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1701

 

 
 

  Alexander ging mir an dem Tag nach Mr. Karews Besuch aus dem Weg. Wir besuchten zwar mit der ganzen Familie die Messe, aber für den Rest des Tages blieb Alexander größtenteils in seinem Zimmer. Und immer, wenn er es für kurze Zeit verließ, sah er derart benommen aus, als würde er etwas sehen, das ich nicht sehen konnte, oder etwas hören, das ich nicht hören konnte. Vielleicht war es auch tatsächlich so. Ich weiß es bis heute nicht, und ich werde es wohl nie erfahren.

  Als er mich an diesem Abend aufsuchte, war der benommene Gesichtsausdruck einer bedrohlichen Entschlossenheit gewichen.

  »Rachel?«

  »Ja?«

  »Ich muß unbedingt mit dir reden. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, ohne daß du denkst...« Er verstummte, und ich wartete, bis er weiterredete.

  »In dieser Welt gibt es Kreaturen, die keine Menschen sind«, fuhr Alexander fort, seine Stimme wurde fester und bestimmter. »Aber sie sind auch nicht das, was die Hexenjäger behaupten. Die Hexen...« Er schwieg wieder einen Moment, und ich wartete darauf, daß er sich entschied, wie er das, was er zu sagen hatte, am besten formulierte. »Ich weiß nicht, ob Satan wirklich existiert – ich selbst bin ihm nie begegnet –, aber ich weiß, daß es dort draußen Kreaturen gibt, die dich verdammen würden, wenn sie könnten, einfach nur aus Bosheit. «

  Das war nichts, was ich nicht auch schon in der Kirche gehört hatte. Aber mein Bruder sagte es auf eine andere Weise als die Prediger. Für mich klang es so, als hätte Alexander mehr Glauben, aber das traf es nicht ganz. Es klang, als glaubte er, einen Beweis zu haben.

  »Alexander, was ist denn passiert?« flüsterte ich. Seine Worte sollten offensichtlich eine Warnung sein, aber ich konnte sie nicht verstehen.

  Alexander seufzte tief. »Ich habe einen Fehler gemacht, Rachel.« Danach wollte er nichts mehr dazu sagen.

  An diesem Abend legte ich mich sehr aufgewühlt schlafen. Ich hatte einerseits Angst davor, Alexanders Worte zu verstehen, und andererseits eine noch größere Angst, weil ich nicht wußte, was sie bedeuteten.

  Gegen elf Uhr hörte ich Schritte auf dem Flur, so als würde jemand erfolglos versuchen, leise zu sein. Ich stand lautlos auf, um Lynette nicht zu wecken, mit der ich das Zimmer teilte, und ging auf Zehenspitzen zur Tür.

  Ich lief in die Küche und konnte gerade noch einen Blick auf Alexander erhaschen, als er aus der Hintertür ging. Ich folgte ihm und fragte mich, warum er so spät nachts aus dem Haus schlich.

  Ich kannte den abwesenden Ausdruck auf seinem Gesicht gut: Er hatte sicher wieder im Geist etwas gesehen. Welche Vision auch immer ihn geweckt hatte, sie hatte ihm Angst eingejagt, und es schmerzte mich, daß er an meiner Tür vorbeigelaufen war, ohne auch nur zu zögern, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen.

  Alexander war verschwunden, aber ich blieb zögernd im Türrahmen stehen, weil ich hinter dem Haus Stimmen hörte. Alexander unterhielt sich mit Aubrey und einer Frau, die ich nicht kannte. Sie hatte einen anderen Akzent als Aubrey, aber auch ihrer war mir fremd. Damals wußte ich noch nicht, daß sie mit einer Sprache aufgewachsen war, die schon lange tot war.

  Die Frau, mit der Alexander sprach, hatte schwarze Haare, die auf ihre Schultern fielen und sich wie eine dunkle Korona um ihre totenblasse Haut und ihre schwarzen Augen legten. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und auffälligen Silberschmuck, der beinahe ihre ganze linke Hand bedeckte. Um ihr rechtes Handgelenk wand sich eine silberne Schlange, deren Augen aus Rubinen bestanden.

