im Reservat konnte das Kokain genommen haben.

Tyrell hatte sich nichts anmerken lassen, bis heute nicht. Aber Jimi spürte, dass Bernadines Sohn ihn beobachtete. Wenn er anfing, das Koks im Res unter die Leute zu bringen, wäre er geliefert. Er musste verdammt vorsichtig sein.

Fucking-Tyrell war groß und bullig wie seine Mutter. Ein fusseliger Schnurrbart zierte sein Kinn und meistens trug er ein blaues Bandana auf dem Kopf. Seine groben Gesichtszüge hatte er ebenso von Bernadine geerbt wie seine verkorkste Figur. Tyrell war nicht besonders schlau (Lukas behauptete, er hätte den Intelligenzquotienten eines Maulwurfshügels), aber er war gerissen und stark.

Jimis Blick fiel auf die Hanteln am Boden, mit denen Tyrell täglich seine Armmuskeln trainierte. Jimi kannte seine eigenen Kräfte und überschätzte sie nicht. Körperlich war Bernadines Sohn ihm weit überlegen. Dafür trug Jimi den Wotawe um den Hals – den Kriegstalisman von Crazy Horse, der den Häuptling einst unverwundbar gemacht hatte.

Tyrell bot Jimi keinen Stuhl an, er machte es wie immer so kurz wie möglich. Jimi bekam von ihm eine bunte Plastiktüte ausgehändigt und warf einen kurzen Blick hinein. Acht Kokstütchen à zwei Gramm im Wert von je fünfzig Dollar. Eines der Tütchen war für Jimis Eigenbedarf. Er konnte eine Line ziehen und sich für eine kurze Zeit unschlagbar fühlen. Wenn er wollte, konnte er es aber auch verkaufen – es war sein Lohn.

Jimi nickte ungeduldig. Nur raus hier.

»Ich bekomme im Laufe der nächsten Woche dreihundertfünfzig Mäuse von dir.«

»Geht klar. Wann ist die nächste Tour?«, fragte Jimi beiläufig.

»Montag in einer Woche wahrscheinlich. Bist du dabei?« Tyrells Augen funkelten wie schwarze Murmeln.

»Ja, klar.«

»Okay.«

Jimi wandte sich zum Gehen. Als er im Türrahmen stand, sagte Tyrell: »Ach, Jimbo?«

Jimi rutschte das Herz in die Hose. »Ja?« Er drehte sich um.

»Halte die Augen offen. Ich glaube, das FBI ist im Res.«

»Was?« Instinktiv legte sich Jimis Hand auf den glatten Kiesel, der verborgen unter dem T-Shirt an einem Lederband um seinen Hals hing.

Tyrell lachte, dass seine mächtigen Schultern zuckten. »Mach dir nicht ins Hemd, Bro, es ist bloß ein Gerücht. Und nun verschwinde, sonst verpasse ich Spiderman.«

Wie Jimi es hasste, wenn Tyrell ihn Bro nannte, auch wenn er wusste, dass er es nur tat, um ihn zu ärgern. Er verließ das Haus und lief zurück zum Trailer, wo er sich im Dunkeln mit dem Rücken gegen die Blechwand lehnte und erst einmal tief durchatmen musste. Tyrells Bemerkung hatte ihn aufgeschreckt. War wirklich das FBI im Reservat? Hatten sie Tyrell – hatten sie ihn selbst womöglich schon auf dem Kieker? Oder wusste Fucking-Tyrell etwas von dem Kokspäckchen und wollte ihm Dampf machen?

Er nahm sich vor, extrem vorsichtig zu sein. Besonders, was das Päckchen anging. Dreihundert Gramm reines Kokain, das bedeutete siebentausendfünfhundert Mille. Genug Geld, um ein ordentliches Auto zu kaufen und hier zu verschwinden. Nur, dass es unmöglich war, den Stoff einfach im Res zu verklingeln. In seinem Revier würde Tyrell ihm sehr schnell auf die Schliche kommen. Außerdem war es gut möglich, dass das FBI tatsächlich im Reservat war.

Auf das Dealen mit Drogen standen harte Strafen und Jimi hatte nicht vor, für Jahre hinter Gitter zu gehen. Eingesperrt zu sein, war eine schreckliche Vorstellung. Lieber tot als im Gefängnis, da hielt er es wie Crazy Horse. Der hatte allerdings zuletzt doch nachgegeben und war mit seinen Leuten nach Fort Robinson gekommen. Aber nur, weil sie hungerten und froren und er nicht wollte, dass Frauen und Kinder starben wie die Fliegen. Diese Schwäche war ihm zum Verhängnis geworden.

Als Jimi die Stufen zur kleinen Veranda vor dem Eingang des Trailers hinaufstieg, saß Lukas auf der zerfledderten Autositzbank unter dem Blechdach und lauschte in die Nacht. Komisch, aber Lukas’ Anblick gab ihm wieder etwas Sicherheit. Alles würde gut werden.

Er setzte sich neben seinen Freund, nahm seine Hand und legte einen Packen zusammengerollte Dollarscheine hinein.

»Danke, Champ.« Lukas’ Finger schlossen sich um die Geldscheine.

Wie immer ließ Jimi ihn in dem Glauben, das Geld käme von Bernadine. Anfangs war das auch der Fall gewesen, aber seit ein paar Jahren gab sie Lukas kaum noch etwas von dem Geld ab, das sie vom Sozialamt für ihn bekam. Und soweit Jimi wusste, war das eine ganze Menge.

