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Die versammelte Menge teilte sich in zwei Hälften. Die eine Hälfte rief: »Kämpft! Kämpft für die Racter!« Sie warfen sich geradewegs den in den Raum stürmenden Angreifern entgegen.
Die andere Hälfte schrie: »Lauft! Lauft!« Und sie eilten von Panik erfüllt auf die Seitentüren zu. Das waren die schwächeren Männer und Frauen. Verängstigt schrien sie und krallten sich den Weg frei.
Unter denen, die kämpfen wollten und die Schwerter herausrissen, befanden sich auch Frauen. Das waren Jikai-Vuvushis, hartgesottene Kriegsmädchen. Und ich stand völlig ratlos und unentschieden da. Ich konnte doch nicht diejenigen bekämpfen, die die Sache des Herrschers unterstützen wollten, oder etwa doch? Andererseits konnte ich nicht einfach davonlaufen; meine Tarnung als hartnäckiger Anhänger der Racter wäre damit aufgeflogen. Ich saß mächtig in der Klemme.
Logan Verlan warf sich mit gezücktem Schwert den Neuankömmlingen entgegen. Einen Augenblick lang sah ich ihn, dann war er mitten im Kampfgetümmel, als Stahl aufeinanderprallte und in dem Raum eine wilde Schlacht ihren Anfang nahm.
Niemand beachtete mich. Ich stand ganz allein da. Jeder war völlig den Leidenschaften verfallen, die ihn gepackt hatten. Kampf oder Flucht!
Der kreischende Mob, der durch die Seitentüren verschwinden wollte, rannte sie einfach über den Haufen. Sie war eine respektable Kotera aus Vallia. Ihrer Kleidung war anzusehen, daß sie nicht arm war und eine gewisse Stellung innehatte. Die trampelnden Stiefel stießen sie umher wie eine Stoffpuppe. Sie trug den schwarzweißen Schturval. Sie war eine Frau. Bei dem stinkenden Ausfluß Makki-Grodnos! Wie hätte ich mich anders verhalten können?
Die Menschen verfluchend, die jede Menschlichkeit verweigerten, setzte ich mich in Bewegung, stieß einen schreienden Burschen mit dem Ellbogen aus dem Weg, schlug einen fetten Mann nieder, der wie ein in den Fängen eines Leems zappelndes Ponsho kreischte, und packte die Frau. Sie war ganz schön fett, und ich warf sie mir über die Schulter, fuhr herum, trat einen Schwarzweißen beiseite, der nicht schnell genug Platz machte, und trug sie aus der Gefahrenzone.
Dort stellte ich sie wieder auf die Füße und hielt sie erst einmal fest. »Verschwinde!« befahl ich ihr mit einer Wut, die ich eigentlich gar nicht verspürte. »Und fall nicht wieder hin!«
Der Kampflärm, der durch den Raum hallte, übertönte ihre Antwort. Sie taumelte, und ich zog sie wieder hoch. »Geh schon!«
Danach war es unbedingt erforderlich, daß ich mich vergewisserte, ob Naghan Raerdus Schläger vorhatten, mich niederzustechen.
Die Situation war mir auf den ersten Blick klar. Naghan der Unscheinbare hatte nicht genug Männer ausgesandt, um die hier versammelten Racter zu überwältigen. Niemand gewann die Oberhand. Der Lärm war ungeheuer. Der Gestank vergossenen Blutes breitete sich aus.
Von Logan Verlan war keine Spur zu sehen. Ich hatte genügend Zeit, um mich wieder der fetten Dame zuzuwenden. »Kotera – verschwinde von hier! Lauf, aber paß auf! Fall nicht wieder hin!«
Sie drückte das Kreuz durch. Ihr Busen bot einen eindrucksvollen Anblick. »Ich danke dir, Koter. Ich ...«
»Geh, meine Dame. Möge Opaz mit dir sein.«
Ich begriff selbst nicht, warum auf Kregen ich einer verdammten Racter soviel Förmlichkeit entgegenbrachte. Ich wage zu behaupten, daß sie, wäre sie keine verfluchte Schwarzweiße gewesen, eine nette dicke Dame mit einer glücklichen Familie hätte sein können. In diesem Augenblick waren meine Gefühle wohl etwas durcheinander, wie ich zugeben muß.