  Das schwarze Kleid, der Schmuck und mehr als alles andere die rotäugige Schlange ließen mich nur an ein Wort denken: Hexe.

  »Wieso sollte ich?« fragte sie gerade Alexander.

  »Laß dieses Haus einfach in Ruhe!« befahl er. Es klang ganz ruhig, aber ich kannte ihn zu gut. Ich hörte das Beben in seiner Stimme – den Klang von Wut und Angst.

  »Versuchung«, sagte die Frau und stieß Alexander von sich. Er schlug gegen die Wand, und ich konnte genau hören, wie sein Rücken gegen das Holz prallte. Dabei hatte sie ihn kaum berührt! »Mein gutes Kind, du würdest es bereuen, mich von deiner Schwester fernzuhalten«, fügte die Frau kalt hinzu.

  »Tu ihr bloß nicht weh, Ather.« Ich hörte ihren Namen zum ersten Mal, und ich fröstelte, als ich ihn aus dem Munde meines Bruders vernahm. Mein goldener Bruder gehörte einfach nicht in die dunkle Welt, aus der sie aufgestiegen war.

  »Ich meine es ernst«, sagte Alexander und machte einen Schritt von der Wand weg. »Ich habe dich schließlich angegriffen. Laß Rachel in Ruhe. Wenn du jemanden bekämpfen mußt, um deinen Stolz zu heilen, dann kämpfe gegen mich, nicht gegen Rachel.«

  Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich das hörte. Alexander war mein Bruder. Wir waren gemeinsam auf die Welt gekommen und aufgewachsen. Ich kannte ihn, ich wußte, daß er keinem Menschen etwas zuleide tun würde.

  »Du und diese Hexe hätten meine Jagd nicht unterbrechen sollen«, sagte Ather.

  »Du solltest dankbar sein, daß ›diese Hexe‹ mir geholfen hat, dich aufzuhalten. Wenn du Lynette getötet hättest...«

  »Welche Schwester bedeutet dir mehr, Alexander – dein Zwilling oder Lynette? Ich habe geblutet; du hättest besser an Rachel denken sollen, bevor du mich verletzt hast.«

  »Ich werde nicht zulassen, daß ihr sie verwandelt«, knurrte Alexander.

  »Ach, Alexander.« Ather trat wieder näher zu ihm. »Wie kommst du nur auf die Idee, daß ich sie verwandeln will?« Sie lächelte, und ich sah ihre Zähne im Mondlicht schimmern. Dann lachte sie laut. »Nur, weil sie mein Geschenk angenommen hat?« Sie machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, und er trat zurück. Sie lachte wieder. »Feigling.«

  »Du bist ein Ungeheuer«, erwiderte Alexander. »Und ich werde nicht zulassen, daß du aus Rachel auch eines machst.«

  »Aubrey«, sagte Ather. Sonst nichts. Aubrey hatte die ganze Zeit über schweigend im Schatten gestanden. Jetzt lachte er und stellte sich hinter Alexander, aber mein Bruder reagierte nicht. Aubrey schien ihm keine Angst einzujagen.

  »Rachel, geselle dich doch zu uns«, rief Ather mir zu. Ich erstarrte; mir war nicht klar gewesen, daß sie mich gesehen hatte. Ather nickte Aubrey zu, der einen Schritt in meine Richtung machte, als wolle er mich in den Garten eskortieren. Ich wich nicht vor ihm zurück, sondern wurde wütend.

  »Bleib mir bloß vom Leib«, zischte ich. Für die damalige Zeit war ich schon immer sehr unverblümt gewesen, und Aubrey blinzelte überrascht. Er trat zur Seite und ließ mich vorbei.

  Alexander hatte gesagt, daß er einen Fehler gemacht hatte. Jetzt versuchte er, mich vor den beiden zu beschützen, die offensichtlich gekommen waren, um diesen Fehler zu rächen. Ich marschierte an Aubrey vorbei zu Ather.