»Lass dich nicht wieder übers Ohr hauen, okay?«, sagte er. Gelegentlich kam es vor, dass jemand Lukas einen Fünf- oder gar Zehndollarschein abknöpfte, obwohl er nur einen Dollar zahlen brauchte. Die Dollarscheine hatten die gleiche Größe, deshalb konnte er sie nicht unterscheiden. Seitdem wechselte Jimi seinem Freund das Geld meist in Ein-Dollar-Noten.

Lukas ließ die Scheine in seiner Hosentasche verschwinden.

Jimi holte seinen Tabak heraus und drehte sich eine Zigarette. Er schob sie zwischen die Lippen, formte eine hohle Hand um die kleine Flamme des Feuerzeugs und zündete die Zigarette an. Er zog den Rauch in die Lunge und lehnte den Kopf zurück.

Wie er hasste, was er da tat: Koks an Leute im Reservat zu verkaufen. An sein eigenes Volk. Weißes Pulver, das Hunger, Schmerz und Müdigkeit vertrieb und einem das Gefühl gab, unschlagbar zu sein – für eine Weile. Nach der kurzen Euphorie kam der große Katzenjammer und unweigerlich der Wunsch, sich so schnell wie möglich wieder unschlagbar zu fühlen.

Obwohl das Kokain aus den Blättern des immergrünen Kokastrauches gewonnen wurde, war seine Wirkung zerstörerisch. Anfangs hatte Jimi sich eingeredet, was von Mutter Erde kam, konnte nicht schlecht sein. Für die Anden-Indianer war der Strauch heilige Medizin. Ihre Medizinmänner erhielten im Kokarausch Visionen.

Inzwischen hatte Jimi erlebt, dass der Kokainrausch die Menschen die dümmsten Dinge tun ließ, und schlimmer noch, er wusste, dass der Konsum von Koks Vergiftungen und Hirnschäden nach sich ziehen konnte. Einer der unschlagbaren Gründe dafür, warum er selbst die Finger davon ließ.

Wenn Jimi darüber nachdachte, konnte er selbst nicht genau sagen, wann und wie er in den ganzen Schlamassel hineingeraten war. Er war gerade zehn geworden, als Tyrell ihn zum ersten Mal auf Botengang geschickt hatte. Jimi sollte jemandem ein Päckchen vorbeibringen und Tyrell versprach ihm dafür eine Taschenlampe. Jimi hatte den Auftrag ausgeführt, hatte sich wie verrückt über die billige Wal-Mart-Taschenlampe gefreut und nichts kapiert. So war es weitergegangen. Erst kleine Geschenke als Gegenleistung und schließlich Geld. Was er da unter die Leute brachte (anfangs Gras, später Koks), war ihm erst aufgegangen, als er anfing, nachzudenken und sich die Empfänger von Tyrells Zeitungsbriefchen genauer anzusehen.

Jimi verachtete sich selbst für das, was er tat, und mehr als einmal hatte er sich vorgenommen aufzuhören. Aber er steckte schon zu tief mit drin. Und seit das Kokainpäckchen in seinem Baumversteck lag, war an Aufhören sowieso nicht zu denken, denn dann könnte er ebenso gut gleich zu Tyrell gehen und sagen: »He, Bro, ich habe, was du vermisst.«

Ihm blieb gar keine andere Wahl, als die nächsten paar Wochen noch durchzuziehen. Er hatte seine Fühler vorsichtig nach einem potenziellen Käufer ausgestreckt und seit ein paar Tagen schien es so, als wäre er fündig geworden. Nur die Nerven nicht verlieren! Bald wurde er achtzehn und dann würde er die ganze verdammte Scheiße hinter sich lassen. Er würde sich aus Tyrells Zimmer holen, was ihm gehörte, und mit seinem Hunka-Bruder aus dem Res verschwinden.

Da gab es nur ein Problem: Lukas wollte nicht fort, er hatte sich in den Kopf gesetzt, Medizinmann zu werden wie der alte He Dog. Aber wenn Jimi ihm alles erzählte, einfach alles, dann würde er schon begreifen, warum es sein musste. Lukas würde seinen besten Freund nicht im Stich lassen. Sie würden zusammen nach Mexiko gehen und sich dort ein besseres Leben aufbauen. Ein gutes Leben für sie beide, mehr wollte Jimi nicht.

Mit Sicherheit würde Lukas ausrasten, wenn er erfuhr, dass sein bester Freund ein Koks-Dealer war. Er wäre bitter enttäuscht. Der Gedanke, Lukas könnte sich von ihm abwenden, war furchteinflößender als die Angst, von Tyrell entlarvt zu werden.

Einmal, es war jetzt ungefähr drei Jahre her und Tyrell war gerade vom Dealen mit Marihuana auf Kokain umgestiegen, hatte Jimi versucht, Lukas von den Drogen zu erzählen. Er hatte sich gewunden wie ein Wurm, bis Lukas schließlich losgelachte hatte. »Ich weiß, dass es kein Süßgras ist, was du da ab und zu rauchst, Jimi«, hatte er gesagt. »Mach dir deswegen keine Gedanken, ich verkrafte das.«

Daraufhin hatte Jimi nicht mehr den Mut aufgebracht weiterzureden. Er hatte es einfach nicht fertiggebracht, von Tyrell, den Fahrten nach Denver und dem Kokain zu erzählen. Lukas Brave war ein Träumer, er glaubte an das Gute im Menschen. Und er glaubte an das Gute in Jimi Little Wolf. Jimi wollte ihm diesen Glauben nicht zerstören.

»Ich gehe schlafen«, sagte er und ließ die Kippe in das Gurkenglas neben der Bank fallen.

»Sweet Dreams«, sagte Lukas. »Ich bleibe noch ein bisschen sitzen.«