Da die mutigen Burschen, die Naghan der Unscheinbare ausgesandt hatte, die ganze Zeit »Nieder mit den Ractern!« und nicht etwa »Tötet die Racter!« brüllten, ging ich davon aus, daß er ihnen den Befehl gegeben hatte, mit dem Feind rauh umzuspringen, aber keinen zu töten. Sie waren erfahren genug, bei den Auseinandersetzungen mit den Verschwörern keine ernsthaften Verletzungen davonzutragen. Aus der gleichen Überlegung heraus ging ich auch davon aus, daß keiner von ihnen von außen um das Haus gegangen war, um die Flüchtenden abzufangen. Die dicke Dame konnte vermutlich mühelos entkommen.
Die meisten der zur Versammlung gekommenen Racter schienen Zivilisten zu sein, und so waren Naghans Befehle nicht allzu schwierig zu erfüllen. Logan Verlan war kein Zivilist. Er hatte mir gesagt, was er in solch einer Situation zu tun gedachte, und da war er auch und stürzte sich mit Leidenschaft auf seine Aufgabe.
Naghans Männer waren gezwungen, Verlan sehr ernst zu nehmen. Ich sah zu, wie er zwei Rapas zurückdrängte und es schaffte, dem einen die Klinge durch den Arm zu bohren. Der andere Rapa kreischte wütend auf, ließ sein Schwert kreisen und stieß es Logan in den Oberschenkel.
Das war mein Stichwort.
Ohne eine Waffe zu ziehen, jagte ich zum Rand der Saalschlacht, wo Verlan sich humpelnd zurückzuziehen versuchte. Sobald er sich von den Kämpfenden entfernt hatte, nahmen ihn die Angreifer nicht mehr zur Kenntnis. Ich packte seinen Arm.
»Du bist verletzt, Logan. Komm, wir verschwinden hier.«
Ich bückte mich und lud ihn mir in einem Feuerwehrmannsgriff auf. Sein Arm baumelte herunter. Er wollte sprechen, bekam aber nur ein Husten heraus. Die letzten Flüchtenden drängten sich durch die Tür. Nur wenige Augenblicke waren vergangen, seit ich die dicke Dame aufgehoben hatte. Er wand sich, und ich befahl ihm, sich nicht zu bewegen. »Kadar ...«, stieß er kraftlos hervor. Mir kam der häßliche Verdacht, daß er bereits eine Wunde davongetragen hatte, bevor ihm der Stich in den Oberschenkel den Wind aus den Segeln nahm.
Ein paar ausgesprochen dicke Männer drückten sich vor mir als letzte durch die Tür. Auf der anderen Seite der Schwelle drehte ich den Oberkörper, damit ich einen letzten Blick auf die Saalschlacht werfen konnte.
Die Racter gewannen die Oberhand, aber nur deshalb, weil nicht genug Kämpfer ausgeschickt worden waren. Sie kannten keine Skrupel zu töten. Die Söldner kämpften grimmig weiter, hatten aber nicht den gewünschten Erfolg.
Und so mußte ich, Dray Prescot, den instinktiven Wunsch unterdrücken, diesen verdammten Schwarzweißen auf meiner Schulter zu Boden zu schleudern und an die Seite der Männer zu eilen, die gegen die Racter kämpften.
Verlan brauchte die Dienste eines Nadelstechers. Die meisten Oberschenkelwunden sind ernst und tödlich, falls die Arterie durchtrennt wird. Draußen stand die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln am Himmel und machte ihrem Namen alle Ehre, denn sie lächelte auf die Stadt herab. Rosafarbenes Licht erhellte die Straßen, und die Schatten waren weich und verschwommen.
Die flüchtenden Besucher der Versammlung waren in alle Richtungen verschwunden. Der Lärm der Saalschlacht drang nur undeutlich auf die Straße. Der beste Ort, der mir spontan einfiel, um Verlan zu retten, war der Ungehängte Drikinger, eine schäbige Taverne in einer Sackgasse namens Feuersteingasse. Die befand sich in der Altstadt, um die herum Didi ihr neues Gafarden erbaut hatte. Dort praktizierte Doktor Lomax die Arznei seine Heilkünste an allen möglichen Halsabschneidern und Taschendieben und anderen Schurken der Nacht.
Naghan Raerdu hatte die Taverne entdeckt und mir die Adresse verraten – was mir im Augenblick äußerst gelegen kam, bei Krun!
Das Phantom mochte zum zweiten Mal gestorben sein; die braven Bürger weigerten sich noch immer, sich nachts zu weit aus ihren Häusern zu trauen, und so starrten mich nur wenige Leute an, als ich mit meiner Last an ihnen vorbeieilte.
Die Taverne bot einen heruntergekommenen Anblick; dicke Schlingpflanzen bewuchsen alte Wände und erschwerten die Sicht auf die kleinen Fenster. In einigen brannten Lichter, und die rostige Laterne über dem Eingang bot gerade genug Helligkeit, um mir den Weg zu weisen.