  »Wer bist du überhaupt?« fragte ich nachdrücklich. »Was willst du hier?«

  »Rachel«, begrüßte sie mich schnurrend, ohne auf meine Fragen zu reagieren. Als sie lächelte, konnte ich ihre Fangzähne sehen, die mich an die Schlange an ihrem Handgelenk erinnerten.

  »Rachel, du darfst jetzt nicht wütend werden«, warnte mich Alexander.

  »Zu spät.« Ich spuckte die Worte förmlich in Athers Gesicht. »Warum bedrohst du ihn?«

  »Verlange bitte keine Erklärungen von mir, Kind«, schnappte Ather.

  »Nenn mich gefälligst nicht Kind. Verschwinde von meinem Boden und zwar sofort, und laß endlich meinen Bruder in Ruhe.«

  Ather lachte. »Bedeutet diese Kreatur dir wirklich so viel?« fragte sie mich.

  »Ja.« Ich antwortete ohne zu zögern. Alexander war mein Zwillingsbruder. Er gehörte zu meiner Familie, und ich liebte ihn. Die Mischung aus zuviel Glaube und verdammenswerten Fähigkeiten lagen wie ein Fluch auf ihm. Er hatte diesen Spott nicht verdient.

  »Das ist aber schade«, sagte Ather trocken. »Aubrey, würdest du dich bitte um diese Ablenkung kümmern?« fügte sie hinzu.

  Ich rannte auf Aubrey zu, der ein Messer aus seinem Gürtel gezogen hatte, aber ich sah kaum, wie er meinen Bruder packte, denn Ather nahm meinen Kopf zwischen ihre kräftigen Hände und zwang mich, in ihre Augen zu blicken. »Jetzt bedeutet er nichts.«

  Aubrey lachte, dann hörte er plötzlich wieder auf. Ich glaubte, ein Flüstern zu vernehmen, aber es war so leise, so kurz, daß es auch der Wind hätte sein können. Aubrey kam in mein Sichtfeld zurück und steckte das Messer wieder in die Scheide. Dann verschwand er, und ich sah auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Ich starrte hinter ihm her, vielleicht im Schockzustand. Ich konnte nichts mehr hören, nichts mehr fühlen.

  Dann begriff ich, was gerade passiert war, und ich versuchte, mich zu meinem Bruder umzudrehen, der so still war – zu still...

  Ather packte mich am Arm.

  »Laß ihn, Rachel«, sagte sie.

  Aber Alexander war verletzt, lag vielleicht sogar im Sterben. Ich war mir sicher, daß Aubrey sein Messer gezogen hatte, um ihn zu töten. Wie konnte sie da erwarten, daß ich mich nicht um ihn kümmerte? Er brauchte Hilfe.

  »Ich sagte, laß ihn«, flüsterte Ather und drehte mich wieder zu sich. Ich trat zurück und blickte in ihre schwarzen Augen.

  Kalter Schock erfüllte meinen Geist und verdrängte Angst und Entsetzen. Mein Bruder konnte nicht tot sein – nicht so plötzlich.

  »Weißt du eigentlich, wer ich bin, Rachel?« fragte Ather, und die Frage warf mich endgültig aus meiner stummen Welt. Diese Frage war die Realität, nicht Alexanders Tod und auch nicht die schwarze Rose. Ich konnte mit diesem Augenblick nur umgehen, solange ich nicht an den davor dachte.

  »Du scheinst eine Kreatur aus den Legenden zu sein«, sagte ich vorsichtig, besorgt wegen der Konsequenzen, die meine Worte haben mochten.

  »Das stimmt.« Ather lächelte wieder, und ich hätte ihr das Lächeln aus dem Gesicht schlagen können. Alexanders Worte fielen mir ein – Ich bin derjenige, der dich angegriffen hat – und meine Überraschung, als ich sie hörte. Ich konnte nicht glauben, daß mein Bruder irgend jemanden verletzen würde. Die Vorstellung, daß solche Gewalt in mir war, war schockierend... aber auch seltsam erregend.

  Ather redete weiter, bevor ich etwas sagen konnte.