Beim Eintreten schlug mir der durchdringende Geruch nach Ale und Wein wie ein Pesthauch entgegen. Glücklicherweise beschmutzte kein Tabakrauch die Luft, wie es auf der Erde der Fall gewesen wäre. Lomax die Arznei war auf den ersten Blick zu erkennen. Ein armer Teufel lag flach auf einem Tisch, einen Knebel in den Mund gestopft, während vier seiner Spießgesellen ihn festhielten. Lomax war fleißig mit Nadel und Faden zugange und nähte einen Schnitt im Bauch des Mannes zu. Ein im Ungehängten Drikinger vermutlich alltäglicher Anblick.
Doktor Lomax schloß die letzte Naht, biß den Faden ab und wandte sich mir und meiner Last zu. Auf der Erde hätte er über den Rand einer randlosen Brille geschaut. Er war ein munterer Bursche, auf seiner gelben Schürze zeichneten sich Blutflecke ab, und auch sein Schnabel und die Federn waren voller Blut. Er war kein Rapa, sondern ein Relt; Relts sind Diffs von sanfterer Wesensart, die das ziemlich genaue Gegenteil ihrer Vettern, der Rapas, darstellen. Er winkte mich heran.
Die vier Männer hoben den stöhnenden Burschen vom Tisch. Lomax winkte erneut, und ich trat vor und legte Verlan auf die blutbeschmierten nackten Holzbohlen.
»Vielen Dank, Doktor«, war alles, was ich sagte, und gleichzeitig auch alles, was ich sagen mußte.
Mich trafen einige fragende Blicke. Verlan und ich trugen Leder und waren offensichtlich Koter. Vermutlich musterten die Anhänger von Diproo, dem Flinkfingrigen, uns prüfend, ob es bei uns etwas zu holen gab. Darüber hinaus trugen wir Schwarz und Weiß. Trotzdem war es mir als die beste Möglichkeit erschienen, Verlan an diesen Ort zu bringen. Ich rückte meinen Schwertgurt zurecht.
Sie verstanden den Wink, Augen wandten sich ab.
Ich sah zum Operationstisch zurück; Lomax war fleißig bei der Arbeit. Ich fragte mich, warum er nicht die üblichen Akupunkturnadeln benutzte. Er wurde die Arznei genannt; möglicherweise war das die Erklärung.
Ich unterlag keineswegs dem Irrtum, daß Doktor Lomax umsonst operierte. Für seine Dienste verlangte er Gold. Auch ihm war keineswegs entgangen, daß wir Koter waren und darum auch Gold in unseren Geldbörsen trugen. Zweifellos hatte er Komplizen, die im Zweifelsfall die Rechnungen für geleistete chirurgische Dienste eintrieben.
Es war schon einige Zeit her, daß der goldene Nektar meinen Hals befeuchtet hatte, also rief ich dem Mann hinter der Bar zu, einen Krug Ale einzuschenken – und war mir dabei durchaus bewußt, wie unpassend das in dieser Situation eigentlich war. Der fette und wissende Olumai knallte den Krug auf die Theke und schnappte sich das Silberstück, das ich ihm zuschob. Ich wartete auf das Wechselgeld. Es kam nicht. Bei den überwältigenden Reizen der Heiligen Dame von Belschutz! Sollte ich die Sache auf sich beruhen lassen oder nicht?
Daß ich mich überhaupt in dieser Situation befand, daran waren nur der lächerliche Unsinn schuld, der Naghan Raerdus Diensteifer angerichtet hatte, sowie Logan Verlans ungestümes Verlangen, diejenigen, die seine Überzeugungen nicht teilten, mit dem Schwert zu durchbohren. Und nicht zu vergessen mein ausgeprägter Sinn für Verantwortung. Ich trank das Ale und kehrte zum Operationstisch zurück. Der Olumai grinste höhnisch und wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab.
Ich bemühte mich um einen gedämpften Tonfall. »Doktor Lomax. Mein Freund wird zusammengeflickt. Warum linderst du seinen Schmerz nicht mit deinen Nadeln?«
Lomax fuhr gewissenhaft mit seiner Arbeit fort. Er sah nicht auf. »Der Schmerz ist nicht schlimm. Dein Freund ist kräftig. Nadeln sind nicht billig.«
»Ach, das ist es. Schon gut, Doktor. Hier ist Gold.« Ich zeigte ihm zwei Goldtalens, die im Licht der Lampen seidig schimmerten. »Jetzt benutz deine Nadeln, um den Schmerz zu beseitigen, den mein Freund erleidet.«
Die beiden Goldstücke fanden den Weg in seine Börse wie Aale in ein Wehr. Er öffnete die Tasche, holte die Nadeln hervor und benutzte sie mit dem Geschick eines Nadelstechers. Augenblicklich verstummte das Stöhnen, das selbst Verlan, ein erfahrener Offizier des VLD, nicht unterdrücken konnte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus und entspannte sich auf dem nackten Holz des Tavernentischs.