  »Ich will dich zu einer von uns machen.«

  »Nein«, sagte ich zu ihr. »Geh. Jetzt. Ich will nicht so sein wie du.«

  »Habe ich vielleicht mit einem Wort erwähnt, daß du eine Wahl hast?«

  Ich stieß sie mit aller Kraft von mir, aber sie stolperte kaum. Sie packte meine Schultern. Lange Fingernägel schlangen sich in meine Haare, sie riß meinen Kopf zurück und beugte sich dann vor, bis ihre Lippen meinen Hals berührten. Die grauenhaften Fänge, die ich schon vorher gesehen hatte, durchbohrten meine Haut.

  Ich kämpfte, ich kämpfte verbissen um meine unsterbliche Seele, an die zu glauben die Prediger mich gelehrt hatten. Ich weiß nicht, ob ich wirklich je daran geglaubt hatte – ich hatte Gott nie gesehen, und Er hatte nie zu mir gesprochen – aber ich kämpfte trotzdem dafür, und ich kämpfte für Alexander.

  Ich konnte tun, was ich wollte – es machte keinen Unterschied.

  Das Gefühl, wenn einem das Blut ausgesaugt wird, ist sowohl verführerisch als auch beruhigend, fast wie ein Streicheln und eine sanfte Stimme, die ›entspanne dich‹ flüstert. Man will sich nicht mehr wehren, man will nur noch nachgeben. Ich wollte aber nicht nachgeben. Wenn man sich wehrt, tut es weh.

  Athers rechte Hand hielt meine beiden hinter meinem Rücken fest, und ihre linke Hand krallte sich noch immer in meine Haare. Ihre Zähne steckten in meiner Halsschlagader, aber ich spürte den Schmerz in der Brust. Es fühlte sich an, als würde flüssiges Feuer statt Blut durch meine Adern getrieben. Mein Herz schlug vor Angst und Schmerz und wegen des Blutverlusts schneller. Schließlich verlor ich das Bewußtsein.

 
 

  Eine Minute oder auch eine Stunde später erwachte ich für einen Moment an einem dunklen Ort. Ich nahm weder Licht noch Geräusche wahr, nur den Schmerz und die dicke, warme Flüssigkeit, die in meinen Mund gepreßt wurde.

  Ich schluckte und schluckte, bis mein Kopf wieder klarer wurde. Die Flüssigkeit war bittersüß, und während ich trank, hatte ich das Gefühl von Macht und ... nicht Leben oder Tod, sondern Zeit. Und Kraft und Ewigkeit...

  Endlich begriff ich, was ich da trank. Ich stieß das Handgelenk weg, das mir jemand gegen die Lippen gedrückt hatte, aber ich war zu schwach, und es war so verführerisch.

  »Versuchung.« Die Stimme klang in meinen Ohren und in meinem Kopf, ich erkannte, daß sie Ather gehörte.

  Wieder stieß ich das Handgelenk fort, obwohl mein Körper schrie, daß ich das nicht tun sollte. Ather war beharrlich, aber das war ich auch. Irgendwie schaffte ich   es, meinen Kopf wegzudrehen, trotz der Schmerzen, die mit jedem Herzschlag durch mich hindurchschossen. Ich konnte meinen eigenen Puls hören, und er wurde immer schneller, bis ich kaum noch atmen konnte, aber ich stieß beharrlich das Blut von mir. In dieser Sekunde glaubte ich an meine unsterbliche Seele – ich würde sie nicht aufgeben, zumindest nicht willentlich.

  Plötzlich war Ather verschwunden. Ich war allein.

  Ich konnte das Blut in meinen Adern spüren, ich fühlte, wie es meinen Körper, meine Seele und meinen Geist erfüllte. Ich konnte nicht atmen, mein Kopf pochte und mein Herz raste. Dann wurde beides langsamer.

  Ich hörte, wie mein Herz aufhörte zu schlagen. Ich spürte immer noch meinen Atem.

  Ich konnte nichts mehr sehen, und die Schwärze erfüllte meinen Geist.