»Gold«, sagte Doktor Lomax, »wirkt immer Wunder.«
Ich sparte mir jede Erwiderung – das ist eine billige Philosophie, die nicht immer zutrifft – und legte statt dessen eine Hand auf Verlans Stirn. Sie war heiß, aber nicht so sehr, daß ich es für bedenklich hielt. Lomax nickte und bestätigte meine Vermutung. Selbst ich sah, daß Verlan eine häßliche Wunde davongetragen hatte, deren gezackte Ränder viel größer als die Breite einer Rapierklinge waren.
»Dein Freund hatte Glück. Beng Bodine der Heiler von Menschen hat ihm zweifellos seine Gunst geschenkt.«
»Ach ja?«
»O ja. Der Stoß verfehlte sowohl die Oberschenkelarterie als auch den Oberschenkelknochen. Ich habe schon Rapierklingen gesehen, die zerbrachen und im Oberschenkel steckenblieben, wenn sie den Knochen trafen. Was die Arterien angeht ...«
»Ja.« Ich blickte auf Logan Verlan hinunter. »Der fünfhändige Eos-Bakchi hat heute den Würfel wirklich zu deinen Gunsten geworfen, Logan.«
Er brachte ein Verziehen der Lippen zustande, das ich als Lächeln deutete.
Für die nächsten Schwierigkeiten würde die Kundschaft des Ungehängten Drikingers sorgen. Mir waren die verstohlenen Blicke, das vielsagende gegenseitige Zuzwinkern und die allgemeine Atmosphäre drohenden Unheils keineswegs entgangen, und ich ging davon aus, daß meine kleine Geste mit dem Schwertgurt ihr Verfallsdatum überschritten hatte – wie man in Clishdrin sagt.
Ich drehte mich mit dem Krug in der linken Hand um und trank einen Schluck, während ich mit der rechten ein halbes Dutzend Goldstücke aus dem Geldbeutel fingerte. Die Talens funkelten hübsch im Schein der Mineralöllampen. Ein paar Schritte brachten mich zur Theke und dem mürrischen Schankkellner. Ich knallte das Geld auf die Theke.
»Eine Runde für alle!« verkündete ich mit lauter, aber keinesfalls befehlender Stimme.
Ohne auf das Ergebnis meiner Bemühungen zu warten, flitzte ich zurück zum Tisch. Verlan flog in meinem Griff in die Höhe wie eine Heugabel Korn in die Scheune. Er protestierte, er könne, bei Vox!, selbst laufen. Und er setzte sich auch, gestützt von meinem Arm, in Bewegung.
Mittlerweile belagerte die Kundschaft des Ungehängten Drikingers den Mann hinter der Theke. Man brüllte Bestellungen für die bevorzugten und teuersten Getränke. Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube nicht, daß auch nur einer mir ein ›Dankeschön‹ zurief.
Nun, das war eigentlich auch nicht zu erwarten, oder?
Als wir den Raum durchquerten, schien die Tür so weit weg zu sein wie die Berge des Nordens von Vondium. Das lautstarke Getümmel, als Getränke bestellt wurden, das dann keinesfalls leiser wurde, bildete einen makaberen Hintergrund zu unserem Vorankommen. Verlan versuchte mannhaft zu gehen, aber er stöhnte auf und sackte gegen mich. Er war ganz grün im Gesicht.
Ich legte ihn mir wieder über die Schultern und tat die letzten paar Schritte bis zur Tür.
Die frische Luft traf uns wie ein kaltes nasses Tuch nach einer schweißtreibenden Fechtübung. Entschlossen ging ich die Straße entlang. Vielleicht war diese außergewöhnliche Geste überflüssig gewesen. Vielleicht auch nicht, bei Zair!
In dieser Situation war allein das freudige Gefühl wichtig, daß mich meine Taten bei Logan Verlan in ein vorteilhaftes Licht gesetzt hatten – und somit auch bei seinen Kontaktleuten bei den Ractern. Es heißt: Wenn du sie nicht besiegen kannst, schließ dich ihnen an.
Nun, bei Krun, ich hatte mich ihnen angeschlossen und sie besiegt!